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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[585]

No. 36.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der Krieg um die Haube.

Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Die kunstfertigen Meister unter den Laubengängen bemerkten nicht, daß während ihres Gesprächs ein hoher grauer Schatten vorüberglitt, einen Augenblick das Haupt nach ihnen wandte und dann lautlos weiter wandelte, bis er unter dem Portal der Sabaldus-Kirche verschwand.

Der Küster war eben dabei, die Kirche zu schließen. Er brummte, als ein grau verhüllter Mann noch Einlaß begehrte. Aber der Fremde hielt ihm einen Goldgulden hin, der im Lichte des Laternleins hell blinkte, und sprach:

„In den Himmel könnte ich heute um wenige Weißgroschen kommen und biete Euch Gold, wenn Ihr mich nur in die Kirche einlaßt. Wollt Ihr mir den Eintritt verwehren?“

Da ließ der Küster das Goldstück in seine Hand gleiten und schritt ihm voraus, und er hörte, wie sein Begleiter einen tiefen, zitternden Seufzer ausstieß, da er den Raum betrat, der von Weihrauchduft schier erfüllt war.

„Stürmt nit so fürbaß!“ mahnte er. „Ihr stoßt an das Sebaldus-Grab, so sich hier erhebt.“ Und er begann zu erklären: „Seht es Euch an! Es ruht auf Schnecken –“

„Dieweil es allzeit in Nürnberg langsam fürbaß gegangen ist mit dem milden Christenthum,“ sagte der Andere und ging vorbei. Er glitt hastig um die Pfeiler, deren Gipfel schon in Nacht gehüllt war.

„Was wollt Ihr dort in dem abgelegenen Seitenschiff?“ fragte der Küster nacheilend. „Da ist nimmer ein Kunstwerk zu sehen, und Ihr werdet über die Grabsteine stolpern.“

„Es ist wahr, Eure ewige Lampe giebt einen trüben Schein,“ nickte der Fremde. „Wenn Ihr nicht bald gutes Oel aufgießt, wird sie verlöschen. Aber ich finde mich auch ohne sie. Ich kenne den rechten Weg.“

„Es sind allda nur Gedächtnißtafeln von alten Nürnberger Geschlechtern,“ meinte der Küster.

Die Blicke des Fremden irrten über die verblichnen Tafeln. Dann blieben sie an einer derselben haften, und er deutete stumm darauf.

„Die sind ausgestorben,“ erklärte der Küster. Der Fremde zuckte zusammen, jener aber fuhr fort: „Nur eine halbverblühete Jungfrau lebt noch in ihrem Haus am Panierberg. Hat manchen Freier abgewiesen und heißt in Nürnberg nur die herbe Ursel. Sie pflegt keinerlei Umgang mit andern Weibsen, lebt einsam und wird sehr gefürchtet ob ihrer Strenge.“

Der Fremde wandte das Antlitz ab.

„Wollt Ihr die Grablegung von Herrn Dürer sehen?“ fragte der Küster.

Jener schüttelte das Haupt.

„Ich weiß,“ sagte er, fürbaß wandelnd, „wie einem Begrabnen zu Muthe ist, der keine Auferstehung feiern darf.“

Der Küster öffnete eine Pforte.

„Hier geht’s durch die Brautthür.“

Da sah der Andere mit einem seltsamen Blick zu den klugen Jungfrauen auf, die in den Nischen unter gothischen Spitzdächlein standen und ihre brennenden Lampen emporhielten, mit denen sie den Bräutigam erwarteten. Dann stieg er mit unstäten Schritten die Stufen hinab, aber plötzlich tastete er nach einer Stütze. Eine verwitterte Steintafel, die an der Kirchenmauer lehnte, bot sie ihm.

„Nehmt Euch in Acht! der Stein ist hinfällig,“ warnte der Küster. „Er muß gar alt sein. Soll den verlornen Sohn fürstellen, der heimkehrt. Aber kaum könnt Ihr die Umrisse noch erkennen – so abgenutzt hat Wetter und Wind das Bild. Niemand beachtet es mehr. Nur die herbe Ursel betet allhier täglich, wenn sie zur Messe geht.“

Der Fremde beugte das Haupt tiefer und tiefer, und da er sich wieder aufrichtete, sagte der Küster, sein Laternchen hoch hebend:

„Heiliger Sebaldus, wie seht Ihr bleich aus! Kehrt gewiß von mühseliger Pilgerschaft heim und habt keinen Trost funden. Wäre Euch auch gesund, wenn Ihr einen lustigen Rath bei Euch hättet wie Seine fürstliche Durchläuchtigkeit. Der lachte Euch die schweren Steine vom Herzen.“

Unter dem langen graulockigen Bart des Fremden irrte ein bittres Lächeln hin. Aber er schwieg, nickte zum Abschied und ging wieder davon in die Nacht hinaus.

Lautlos glitt er durch die Straßen, in denen zu Ehren des hohen Gastes Feuerpfannen flackernd den Weg erleuchteten. Da lag das kleine windschiefe Haus, „die alte Baracke“, in der er geboren war. Das Giebelfenster hatte die Stube erleuchtet, in der er als Kind, die Schürze der Mutter als Mantel über die Schulter gebunden, den Rathsherrn spielte; seine Mutter hörte lächelnd zu, wenn er Recht sprach zwischen dem getreuen Haushund und der grauen Katze, und sein Vater meinte, seine stattliche Haltung könne Herr Wohlgemuth sich zum Muster nehmen bei den Conterfeis der reichen Patricier, und beide riefen dann den Schutz aller Heiligen für ihn an.

[586] Was war aus den frommen Wünschen geworden?

Es hatte sich nirgends ein Plätzchen für ihn gefunden. Er konnte nicht schweigen und nicht dulden. Ans Bologna wurde er verwiesen, als er in der Fastnacht einen Rock aus Ablaßbriefen trug. Aus Pisa, wo er seine Studien fortsetzen wollte, mußte er bei Nacht und Nebel flüchten, weil er ein Spottgedicht auf Mönche und Nonnen gemacht hatte. – Sein kleines Erbtheil war aufgezehrt. Er zog über die Alpen zurück. In Tirol kam er in einen Schwarm fröhlicher Herren, die sich mit Falkenbeize, schönen Frauen und rothem Veltliner ergötzten. Seine übermüthige Lustigkeit gefiel den Ausgelassenen. Sie nahmen ihn mit nach Innsbruck.

Dort lernte er seinen jetzigen Herrn kennen. Aber dort war es auch, wo ihn die Zügellosigkeit seiner Zunge zu Fall brachte. An der Tafel trieb er es so weit mit beißenden Spottreden, bis die hohen Prälaten wüthend verlangten, daß er dem Ketzerrichter überliefert werde. Da rettete ihn der junge Erzherzog, der ihn gern um sich hatte.

War es eine Rettung zu nennen?

Der nächtliche Wandrer fühlte nach den Schlag, mit dem sein hochstrebender Sinn in den Staub geworfen wurde, als der junge Fürst der Tafelrunde erklärte:

„Der Mann ist mein lustiger Rath.“

Mit dem einen Wort ward ihm klar, wofür er den Menschen galt. Für einen Narren! die Freiheit, die man ihm gestattete, war die Narrenfreiheit.

Ja, so war es – so war sein Leben, und all das überdenkend, eilte er jetzt rastlos vorwärts durch die Straßen Nürnbergs, als könne er den quälenden Gedanken entfliehen. Jetzt stand er in dem St. Rochus-Kirchhof, wo seine Eltern schliefen. Hastig zog er den grauen Mantel über der Brust zusammen; er schämte sich hier seiner bunten Dienstkleider. Aber wie er auch emsig suchte, er fand die Stätte nicht, da die Seinen ruhten.

„Wo Ihr auch schlaft, Gott schenk Euch eine fröhliche Urstand,“ sprach er endlich leise über das Gräberfeld.

Lieblicher Duft stieg zu ihm auf, und als er sich bückte, sah er zu seinen Füßen den Rasen mit Veilchen durchflochten. Der Narr pflückte einen Veilchenstrauß, ein halbes Lächeln um die feinen Lippen, feuchten Schimmer im Auge. Dann schritt er zurück.

Am Panierberg stand er lange still vor dem Haus, das ihm in den Jünglingsjahren eine Heimath war. Das Mondlicht beleuchtete hell das steile Schieferdach. Nichts glänzte mehr an dem alten Gebäude; selbst der geharnischte Ritter, der auf der höchsten Spitze den Wetterhahn hielt, sah geschwärzt aus. Aber ungebeugt trug das Haus seinen Scheitel wie seine Insassin den Sturz.

Als er einst diese Stätte seiner Jugend grollend verließ, da hatte er sich gelobt, Ursula solle das Haupt noch demuthsvoll vor ihm neigen. Er wollte die Vorurtheile zerbrechen, die Mauer niederreißen, welche die Menschen wider göttliche Ordnung gegen einander aufgerichtet haben; ein Mann, hochangesehen wie ein Rathsherr, wollte er werden aus eigner Kraft. Sie sollte es bereuen, ihn einen Narren genannt zu haben. Und nun hatten sie Beide Recht gehabt.

„Als Narrenrath kehre ich zurück,“ flüsterte er mit dem zur Gewohnheit gewordnen spöttischen Lachen, während seine Stirn dunkel glühte.

Ja, wäre er ein Andrer gewesen! Das Gute und Wahre hatte er gewollt, aber er hatte den falschen Weg eingeschlagen. Jetzt sah er es klärlich. Mit der Pritsche wird kein großer Sieg erkämpft – dazu bedarf es des schneidenden Schwertes; mit Spott und Hohn wird der Wahrheit nicht Bahn gebrochen – dazu braucht es wuchtigen Ernst.

Was half dem lustigen Rath die späte Erkenntniß? Wenn die Wahrheit in herbem Wort sich einmal über seine Lippen drängte, lachten die Leute erst recht. Auch der Ernst ward bei ihm für eine Posse genommen.

So konnte er nur im Verborgnen wirken. Es vermuthete Keiner, daß unter dem Narrenkleid einer jener Streiter für die neue Lehre sich barg, die Dunkelmänner genannt wurden, weil ihren Namen Niemand kannte, und die mit Flugblättern und Briefen gegen die Tyrannei der Mönche kämpften. So suchte er zu helfen an dem Werk des großen Mannes, der aus der Hütte des Mansfeldischen Bergmannes hervorging. Nur Weniges zwar konnte er leisten, aber das Wenige war sein einziger Halt im Leben.

Noch immer stand er vor dem alten Hause am Panierberg, und nun wollte er gehen. Doch als zwinge ihn eine unsichere Macht – er wandte sich noch einmal zurück und bückte sich zur Schwelle nieder – was begann der seltsame Mann – –? Dann stieg er zur Burg hinauf. – –

Am andern Morgen brachte die Köchin der herben Ursel einen Veilchenstrauß, den sie aus der Thürschwelle gefunden hatte. Sie stieß ein Lachen dabei aus über die Blumenspende, aber es erstarb ihr sofort; denn die Hausherrin legte die Hand über die Augen und weinte. –

Als die Sonne dieses Tages in Gold unterging, zogen die Patricier zum Geschlechtertanz nach dem Rathhaus. Auf dem Platz davor lies das Volk zusammen und übte eifrig sein altes Recht aus, Gewandung und Prunk nach dem Werthe abzuschätzen. Es billigte die brokatne Schleppe der Schultheißin, unter deren Last fast der kleine Page erlag; es begrüßte mit lautem Ah! die Rotmundin, die in einem goldstucknen mit Granatäpfeln durchwebten Gewand anlangte, und als die herbe Ursel aus ihrer von Maulthieren getragnen Sänfte stieg, flüsterte es tadelnd:

„Sie trägt wieder den schwarzen Sammetrock und nit einmal ihr wunderbarliches Geschmeide von Edelsteinen. Welche Zier bleibt für uns, wenn eine reiche Geschlechterin sich einen Veilchenstrauß vor die Brust steckt?“

Am Eingange zum Saale standen die Junker und ließen die Gäste durch ihre Reihen ziehen. Auch Wilhalm Haller war unter ihnen. Aber er hatte für keine Frau Augen, selbst für die Rotmundin nicht. Er schaute unverwandt den Kommenden entgegen, bis die Imhofischen erschienen, und es fuhr ihm wie ein Stich durch das Herz, als endlich hinter der Mutter die schlanke Gestalt Elsbeth’s im violenfarbnen Damastrock in den Saal trat. Ihr Gesicht war nicht verhüllt wie das einer Klosterjungfrau. Der Wilhalm, der sonst so heftig gegen den Sturz geeifert hatte, sah mit Schrecken, wie das Gebände so weit zurückgeschoben war, daß ihr herrliches Goldhaar sichtbar wurde, und auch den stillen Mund gewahrte er, um den es lag wie eine stumme Klage. Er hatte ihr gern über ihre freiere Tracht ein spöttisches Wort gesagt, aber sie stand unter den Frauen, welche unter dem Wandgemälde Albrecht Dürer’s, das eine Spielmannsgruppe darstellt, sich an einander reihten, und er mußte an der Pforte des Saales auf den Erzherzog harren.

Da begann zwischen Beiden das, was die Elsbeth einst als nicht geziemend für eine Geschlechterin gehalten hatte: ein Augenspiel. Er sah sie melancholisch und mit ernstem Vorwurf an – sie blickte abweisend zu ihm hinüber, und es war ihnen Beiden süß und weh dabei zu Muthe.

Endlich erschallte Hufschlag. Seine fürstliche Durchläuchtigkeit langte mit Gefolge an. Der Schultheiß und die vornehmsten Herren des kleinen Rathes empfingen ihn an der Pforte und geleiteten ihn durch das Stiegenhaus, das Wappner in lichten Harnischen besetzt hielten Sie pflanzten den Spieß, da er vorüberschritt, und als er den Saal betrat, ertönte eine Trompetenfanfare vom Pfeiferstuhl, in welche Querflöte, Zinke und Pommer, Laute, Harfe und Geige mit Macht einfielen.

Der Erzherzog lächelte gnädig, und seine Augen flogen mit freudiger Spannung nach den Frauen hinüber.

Durch die von Veit Hirschvogel gemalten Fenster fielen die Strahlen der untergehenden Sonne; sie spielten auf den silberweißen, pomeranzenfarbigen und karmoisinenen Gewändern der Frauen, weiche diese zierlich emporrafften, auf daß die hellfarbigen seidnen Unterkleider sichtbar würden.

Und da sie sich jetzt tief mit gesenkten Köpfen neigten, sprach der Erzherzog:

„Sie gleichen Matthiolenblumen, Näglein und Gilgen, über die der Gott Zephyros hinweht.“

Da erhoben sich die gebeugten Köpfe, und der Erzherzog schrak zusammen.

„Soll das Vexiren nimmer ein Ende nehmen? Führt man uns auch hier in ein Ziergärtlein, wo alle Blumen unter unholden Kappen verborgen sind?“

Er warf einen zornigen Blick hinüber. Aber da schauten ihn unzählige schöne Augen vom hellsten Himmelblau bis zum tiefsten Schwarz mit so stehender, sehnender Inbrunst an, daß sein Herz weich wurde.

Und sein Grimm schmolz vollends dahin, als eine schmeichelnde Stimme leise neben ihm sagte: [587] „Seine fürstliche Durchläuchtigkeit schaut in seinem schwarzen Wams“ neben den andern Herren in ihren gepufften Gewändern aus wie eine schlanke Edeltanne neben breiten Aepfel- und Birnbäumen. Gelt, Herr Rotmund?“

Der Erzherzog blickte sich rasch um.

Aber schneller als er, war Herr Rotmund vor sein Weib getreten: er trug als bestellter Tanzordner einen so langen rothseidnen Rock, daß er sie gänzlich verhüllte, wie ein Vorhang ein kostbares Gemälde.

„Sei nit zu keck!“ flüsterte er ihr zu. „Es ist so eine Sünd’ und Schand’, daß jetzt auf unsren Tänzen Alles paarweise läuft wie in der Arche Noah. Früher hättet Ihr fünf Pfund Heller Strafe dafür zahlen müssen. Und unterfang Dich nit etwa heut, Dich zu verdrehen, wie die Augsburgerinnen thun.“

Sie machte unschuldige Augen und glitt wieder vor ihn hin.

„Was ist’s weiter, sich mit dem Arm zu umschlingen und im Kreise zu drehen und zu schleifen? Man muß sich halt nur nichts dabei denken. Und wenn Seine fürstliche Durchläuchtigkeit sich mit mir verdrehen will, muß ich es unweigerlich thun. Hast es selbst gesagt.“

Herr Rotmund drohte mit seinem weißen Stabe, den er als Tanzordner führte. Aber er hatte keine Zeit mehr; denn der Erzherzog gab das Zeichen zum Beginn und reichte der Schultheißin die Hand.

Die damals im zierlichen Tanzschritt nach der Weise des von einem Nürnberger Kind gedichteten und in Töne gesetzten Minneliedes sich wiegten, dachten nicht, daß ein Jahrhundert später die neue ketzerische Gemeinde sich mit derselben Melodie Trost in das bedrückte Gemüth singen würde, indem sie die Worte unterlegte: Befiehl du deine Wege.

Nach vollbrachtem Ehrentanz führte der Erzherzog die Schultheißin zurück auf ihren Platz, und seine Augen suchten nun gespannt unter der Frauenschaar. Jetzt leuchteten seine Blicke auf; er hatte die Rotmundin hinter ihrem Manne hervorlugen sehen. Mit raschen Schritten eilte er auf sie zu, um sie zum Tanz aufzufordern. Der Rotmund aber schritt diesmal grimmig mit dem Imhof, dem andern Tanzordner, dem Reigen voran.

Düster schaute auch Wilhalm drein, da er bemerkte, daß viele der fremden Gäste die Elsbeth Imhofin anstarrten. Und als jetzt der welsche Bischof sich ihr näherte, um sie zum Tanze aufzuziehen, trat er rasch an sie heran.

„Ihr habt zwar eine geringe Meinung von mir,“ sprach er mit grollender Stimme, „aber zu einem Reigen werdet Ihr Euch mir nicht versagen; denn ich habe gesehen, daß Ihr sogar mit dem ohnnützen Fuchsschwänzer, dem Domherrn, getanzt habt.“

Sie war erröthet. Stumm streifte sie die Handschuhe ab, wie das beim Tanzen üblich war, und reichte ihm ihre Fingerspitzen. Aber Wilhalm nahm mit festem Griff ihre Hand. Sie war eiskalt. Er sah Elsbeth von der Seite forschend an – da senkte sie die langen Wimpern.

So schritten sie in der Reihe den Tanzordnern nach. Was jene übten, mußten Alle thun. Herr Imhof sah sich um, und da er den Wilhalm neben der Elsbeth erblickte, wie in früheren gesegneten Jahren, machte er ein Gesicht wie ein schlauer Fuchs.

„Herzen wir uns einmal!“ flüsterte er Herrn Rotmund zu. „Es ist guter alter Brauch.“

Herr Rotmund aber hatte von der andern Seite nach seinem Ehegemahl ausgelugt, das süß lächelnd aus dem Sturz den sie führenden Erzherzog anstrahlte.

„Um aller Heiligen willen flehe ich Euch an: laßt nur heute das Herzen sein!“ erwiderte er fast laut.

„Ach was,“ sagte Herr Imhof, „die guten Alten wußten, was sie thaten, als sie es einführten.“ Und er drückte Herrn Rotmund in seine Arme. Auf der Stelle herzte sich der ganze Reigen.

Herrn Rotmund wurde es schwarz vor den Augen. Er sah nicht, wie zart der junge Fürst den Arm um sein Ehegemahl schlang und ihre Hand leise an sein Herz drückte.

Auch Wilhalm wollte die Elsbeth umschlingen. Sie aber riß sich los und trat aus dem Reigen. Er eilte ihr nach.

„Meint Ihr mir entfliehen zu können?“ rief er.

„Ich lasse mich nicht herzen auf Befehl und nur zum Spiel,“ entgegnete sie empört.

„Aber es ist mein Tanzrecht,“ brauste er auf.

„Rechte verjähren,“ antwortete sie kalt.

Er entsann sich seines Wortes wohl, aber auch ihrer früheren Reden.

„Ihr wollt ja in allen Dingen Euren Eltern gehorsamen,“ sprach er und trat ihr wieder näher. „Und Euer Herr Vater hat angeordnet, daß wir uns herzen sollen – Ihr seht es ja.“

Sie wich abermals zurück.

„Und Ihr meintet, die erste Stimme solle das Herz haben vor Vater und Mutter.“

„Ja, das Herz soll auch das erste Recht haben und behalten,“ rief er, „und mein Herz ersehnt nichts weiter, als Euch an sich zu drücken.“ Er streckte die Arme aus.

Da richtete Elsbeth sich stolz auf.

„Meint Ihr,“ fragte sie mit bebender Stimme, „eine Jungfrau lasse sich hin und her schieben, wie Ihr Einen alten Ofen jetzt hinauswerft und dann wieder hereinholt? Mich verlangt nicht nach den neuen Rechten, von denen Ihr redet. Mögen welsche Teufelinnen und solche, die sie sich zum Muster nehmen und Gaukelkünste üben, ihrer genießen! Uebet mit ihnen Geckerei, wie Euer wandelbarer Sinn Euch heißt! Wir aber wollen unsre Würde wahren.“

Damit schritt sie an ihm vorüber nach den Bänken hin, die in dem erhöhten Theile des Saales aufgestellt waren. Wilhalm aber war bleich geworden und kürte sich eine andre Tänzerin.

Das kleine Zwischenspiel ging in dem bunten Gewühl unbemerkt vorüber; Jeglicher hatte genug mit sich zu thun.

Als es dunkelte, erstrahlten in den Festräumen an die hundert große und kleine Lichter: die Tanzordner nahmen Wachsfackeln und führten damit den Reigen an. Selbst alte Herren, denen breite Pelzkragen die gebeugten Nacken deckten, sprangen den Ringelreihen so eifrig mit, wie die leichtfüßigen Junker, und die jungen Kaufleute tanzten um die Wette mit den geschmeidigen Prälaten den kecken polnischen Reidawac.

„Den Todtentanz! Laßt uns den Todtentanz aufführen!“ riefen die Junker vom husarischen Aufzuge.

„Wer soll den Todten vorstellen?“ fragte der Tanzordner, Herr Imhof.

„Welchem Andern als Seiner fürstlichen Durchläuchtigkeit gebührte diese Ehre?“ entgegneten die Frauen.

Aber der hohe Herr stutzte ob des grausen Namens. Er fürchtete auch, daß es auf einen Schabernack hinauslaufen möchte, und wollte erst sehen, wie es dem Todten erginge.

Pfalzgraf Ottheinz kannte bereits die Obliegenheiten des Todten und begab sich mit einer Eile, die dem jungen Fürsten schier verwunderlich erschien, auf die Purpurkissen, die in der Mitte des Saales aufgebaut und mit einem kostbaren Gobelinteppich bedeckt wurden. Behaglich streckte sich der ritterliche Herr, schloß die Augen, und nur an dem wie zwei Fragezeichen gekrümmten Bart konnte man erschauen, daß der Mund vergnüglich darunter lächelte.

Auf ein Zeichen hob die Musik das wehmütige Lied an, das Kaiser Max auf seinen Abschied von Innsbruck gedichtet und in Töne gesetzt hatte und dessen Weise mit den Worten auf uns gekommen ist: Nun ruhen alle Wälder. Paarweise zog die ganze Gesellschaft mit traurigen Gebärden um den Katafalk.

Nur der Narr, der mit untergeschlagnen Armen am Pfeiferstuhl lehnte, stand abseits. Er spähte gespannt nach den Zügen der vorüberschreitenden Frauen.

Da vernahm sein feines Ohr, wie die Schultheißin, die mit einem jungen Domherrn ging, sprach:

„Bittet uns von den Stürzen los! Sonst zeig’ ich Euch an wegen zu weit ausgeschnittner Schuhe.“

Dann hörte er die Frau Imhofin den Domprobst von Würzburg klagen:

„Wenn i nur wüßt, ob es nit doch besser wär’, wenn wir der Stürze ledig würden. Die Frage leg’ ich Eurer Andächtigket im Vertrauen vor.“

Hier flüsterte die Behaimin hinter ihrem Fächer aus Pfauenfedern dem jungen römischen Beichtvater des Erzherzogs, seinem Genossen bei allen lustigen Streichen, zu:

„Möchte wohl auch den Dichter Ovidius mir von Euch erklären lassen, hab’ aber nimmer Muth und Freud’ zu einem Ding, so lang ich den Sturz schleppen muß.“

Die schlanke Tucherin lachte den Erzbischof von Mainz an und versprach ihm ein Pilgrimhaus, wenn er ein Wörtle für sie [588] einlegen wollte, und die Holzschuherin, die neben dem welschen Bischof schritt, versicherte:

„Und wenn Ihr uns helft, will ich halt gern meinen venetianischen Perlenschmuck Euch übergeben, daß Ihr ihn in Eurer Capelle der heiligen Jungfrau als Opfer darbietet.“

Der schöne Mann ließ einen sanften Blick auf das schimmernde Geschmeide gleiten und neigte sich, als sei er ein dienstthuender Kämmerling bei der ackerseligsten Jungfrau und überbringe im Voraus deren Dank.

Der Narr traute seinen Sinnen nicht.

„Was räth der Narr in Sachen der Stürze?“ fragte ihn lachend der Bischof von Bamberg.

„Daß es dem Sturz geht wie der päpstlichen Tiara, von welcher der Kurfürst von Sachsen geträumt hat, ein Augustinermönch bringe sie zum Wanken, indem er mit einer Schwanenfeder daran rühre,“ war die Antwort.

„Eure Witze schmecken herb wie Schlehenwein,“ meinte der Bischof.

„Was würde nicht herbe im Laufe der Zeit?“ erwiderte der Narr und hob seinen Becher, dessen Füßchen silberne Schellen bildeten.

Bei dem Wort und Klang wandte sich eine hohe Frauengestalt, die an der Hand des Schultheißen schritt. Ihre schwarzen Augen sahen starr in die scharfen blauen Augen des Narren. Ein paar Athemzüge lang hafteten die Blicke Beider in einander, trotz des Entsetzens, das aus ihnen sprach, unfähig, sich loszureißen. Dann schlossen sich plötzlich die schwarzen Augen, und die hohe Frauengestalt sank lautlos zusammen.

Die Nächsten eilten zu Hülfe. Der Schultheiß richtete sie auf, die Imhofin, der Ritter Tylemann von Prem, ihr Nachbar am Panierberg, stützten sie. Sie wurde hinausgetragen.

„Die herbe Ursel ist in eine Schwäche verfallen,“ raunte es durch den Saal. Der Tanz stockte. Es hätte nicht mehr Verwunderung erregen können, wenn die Botschaft gekommen wäre, den Lorenzothurm habe eine Unmacht angewandelt.

„Was ist Euch? Habt Ihr Euch darob so erschreckte?“ fragte der welsche Bischof den Narren, der leichenblaß geworden war, während der Becher, aus seiner Hand fallend, klingelnd am Boden rollte.

Der lustige Rath fuhr empor. Er lachte mit weißen Lippen.

„Mein altes Leiden! Das Herz steht mir einmal still. Es ist nicht die Mühe werth, darüber zu reden.“

Die Wogen der Tanzfreude flutheten auch über diesen Unfall dahin und ließen ihn verschwinden wie einen Kiesel im See.

Denn jetzt kam der wichtigste Theil des Tanzes. Die Männer traten zurück, und die Frauen bildeten einen besondren Reigen um den Todten, und eine nach der andern küßte ihn zum Abschied.

Auch Elsbeth wandelte in der Reihe mit einem wehleidigen Gesicht und dachte: Wäre doch die Lust erst ausgestanden. Wie aus weiter Ferne vernahm sie die Tanzweisen; der Lichterglanz schien ihr trübe; die lachenden Gesichter waren ihr unbegreiflich. Nur jetzt, da sie dem ruhenden Pfalzgrafen sich näherte, war es ihr, als zwinge sie Jemand aufzuschauen. Da sah sie sich gegenüber den Wilhalm mit einem Weinglas in der Hand. Er blickte sie streng an, und auf seiner Stirn stand eine tiefe Zornesfalte gleich einem dräuenden Kometstern. Und als sie sich zum Antlitz des Pfalzgrafen bückte, zerdrückte er das kostbare, mit Goldperlen verzierte venetianische Glas, daß der rothe Rosatzer herumspritzte. Erschrocken wich Elsbeth zurück.

Niemand achtete darauf. Alle blickten nach der jungen Durchläuchtigkeit, deren Augen immer größer wurden bei dem feinen Tanzspiel, und als auch die Frau Rotmundin ihre Lippen nach dem schwarzen Schnauzbart stützte, erklärte er hastig seinem Beichtvater:

„Das Spiel verstehen wir auch. Wir wollen geruhen, den Todten vorzustellen.“

(Fortsetzung folgt.)





Auf dem Leuchtthurm.

Eine Episode aus dem Küstenleben.
Von Ferdinand Lindner.

Die Nacht war schon weit vorgeschritten, als ich am Deich entlang zum Cuxhavener Leuchtthurm hinausschritt; bald lag die Stadt hinter mir – nur noch an einigen Häusern vorüber, und ich war im Freien. Die Luft strich frisch von der See her; der Himmel war sternenklar. Und dort, vor mir, hob sich geisterhaft der Leuchtthurm empor; wie ein Schatten stand er in dem nächtigen Dunkel draußen über der See, deren Wogen man in regelmäßigen Pausen am Ufer aufrauschen hörte. Hoch oben auf dem Thurm aber schimmerte das freundliche, man möchte sagen, gastliche Licht, in dessen magischem Scheine sich die nächste Umgebung matt angeleuchtet von der umgebenden Finsterniß abhob.

Ich war an der Pforte angelangt, stieg die steile Wendeltreppe in die Höhe und überraschte in der nächsten Minute den Lampenwärter in seinem Thurmzimmerchen. Bereitwillig gab er meinem ausgesprochenen Wunsche nach und führte mich in das Lampenhaus. Ein wunderbar interessanter Raum das! Ich darf mir eine Beschreibung desselben hier wohl ersparen, da die beigegebene Skizze den Leuchtapparat zur Genüge verdeutlicht; die Reflectoren, welche unsere Zeichnung wiedergiebt, sind versilbert und senden das Licht auf eine Entfernung von drei deutschen Meilen in die See hinaus. Links in dem Gemache bemerkt man einen Ofen, welcher eine gleichmäßige Temperatur zu erhalten hat, damit die Scheiben bei niederem Thermometerstande nicht beschlagen; denn auf die Klarheit der Scheiben hat der Lampenwärter vor Allem zu achten.

Besonders interessant für den Laien ist eine Einrichtung unseres Leuchtthurms, welche ihn in die Reihe der sogenannten Blickfeuer stellt. Die eine Hälfte des Leuchtapparates wird nämlich in kurzen Pausen durch eine mechanisch auf- und niedersteigende Wand momentan verhüllt. Wozu diese Einrichtung? Zwischen dem Leuchtthurm und einem von Nord oder Nordwest ansegelnden Schiffe liegen gefährliche Bänke, welche in weitem Bogen umsegelt werden müssen, ehe man die Einfahrt in die Elbe gewinnt; je nachdem nun der Schiffer entweder die eine Seite mit dem Blickfeuer oder die andere mit stetigem Lichte vor sich sieht, kann er berechnen, welchen Theil jenes Bogens er bereits hinter sich hat und wie nahe er sich der Mündung befindet. Dieses mechanische Auf- und Niedersteigen der Blende macht einen ganz eigenthümlichen Eindruck; man glaubt, der Thurm lebe; er wird uns zu einem Hüter, der fürsorgend nach dem fremden Schiffer ausschaut; wir empfinden eine geheimnißvolle Correspondenz weit in die Nacht hinein mit Menschen, die sich einsam auf der fernen dunklen See befinden und deren Auge spähend an diesem Lichte hängt, welches das unsere zwar mit blendendem Glanze trifft, in jener Entfernung aber nur wie das Glimmen eines Leuchtwürmchens erscheint.[1]

Wir waren auf die mit einem Geländer versehene Gallerie, welche rings um den Thurm läuft, hinausgetreten; der wenn auch

[589]

Zugvögel am Leuchtthurm zu Cuxhaven. Originalzeichnung von Ferdinand Lindner.

[590] schwache Wind, der uns hier empfing, stand in merkwürdigem Contraste zu der am Fuße des Thurmes herrschenden Stille.

Plötzlich horchten wir Beide überrascht auf; ein dumpfer Schlag gegen eine der Scheiben des Leuchtthurms, ein kurzer, heiserer Schrei, ein Bewegen wie von etwas Lebendigem – dann war Alles still. Der Lampenwärter sprang schnell um den Thurm, blickte dann über’s Geländer in die Tiefe – nichts war zu sehen.

„Schade,“ meinte er, „hätte vielleicht einen Braten gegeben!“

„Einen Braten?!“ fragte ich erstaunt, da ich mir das Geräusch nicht erklären konnte.

„Ja,“ antwortete er, „irgend ein Vogel ist gegen die Scheiben geflogen. Sehen Sie, hier die Spuren davon.“

Damit deutete er auf einige Risse in der Ecke einer Scheibe.

Wir stiegen wieder in’s Thurmzimmerchen hinab, und ich erfuhr nun interessante Einzelheiten über eine Erscheinung, die in größerer oder geringerer Ausdehnung fast überall da beobachtet wird, wo sich Lichter an der Küste finden.

Wer des Nachts, zumal in vorgeschrittener Jahreszeit, an der Küste in einiger Entfernung ein Licht passirt, wird bemerken, daß der gleichmäßige Schein ab und zu, wie von einer Wolke leicht verdunkelt wird. Das, was sich in der Ferne als eine solche ausnimmt, erkennt man in der Nähe als Schaaren von Vögeln, welche das Küstenlicht genau in der Weise umschwärmen, wie an Sommerabenden unsere Stubenlampe von geflügelten Insecten umflattert wird.

Angezogen vom Licht und dann von dessen mächtiger Wirkung geblendet, stoßen die Vögel auf die Scheiben und zerschmettern sich die Köpfe oder Flügel. Bei Sturm oder frischen Brisen wehen nun die meisten in die See und kommen dort elend um, wenn sie sich nicht schon oben den Tod holten. Bei leichtem Winde und Nebel aber fallen sie auf die Rampe des Leuchtthurms, auf Deck des Feuerschiffes oder was sonst das Licht zunächst umgiebt. Sie werden dann eine willkommene Beute der Mannschaft, der sie eine Abwechslung in die eintönige Kost bringen, und wenn dieses geflügelte Manna, wie es ab und zu vorkommt, in großer Anzahl fällt, so wird auch davon an Land geschickt. Allenthalben, wo solches Anfliegen stattfindet, wird man manche Erzählung davon zu hören bekommen. Hier nur eine Anekdote, die sehr drastisch ist, weil sie ein Gegenstück zu der Thätigkeit unserer Vorstehhunde auf dem Festlande darbietet.

Auf einem der Feuerschiffe, welche in der Mündung der Elbe liegen, gehen zwei Mann, welche die Wache haben, auf und ab; es ist eine stille Nacht – „Bum, bum!“ klingt es an den Gläsern der Lichter, und flatternd und zappelnd kommen die Vögel auf Deck herunter, heute einmal ungewöhnlich viele. Dabei fällt der Wache auf, daß der Hund des Capitains geschäftig treppab treppauf, vom Deck zur Kajüte eilt und zurück; sie kümmern sich aber weiter nicht darum, weil sie selbst mit dem Einsammeln der Gottesgabe stark zu thun haben. Als der Capitain aber frühmorgens erwacht, liegt ein Haufen Vögel vor ihm auf dem Teppich der Kajüte, welche der Hund dort fein säuberlich deponirte; dabei hatte er mehr gesammelt als die beiden Wachmänner zusammen; die Beute der einen Nacht ergab ein Dutzend Enten und einen ganzen Eimer voll Krammetsvögel, Drosseln, Sperlinge etc.

Dies und Aehnliches, was unsere Küstenbewohner bei Leuchtthürmen und Feuerschiffen beobachten, giebt auch gelegentlich einen Maßstab für die ungeheuere Flugkraft der Vögel ab. So ist, laut verbürgter Mittheilung, einmal ein Entrich, obgleich es kaum glaublich erscheint, durch eine ein Viertel Zoll dicke Scheibe, dann quer über den Lampenapparat und noch bis an die gegenüberliegende Glaswand geflogen und dort erst mit zerschmettertem Kopfe niedergefallen.

Am stärksten findet dieses Anfliegen der Lichter natürlich in der Zeit statt, wo die Vögel ziehen. Das größte Contingent stellen wilde Enten, Krammetsvögel, Sperlinge; ab und zu macht sich auch ein wilder Schwan darunter, nie aber eine Möve oder irgend ein anderer Seevogel. Oft zwar umschwärmen die Möven zu Tausenden das Licht, aber dicht herangekommen, halten sie plötzlich im Fluge inne und machen jene der Möve eigenthümliche Bewegung, indem sie mit ausgebreiteten Flügeln, so zu sagen, einen Moment in der Luft stille stehen.

Seit geraumer Zeit hat sich nun, namentlich an stark befahrenen Küstenstrecken, eine auffällige Verminderung des Anfliegens der Vögel bemerkbar gemacht – am Cuxhavener Leuchtthurm z. B. wird es von Jahr zu Jahr seltener. Man erklärt dies aus doppelter Ursache. Erstens nimmt man an, daß die Vögel sich in Folge der größeren Zahl der Lichter jetzt besser orientiren als früher. Dann aber ist es auch die durch den wachsenden Verkehr verursachte Abnahme ihrer Zahl selbst, welche in Frage kommt.

In der Unterhaltung über dies und so manches Andere waren dem wackern Lampenwärter und mir die Stunden schnell vergangen, und der Morgen konnte nicht mehr fern sein, als ich zur Gallerie hinaufstieg.

Noch herrschte Nacht – an dem völlig wolkenlosen schwarzblauen Himmel zog sich die Milchstraße schimmernd mir zu Häupten hin, und der Morgenstern funkelte in so hellem Lichte, daß man meinte, er werfe Schlagschatten, in Wirklichkeit aber spiegelte sich sein Licht in der dunklen Fluth zu meinen Füßen.

Jetzt begann drüben im Osten ein unsicherer matter Schein sich vom Dunkel des Himmels und der Erde abzuheben – die zaubervollste Stunde des Tages nahte. Sicher ist die Morgenstunde von besonderem Zauber. Was ist im Vergleich mit ihr die Poesie des Abends! Wenn die Sonne sinkt, pulsirt noch etwas von den Aufregungen des Tages in den Adern; der helle laute Tag drängt sich in den dämmernden Abend hinein, und selbst die Ruhe, welche dieser bringt, hat ein melancholisches Antlitz – denn sie mahnt uns an das Ende alles Irdischen.

Wie anders die Morgenstunde – und nun gar die Morgenstunde auf einem zwischen Land und Meer ragenden Thurme! Geheimnißvoll steigt sie aus den Schatten der Nacht herauf – die Welt in tiefem Schweigen unter uns, der leise raunende Wind über uns – ein Werden ist ringsum in der Natur, und wie eine frohe Verheißung hebt sich im Osten heller und heller ein farbenleuchtender Schein.

Während der Himmel noch ein tiefes dunkles Blau zeigt, schlingt sich, nach Nord und Süd mehr und mehr erblassend, ein Regenbogen wie ein schimmerndes Band um den östlichen Horizont – wirkliche und wahrhaftige Regenbogenfarben sind es, die, nach oben allmählich in lichtes Blau erblassend, zu dem Dunkel in wunderbarem Contrast stehen. Ueber ihnen aber hebt es sich hell und heller, und – das ist das Zauberhafte einer solchen Morgenstimmung – ohne daß wir eine Lichtquelle erblicken, füllt sich allmählich rings um uns der Raum zwischen Himmel und Erde mit einem reinen, hehren Leuchten, das wir nicht allein zu sehen, das wir zu athmen und zu fühlen glauben. Während aber die übrigen Sterne nur noch matt flimmern, steht mitten über dem hellen Morgen in ungeschwächter Leuchtkraft, wie ein Prophet dessen, was da kommen soll – der Morgenstern.

Und nun die endlose Wasserfläche – das duftige Farbengemisch des Horizontes legt sich als rosiger Wiederschein breit darüber hin, und jede Welle hebt sich, den Aether spiegelnd, lichtblau daraus empor.

Nunmehr enthüllt sich auch die Landschaft zu unseren Füßen. Nach Süden hin scheint anstatt des Festlandes ein zweites weißes Meer sich auszudehnen, aus dem allenthalben kleine dunkle Inseln hervortreten: die von Morgennebeln überlagerte Marsch mit ihren verstreuten Höfen – im Hintergrunde der dunkle Haiderücken der Geest. Im Westen öffnet sich die Wesermündung; denn wir stehen hier eben mitten zwischen den Mündungen zweier der größten Ströme unseres Flußgebietes, und es liegt etwas von großartiger Poesie in dem Gedanken, hier diese beiden in breiter Majestät daherfluthenden Flüsse sich mit dem Ocean vermischen zu sehen, sie, die aus dem Herzen des Vaterlandes kommen.

Wer scharfen Auges hinüberspäht, kann aber jenseits auch das rechte Elbufer und den Strand der Dithmarschen erblicken, der sich über den Marner Sand hinweg am hellen Horizonte abhebt. Nach Norden aber dehnt sich, noch von den Schatten der abziehenden Nacht verhüllt, die See, das deutsche Meer.

Da hinaus zieht eben ein riesiger Dampfer, an dem Leuchtthurme vorüber; fast gespenstisch heben sich seine dunklen Umrisse von der duftigen Landschaft ab; verstohlen blinzt das rothe Backbordlicht herauf, und ein regungslos in der Luft stehender endloser Rauchstreifen deutet auf den Weg zurück, den er gekommen. Das dunkle Bild aber weckt unfreundliche Gedanken mitten in dem lachenden Morgen; denn wenn die Rauchsäule jenseits, wo Meer und Himmel auf einander treffen, zerronnen sein wird, dann werden auch Die, welche dieses Schiff trägt, Verlorene sein [591] für’s Vaterland; ihre Enkel werden einem fremden Volke angehören, und an deren Wiege wird kein deutsches Lied mehr erklingen – das Schiff ist ein Auswandererschiff.

Wahrlich, es wird im deutschen Vaterlande wenige Punkte geben, wo das, woran uns dieser scheidende Dampfer mahnt, eindringlicher, ernster zu uns spräche, als auf dieser leuchtenden Warte an der Grenze zwischen dem Vaterlande und dem Ocean: hier empfinden wir es tief, daß der deutsche Michel, den wir nach der großen nationalen Erhebung für todt und abgethan hielten, wieder auferstanden ist und unsere Zukunft ernsthaft bedroht. Zu den Siegeszeichen blickt der Deutsche stolz und selbstbewußt hinauf – aber er ist taub für Das, was sie uns lehren: daß die Todten des großen Krieges durch ihr Sterben nur den Lebenden die Bahn frei machten, auf der sie nach dem einen großen Ziele mächtig vorwärtsstreben sollten: Theil zu nehmen an der Weltwirthschaft, Theil zu nehmen an der Weltherrschaft, welche den germanischen Völkern dereinst zu Theil werden wird auf Grund ihrer unerschöpflichen Volkskraft. Und der reiche Ueberschuß unserer Volkskraft? Dort geht er hin auf dem riesigen Amerikaner; uns bleibt – der Rauch – das Nichts!

Gebe Gott, daß die Stunde der Erkenntniß und des Handelns nicht mehr fern ist! Und als gute Vorbedeutung möge es gelten, daß jetzt, während wir auf dem hohen Thurme an der Elbmündung stehen, drüben im Osten der erste Strahl der aufgehenden Sonne emporschießt – die nun hell und klar, aber auch kalt und nüchtern wie die Wahrheit, in die Welt tritt – kalt und nüchtern; denn es ist ein Irrthum, zu glauben, daß der Sonnenaufgang über der See immer denselben Reiz übe – ja, wenn Wolkenungethüme sich dem Lichte entgegenstemmen, dann ist das Emporsteigen des Tagesgestirns über der Salzfluth von imposanter Wirkung; bei klarem, reinem Himmel aber ist nur die eben geschilderte Dämmerung von zauberhaftem Reiz – das Erscheinen der Sonne selbst ist nüchtern – nüchtern geht sie zur Tagesordnung über.

Wir folgen ihrem Beispiele! Denn im Hafen unten wird es lebendig, und eben drückt auch der Lampenwärter dem Leuchtthurme das Auge zu.




Etwas von der schwarzen Schaar.

Ein Blick auf die deutschen Artillerie-Schießplätze.
Mit Abbildungen von Paul Heydel.

„Kanonendonner ist unser Gruß;
Wir sprechen mit Mörserblitzen.
Bald sind wir zu Pferd, bald sind wir zu Fuß,
Doch stets bei unsern Geschützen,
Und wenn der Kartätschenhagel kracht,
Nehmt euch vor dem schwarzen Kragen in Acht!“

     (Aus einem alten Soldatenliede.)


Das alte Soldatenlied hat auch heute noch Recht, ja vielleicht mehr Recht, als in jener entlegenen Zeit, in welcher das Lied entstand und in der die nunmehr in Arsenalen oder auf entlegenen Festungswällen langsam verrostenden „Feldschlangen“ und „Basiliske“ dem ungenannten kriegerischen Dichter einen gelinden Respect und eine nicht unbedeutende poetische Begeisterung einflößten. Ist doch, dank den modernen Fortschritten, die Wirkungsfähigkeit unserer Geschütze so gewaltig gesteigert worden, daß man mit ihnen in wenigen Stunden große Städte, wie weiland Alexandrien, völlig zusammenschießen kann, und daß der Wucht ihrer Geschosse selbst dicke Panzerplatten nicht zu widerstehen vermögen. Freilich ist diese Wirkungsfähigkeit nicht allein dem vortrefflichen Kriegsmaterial der Neuzeit, sondern zu einem guten Theile auch der vorzüglichen Ausbildung der Artilleriemannschaft im Frieden zuzuschreiben.

Nur Wenigen dürfte es aber bekannt sein, mit welcher Sorgfalt die Ausbildung der Artillerie betrieben wird, und wir laden daher unsere Leser zu einem wenn auch nur flüchtigen Besuche der großen Schießplätze ein, auf welchen deutsche Kanoniere im Kriegshandwerk geübt werden. Wir können dem donnernden Treiben, welches sich dort vor unsern Augen entwickelt wird, mit um so größerer Theilnahme folgen, als wir sicher annehmen dürfen, daß die Schlünde der deutschen Kanonen sich nie auf halbwehrlose Städte richten werden, um etwaige Raubgelüste zu verwirklichen, sondern daß sie immer drohend dastehen werden, um die Grenzen des Reiches vor feindlichen Uebergriffen zu schützen und den Frieden zu hüten.

Auf also mit der „schwarzen Schaar“! Begleiten wir einmal eine Truppe, die im Regimentsverbande auf dem Schießplatze einrückt, um eine mehrwöchentliche Uebung abzuhalten! Aber nach welchem Schießplatze soll es gehen? Da gerathen wir schier in Verlegenheit. Es giebt jetzt in Deutschland mehr als sechszig Artillrieregimenter, und da hat wohl ein jedes seinen Schießplatz? Nun, die Auswahl wäre nicht so leicht. Doch nein! Die Verhältnisse liegen für einen Berichterstatter viel günstiger. Die Artillerieschießplätze müssen wegen der großen Tragweite der modernen Geschütze, die manchmal über eine deutsche Meile beträgt, sehr groß sein, und da der Grund und Boden selbst auf wüsten Landstrecken und in Haidegegenden doch einen gewissen Werth darstellt, so würde es recht kostspielig sein, wenn man jedes Artillerieregiment mit einem besonderen Schießplatze versehen wollte. So hat man denn mehreren Regimentern je einen Schießplatz zur gemeinsamen Benutzung angewiesen, und die Gesammtzahl derartiger Plätze beschränkt sich im deutschen Reiche auf etwa ein Dutzend. Da wäre die Auswahl schon viel leichter. Sollen wir uns nun etwa nach Itzehoe in Holstein, nach Darmstadt, nach Wahn oder nach Zeithain in Sachsen begeben, Ortschaften, in deren Nähe die bekanntesten Schießplätze liegen? Nein! Jeder dieser Schießplätze hat zwar seine besondere Eigenthümlichkeit, aber zeigen wir dem Leser nur einen dieser Schießplätze, so wird er Manches, was sehenswürdig und belehrend ist, nicht erfahren. Wie sollen wir dem abhelfen?

Nun, wir stellen uns für unsere Zwecke einen Schießplatz zusammen, der zwar in seiner Gesammtheit nirgends auf der Erde zu finden sein dürfte, dessen Einzelnheiten aber doch durchaus der Wirklichkeit entsprechen, indem sie bald auf diesem, bald auf jenem unserer Artillerieschießplätze vorkommen. Der Maler, der uns begleitet, hat in ähnlicher Weise gehandelt; er hat hier und dort seine Skizzen gesammelt und sie dann zu kleinen, recht instructiven Gesammtbildern vereinigt. Also, marsch! Auf nach unserm imaginären und doch wahrhaftigen Schießplatze!

Zu Fuß etwa? Nein, da wäre der Marsch zu anstrengend;

[592] so müssen wir mit in den Militärzug einsteigen, welcher Mannschaft, Pferde und etwaiges Kriegsmaterial nach dem Schießplatze befördern soll.

„Wie lange fahren wir denn noch?“ fragen wir auf einer Station. Da erhalten wir gleich die Antwort.

Es tritt ein Unterofficier an das Coupé heran und macht die Mannschaften darauf aufmerksam, daß auf der nächsten Station ausgestiegen wird und daß sie sich hierzu bereit halten sollen. Demzufolge werden die Mützen in die gerollten Mäntel gesteckt, die Röcke zugeknöpft, die Helme aufgesetzt, die Tornister zur Hand genommen. Die Büchse war natürlich während der Fahrt nicht aus der Hand oder dem Arm genommen.

Auf dem Artillerieschießplatze: Lagerbelustigungen.

Jetzt hält der Zug auf einem Nebengeleise; die Wache verläßt zuerst den Wagen, und nun ertönt das Signal: „Aussteigen!“ Noch ein kräftiger Zug aus der Pfeife, die nunmehr in den Brodbeutel wandert, und rasch steigt Alles aus. Bald sind auch die Pferde und das Material ausgeladen, und sofort wird der Marsch nach dem nicht mehr weit entfernten Lager angetreten. Unter Sang und Klang natürlich, nach echter und rechter Soldatenart!

Auf dem Artillerieschießplatze: Nachtschießen mit Fünfzehncentimeter-Kanonen (Vierundzwanzigpfünder) aus einer Belagerungsbatterie.

Wer da gedacht hat, er werde in dem Lager auf dem Schießplatze nur ein paar elende Hütten finden, die kaum Schutz gegen Wind und Wetter gewähren, der muß sich eines Besseren belehren lassen. Es ist ja eine förmliche kleine Militärstadt, die da vor unseren Augen liegt; wohl an 2000 Mann mit der entsprechenden Anzahl von Pferden vermag sie Unterkunft zu geben. Da giebt es rechtwinklige Straßen, die das Lager in verschiedene Quartiere eintheilen, und die Namen der Straßen, die klingen recht gut für jedes deutsche Ohr: Sedan-, Wörth-, Moltke-Straße etc. Da finden wir auch ein freundliches Officierscasino, wie es unser Maler auf dem hübschen Initial an der Spitze unseres Artikels abgebildet und dessen Skizze er sich in dem Lager von Zeithain geholt hat. Auch die Baracken für die Mannschaften sind recht sauber und wohnlich; sie weisen zwar keinen besonderen Comfort auf, bieten aber durchaus eine menschenwürdige Unterkunft – und so muß es auch sein: das Volk zahlt ja gern die Steuern für unser Militärbudget.

Doch die knapp zugemessene Zeit verbietet uns, hier über die Verpflegung der Truppe, über Schlaf- und Küchenräume oder über das interessante Marketenderwesen Studien zu machen; wir sind ja gekommen, um ein kriegerisches Vorspiel zu genießen – sehen wir uns also den Schießplatz etwas genauer an!

Es giebt hier Gebäude, die von Eisen wahrhaft starren, artilleristische Etablissements, Eisenmunitionsschuppen, Wagenhäuser, Parkplätze, Laboratorien und in gewisser Entfernung auch Pulvermagazine. Die letzteren sind vor Explosionen durch alle erdenkliche Mittel geschützt und mit hohen Erdwällen umgeben, durch welche die Wirkung etwaiger Explosionen in horizontaler Linie aufgehoben wird.

Doch siehe! – da marschirt eine Compagnie nach dem eigentlichen, unmittelbar an das Lager stoßenden Schießplätze. Wir folgen ihr und gewinnen nunmehr eine weite Aussicht über eine weithin gestreckte Sandfläche. Hier ragen Wälle empor; dort sind auf einem Erdhügel abschüssige und steile Wege angebracht – die Hindernißbahn für die Uebungen der reitenden und der Feldartillerie (S. 593); an den Grenzen des weiten Platzes bemerken wir hohe Gerüste, auf welchen weiße Scheiben in die Höhe gezogen werden, durch die der Umgebung auf weite Fernen kundgegeben wird, daß man auf dem Platze scharf schießt und daß alle Unberufenen sich von demselben fernzuhalten haben. Auch finden wir hier manchmal Feldschanzen, deren Bedeutung durch die Kämpfe um Plewna weit und breit bekannt wurde – und eine solche Feldschanze neuester Coustruction hat unser Zeichner links auf seinem Bilde (S. 593) sehr naturgetreu wiedergegeben.

Inzwischen hat die Compagnie, mit der wir ausgerückt waren, Halt gemacht und aus dem an Ort und Stelle vorhandenen Strauchmateriale Faschinen und Schanzkörbe zu arbeiten begonnen. Wie wir erfahren, soll in der kommenden Nacht eine Belagerungsbatterie gebaut werden, und die Mannschaft ist soeben mit den nöthigen Vorarbeiten beschäftigt.

Um nun die Bedeutung dieser Vorarbeiten richtig zu würdigen, wolle der Leser hier eine kurze kriegswissenschaftliche Abhandlung mit in den Kauf nehmen.

Da die Fußartillerie im Kriege dazu bestimmt ist, entweder die feindliche Festung anzugreifen oder die eigenen Bollwerke gegen feindlichen Ansturm zu vertheidigen, so muß sie auch hier auf dem Platze ihre Uebungen in einer Weise abhalten, die nach beiden Richtungen hin ihrer Aufgabe gerecht wird. Betrachten wir sie hier als Belagerungsartillerie!

Diese hat die Aufgabe, die feindliche Artillerie in der Festung niederzukämpfen, militärische Etablissements, wie Casernen, Laboratorien, Proviantmagazine etc. zu vernichten, gedeckte, bombensichere Unterkunftsräume zu zerstören, Eingänge, Passagen, Thore zu öffnen und schließlich durch Niederlegen eines Theiles der Umwallung eine prakticable Bresche herzustellen. Dabei ist sie bestrebt, feindliche Ausfälle zurückzuweisen, wendet sich gegen Truppenansammlungen, macht sich mit einem Worte der feindlichen Besatzung, zum Theil auch den Einwohnern, so unleidlich und widerwärtig, [593] wie sie nur kann, und wenn der Belagernde glaubt, daß bei einer unzufriedenen Bevölkerung oder nicht zuverlässigen Besatzung und einem energielosen Commandanten ein Bombardement zum Ziele, d. h. zu schneller Uebergabe führen könne, so wird auch dieses anscheinend barbarische Mittel angewendet werden.

Nun geht es aber nicht so rasch mit dem Schießen und große Vorbereitungen sind dazu nöthig, bevor wirklich der erste Gruß aus den Kanonen dem Ziele zugesendet werden kann.

Ehe man schießt, ist das Nächste, daß man sich Deckungen baut; das Bauen und Einrichten dieser Deckungen, in der Artillerie Batterien genannt, muß natürlich auch geübt werden, da ja im Kriege der Belagerungsartillerist dieselben sich selber bauen muß, eventuell unter Zuhülfenahme von zugetheilten Mannschaften der Infanterie.

Die Batterien sind nun Bauten aus Erde, Faschinen (lange Strauchbündel, die fest zusammengeschnürt sind), Schanzkörben (cylindrische Strauchgeflechte von circa 1 Meter Höhe und ½ Meter Durchmesser), Hurden (flache Strauchgeflechte von 1 Meter Höhe und 1½ Meter Länge) und verschiedenen Arten Hölzern, womöglich auch Eisenbahnschienen. Letzteres ist überhaupt ein herrliches Material, um sich eine feste Decke zu bauen, durch die der böse Feind sich nicht sofort mit seinen unhöflichen Geschossen hindurch arbeiten kann, und da es heutzutage in civilisirten Ländern kaum Festungen giebt, die nicht an Eisenbahnen liegen, so wird man dieses Hülfsmittel fast nie zu entbehren brauchen.

Auf dem Artillerieschießplatze: Schießübungen der reitenden und der Feldartillerie.

Wie nun die zum Bau der Batterien nothwendigen Materialien angefertigt werden, das hat der Soldat im Lager zu lernen.

Es werden hier die Faschinen gewürgt, Schanzkörbe und Hurden geflochten, Faschinenpfähle gespalten, Bindeweiden gedreht und Anker aus Draht gefertigt, auch noch andere Arbeiten vollbracht. Die einzelnen fertig gestellten Stücke werden auf ihre vorschriftsmäßige Abmessung und probemäßige Beschaffenheit geprüft, und wenn das ganze Pensum geleistet worden ist, was doch immerhin vier Stunden in Anspruch nimmt, marschiren die Compagnien in das Lager zurück.

Dem eigentlichen Bau der Batterie geht noch das Abstecken derselben, das Traciren, sowie das Einrichten des Batteriedepots voran. Da der Batteriebau am Tage nicht stattfinden kann, weil sonst der Vertheidiger den arbeitenden Soldaten das Leben sehr sauer machen würde, so wird vor dem Feinde mit seltenen Ausnahmefällen in der Nacht gebaut. Das muß auch im Frieden geübt werden. Aber da in der Dunkelheit der Nacht leicht Unordnungen und Mißverständnisse eintreten können, so müssen die Vorbereitungen so weit wie möglich am Tage stattfinden.

Zunächst erfolgt das Abstecken der Batterie: die Abmessungen werden durch Officiere und Unterofficiere auf der Erde bezeichnet und durch kleine Pfähle die Richtungen bestimmt. Hinter dem Bauplatz aber wird das sogenannte Batteriedepot errichtet, welches fertig sein muß, wenn der Bau beginnt.

Hier wird in einzelnen Unterabtheilungen Alles geordnet niedergelegt, was nur irgend zum Bau gebraucht wird: Spaten, Kreuzhauen, Aexte, Beile, Sägen, Bohrer und Nägel, weiter Faschinen, Schanzkörbe, Hurden, Bettungsrippen, Bohlen u. dergl. m.

Das Alles wollen wir uns bis zum Einbruch der Dunkelheit fest in’s Gedächtniß einprägen, um dann mit besserem Verständnisse dem Baue der Belagerungsbatterie zusehen zu können.

Allmählich verschwindet die Dämmerung; einzelne Sterne funkeln am Himmel; bald wächst ihre Zahl zu Myriaden an, und endlich hat die Nacht das weite Gefilde in ihren schwarzen Mantel eingehüllt. Nun kommen die Colonnen heranmarschirt, welche die Batterien bauen sollen. Die Leute sind im Arbeitsanzuge, aber die treue Büchse mit Patronen führen sie doch bei sich und legen diese Genossin im Kampfe unmittelbar in die Nähe des Arbeitsplatzes, um den Spaten sofort mit ihr zu vertauschen, wenn ein zudringlicher Feind sich nähern sollte. Den Leuten ist die größte Ruhe anempfohlen; Tabakrauchen ist untersagt, um sich dem Feinde nicht zu verrathen.

Diesen vertreten in Friedenszeiten Officiere, welche auf entsprechende Entfernung mit dem Auftrage entsendet sind, im Falle sie etwas von der geplanten Unternehmung hören oder sehen, es durch Signalschüsse markiren zu lassen. Auch Blendlaternen dürfen beim Bau so wenig wie möglich angewendet werden, und nur so, daß das Licht nie nach der Festung hinüberstrahlt. [594] Die Arbeiter sind nun vertheilt worden; die Grundfaschine wird gelegt; darauf werden die Schanzkörbe gesetzt und mit Erde gefüllt. Diese Arbeit ist wichtig; denn wenn auch ein gefüllter Schanzkorb nicht einem vollem Geschoß aus der Kanone widerstehen kann, so sichert er doch gegen Shrapnel- und Infanteriefeuer. Und diesem Feuer kann die Truppe leicht ausgesetzt werden, denn ein aufmerksamer Feind verläßt sich durchaus nicht darauf, was seine stehenden Posten sehen oder hören. Kleine Schleichpatrouillen sind vielleicht in der Dunkelheit nahe an die Baustelle der Batterie herangekommen und haben die Meldung nach der Festung zurückgebracht. Auch ist das elektrische Licht ein Verbündeter der Vertheidiger: auf einem erhöhten Punkte in der Festung entsteht oft plötzlich ein heller Lichtstrom, der das Vorterrain in großer Breite erhellt. Langsam dreht sich diese elektrische Sonne um ihre Verticalachse und sucht gleichsam das Terrain vor der Festung ab. Langsam nähert sich der Lichtstrahl auch dem Bauplatze der Batterie, wo die Arbeiter aber auch schon ihre Spaten hingeworfen und sich möglichst gedeckt und platt auf die Erde gelegt haben. Nun beleuchtet der Lichtstrom das angefangene Werk. Still liegt Alles da, und nur schlechte Witze der Compagniespaßmacher lassen sich vernehmen, denen ein unterdrücktes Kichern oder eine ernste Ermahnung, sich nicht zu regen, folgt. Dank der Farbe der ausgeworfenen Erde, die sich in diesem Falle nicht vom Boden unterscheidet, ist der Feind nicht mißtrauisch geworden; langsam geht das Licht weiter, und Alles athmet auf; denn wenn der Bau entdeckt worden wäre, was leicht hätte geschehen können, so würde der Bauplatz alsbald mit einem Hagel von Geschossen überschüttet werden, der den Fortgang der Arbeiten sehr erschweren, unter ungünstigen Verhältnissen ganz verhindern würde.

Emsig wird weiter fortgebaut; die Brustwehr, welche Erde aus einem Vor- und Hintergraben erhält, verstärkt sich mehr und mehr, und im Innern der Batterie, dem Batteriehof, werden die Bettungen gestreckt. Der eigentliche Stand der Geschütze befindet sich natürlich auf der dem Feinde abgekehrten Seite der Brustwehr, aber nicht auf dem gewachsenen Boden, sondern circa dreiviertel Meter unter dem Bauhorizont. Hier können aber unsere Geschütze, die zum Theil im Vereine mit der Laffette ein sehr großes Gewicht repräsentiren, nicht auf der Erde selbst stehen. Deshalb bauen wir uns für die Geschütze eine sogenannte Bettung, das heißt eine ebene Plattform aus starken Kreuzhölzern und Bohlen, auf welche dann das Geschütz gestellt wird. Zwischen je zwei solcher Geschützbettungen befindet sich ein Unterkunftsraum für Mannschaften; diese Räume sind womöglich mit Eisenbahnschienen und Faschinen so fest eingedeckt, daß sie dem feindlichen Geschoß Widerstand leisten. Ferner sind Munitionsgelasse gebaut, um den vierundzwanzigstündigen Bedarf an Geschossen aufzunehmen, und auf einem Flügel findet die stark umhüllte Pulverkammer ihren Platz.

Es genügt nun nicht allein, daß in einer Nacht die Batterie als solche fertig gestellt wird, sondern sie muß auch armirt werden, das heißt die Geschütze müssen eingefahren werden (gewöhnlich sechs an der Zahl), auch muß sie mit Munition für vierundzwanzigstündigen Bedarf completirt werden. Beides klingt leichter, als es in der That ausgeführt werden kann. Die schweren Geschütze können schon auf der Straße nur mühsam fortbewegt werden – von der Straße über das Feld weg nach den Batterien wachsen die Schwierigkeiten noch mehr, und oft wird durch untergelegte Bohlen erst ein fester Fahrgrund geschaffen. Dabei darf kein Lärm verursacht werden, da sonst der wachsame Vertheidiger sein Feuer eröffnen würde. Auch der Munitionsersatz ist schwieriger, als man glaubt. Nimmt man eine schwere Mörserbatterie von sechs Geschützen an und normirt die Schußzahl auf vierzig pro Geschütz für vierundzwanzig Stunden, so muß man allein über dreihundertachtzig Centner Eisenmunition heranschaffen, da jede Einundzwanzig-Centimeter-Granate circa achtzig Kilo wiegt. Während des Kampfes ist aber ein Munitionsersatz nicht gut durchzuführen.

Sind diese Arbeiten nun alle ausgeführt und ist die Batterie am Morgen schußfertig, so ist das Pensum erfüllt. Gelingt es aber nicht, die Batterie in einer Nacht fertig zu stellen, und wird das feindliche Feuer nicht durch andere, schon fertig gestellte Batterien abgelenkt, so hat man natürlich einen schweren Stand, da der Vertheidiger den weiteren Ausbau der Batterie nach Kräften stören wird. Deshalb muß der Angreifer darnach streben, bei Beginn des Tages das Feuer aus der Gruppe fertig gestellter Batterien zu eröffnen, um seinerseits die Vertheidigungs-Artillerie zu überraschen. Ein Hoch auf den Kriegsherrn begleitet vor dem Feinde die ersten Schüsse aus der Batterie gegen die Festung.

Hier auf dem Uebungsplatze wird das Schießen mit der vielseitigsten Instruction verbunden, um es möglichst belehrend zu gestalten. Systematisch fängt man dabei mit dem Leichtesten an und endet mit dem Schwierigsten. Wir übergehen das Schießen nach einfachen Scheiben und wenden uns gleich den Uebungen zu, welche auf kriegerische Handlungen Bezug nehmen.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes sind, wie unser Hauptbild zeigt, Erdwälle aufgeführt, welche gegnerische Batterien bedeuten; die feindlichen Kanonen, sowie ihre Officiere und Mannschaften, sind entweder roh aus Holz gezimmert oder durch einfache Bretter markirt, und die Pulverdämpfe, welche wir von dort aufsteigen sehen, rühren selbstverständlich von blinden Pulverentladungen her, die auf elektrischem Wege entzündet werden. In der Nähe dieser feindlichen Batterien sind in Schutzhütten Officiere postirt, welche die Treffer der im Vordergrunde feuernden Geschütze notiren und über die erzielten Resultate durch Telephone mit den Führern der Batterie correspondiren. So dauert die Kanonade schon längere Zeit fort, und die Mannschaft freut sich, einige gute Treffer erzielt zu haben. Aber da heißt es plötzlich: „Die Laffette des dritten Geschützes unserer Batterie ist demontirt, das Geschütz nicht mehr schußfähig.“

Schnell spielt der Telegraph nach dem Geschützpark, wo die Reservelaffetten auf kleinen Spurwagen verladen stehen; in wenigen Minuten gelangen dieselben auf der Bahn an die Batterie. Das Geschütz wird mit Hülfe eines starken Hebezeuges ausgelegt, die zerschossene Laffette beseitigt und die neue Laffette dafür eingestellt. So rasch wie möglich muß der Unterofficier, der das Geschütz commandirt, dieses wieder schußfertig machen; während dessen fährt das Feuer in der Batterie regelmäßig fort; würde nämlich der Feind ein Nachlassen im Feuer bemerken, so würde er sich mit verdoppeltem Eifer dieser Batterie widmen, um sie womöglich ganz zum Schweigen zu bringen.

Inzwischen belebt sich der Schießplatz immer mehr. Am frühen Morgen erscheinen auf demselben Abtheilungen der Feld- und der reitenden Artillerie, welche ihre Evolutionen machen und bald auch mit dem Feuern beginnen. Da werden unblutige Schlachten geliefert. Es heißt wiederum plötzlich: „Batterie N. N. wird von der feindlichen Cavallerie angegriffen,“ und in der That sehen wir einige auf einer Leinwandscheibe gemalte Reiter mit Galoppgeschwindigkeit gegen unsere Stellung vorrücken. Diese bewegliche Scheibe ist mit einem Drahtseil versehen, welches um eine Rolle läuft, von einigen im nahegelegenen Walde aufgestellten Pferden gezogen wird und so die Scheibe auf einem Schlittengestell vorwärts bewegt. Nun heißt es, diese Scheibe mit Granaten, Shrapnels etc. zu beschießen.

Doch da rückt langsamer schon eine andere Scheibe vor, und deutlich erkennen wir auf derselben gemalte Infanterietruppen, welche, wie die obenerwähnte, an einem Drahtseil von Soldaten vorwärts gezogen wird. So wird ein Infanterie-Angriff marquirt, der gleichfalls zurückgewiesen werden muß.

Nun donnert es aus den verschiedenen Batteriegruppen gegen die mannigfachsten Ziele, bis die letzte Granate des Tages das Rohr verlassen hat; „Feuer halt“ ertönt es nun aus den Batterien und als Antwort von den Scheiben.

Ein Theil der Truppen, die abgeschossen haben, sind commandirt, um die verschossene Munition in ihren Theilen wieder zu suchen, da ja die Geschosse sämmtlich crepiren sollen; einige derselben thun es aber nicht, und diese widerspänstigen aufzufinden und unschädlich zu machen, ist Aufgabe der Kugelsucher. Solche Geschosse können nämlich schon bei geringer Berührung crepiren und die Umstehenden in Stücke reißen. Die aufgefundenen Granaten werden an Ort und Stelle in folgender Weise unschädlich gemacht: eine Dynamitpatrone von einem halben Pfund wird auf das fragliche Geschoß gelegt, nachdem sie mit Bickford’scher (mit Kautschuk übersponnener) Zündschnur versehen ist. Die einige Minuten brennende Leitung wird entzündet; Alles entfernt sich bis auf einige hundert Schritt; die Detonation erfolgt, und durch den gewaltigen Druck der plötzlich wirkenden Gase wird das Geschoß in kleine Stücke zerschlagen, und zwar ist die Explosion so heftig und schnell, daß nicht einmal das Pulver der Sprengladung entzündet wird.

Das Schießen wird nun noch einige Wochen lang fortgesetzt; [595] doch auch andere Dienstzweige werden betrieben; so wird das Exerciren mit Gewehr, im Bataillon und am Geschütz weiter geübt und Munition angefertigt; auch werden Instructionen abgehalten, und Nachtschießen findet statt. Raketen, deren Leuchthauben mit Feuerwerkskörpern gefüllt sind, werden aufgelassen; beim Schein dieser Leuchtsterne wird das Geschütz gerichtet und die Stellung des so eingerichteten Geschützes auf der Bettung bestimmt; dann kann das Schießen beginnen.

In großer Abwechselung verläuft nun die mehrwöchentliche Uebung; die jungen Soldaten haben mit allen Calibern und Geschützarten, wie sie in und vor Festungen gebraucht werden, geschossen, sind mit ihren Eigenthümlichkeiten vertraut geworden und wissen, was sie von denselben erwarten können. Die Inspicirungen, die gegen Ende der Schießübung eintreten, sind gut abgelaufen; die hohen Herren haben ihre Zufriedenheit ausgesprochen, und Vorgesetzte und Untergebene sind erfreut, daß das Regiment die Prüfung wiederum mit Ehren bestanden hat.

Die eigentliche Schießübung ist beendet – es findet nur noch das Prämienschießen statt, in welchem die Unterofficiere um die Schießauszeichnung, die Mannschaften um silberne Medaillen, respective Geldpreise concurriren. Nach dem letzten Schusse am letzten Schießtage ertönt das Signal „Das Ganze halt!“. Die Fahne vor der Wache wird langsam heruntergelassen.

Der nächste Tag gilt der Vorbereitung zum Abmarsch, aber der Nachmittag wird noch einmal der Freude gewidmet. Jüngere Officiere in Verbindung mit einigen Unterofficieren und gewandten Einjährigen haben ein kleines Programm aufgestellt und Vorbereitungen getroffen, daß zu guterletzt noch Jeder eine lustige Erinnerung an das Lagerleben mitnimmt.

Ist Feldartillerie im Lager, dann wird ein Wettrennen abgehalten, an welches sich sonstige Belustigungen schließen. Aus Ersparnissen am Menagefonds oder Ueberschüssen der selbstverwalteten Marketendereien, respective Pachtgeldern erhalten die Mannschaften Bier und Cigarren, und die Musik spielt an einem passenden Platz des Lagers, wo sich Alles sammelt.

Der uns eng zugemessene Raum gestattet uns leider nicht, alle die fröhlichen Soldatenbelustigungen hier zu schildern, wie das Wettrennen der Mannschaften mit Hindernissen, das Wettspringen nach Würsten, die oft heimlich mit Syrup gefüllt sind und den nach ihnen Schnappenden mit dem süßen Saft übergießen, das Wettessen eines Heidelbeerkuchens, in welchem ein blanker Thaler sich befindet, der demjenigen gehört, der ihn zuerst mit den Zähnen erfaßt, etc. Das beigegebene Bild (S. 592) zeigt einige dieser Spiele. Oft findet auch das beliebte Wettrennen der Officiershunde statt, wobei die Thiere Hindernisse „moralischer“ Art, wie Würste und Bratenstücke, zu überwinden haben.

Schließlich wird aus alten Holz und Strauchresten ein Lagerfeuer angezündet, und bei den Klängen der Musik tanzen nun die Leute mit einander; in den Zwischenpausen wird gesungen. Natürlich sind es auch hier, wie immer, wenn Deutsche heiter sind, schwermüthige Weisen, die erklingen; z. B. „Morgenroth, leuchtest mir zum frühen Tod“, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ und „Ist Alles trübe“ etc.

Nachdem nun das Lagerfeuer heruntergebrannt ist, ertönt der Retraiteschuß; die Musik bläst die Retraite und das Gebet. Allmählich wird es still, und nach einer Stunde herrscht tiefe Ruhe im Lager; die Krieger träumen auf ihren Feldbetten von den Freuden der Garnison, die ihnen nun so nahe winken.

Nur noch ein Tag, und der Rückmarsch beginnt; freudig werden wir bei dem Einmarsch daheim von Freunden und Bekannten begrüßt.




Noch einmal vom dritten deutschen Sängerbundesfest in Hamburg.[2]

Von Harbert Harberts. Mit Abbildungen von P. Duyffcke.
Der Sängereinzug. – Beim Begrüßungschoppen. – Der Empfangsabend in der Festhalle. – Etwas vom Festplatze. – Waterkant. – Der Sängertag und die Sängerbundesstiftung. – Das erste Festconcert. – Der große Festzug. – Das zweite Festconcert. – Zum fröhlichen Anfang das fröhliche Ende.

Es war ein prächtiges Fest, das jüngst die sangeskundigen Söhne Alldeutschlands in Hamburgs Mauern feierten, ein echtes Nationalfest, das die Herzen aller Theilnehmer höher schlagen ließ in freudiger Begeisterung, in einmüthiger Hingabe an die idealen Genüsse, die das deutsche Lied und der deutsche Chorgesang ihren Jüngern und Freunden bereiten, ein deutsches Verbrüderungsfest im schönsten und edelsten Sinne des Wortes. Und der Himmel selber hatte seine helle Freude an dem prächtigen Feste. Noch wenige Tage vorher hing er ununterbrochen grau und trübe herab auf die alte Hansastadt, als aber mit dem Morgen des 10. August das Fest anbrach, da hatte er die letzte Wolke aus seinem Antlitz gewischt und lachte blau und sonnenglanzumflossen herab auf die Thürme und Giebel der Stadt, die im reichen Schmucke bunter Fahnen erprangte, auf die Straßen, die sich das Festkleid grüner Guirlanden und mächtiger Triumphbogen mit poetischen Inschriften angethan hatten, und auf die Tausende und Abertausende von fröhlichen Menschenkindern jeden Alters, jeden Standes und jeden Geschlechts, welche die Straßen vom frühen Morgen an belebten und die einziehenden Sangesgäste mit herzlichem Jubel begrüßten.

Alle fahrplanmäßigen Züge der verschiedenen Eisenbahnen und zahlreichen Extrazüge brachten deren in immer neuen Schaaren. Auf den Perrons wurden dieselben von Vertretern des Centralausschusses officiell empfangen und unter den Klängen eines rauschenden „Sängermarsches“, den der in Hamburg so sehr beliebte und durch seine „Türkische Schaarwache“ durch ganz Deutschland und weit über dessen Grenzen hinaus bekannte Musikdirector Theodor Michaelis eigens zum Feste componirt hatte, nach dem Empfangsbureau, der Marienthaler Bierhalle am alten Pferdemarkte, geleitet.

Die Marienthaler Bierhalle liegt dem Thaliatheater gerade gegenüber und war bis vor Kurzem noch eine gewöhnliche Markthalle, wo auf dem „Schrangen“ der Schlächter sein saftiges Ochsenfleisch, seine Schweinsrippen und Hammelkeulen, die Landleute der Umgegend ihr Gemüse und die stämmige Fischfrau Schellfische und Schollen ausbot. Seitdem hat die Kunst des Architekten und des Decorationsmalers die Halle in ein glänzendes Wirthschaftsetablissement umgewandelt, wo die Marienthaler Bierbrauerei bei Wandsbeck ihre vorzüglichen Biersorten verzapft, und wo vom Tage der Eröffnung an große Frequenz herrscht.

Hierhin war, wie gesagt, das Empfangsbureau verlegt, und hier wurde den einziehenden Sangesgästen vom Comité der „Begrüßungsschoppen“ credenzt. Ein buntes, malerisches Treiben füllte den ganzen Vormittag die weite, hohe Halle und den vor ihr liegenden kleinen Garten. Mit Sang und Klang zogen die schier zahllosen einzelnen Liedertafeln und Gesangvereine mit ihren bunten, zum Theil kostbaren Fahnen und Bannern ein, und jedem einziehenden Gaste wurde jubelnder Zuruf zu Theil.

Förmlicher Enthusiasmus aber that sich allseitig kund, als die deutschen Sangesbrüder aus England und den russischen Ostseeprovinzen eintrafen, und in erhebender Weise zeigte sich wieder einmal, daß das deutsche Stammesbewußtsein auch denjenigen Söhnen der gemeinsamen Mutter Germania gegenüber warm und kräftig pulsirt, von denen uns eine kalte politische Grenze trennt. Vierstimmiger Hochgesang erscholl zu ihren Ehren, und die Musik schmetterte ihnen ihren fröhlichsten Tusch entgegen.

Im Empfangsbureau wurden vorläufig die Banner abgegeben und die Festzeichen und Festkarten, sowie die Programme und Quartierbillets entgegen genommen. Dann erst kam der „Begrüßungsschoppen“ zu seinem Rechte. Viele der Sänger hatten eine lange Eisenbahnfahrt hinter sich, und da mag der kühle Trunk den ausgetrockneten Kehlen trefflich zugute gekommen sein.

Es entwickelte sich denn auch bald an allen Tischen eine zwanglose Fröhlichkeit, und die Kellner, unter denen zwei waschechte Nigger den Binnenländern einen kleinen Beweis von Hamburgs kosmopolitischer Stellung gaben, hatten kaum Hände genug, um an sämmtlichen Tischen den nöthigen „Stoff“ spenden zu können. Dazwischen bewegten sich dralle Vierländerinnen in ihrer [596] charakteristischen Tracht und schmückten die wackere Brust der Sänger mit blühenden Rosen. Nicht selten geschah es, daß stramme Bajuvaren, die ebenfalls zum Theil in ihrer heimathlichen Tracht, in Kniehosen und Lodenstrümpfen, auftraten, den schmucken Töchtern der norddeutschen Tiefebene zum Danke in die blühenden Backen kniffen, und bei einem solchen Anblicke konnte sich auch der verbissenste Particularist der Ueberzeugung nicht verschließen, daß nunmehr wirklich und in der That die Mainlinie endlich und endgültig in die historische Rumpelkammer geworfen sei.

Das dritte deutsche Sängerbundesfest in Hamburg: Concert in der Festhalle.

Im Ganzen zeigten sich die Sangesgäste auf’s Angenehmste berührt von dem herzlichen Empfange, den ihnen die Feststadt zu Theil werden ließ, und als sie von Schülern der Volksschule durch die festlich geschmückten Straßen in ihre Quartiere geleitet wurden, da mögen in mancher Brust sich Gedanken geregt haben, wie sie Ernst Wichert in dem Liede aussprach, das er dem Königsberger Sängerverein mit auf den Weg gab:

„Sei froh gegrüßt, Hammonia,
Die gastlich uns gewogen!
Die Reise schien uns nicht zu hart;
Wir üben echter Sänger Art,
Zu fahren und zu singen –
Mag unser Werk gelingen!“

Das dritte deutsche Sängerbundesfest in Hamburg: Die Marienthaler Bierhalle

Und des Dichters Wunsch ist herrlich in Erfüllung gegangen. Doch wir dürfen unserer streng historischen Darstellung nicht vorgreifen und wollen den Festereignissen der Reihe nach folgen. Das erste dieser Ereignisse war der feierliche allgemeine Begrüßungsactus in der Festhalle auf der Moorweide.

Wir haben in Nr. 32 den Lesern der „Gartenlaube“ bereits eine Ansicht der Festhalle und eine allgemeine Beschreibung derselben gebracht. Das Innere der Halle war seinem pompösen Aeußern entsprechend mit Fahnen, Wappen und Emblemen prächtig decorirt, und dieser decorative Schmuck erhöhte sich in außerordentlicher Weise, als am Nachmittage in langem Zuge unter gewaltigem Zulaufe der Volksmenge die Fahnen und Banner der Sängervereine überbracht und rings an den Wänden der weiten Halle placirt wurden. Vor der rothausgeschlagenen Dirigentenkanzel stand die überlebensgroße Büste des deutschen Kaisers, und wieder vor dieser das mächtige Bundesbanner mit den beiden kostbaren gestickten Schleifen daran, die bei Gelegenheit der beiden vorhergehenden Sängerfeste holde Frauen zu Dresden und München den deutschen Sängern als Erinnerungszeichen verehrten. Gegen acht Uhr Abends füllte sich allmählich die Halle bis auf den letzten Platz mit frohen Festtheilnehmern, und nun betraten die Hamburg-Altonaer Sänger das Podium, um den von ihrem Dirigenten, Musikdirector Böie, schwungvoll componirten „Bundesspruch“ vorzutragen. Mächtig rauschte es durch die Räume:

„Klug im Rath, kühn zur That,
Furchtlos und frei, dem Kaiser treu,
Herz und Hand dem Vaterland!“

Als der einleitende Gesang, welcher auf stürmisches Verlangen des Auditoriums zweimal wiederholt werden mußte, verklungen war, bestieg Senator Stahmer die Dirigentenkanzel und begrüßte Namens der Stadt in einer warmen Ansprache die von nah und fern herbeigeeilten Sangesbrüder. Seine Rede schloß mit dem Motto: „Ergo bibamus!“ und einem kräftigen dreimaligen Hoch auf die Sänger. Darauf folgte wieder Gesang und dann im Namen der Hamburger Frauen durch Director Kümmel aus Altona die Ueberreichung einer dritten Schleife für das Bundesbanner, nicht minder kostbar als die bereits erwähnten zwei von Dresden und München. Die Schleife besteht aus einem schweren, breiten weißen Seidenbande, mit dem Hamburger Wappen und einer entsprechenden Inschrift in prachtvoller Gold- und Buntstickerei geziert, und ist aus dem renommirten Kunststickerei-Atelier der Frau Dr. Marie Meyer in Hamburg hervorgegangen. Als Vertreter des Sängerbundes dankte Notar Otto aus München für das schöne Angebinde, und nun begann ein fröhlicher Commers, den Solo-Vorträge von Gesangsvereinen aus den verschiedensten deutschen Gauen würzten. – Nicht minder fröhliches Treiben als drinnen in der Halle herrschte seit Anbruch des Abends draußen auf dem Festplatze. Dort in den zahlreichen Restaurations- und Erfrischungshallen war bald buchstäblich kein Platz mehr zu erhalten, namentlich aber, als der Commers zu Ende gegangen war und sich hier das ganze Festtreiben concentrirte. Allüberall klangen aus geübten Sängerkehlen vierstimmige Lieder bald ernster, bald heiterer Art, und dazwischen wieder jauchzten übermüthige Jodler in den warmen Sommerabend hinein. Daß dabei der braune Trank der Gerste in Strömen floß, bedarf keiner besonderen Erwähnung; denn einer [597] Sängerkehle ergeht es wie einer Musikantenkehle, und die ist laut Emanuel Geibel „als wie ein Loch“. Es war auch nicht zu verwundern, daß einzelnen Sängern aus dem biergesegneten Baierlande das notorisch kleine Hamburger Seidel bald gar zu winzig erschien und sie deshalb anfingen, ihren famosen heimathlichen „Weihenstephan“ aus – Champagnerkühlern zu pokuliren. Ganz selbstverständlich ist es ferner, daß auch der Humor seine lustigen krausen Blüthen trieb; er war es, der sein geselliges Band um die ganze Festgesellschaft schlang, die da unten auf der Moorweide zu Hamburg vor dem Dammthore durch einander wogte, indessen von oben die glänzenden Sterne mit verwunderten Augen auf sie herabschauten.

Das dritte deutsche Sängerbundesfest in Hamburg: Das Bundesbanner im Festzuge.

Und aus Abend und Morgen wurde der zweite Tag. Auch er lachte in strahlender Bläue auf das Fest hernieder. Nachdem Vormittags in der Festhalle die erste allgemeine Probe zu dem ersten großen Concert abgehalten war, schauten sich die fremden Sänger, von denen viele auch ihre Damen mitgebracht hatten, die Sehens- und Merkwürdigkeiten der Weltstadt an. Naturgemäß übte der Hafen mit seinen zahllosen Schiffen, vom stolzen Meergiganten an, der den weiten Ocean durchfurcht, bis zum bescheidenen Ewer, der von den nahen Elbinseln her die Hamburger mit frischen Lebensmitteln versorgt, die bedeutendste Anziehungskraft auf die staunenden Binnenländer aus, und in der That wimmelte es dort förmlich von Besuchern. Die Leute „von de Waterkant“, die unter Umständen mit den in dieser Beziehung berüchtigten Sachsenhäusern recht gut in „wackerer heimathlicher Grobheit“ rivalisiren können, zeigten, daß sie ebenfalls hinwieder sehr gemüthliche Leute sein können, und in mancher Hafenschenke konnte man zwischen Gästen und „natives“ die herzlichsten Beziehungen beobachten. Dazu hatte auch der Hafen ein buntes Festgewand angelegt. Da lag nicht ein einziges Schiff, dessen Masten nicht reich beflaggt waren, und die alten Häuser, die sonst etwas grämlich dareinschauen, blickten jetzt im Schmucke grüner Kränze und bunter Inschriften freundlich auf die zu ihren Füßen fluthenden Menschen. Die Inschriften waren zum Theil recht bezeichnend. So war es der Ausdruck vollster Ueberzeugung, wenn die eine in biederem Plattdeutsch meinte:

„So lang’ in Hamborg Schippfohrt geiht,
So lang’ Gewerbe noch besteiht,
So lang’ Gesang noch wardt verehrt:
So lang’ geiht hier noch nicks verkehrt.“

Einzelne Inschriften wieder schlugen einen humoristisch satirischen Ton an. Die in der Hamburger Bevölkerung tiefgehende Bewegung des Zollanschlusses äußerte sich folgendermaßen:

„Bis 88 könnt Ihr singen
Aus freier Kehle, wie Ihr wollt;
Denn spät’re Zeit noch wird es bringen,
Daß man Gesang als ‚Ton‘ verzollt.“

Mittlerweile waren in dem sogenannten „Schweizersaale“ des Sagebiel’schen Etablissements die Delegirten der Gaubünde zum achten „Sängertage“ zusammen getreten. (Der vorige wurde am 7. August 1880 in Würzburg abgehalten.) Die Verhandlungen betrafen zumeist interne Angelegenheiten des Sängerbundes und passen deshalb in den Rahmen dieses Festberichtes nicht. Aber über die „Deutsche Sängerbundes-Stiftung“, die 1877 zu Kassel errichtet wurde und deren Zweck es ist, wie die Satzungen besagen: „Componisten auf dem Gebiete des deutschen Männergesanges sowie deren Hinterbliebenen in Fällen der Bedürftigkeit Unterstützungen als Ehrengaben des deutschen Sängerbundes zu gewähren“, über sie dürften einige Mittheilungen von Interesse sein.

Die „Sängerbundesstiftung“ verfügt zur Zeit über ein Capital von 42,000 Mark und hat im vergangenen Jahre an die Wittwe Kreutzer und an Ed. Hermes je 600 Mark als Ehrengaben vertheilt. Im neuen Geschäftsjahre werden wieder zwei Ehrengaben zur Vertheilung gelangen und zwar 900 Mark an Altmeister Storch und 600 Mark an die Wittwe Weber. – In den Nachmittagsstunden stand die erste große künstlerische That des Sängerfestes bevor, nämlich das erste große Festconcert, und in breitem Strome ergoß sich die Menschenmenge dem Festplatze zu. Es bedurfte großer Vorsicht, um sich durch das dichte Gewirr der Fuhrwerke und Fußgänger gefahrlos zu winden und, ohne Leibesschaden zu nehmen, die Halle zu erreichen. Dort saßen zur festgesetzten Zeit Kopf an Kopf erwartungsvoll die Hörer, Männlein und Weiblein, beisammen, und auf dem Podium gruppirte sich die gewaltige Sängerschaar. Ein imposanter Anblick! Jetzt betrat Professor Julius von Bernuth die Dirigentenkanzel und erhob den Tactstock. Das Orchester setzte ein, und [598] überwältigend erbrauste Beethoven’s herrliche Hymne „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ in die weite Halle hinein. In fast athemloser Spannung lauschte die Menge den erhebenden Klängen, und als sie verhallten, brach jubelnder Beifall aus. Dann hielt Dr. Hachmann, der Präsident der „Bürgerschaft“, mit schallender, im fernsten Winkel des großen Raumes klar verständlicher Stimme eine zündende Ansprache, die in einem begeisterten Hoch gipfelte auf den deutschen Kaiser, „der den versunkenen Nibelungenschatz deutschen Reiches Herrlichkeit gehoben, auf dessen Thaten und Namen für alle Zeiten der dankbare Herzschlag der Nation antwortet“, und begeistert, wie das Hoch ausgebracht wurde, stimmten alle die Tausende, welche die Halle füllten, stehend in dasselbe ein. Der fernere Verlauf des Concerts mußte auch die höchstgehenden Ansprüche nicht nur befriedigen, sondern übertreffen. Die einzelnen Nummern gelangten in tadelloser Weise zu Gehör und übten eine mächtige Gesammtwirkung aus, die durch die überraschend gute Akustik der Festhalle wesentlich gehoben wurde.

Das dritte deutsche Sängerbundesfest in Hamburg: Die Kneipe zum „Weihenstephan“ auf dem Festplatze.

Abwechselnd dirigirten Professor von Bernuth und der Bundeschormeister Franz Schmid; es war eine Freude, zu beobachten, wie die beiden wackeren Dirigenten den gewaltigen Männerchor „wie am Schnürchen“ lenkten und aus ihm das zarteste Piano wie das brausendste Forte förmlich herausholten. Interessant war ferner die Beobachtung, daß einfache deutsche Lieder, wie das von Conradin Kreutzer[WS 1] componirte innige Uhland’sche Lied „Das ist der Tag des Herrn“ und die Müller’sche, von Karl Isenmann in Musik gesetzte, volksliedermäßige Dichtung „Heute scheid’ ich, morgen wandr’ ich“ am prächtigsten gelangen und die größte Wirkung erzielten.

Gehoben durch den unvergleichlichen Genuß dieses Concertes, verließ nach Beendigung desselben die Menge die Halle, um sich wieder auf dem Festplatze zu ergehen, wo erst die späte Nacht dem fröhlichen Gewühle ein vorläufiges Ziel setzte.

Das dritte deutsche Sängerbundesfest in Hamburg: Rückkehr von der Nordsee.

Und wieder wurde aus Abend und Morgen der dritte Tag.

Auf diesen dritten Tag war der große Festzug angesetzt, der den Höhepunkt des Festes in seiner Bedeutung als Volksfest bildete. Das war ein Leben und Treiben, ein Wogen und Drängen auf den Straßen, durch die der Zug sich bewegen sollte! Von allen Balconen, aus allen Fenstern hingen bunte Teppiche herab, und über dieselben lugten leuchtenden Blickes „Damen in schönem Kranz“ zu uns herüber. Vor dem Steinthore, beim Gewerbemuseum, geschah die Aufstellung des gigantischen Zuges, der sich Nachmittags gegen 2½ Uhr in Bewegung setzte, zwei in mittelalterliche Kostüme gekleidete Herolde mit Reisigen an der Spitze.

Zunächst – um nur Einiges aus dem Festzuge anzuführen – bedarf der große Festwagen der Erwähnung, auf dem das schwere Bundesbanner gefahren wurde. Der Wagen, ein wirkliches Kunstwerk, wurde von dem bewährten Hamburger Bildhauer Engelbert Pfeiffer modellirt und hatte die Form eines Schiffes, das am Bugspriet die Muse des Gesanges, an den reich ornamentirten Seitenborden aber verschiedene Städtewappen und am Spiegel ein mächtiges Hamburger Wappen zierten. Das Schiff, von sechs Rappen gezogen, war mit zwölf buntgekleideten Matrosen bemannt. Dieser Festwagen mit dem darauf befindlichen Bundesbanner, auf dem man in leuchtender Goldstickerei das Wort des alten Arndt: „Das ganze Deutschland soll es sein!“ las, erregte überall stürmischen Enthusiasmus und auf ihn besonders regneten aus schönen Händen duftige Blumensträuße dicht hernieder.

Auch im Zuge kam der Humor zu seinem Rechte. Einzelne sächsische Vereine marschierten geschlossen unter einem gewaltigen Sonnendache, gewissermaßen damit ihre brüderliche Eintracht andeutend. Die Hildesheimer trugen Sonnenschirme in schreiend rothen und gelben Farben, und ein anderer hannoverscher Verein hatte sich mit phantastischen Kopfbedeckungen mit darauf gestickten Sonnenblumen versehen. Die „Chargirten“ der „Liedertafel“ zu Hameln marschierten ihren Sängern voran in grauen Hüten, die zu Ehren des berühmten „Rattenfängers“ ihrer Vaterstadt mit Ratten ausstaffirt waren, und ein Bremer Club führte als Feldzeichen auf hoher Stange einen schwarzen Kater, der eben im Begriff ist einen riesigen Häring zu verspeisen; darunter das Wort: „Des Sängers Fluch“.

Der drittehalb Stunden lange Zug bewegte sich zuerst in die in einen Triumphpfad verwandelte Steinstraße hinein und dort, wo zur Rechten die hohen Kirchthürme zu St. Jacobi und St. Petri ernst auf ihn herniederschauen, hat unser Künstler in dem beigegebenen Bilde aus ihm eine Partie festgehalten.

Unter ununterbrochenem Jubel der Bevölkerung, unter fortwährendem Blumenregen aus schönen Händen bewegte er sich durch die vorgeschriebenen Straßen und unter den Klängen der Musik nach dem Festplatze, wo er erst nach fünf Uhr anlangte.

Die Strapazen, welche der große Zug nothwendig mit sich brachte, machten es nöthig, daß der Anfang des zweiten Festconcerts, der wie beim ersten auf sechs Uhr anberaumt war, um eine Stunde verschoben wurde. Das Concert wurde dieses Mal eingeleitet mit einer Ansprache eines Vertreters des Sängerbundes, des Generaldirectionsrathes E. Rutz aus München, und der Verlesung eines herzlichen Danktelegramms, das der deutsche Kaiser für das ihm am Tage zuvor von 17,000 Festgenossen gebrachte Hoch an den Bürgermeister Dr. Kirchenpauer gerichtet hatte. Trotz der beim Zuge erlittenen Strapazen kamen die Lieder auch jetzt wieder mit wundervoller Frische und Präcision zum Vortrage, so namentlich das wildenergische „Lied der Städte“ von Hermann Lingg, componirt von Max Bruch. Elektrisirend erklang die Schlußstrophe:

„Was Felseneck und Hohenrain!
Was Geierhorst und Drachenstein!
Schlagt drein, schlagt drein!
Schlagt Zugbrück’ ein und Pfosten!
Die Sporen müssen rosten
Und frei die Städte sein.“

Geradezu bezaubernd gelang die „Dörpertanzweise“ von Victor von Scheffel, Melodie von Max Zenger, mit dem Refrain:

„Der Heini von Steyer
Ist wieder im Land.“

Ueberwältigend erhaben dagegen war der „Siegesgesang der Deutschen nach der Hermannsschlacht“ von Felix Dahn, von dem Altmeister des deutschen Liedes Franz Abt in Musik gesetzt. Und wieder war das dicht gedrängte Publicum auf’s Höchste entzückt von den ausgezeichneten Leistungen der Sänger. Die animirte Stimmung erlitt auch nicht die geringste Einbuße, als während der letzten Nummer das elektrische Licht in Folge einer Störung in der Leitung plötzlich erlosch und der Chor seinen Gesang im Dunkeln zu Ende führte, was ihm exact gelang.

Der diesem letzten der eigentlichen Festtage folgende Sonntag war ganz und gar Ausflügen in die Umgegend Hamburgs gewidmet. Ein großer Theil der Sänger stach mit fünf Dampfern der „Hamburg-Amerikanischen Paketfahrt-Actien-Gesellschaft“, mit der „Suevia“, der „Lotharingia“, der „Frisia“, der „Messalia“ und dem „Blankenese“ bis in die Nähe des rothen Felseilandes

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Kreuzer

[599] Helgoland in See, während ein anderer, noch größerer Theil sich mit einer Elbfahrt begnügte, am hügeligen, umbuschten, mit Dörfern und Villen besäeten Ufer entlang, bis zu dem reizend gelegenen Blankenese hinunter, wo ein herrlicher Sommertag voll Sang und Klang, voll Lust und Laune als herrlicher Epilog das herrliche Fest beschloß.

Spät Abends, als Dunkel sich über die Wasser des majestätischen Elbstromes niedergelassen hatte, führten die letzten Schiffe die letzten Festgenossen dem Hafen wieder zu, und in vielen Villen am Ufer flammte ihnen zu Ehren an den Fenstern Illumination auf. Am Montag wurde noch eine große Extrafahrt nach Kiel zur Besichtigung der dortigen Reichskriegshafenanlagen veranstaltet, und dann zerstreuten sich all die Tausende der Sänger wieder nach allen Richtungen der Windrose in ihre Heimath, wo sie, voller Dank gegen die gastfreundliche und liebenswürdige Feststadt, noch lange zehren werden an den schönen Erinnerungen – vom dritten deutschen Sängerbundesfeste.


Hymnus zur Eröffnung des Canals von Suez.[3]

Von Martin Greif.

      Heil dem Meere,
Heil dem gewaltigen!
Denn es verbreitet
Endlosen Segen

5
Tief in die Länder,

Wo in Gebirgen
Oder auf Ebenen
Thätig der Mensch wohnt.

      Dankbar im Geiste

10
Denkt er der Brüder,

Denen die Woge
Täglich ihr Brod giebt,
Die nicht ermüden,
Fern aus den Ländern

15
Schätze zu holen,

Deren für’s Leben
Jeder begehrt.
Kundig der Pfade,
Steuern sie draußen,

20
Selbst wenn die Sterne

Schwinden im Nachtsturm.
Jegliche Brandung,
Jegliche Klippe
Kennen sie ja,

25
Und sie errathen,

Wo sie zur Stunde
Segeln im Weltmeer.

      Selten nur einem
Festlandbewohner

30
Ist es beschieden,

Daß sein staunendes Auge froh wird
Deiner Betrachtung,
Rollender Ocean, weitbusiger,
Hochwogiger Wieger der Masten,

35
Abgründiger, furchtbarer Herrscher!

Doch wer dich einmal
Glanzvoll erblickte,
Rühmt dich für immer.

      Heil dem Meere!

40
Heil den Nationen,

Die es befahren!
Heil auch den Völkern,
Die es ernährt!

      Nordische Söhne

45
Dringen zur Zone

Glühender Sonne,
Und mit gebräuntem
Antlitze kehren
Kühner sie wieder;

50
Palmen erblickten sie,

Sahen den Lotos erblühen
Und die Banane
Längs des altheiligen Indus,
Der im Gesange daherrauscht,

55
Brahma verkündend und Wischnu und Schiwa

Und die geheime Kunde uralter Veden.
Seltsame Städte,
Drachen und Halbmond
Ueber den Zinnen,

60
Fürstliche Burgen

Luftigen Baustils
Schritten sie durch,
Vielbestaunt von der gaffenden Menge,
Denen die fremde Bildung

65
Ausruf entlockte und Lächeln.


      Ruh’loses Leben,
Leben des Schiffers,
Leben des segelnden Mannes im Boot!

      Goldlast in Tonnen,

70
Silber in Barren

Führt er hinaus;
Ganze zersprengte
Adern der Heimath,
Wie auch die Werke

75
Regerer Hände

Und der Maschinen
Schaffenden Fleiß.
Seiden und Purpur,
Perlen und Elfenbein,

80
Kostbaren Farbstoff,

Würzige Pflanzen,
Ambra und Myrrhen,
Zucker und Südfrucht,
Thee auch und Tabak

85
Tauscht er dafür.


      Doch der Weg ist lang und weit,
Lang für die Ungeduld;
Wasser und Himmel
Dehnen sich endlos,

90
Bis ihm nach Monden

Winkt des ersehnten,
Blühenden Welttheils
Fremdes Gestade.

      Aber der Schiffer,

95
Draußen im Weltmeer

Müßig die langen
Tage verbringend,
Schweift mit den Augen
Ueber der Karten

100
Seltsamen Umriß,

Ueber der Länder
Wundergestalt.
Siehe den schmalen Landstrich dort!
Länderverbindend

105
Strebt er durch’s Meer hin,

Von der geschiedenen,
Wogenden Salzfluth umspült.
Wollte sich öffnen
Dort eine Pforte,

110
Endlos nachstürzender Wogen

Gähnendes Bette,
Freudig hinüber
Zöge der Kiel.

      Und wohl! Der Menschheit

115
Rastloser Genius

Faßt den Gedanken;
Mächtigen Willens
Geht er an’s Werk.

      Durch!

120
Hacken und Schaufeln

Wühlen und graben,
Wagen an Wagen
Häufen den Grund auf,
Und es vertieft sich

125
Sichtbar die Rinne;

Wachsend erstreckt sich
Langhin der Damm.
Schleußen nur trennen,
Wehrend dem Andrang,

130
Meer noch und Meer.


      Los!
Und es rollet Meer zu Meer,
Und es gehen königliche Wogen
In das bereitete Bette,

135
Und sie nahen einander.

Die Jahrtausende durch getrennten,
Und sie vermischen sich.
Und es verbinden
Kreuzende Schiffe

140
Länder und Länder,

Fernen und Fernen,
Völker und Völker,
Geister und Geister,
Weithin das rege

145
Menschengeschlecht.


      Heil dem Meere!
Heil seinen hochrollenden Wogen!
Heil dem gewaltigen
Länderumgürtenden,

150
Allumfassenden Ocean!
  1. Bei der heute so verbreiteten elektrischen Beleuchtung begegnet man häufig der Meinung im Publicum, daß diese auch der Verwendung des Lichtes im Seewesen zu Gute kommen müsse. Dies ist aber vorläufig wenigstens ein Irrthum. Zwar steht da, wo es sich um mechanische Zwecke handelt, wie um die Beleuchtung von Werften und Hafeneingängen, der Verwendung des elektrischen Lichtes nichts im Wege, wo aber das Licht der Träger einer besonderen Bedeutung, das Mittel zur Ausübung einer Zeichensprache ist, ändert sich die Sachlage in dem Maße, wie binnenländische und maritime Verhältnisse verschieden sind. Vor allem kommt es hier auf zwei Gesichtspunkte an: der erste ist die unbedingte Unveränderlichkeit und Gleichmäßigkeit aller der Objecte, welche dem Schiffer zur Orientirung dienen. So lange die Technik also nicht ein Versagen des elektrischen Lichtes absolut unmöglich macht, ist eine Verwendung desselben für Leuchtfeuer unmöglich, da ein einziges solches Versagen sofort den Verlust von Menschenleben und Gütern zur Folge haben könnte. Der zweite Gesichtspunkt aber ist dieser: in einer Stadt kann von einer Centralstelle aus eine billige und bequeme Erzeugung des elektrischen Lichtes bewerkstelligt werden, wie aber bei den weit von einander abgelegenen Punkten an der See? Hierzu tritt nun noch der Umstand hinzu, daß alle Schiffskarten, alle Werke, welche die Küstenbeleuchtung verzeichnen, umgearbeitet werden müßten, da durch das elektrische Licht vor allem eine erhebliche Verschiebung der Entfernung stattfinden würde. Das Petroleum wird also wohl noch bis auf weiteres seinen wichtigen Dienst in den Leuchtapparaten der Küsten versehen müssen.
  2. Vergleiche Nr. 32.
  3. Die ägyptischen Wirren haben die allgemeine Aufmerksamkeit auf’s Neue auf den Suezcanal gelenkt und die Frage: „Was wird das künftige Schicksal dieser hochwichtigen Wasserstraße sein?“ schwebt auf Aller Lippen (vergl. unsern Artikel in der vorigen Nummer, Seite 578). In einem solchen Momente dürfte das obige schwungvolle Gedicht Martin Greif’s, das der Eröffnung des Canals (17. November 1869) seine Entstehung verdankt und das wir den kürzlich erschienenen „Gedichten“ (Stuttgart, Cotta) des hochbegabten Dichters entnehmen, unsern Lesern nicht unwillkommen sein. Wir benutzen mit Vergnügen diese Gelegenheit, um auf Greif’s „Gedichte“ anerkennend hinzuweisen und sie allen Freunden unseres Blattes bestens zu empfehlen.
    D. Red.

Die Herstellung des „Alden-Obstes“.

Eine wichtige Frage der deutschen Obstindustrie.

Die Obsternte steht nahe bevor. Vielleicht ist das ein richtiger Moment, um einmal einen Blick auf eine gewisse Seite der Obstcultur zu werfen, welche in Deutschland bisher viel zu wenig Beachtung gefunden hat – ich meine den Industriezweig des Obsttrocknens.

Es bedarf wohl kaum der Begründung, daß in einer gewissen Entfernung von großen Städten die Obstzucht nur dann lohnend sein kann, wenn man es ermöglicht, die Ernte getrocknet auf den Markt zu bringen. Abgesehen von der Gefahr des Verderbens und dem Zwange raschen Verkaufes, der eine Benutzung günstiger Conjuncturen ausschließt, ist wohl in’s Auge zu fassen, daß für eine bestimmte Obstmenge in frischem Zustande eine zehnmal höhere Fracht und dreimal höhere Emballagekosten zu verausgaben sind, als für dasselbe Obst in getrockneten Zustande. Selbstverständlich spreche ich hier nur von der Obstzucht, wie sie auf dem „platten Lande“ in großem Maßstabe betrieben wird oder richtiger: betrieben werden, sollte, und nicht von der Cultur des hochfeinen Tafelobstes, für welches in den großen Städten fast immer ein sicherer und lohnender Absatz gefunden wird.

Leider steckt gerade der Industriezweig der Obstpräserven-Fabrikation in Deutschland noch in den Kinderschuhen, und dies ist der Hauptgrund, daß die deutsche Obstzucht nicht den rechten Aufschwung nehmen will, trotz aller Bemühung pomologischer Vereine; denn die sichere und leichte Verwerthung des Products ist der mächtige Hebel für die Erzeugung jeder Art von Rohmaterial.

In eminentem Maße hat das Nordamerika erfahren, wo der Obstbau durch Einführung einer vortrefflichen Trocknungsmethode, die dem Californier Alden ihre Existenz verdankt, den erfreulichsten Aufschwung genommen hat. Wesentlich diesem Umstände ist es zuzuschreiben, daß, während die deutsche Obstzucht noch nicht den Bedarf des eignen Landes deckt und nur in den besseren Jahren in sehr wenig Obstarten einen unwesentlichen Ueberschuß für den Export liefert, in den Vereinigten Staaten jetzt alljährlich an getrockneten und eingekochtem Obst nach China, Japan, Central- und Südamerika und Europa für acht bis zehn Millionen Mark exportirt wird, trotz enormen Consums im Inlande.

Das „Alden-Obst“ hat auf der letzten Pariser Weltausstellung allgemeine Bewunderung erregt. Selbst die Franzosen, die doch ihre Prünellen so vorzüglich zu präserviren verstehen, hielten mit ihrer Anerkennung nicht zurück. Man glaubte die Vorzüglichkeit dieses Products in seiner ursprünglichen inneren Güte suchen zu müssen, und die Amerikaner thaten wohlweislich nichts, um diese irrige Annahme zu berichtigen. Im Gegentheil, sie werden nicht müde zu behaupten, daß nur auf ihrem Boden vorzügliches Obst producirt werden könne, und namentlich die Californier betrachten es als ein patriotisches Gebot, das Lob ihres Obstes bei jeder Gelegenheit laut zu verkünden. Nun ist es aber trotzdem eine unumstößliche Wahrheit, daß sich dasselbe in Bezug auf Colorit und Aroma – und Letzteres bedingt doch wesentlich den Wohlgeschmack – mit deutschem und französischem Obste durchaus nicht messen kann. Die Vorzüglichkeit [600] des Trocknungsverfahrens allein hätte man auf der Pariser Weltausstellung bewundern sollen; denn nur aus ihr resultirt die hervorragende Qualität der ausgestellten getrockneten Obstsorten.

Die Art, wie man in Deutschland das Trockenobst herzustellen pflegt, ist im Allgemeinen die denkbar primitivste; denn in dem eigentlichen Obstgarten Deutschlands, in dem Main- und Neckarthal, der Wetterau, an der Bergstraße etc., wo sich vorzugsweise die kleinen Landbesitzer der Obstcultur widmen, findet man noch eine mittelalterliche Trocknungsmethode, durch welche das Obst mehr geräuchert als getrocknet wird. Dieses geräucherte Obst unterscheidet sich vom Alden-Obst so gründlich, wie ein Pelzapfel von einer Goldreinette.

Aber auch das Trocknen in eigens dazu hergerichteten Oefen, welches wohl größere Obstzüchter hier und da in Deutschland betreiben, ist eine sehr unvollkommene Methode, wie sich leicht Jeder überzeugen kann, der diesen Vorgang aufmerksam verfolgt und beobachtet. Die Oberfläche des in ganz frischem Zustande in den übermäßig heißen Ofen eingeführten Obstes trocknet zuerst, und zwar sehr rasch, ja sie verkohlt oft, während das Innere noch feucht ist; denn die Poren sind geschlossen und verhindern das Verdampfen des Saftes. Selbstverständlich leidet darunter das Ansehen, der Wohlgeschmack und namentlich die Haltbarkeit des Productes. Die Franzosen, welche ihre berühmten Prünellen auch in Oefen trocknen, suchen dem bezeichneten Uebelstande dadurch zu begegnen, daß sie das frische Obst so lange, auf Hürden ausgebreitet, der Sonne aussetzen, bis die Haut einzuschrumpfen beginnt. Dann erst kommt es in den mäßig warmen Ofen, in dem es vierundzwanzig Stunden lang verbleibt, um alsdann herausgenommen und vollständig abgekühlt zu werden. Ist das Letztere erreicht, dann werden die Hürden noch einmal vierundzwanzig Stunden in den Ofen geschoben. Nach Verlauf dieser Zeit ist der Trocknungsproceß gewöhnlich vollendet, und nur in den seltenen Fällen, wo das Obst noch etwas feucht ist, wird es nach gehöriger Abkühlung abermals, aber nur für wenige Stunden, in den Ofen gethan.

Im Vergleich mit dem gewöhnlichen, in Deutschland üblichen Verfahren ist diese Methode gewiß als ein Fortschritt zu betrachten. Nichtsdestoweniger läßt sich der Alden-Proceß als eine weitere dankenswerthe Reform bezeichnen. Alden betrat einen ganz neuen Weg. Er betrachtete es als eine der hauptsächlichsten Aufgaben, welche durch den Trocknungsproceß gelöst werden muß, den Stärkegehalt des Obstes durch rapides Trocknen, das aber nicht in Kochen übergehen darf, in Zucker umzuwandeln. Das Kochen alterirt den Geschmack des Obstes. Ebenso ein zu langsames Trocknen, da es dem Obste einen Geschmack giebt, als sei es im ersten Stadium der Fäulniß in den Ofen gebracht worden. Je rapider die wässerigen Theile entfernt werden, je besser wird der Geschmack sein, und je vollständiger das Obst während des Trocknungsprocesses von der äußeren Luft abgeschlossen ist, je vollkommener wird sich das Colorit erhalten. Die Rapidität des Processes erhöht den Zuckergehalt durch Umwandelung der Stärke um fünfundzwanzig Procent.

Aber es muß wohl gemerkt werden, daß das Obst nicht kochen, mit anderen Worten, daß die angewandte Temperatur nicht 100’ Celsius übersteigen darf. Sie sollte stets zwischen 83°–93° Celsius gehalten werden. Ein anderer Punkt ist gleich wichtig: die Oberfläche des zu trocknenden Obstes muß stets feucht und geschmeidig erhalten werden, damit die innere Feuchtigkeit von der starken Strömung heißer Luft, welche unausgesetzt über das Obst hinweggehen muß, rasch und leicht entführt werden kann. Man wird da einwerfen, daß Obst in heißer, mit Feuchtigkeit geschwängerter Luft nicht trocknen könne, allein dieser Einwurf ist nicht stichhaltig. Luft auf dem Gefrierpunkt hält den hundertsechszigsten Theil ihres Gewichts in Form von Dampf, und ihre Fähigkeit, Feuchtigkeit zu absorbiren, verdoppelt sich mit je 15° Celsius über dem Gefrierpunkte, sodaß bei 15° Celsius die Luft den achtzigsten Theil ihres Gewichts, bei 30° Celsius den vierzigsten Theil, bei 45° Celsius den zwanzigsten Theil, bei 60° Celsius den zehnten Theil, bei 75° Celsius den fünften Theil, bei 90° Celsius den dritthalben Theil, bei 105° Celsius ihr eigenes Gewicht an Feuchtigkeit oder nahezu ein Pfund Wasser auf sechs Cubikfuß Luft absorbirt. Nun ist allerdings klar, daß, wenn die mit einer solchen Quantität Feuchtigkeit geschwängerte Luft ruhig über dem Obste lagerte, dasselbe niemals trocknen würde. Daher die Nothwendigkeit, die beladene Luft so rasch wie möglich zu entführen. Wind, also in Bewegung befindliche Luft, ist nothwendig, um einem Gegenstande die Feuchtigkeit zu entziehen, wie denn auch nach einem Regen der Wind weit mehr als die Sonne dazu beiträgt, die Erde zu trocknen. Auf einem ununterbrochenen Strome heißer Luft, der die freigewordene Feuchtigkeit rasch entführt, beruht der Erfolg eines guten Trocknungsprocesses. Das von Alden erfundene Verfahren fußt nun – in wenigen Worten zusammengedrängt – auf einer rapiden Circulation heißer Luft, auf gleichmäßig unterhaltener Hitze und auf einem immer vorhandenen beträchtlichen Feuchtigkeitsgehalte der Luft.

Diesen drei Cardinalbedingungen wird mit dem nach Alden benannten Apparate entsprochen. Derselbe besteht aus einem vier Fuß im Quadrat haltenden, fünfundzwanzig Fuß hohen hölzernen Schacht, in welchem eine endlose Kette mit Zapfen hängt. Unter diesem Schachte steht ein Apparat zur Erzeugung heißer Luft mit einer Klappe an dem Fuße, um frische Luft zum raschen Aufwärtstreiben der erhitzten einzuführen. Der Heizapparat ist ähnlich wie diejenigen, welche man benutzt, um Fabrikräume etc. mit erhitzter Luft zu erwärmen, und kann ich deshalb eine nähere Beschreibung desselben unterlassen. Wenn die Luft auf 76° bis 93° Celsius gebracht ist, wird eine mit Obst flach gefüllte Hürde in den Schacht gesetzt und zwar auf zwei Zapfen der endlosen Kette. Nach Verlauf von fünf bis zehn Minuten wird mit zwei Rädern, die sich an der Außenseite des Schachtes befinden, aber mit der endlosen Kette verbunden sind, die Hürde um vier Zoll in die Höhe gehoben und eine neue Hürde eingeschoben. In der angegebenen Pause wird nun mit dem Einsetzen neuer Hürden fortgefahren, und bei dem schneller als Steinobst trocknenden Kernobst ist der Schacht in fünf bis sechs Stunden gefüllt. Während unten immer neue Hürden eingeschoben werden, nimmt man die oberen mit dem inzwischen getrocktneten Obste heraus. An der Mündung des Schachtes ist nämlich eine Platform angebracht, auf der Leute stehen, um die Hürden abzunehmen und sie in die Obstkammer zu befördern.

Es ist noch zu bemerken, daß die Hürden so in den Schacht eingesetzt werden müssen, daß der Luftstrom von unten im Zickzack nach oben strömt. Von dem frischeingesetzten Obst in den unteren Hürden wird viel Feuchtigkeit frei, die mit dem Luftstrom nach oben über das schon trockene Obst geführt wird, dessen Oberfläche dadurch feucht und geschmeidig bleibt. Man findet oft Schachte, in welche zu halber Höhe ein Rohr aus einem nahen Dampfkessel eingeführt wird. Wasserarmes Obst[WS 1] springt nämlich zuweilen, wenn die Wärter im Aufwärtsdrehen nachlässig sind, und das beeinträchtigt natürlich den Marktwerth des Products. Diese Gefahr sucht man nun durch Zuführung von Wasserdampf in halber Schachthöhe zu beseitigen.

Wenn nach einem Verweilen im Schachte von fünf bis acht, höchstens zehn Stunden das Obst in der erwärmten Packkammer abgeliefert wird, dann wird es erst einige Stunden unter Mosquitonetzen – um das Ungeziefer abzuhalten – der Luft ausgesetzt, damit die Abtrocknung des Feuchtigkeitsniederschlags eine vollständige wird, und alsdann findet die Verpackung in niedliche Kisten von fünfzig Pfund Inhalt statt. Wenn dieses Alden-Obst beim Kochen richtig behandelt wird, so vertritt es würdig und ebenbürtig die Stelle des frischen Obstes, ja es wird von Vielen diesem aus Sparsamkeitsrücksichten noch vorgezogen.

Es muß in Erinnerung gebracht werden, daß das Obst achtzig Procent seines Gewichtes während des Trocknens verloren hat, und dieser Verlust, der in Wasser bestand, ist während des Kochens wieder zu ersetzen. Man muß daher das Alden-Obst erst in warmes Wasser legen, bis es vollständig weich geworden ist; dann kocht man es unter fortwährender Zugabe von Wasser, bis seine Aufsaugefähigkeit aufhört.

Wie hoch man in Nordamerika das Alden-Obst schätzt, geht schon daraus hervor, daß es um zweihundert Procent theurer bezahlt wird, als das an der Sonne oder im Ofen getrocknete. Der einzige gegründete Vorwurf, welchen man den Alden-Apparaten macht, besteht in ihrer großen Veranlagung, sodaß sie sich nur für bedeutende Obstzüchter oder Genossenschaften eignen, aber man bemüht sich jetzt einen Apparat zu erfinden, dessen sich auch der kleine Obstzüchter bedienen kann. Da erhebe ich nun zum Schlusse die Frage: Sollte es nicht für einen deutschen Erfinder eine würdige Aufgabe sein, über einen Apparat nachzudenken, der dem letzteren Zwecke entspricht und auf den oben dargelegten Principien basirt? Man versuche diese wichtige Frage des deutschen Obstbaues zu lösen! Man gebe dem Obsthandel eine bessere Organisation und schreite muthig vorwärts! Denn der Pessimismus ist nicht gerechtfertigt: die deutsche Erde ist auch im Obstbau dem Erreichen des Höchsten günstig. Heinrich Semler.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ost


Blätter und Blüthen.

Allgemeine Musikgeschichte. Populär dargestellt von Dr. Ludwig Nohl. (Leipzig, Philipp Reclam jun.) „Die Musik ist allgemach eine Macht des Lebens geworden, der sich kein tiefer empfindender Mensch mehr zu entziehen vermag und die in der Kirche wie im Concert, im Theater wie im Hause dem, der sich ihr ernst und innig hingiebt, auch wahre Lebensnahrung spendet.“ Trifft dieser Ausspruch, mit welchem Ludwig Nohl sein oben näher bezeichnetes Werk eröffnet, das Richtige – und er thut es ohne Frage – so muß die Geschichte der Musik ein Gebiet sein, das dem Interesse aller Gebildeten nahe liegt. Wie nahe es ihnen aber liegt, das lernen wir praktisch durch die Lectüre des Nohl’schen Buches. Unser allbekannter Musikschriftsteller, den auch die Leser der „Gartenlaube“ aus so manchem geist- und gemüthvollen Artikel seit Jahren kennen, hat es in der vorliegenden kurzgefaßten Musikgeschichte verstanden, die Entwickelung der Tonkunst seit ihren ersten Anfängen bis auf unsere Tage in reizvoller und anmuthiger und doch lehrreicher und zum Nachdenken anfeuernder Weise zu schildern, ohne dabei einseitigen Parteistandpunkten zu verfallen. Er theilt sein Werk in die vier Hauptabschnitte: „Von den alten Völkern bis zu Sebastian Bach“, „Geschichte der Oper“, „Die Entstehung der Instrumentalmusik“ und „Die moderne Musik“ und schließt dasselbe mit einem Anhange „Die Zigeunermusik“ ab. Ueberall in diesen vier Abschnitten begegnen wir einem gesunden und selbstständigen Urtheile über die Kunst des Tones und ihre auserwählten Vertreter, überall einer klaren und durchsichtigen Darstellung und dem nicht genug anzuerkennenden Streben, einen an sich schwerflüssigen Gegenstand, wie es nun einmal alle Kunstgeschichte ist, populär und farbig zum Vortrag zu bringen und ihn so auch dem einfacheren Leser aus dem Volke zugänglich und verständlich zu machen. Neben den übrigen guten Eigenschaften dieser Nohl’schen „Musikgeschichte“, zu denen wir in erster Linie die Gründlichkeit und Gediegenheit der ihm zu Grunde liegenden Studien rechnen, ist es namentlich dieses Streben nach gemeinverständlicher Darstellung; welches uns das auch äußerlich sehr geschmackvoll ausgestattete Buch unseren Lesern auf’s Beste empfehlen läßt. Goethe nennt einmal in seinen Briefen an Zelter die Musik „die schönste Offenbarung Gottes“. Wie sollte eine Geschichte dieser „Offenbarung“ nicht eine zugleich erbauliche und fesselnde Lectüre bilden?


Kleiner Briefkasten.

L. L. in Riga. Ob eine Erzählung von E. Werner in Aussicht steht? Allerdings! Zu unserer großen Freude werden wir den nächsten Jahrgang voraussichtlich mit E. Werner’s neuestem Roman „Gebannt und erlöst“ eröffnen können.


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig, – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


Anmerkungen (Wikisource)