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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[601]

No. 37.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der Krieg um die Haube.

Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Der Vertraute nahte dem Reigen der Frauen und that des Erzherzogs Willen kund.

Frau Rotmundin aber hob mahnend die Hand gegen ihre Gefährtinnen und sprach leise zu dem Botschafter:

„Der Erzherzog will den ‚Todten‘ vorstellen? Es ist eine zu große Plag’, im Sturz sich zum Kusse niederzubeugen; zweimal bringt man’s halt an einem Abend nit fertig. Wenn wir aber dieser scheusäligen Kopfputze entledigt sind, wollen wir mit Seiner fürstlichen Durchläuchtigkeit einen Todtentanz tanzen, wie er in Nürnberg nimmer gesehen ward.“

Der Bischof schaute der Sprecherin in die funkelnden Augen, und da Priester und Frauen sich immer leicht verstanden haben, so begriff auch seine Andächtigkeit, neigte sich lächelnd und überbrachte dem Erzherzog die Nachricht. Ein Augenblitz des Fürsten zuckte hinüber zur Frau Rotmundin; er beugte das Haupt und legte betheuernd die Hand auf’s Herz. Dann befahl er, den Kehrab aufzublasen.

Trompeten und Kesselpauken hoben an, und nun flog Alles dahin wie eine Windsbraut, an der Spitze beflügelten Schrittes Seine fürstliche Durchläuchtigkeit, die zierlich wie ein Bachstelzchen trippelnde Frau Rotmundin fest an der kleinen Hand haltend; in der Mitte die arme Elsbeth mit dem Kriegsschreiber, der lustig seine Schnabelschuhe schwenkte. Der Wilhelm tanzte gar nicht, und der Letzte im Reigen war Herr Rotmund. Denn da er sehen wollte, was seine Frau trieb, war er aus der Reihe gerathen und von den lachenden Tänzern nicht wieder eingelassen worden.

Da ging er mit einigen husarischen Freunden an den Schänktisch und nahm sich vor, den großen Humpen auszutrinken, um seine Frau auch zu ärgern. Sie aber ließ sich unbesorgt von Hinz und Kunz nach Hause leuchten.

Und von der Zeit an ging in Nürnberg die Rede, auch Herr Rotmund sei einmal in dem Rollwäglein nach Hause gefahren worden, das bestellt war, in der Nacht die Betrunkenen aufzulesen und heim zu schaffen. – – –

Als an diesem Tage nach dem Fest der Rath mit noch verschlafnen Augen zusammentrat, erhob sich plötzlich ein lautes Pferdegetrappel vor dem Rathhause. Gleich darauf ließ sich Seine fürstliche Durchläuchtigkeit melden, und durch die Spitzbogenpforte der Rathsstube schritt er, geleitet von dem ganzen Gefolge von Fürsten, Prälaten und Herren – nur der Narr fehlte.

„Wir nahen als Bittender,“ sprach der Erzherzog.

Der Schultheiß neigte sich und fragte ehrerbietigst:

„Eure fürstliche Durchläuchtigkeit wünschen Gnade zu üben, Verurtheilte loszusprechen wie es Brauch bei fürstlichem Besuch.“

„Nein, wir wollen der Themis nicht in den Arm fallen,“ erwiderte der Erzherzog, „und doch wünschen wir, arme Gefangene zu lösen. Wir sind gekommen, für Eure holdseligen Frauen zu bitten, daß Ihr sie der Stürze entlediget. Wir versehen uns von Euch keiner Weigerung.“

Der Stadtschultheiß stand wie vom Donner gerührt; die Rathsherren schwiegen. Nur der Rotmund ermannte sich und sprach mit einer Stimme, in der ein heimlicher Groll durchklang:

„Durchläuchtiger Fürst und Herr! Unsre willig unterthänigen Dienste sind Euch mit Fleiß voran bereit. Aber –“

Der Erzherzog sah über den Mann der Rotmundin mit hochmüthigem Blicke hinweg. Der Pfalzgraf Ottheinz aber unterbrach ihn:

„Ihr seid wahrlich dahinten geblieben. Hättet Ihr doch die Prinzessin Maria gesehen, die erhabne Schwester Seiner fürstlichen Durchläuchtigkeit! Die hat ein Spiel mit ihren Damen aufgeführt, wo Alle Göttinnen waren und Röcklein nicht viel bis über die Kniee trugen. Man nennt die neue Kleidung à la Nymphale.“

„Ihr seid auch unbillig,“ fuhr der junge Domherr stürmisch heraus, mit dem die Schultheißin geschäkert hatte, „und verdient nicht, so holde Frauen in die Arme schließen zu dürfen.“

Er stieß einen so tiefen Seufzer aus, daß die andern Herren vom Gefolge lächelten.

„Schweigt!“ rief der Stadtschultheiß zornig, „Ihr seid schon mehrmals wegen Hoffart und weiten Aermeln von Eurem Capitel bestraft worden, des Brettspiels und andrer Ueppigkeiten, so Ihr getrieben, gar nicht zu gedenken. Ihr habt nicht mitzureden.“

„Wo es gilt, für unterdrückte Frauen ein Wort einzulegen, hat jeder Mann Recht und Pflicht mitzureden,“ sagte der welsche Bischof. „Hütet Euch, daß Ihr den Bogen nicht zu straff spannt! Euren Frauen möchte der Geduldsfaden reißen.“

Der Holzschuher sah ihn ergrimmt an.

„Sie werden ihn schon wieder anknüpfen, wenn wir die unnützen Hände klopfen, die ihnen beim Zerreißen aller Bande behülflich sind.“

„Aber die häßliche Verluppung ist ein Flecken in unsrem Jahrhundert, in welchem die Göttin der Schönheit eine Wiedergeburt feiert,“ sprach der Beichtvater aus Rom.

[602] „Nach einer heidnischen Abgöttin braucht eine Geschlechterin sich nimmer zu richten,“ erwiderte Herr Behaim erbost.

„Was welsche Klüglinge für Recht erachten, kümmert uns nicht,“ setzte Herr Imhof hinzu.

„Aber es sollte Euch kümmern,“ antwortete der Domprobst von Würzburg mit Anerkennung, „was Euer Ehegemahl dazu meint, die doch ein ehrbar Weib ist; sie ist der neuen Haube nicht abgeneigt.“

„Ihre Ehr’ ist meine Sach’, nit die Eure,“ fuhr der Imhof heraus, den sein treues Weib schon von der Morgensuppe an mit dem gutwilligen Domprobst geplagt hatte.

Der Herzog Wilhelm von Baiern lachte:

„Haben Eure Frauen so garstige Gesichtlein, daß Ihr Euch schämt, sie uns zu zeigen?“

„Nein“ schrieen die Rathsherren, blutroth vor Zorn. „Aber die Gesichter sind für uns da – nit für Euch!“

„Plumpe Neidharte seid Ihr,“ eiferten die Gäste.

„Frauenknechte Ihr!“ tönte es von der Rathsherrentafel verächtlich zurück.

Die Herren standen einander gegenüber, Zornesadern auf der Stirn, und heimlich backte sich hier und da eine Faust.

Da hob der Erzherzog das dunkle Haupt und winkte:

„Disputiret und streitet nicht, Ihr Herren!“ rief er. „Wir kamen in diese Stadt nicht zur Fehde, sondern ihr Favor und Gnade zu erweisen. Und wir gedenken den Frieden nicht zu brechen. Aber scheiden wollen wir noch zur Stunde aus diesen Mauern; denn wir mögen denen, die uns vertrauend anblickten, nicht wieder unter die Augen treten, ohne eine kleine Gegengabe für so viel Holdseligkeit.“

Da knickte ein ehrbarer Rath zusammen. Was würden alle die Feinde der Stadt sagen, wenn die fürstliche Durchläuchtigkeit Hals über Kopf davon ritte?

Zu kurzer Berathung zogen die Herren sich zurück.

Dann trat der Schultheiß an die Tafel und sprach:

„Kund und zu wissen sei Jedermänniglich, daß vom heutigen Tage ab ein ehrbarer Rath der freien Reichsstadt beschlossen hat, die Stürze sollen abgeschafft sein für jetzt und ewige Zeiten Seiner fürstlichen Durchläuchtigkeit zu Ehren.“

Die Augen des Erzherzogs leuchteten auf. Er dankte und lud sich selbst für morgen Abend zu einem Tanze bei den Geschlechtern ein. Dann zogen die Gäste vergnügt ab und auch die Rathsherren athmeten erleichtert auf.

Nur der Wilhalm sprach mit lauter Stimme, daß es der Imhof hören mußte:

„Meinethalb mögen sie aufsetzen, was sie wollen, die Augsburger Haube oder die Augsburger Gogelhopfform. Ich werd’ es nimmer erschauen. Ich geh’ wieder auf Reisen, wahrscheinlich in das Land Aethiopia, wo die großen Löwen hausen.“

Er sah mit Befriedigung Herrn Imhof’s verblüfftes Gesicht und stapfte trotzig davon, die Hand auf den Degengriff gestützt, daß die Spitze hinter ihm drohend empor ragte.

Und es ereignete sich, daß plötzlich auch alle andern Rathsherren verschwunden waren; denn jeglicher wollte der Erste sein, der seinem Weibe die frohe Mär verkündete. – – –

Die Frau Rotmundin lachte.

„Was hat Euch nun alle Eure Gelahrtheit und Euer altes Recht geholfen? Ihr müßt Euch doch unter unsre Füßle beugen. Dankt allen Heiligen dafür, daß Ihr wieder Frieden habt!“

Der Rotmund lachte auch und wollte den Arm um sie legen. Aber sie wehrte ihm und sprach:

„Nein, Franzel, den ersten Kuß nach dem wüsten Frauenkrieg geb’ ich der fürstlichen Durchläuchtigkeit, die mir das Scheusal vom Hals geschafft hat. Ja, funkere nur mit den Augen! Du hättest es auch so gut haben können. Warum ist der Herr Rotmund ein Dümmerle gewesen?“

Herr Rotmund schüttelte beide Fäuste.

„Der Gänswürger, der –“

„Ja, er ist ein grand diable gegen das Frauenvolk,“ unterbrach sie ihn, vergnügt über das neue Wort, das sie gelernt hatte. Dann langte sie ihr Hackebrett aus dem Winkel und begann mit den gebogenen Metallstäben ein Stücklein zu hämmern.

Herrn Rotmund blieb nichts andres übrig als zu gehen.

Aber es ist auf dieser unvollkommenen Erde gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. An jede Freude hängt das Schicksal, gleich einem Stein, ein Mißgeschick. Gerade da die Rotmundin die nun erlaubte Haube aus ihrem Versteck nahm, stürzte Kathrin in die Stube, schloß die Thür, schaute mit verstörten Augen um sich und rief:

„Das Unglück! Der Polack, der Veit Stoß, hat der Frau ihr Gesichtel gestohlen.“

„Was schnakt der Grasaff? rief Frau Rotmundin und gab ihr eine Kopfnuß.

„Der Phragner, der neben ihm wohnt, hat’s mir gesagt,“ meinte das Mädchen. „Die Frau steht als Holzbild halt da – ich kann’s gar nit sagen, wie!“ Sie wandte verschämt das Gesicht ab.

Die Rotmundin starrte sie mit weit geöffneten Augen an.

„Das könnte an sein Leben gehen,“ flüsterte sie und sank auf einen Schemel. „Ist das Holzbild nit rechtschaffen gekleidet?“

„Na,“ sagte die Magd, „bei Leibe nit! Der Engel hat einen langen Rock an von der Kehle bis zum Fußzeh, aber auf dem Kopfe keine Haube, kein Tüchel, und Ihr meintet doch selbst: die Haube ist die Hauptsach. Was soll der Herr sagen, daß die Frau in des Bildschnitzers Haus steht und hat nichts aufgesetzt?“

Der Rotmundin wurde es schwül.

„Kann ich nicht den Herrn Wilhalm Haller sprechen? Lauf und rufe ihn, ohne daß Herr Rotmund es merkt!“

„Dort kommt er eben nach Haus,“ berichtete die Gürtelmagd, die auf die Straße lugte.

„So gieb mir den dunklen Mantel und noch einmal den Sturz! Ich merke schon, das Ungethüm ist doch zu Mancherlei gut, und ich werde es nimmer ganz von mir thun.“

Sie hüllte sich ein, schlüpfte fort und ereilte den Haller noch an seiner Pforte. Er wandte sich um, da er laut hinter sich schluchzen hörte. Und die Rotmundin rief:

„Habt Ihr schon mein Unglück gehört? Wißt Ihr, daß der Rotmund die Elsbeth Imhofin zur Ehe nehmen wird?“

Wilhalm fuhr zusammen.

„Was redet Ihr für unsinniges Zeug, Frau Rotmundin?“ fragte er athemlos.

„Ach, ich seh, Ihr wißt noch nichts,“ klagte sie zerschmettert. Ja, mit mir ist’s aus. Ich steh beim Stoß; der hat einen Engel aus mir gemacht, und der gemeine Haufen ist um mich herum und darf mich anfassen. Wenn das der Herr Rotmund erfährt – das vergiebt er mir nimmer. Dann steckt er mich in ein Kloster, und unser heiliger Vater in Rom giebt ihm Dispens, und dann nimmt er die Elsbeth zum Weibe; denn sie ist jetzt fast schön. Vielleicht hat sie auch schon eine zärtliche Leidenschaft für ihn, und das hat ihr so gut gethan; schaut sie doch aus wie eine Rose, die ihr Bälgelein gesprengt hat.“

Sie warf durch die vorgehaltnen Hände einen lauernden Blick auf den Freund, und sie sah, daß der Haller auf ihre Rede anbiß, wie an Rothfisch aus der Pegnitz auf den Angelhaken.

Er ballte die Faust.

„Ihr wollt eine zärtliche Leidenschaft in ihren Augen gelesen haben und für Euren Eheherren?“

Sie nickte.

„Das Stücklein wollen wir ihnen vergällen,“ knirschte er und eilte davon.

Die Rotmundin sah ihn den Weg zum Veit Stoß einschlagen und lachte, indem sie flüsterte:

„Er ist eifersüchtig wie ein Pfau, der seinen eignen Schatten neben seiner Henne im Bach erblickt und darob vor Wuth sich ersäuft.“

Dann schlüpfte sie getröstet nach Haus. Sie war überzeugt, der Haller kam ihr zu Hülfe.

In Veit’s Werkstatt drängte sich das Volk.

„Wie sie leibt und lebt!“

„Und nicht das kleinste Läppchen auf dem Haupt!“

„Der muß die eiserne Jungfrau umarmen.“

„Schiebt Euren Schnitzer in den Ofen , daß er zu Asche verbrennt! Das tilgt vielleicht den Zorn der Hochmögenden,“ so rief es durch einander.

„Ich soll mein eignes Kind verbrennen?“ fuhr Meister Veit auf und stellte sich schützend vor den Engel.

Da schritt Wilhalm durch die Thür. Die Menschenmenge theilte sich ehrfurchtsvoll vor ihm und ließ den Weg zum angefochtnen Engel frei. Sie sahen, daß er ein zorniges Antlitz hatte, und meinten nun müsse das Unheil losbrechen. [603] Aber zum allgemeinen Erstaunen sprach Wilhalm, als er das Kunstgebilde betrachtet hatte, bewundernd:

„Welch herrliches Gelock! Wie ausdrucksvoll ist die beschwichtigende Haltung der Hände! Und richtig, Eure Eigenart zeigt sich auch allhier: der Engel hat sein Gewand ein bisle zerknittert. Ihr habt ein Prachtstück geschnitzt, Meister Stoß.“

Die guten Freunde und getreuen Nachbarn umringten ihn. „Und findet Ihr keine Aehnlichkeit?“

„Ach Gott, wenn nur das nit wär!“

„Dafür wird er strenge Pön erleiden müssen, meint Ihr nit auch, Herr Haller?“ so fragten die Leute um ihn herum und sahen ihn mit hoffnungsvoller Angst an.

„Ich habe unter den Engeln – den Heiligen sei es geklagt – keine Bekanntschaft und finde deshalb auch keine Aehnlichkeit,“ entgegnete Wilhalm mit kühler Vornehmheit. „Doch laßt mich jetzt mit dem Meister allein, gute Leute! Ich habe einen eiligen Auftrag für ihn.“

Enttäuscht zog sich das Volk zurück.

Jetzt hielt sich Veit Stoß nicht länger.

„Ihr meint keine Aehnlichkeit zu finden?“ rief er mit blitzenden Augen. „Das läßt sich ein so künstlicher Meister, wie ich bin, nimmer bieten.“

Wilhalm legte beruhigend die mit goldgesticktem Handschuh bekleidete Hand auf die Schulter des erregten Künstlers.

„Ich meine, daß schon um kleinerer Freiheit willen Nürnberger mit ihrem Leib aus der Stadt fahren mußten.“

„Ich sollte aus der Stadt verwiesen werden und habe doch nichts gewollt, als den Frauen zeigen, was wahrhaft schön ist?“ rief Veit Stoß niedergeschmettert.

„Und Ihr steht vor der Verweisung. Euer Engel wird verketzert, und morgen Abend tragen alle Frauen die Augsburger Haube. Gar Mancher,“ fuhr er seufzend fort, „der Neues und Bessres einführen wollte, mußte es mit seinem Glück bezahlen, und Andre haben den Genuß davon. Das ist so Lauf der Welt. Aber ich meine, daß es unersetzlicher Verlust wäre, wenn der Veit Stoß Nürnberg meiden müßte. Ich biete Euch an, daß Ihr mir den Engel verkauft. Ich habe oft Geschenke nach fremden Städten zu machen, und so geht Euch der wohlverdiente Lohn und Ruhm nicht verloren sonder Gefahr für Eure Sicherheit. Meine Leute harren draußen mit einer Truhe, darin das Bild verpackt werden soll. Verwahrt es gut, und die Summe, die Ihr daran verdient habt, laßt Euch bei meinem alten Cassenführer auszahlen! – Dem Engel für unsre Kirche macht nicht so tiefe Schelmengrübchen!“ schloß er lächelnd; er drückte dem Künstler die Hand und ging.

Der neugierige Haufen sah darauf die Leute Haller’s mit einer großen Kiste in die Werkstatt ziehen, und während sie draußen auf die Stadtknechte hofften, verschwand das Schelmengesicht unter Heu und Stroh. – – –

An demselben Abende schritt Elsbeth durch die dämmernden Straßen. Sie kam aus dem Clarenkloster, wo sie den Nachmittag in stillem Gebet, in ernster Zwiesprache und Berathung mit der gelahrten Aebtissin Charitas Pirkheimer verbracht hatte. Voll Sehnsucht nach Festigung ihres Entschlusses, eine Klosterfrau zu werden, war sie hingegangen; sie hatte die Ueberzeugung gehegt, die höchste Billigung bei der hochwürdigen Frau zu finden, und die Hoffnung, daß alle Unrast dort zur Ruhe gehen und sie, von himmlischem Frieden erfüllt, die heilige Stätte verlassen werde, um dann sonder Anfechtung des Tages zu harren, der sie für immer in die heiligen Mauern führen sollte. Aber wie anders war nun, da sie heimging, ihr Gemüth gestimmt! Was hatte sie im Kloster alles schauen, was gar aus dem Munde der Aebtissin hören müssen! All das ging ihr nun auf dem Heimwege, eines nach dem Andern, durch den Sinn; sie lebte es mit Schrecken noch einmal durch: gleich beim Eintritt in das düstre Gebäude war ihr getroster Muth darnieder gesunken. Ein Eiseshauch war ihr entgegen geweht, es hatte geschienen, als wende die Sonne ihr Antlitz ab; ein so dämmriges Zwielicht hatte in den Gängen geherrscht, nur hier und da bleich ein Marterbild aus tiefer Nische geschimmert. Der Frühlingswind, der sie draußen frei umspielt – hier hatte er wie ein Gefangener um die Ecken gewimmert und eine trübselige Zwiesprache mit dem Holzwurm gehalten, der in dem alten Gebälk so unheimlich tickte.

Sie war zuerst in das kleine dumpfe Vorzeichen zur Capelle geschritten und hatte sich dort vor dem gegeißelten Christus niedergeworfen, an dessen armem Leibe das Blut in Strömen herabrinnt. Sie war auf einem Grabstein niedergekniet. Weihrauchwolken waren zur Thür hereingeströmt und hatten sich mit dumpfem Modergeruch gemacht. Es hatte sie durchschauert, und nachdem sie in den Opferstock eine Gabe geworfen, war sie nach der Zelle der Aebtissin gegangen.

Der klagende Gesang der Nonnen war aus der Capelle ihr nachgetönt.

Die Aebtissin hatte sie ruhig angehört und dann mit ihrer ernsten Stimme gefragt:

„Und lässest Du nichts zurück, wonach Dein Herz sich sehnen kann, wenn Du bei uns eintrittst?“

Elsbeth hatte die Augen niedergeschlagen; die Thränen waren darin emporgestiegen.

Da hatte Charitas Pirkheimer sanft mit einem Seufzer, der weither zu kommen schien, wie aus einer frühren Zeit, gesprochen:

„Junge Leute ficht die Liebe an, Muthwillen und weltliche Begier. Das muß erst von Dir abgefallen sein, ehe Du eine Braut Christi werden kannst; denn der unruhigen Seelen sind viele jetzt in den Klöstern. Die Nonnen müssen mit starker Hand niedergehalten werden. Sie murren thörichter Weise von einem neuen Recht, sagen, das kaiserliche alte, das verkündet: ,Wer eine Nonne zu Weibe nimmt, hat das Leben verwirkt und das Schwert verdient,‘ müsse abgeschafft werden. Und die Ehe sei nicht ein Gräuel – wie sie es doch wirklich ist – sondern eine Einsetzung Gottes, der ein Männlein und Fräulein zusammengefügt habe; Christus habe das bestätigt durch seine hohe Gegenwärtigkeit bei einer Hochzeit. Ja, so sprechen die irregeführten Bräute des Herrn. Manches Eisengitter am Fenster ist schon durchfeilt gefunden worden, und die Bußzellen werden nimmer leer. Bedenke, daß die Klosterfrau, wie es recht und billig ist, für das Gedenken an einen Mann den Geißelstrick kosten muß!“

Das hatte Elsbeth im Kloster erlebt, und so hatte die Aebtissin zu ihr gesprochen. Noch klangen die Worte der gestrengen Frau Elsbeth in den Ohren.

Die Sonne neigte sich über all ihren traurigen Betrachtungen; es war ein gedankenvoller Heimweg.

Ein rosiges Licht strahlte noch von Westen her, und die warme Luft umfing sie wie mit weichen Armen; durch die Straßen zog das Volk oder saß unter den Laubengängen lachend und plaudernd. Elsbeth litt große Pein. Die Welt war so schön. Warum mußte es ungetreue, wandelbare Mannsbilder darin geben?

Lärm und wüstes Geschrei unterbrach ihre heimliche Klage. Es drang aus einem Haus, dessen Fenster und Pforte hell erleuchtet waren, und dessen Schild mit der Traube die Zechstube anzeigte. Sie wollte rasch vorüber eilen, aber lallende Stimmen riefen sie vom Fenster an, und in der nächsten Minute schon ward sie von einem Schwarm herausströmender fürnehmer Herren umringt.

„Potz Marter!“ rief der Eine mit weinheiserer Stimme und rothem Gesicht. „Trägt sie nicht einen Sturz? Wißt Ihr denn nicht, schönste Maid, daß Seine Durchläuchtigkeit die Scheusale abgeschafft hat? Wir wollen Euch allsogleich davon befreien.“

Und er faßte nach ihrem Gebände.

„Ja, stürzt den Sturz!“ riefen die Andern.

Der Kreis schloß sich eng um sie. Sie sah lauter verwegne Gestalten um sich, Männer mit aufgerissnen Wämsern, die Federn an den Hüten zerdrückt, Becher, Würfel, Gold in den Händen.

Die Angst schnürte ihr schier das Herz zu, und nur den einen Seufzer stieß sie aus:

„O Wilhalm, wärt Ihr jetzt zur Stelle!“

Da stand er neben ihr, als habe ein Engel Gottes ihn hergeführt.

„Halt an!“ rief seine frische zornige Stimme. „Ich will Euch lehren, wie man einer Geschlechterin begegnet, Ihr Schubiake!“ Und vor Elsbeth springend, riß er seine spanische Klinge aus der Scheide. Im Nu hatten auch die Gegner ihre Waffen gezogen.

„Daß Dich Gottes Element schände, altfränkischer Krämer!“ rief der Eine.

„Wir wollen Dich mitten durchhauen wie eine Rübe!“ schrie ein Andrer.

Elsbeth sah, daß Viele gegen den Einen waren, und während sie angstvoll zu ihm aufschaute, der ruhig dastand, faltete sie die [604] Hände und that ein heimliches Gelübde, so die heilige Jungfrau ihr beistünde.

Und die Hohe sah gnädig auf ihre Noth herab.

Noch ehe ein Stoß geführt ward, nahten die Scharwächter, die ihren abendlichen Umzug durch die Straßen hielten. Sie umringten die Streitenden, und ihr Führer heischte mit barscher Stimme Auskunft, warum die Klingen gezogen seien, worauf schwere Pön stehe.

„Ich schütze mit meinem Degen eine ehrsame Jungfrau, so nicht mehr in unsrer Stadt ihrer Ehre sicher zu sein scheint, und ich bin der Wilhalm Haller,“ sprach trutzig der junge Patricier.

„Ihr sollt ungehudelt bleiben, Herr Haller,“ antwortete der Scharwächter; „geht Eures Weges!“

Aber dieser gehorsamte nicht. Er steckte die Degenspitze auf die Erde und reckte seine schöne gerade Nase in die Luft:

„Wenn ich auch mit Euch fertig bin, mit diesen Herren hab’ ich noch ein Wörtle zu reden,“ sagte er und deutete auf seine Widersacher.

Aber der Herzog von Baiern nahte begütigend.

„Seid nit so wild! Euch und Eure tugendsame Jungfrau hat Niemand kränken wollen. Die Herren kannten Euch nicht.“

„Sie sahen doch den Sturz!“ dräute Wilhalm.

Der Herzog schüttelte lachend den Kopf.

„Leute, die so angehumpt sind, fürchten sich selbst vor dem Teufel nicht, geschweige vor einem Sturz. Sie können halt nit viel vertragen; denn sie zechen erst seit acht Stündlein. Laßt den kleinen Handel geschlichtet sein, auf daß dem Erzherzog nichts davon zu Ohren kommt!“

Wilhalm sah finster drein. Aber Elsbeth hob flehend die Hände gegen ihn auf; da ließ er sich erweichen und zog mit ihr von dannen.

Die Scharwächter aber verfuhren nach dem alten Wort, welches das Recht ein Netz nennt, darin die kleinen Fliegen hängen bleiben, während die großen Hummeln durchwischen. Den geckenhaften Domherrn ließen sie laufen; vor dem Herzog von Baiern, der überlaut gelacht hatte, pflanzten sie den Spieß auf, aber einen Ritter von einem benachbarten armseligen Burgstall, der im Spiel unnatürliches Glück gehabt hatte, belegten sie mit dem Ehrentitel eines Landstörzers und setzten ihn in den Fröschthurm.

Elsbeth schritt stumm neben dem Haller her, bis sie an das Imhofische Haus kamen. Da blieb sie stehen.

„Nehmt meinen Dank, edler Junker,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „daß Ihr mir so tapfer beigestanden habt!“

Und sie bot ihm schüchtern die Hand.

Er aber sagte gereizt:

„Ein Andrer würde Euch als Schützer lieber gewesen sein – gelt? Ihr mußtet schon fürlieb nehmen.“

Elsbeth schrak zusammen. Wußte der Haller schon von dem Heirathsplan mit dem Kriegsschreiber? Dann sprach sie in schmerzlichem Tone:

„Bald werde ich nur noch auf den Einen meine Hoffnung setzen, der uns in Ewigkeit treu bleibt.“

Wilhalm horchte auf. Damit konnte sie den Rotmund nicht meinen. Er schaute in ihre Augen; die sahen so weh und so wahrhaftig zu ihm auf, daß ihm eine Ahnung kam, wie er nach der Pfeife der Frau Rotmundin getanzt hatte, ohne es zu wissen. Aber so sehr ihn auch die Entdeckung freute, er nahm sich doch zusammen, daß er dem blonden Trotzkopf gegenüber Recht behalte.

„Es ist mir lieb,“ sagte er, „daß, ehe Ihr Euch dem himmlischen Bräutigam vermählt, ich Euch zeigen konnte, wie ich Eure Ehre wohl zu schützen vermöge.“

Sie schlug die Augen nieder.

„Ihr fahrt hart gegen mich einher! Aber wenn Ihr meine bösen Worte nicht vergessen habt, dann gedenkt auch, daß Ihr Ursache dazu gabt. Triebt Ihr nicht Kurzweil mit einer Ehefrau, zogt an einem Seil mit ihr, man weiß nicht was, und machtet eine spanische Reverenz ohne alle Ursach?“

Sie hatte sich in Eifer geredet und war dabei tief erröthet.

Wilhalm richtete sich beleidigt auf.

„An der Schnur hängt dort der kaiserliche Adler, und den Feston habe ich mit der Frau Rotmundin verabredet, die eine so ehrbare Frau ist wie ich ein rechtschaffner Junggesell. Eine spanische Reverenz aber,“ fuhr er mit Nachdruck fort, „kann ebenso gut manchmal eine Strafe sein für eine Jungfrau, die zuschaut, wie eine Huldigung für die Frau, welcher sie dargebracht wird.“

Elsbeth blickte tief beschämt nach dem Adler hin, der am Ende der dämmrigen Straße in der Abendluft sich schaukelte, und doch war ihr dabei, als fiele ihr ein Stein vom Herzen. Schüchtern lugte sie den Wilhalm an.

„Mußtet Ihr denn auch noch strafen? Habt Ihr mich nicht schon hart genug gescholten damals, an jenem Tage“ – die Stimme schwand ihr.

„Es ist das Recht des Mannes,“ antwortete Wilhalm fest, „seinen Willen kund zu thun und die Frau zu erziehen; das Weib aber hat sich zu fügen. So hat es Gott selbst gewollt, da er sprach: Er soll Dein Herr sein. Wenn die Frau sich auch hoffärtig erhebt, es wird immer der Augenblick kommen, wo sie des starken Mannes als Schutz und Schirm bedürftig ist. Wohl ihr, wenn sie dessen inne wird, bevor es zu spät ist!“

Sie senkte demüthig das Haupt, und er schaute mit Wohlgefühl auf sie herab. An den Rotmund – das sagte er sich mit Frohlocken – dachte die Elsbeth nicht, und er hütete sich seinen Verdacht einzugestehen; denn es behagte ihm sehr, den großen Mann zu spielen, der erst zürnte und schalt und dann mit nachsichtiger Güte das schwache Weib beglückte, das der zärtlichen Leidenschaft für ihn trotz alles Sträubens verfallen war bis zur Eifersucht wegen einer spanischen Reverenz.

„Und nun gehabt Euch wohl,“ sprach er in gütevollem Tone. „Beherzigt meine Worte, und möge der gehabte Schrecken nicht als Alb in der Nacht sich Euch aufhucken, sondern ein liebliches Traumbild zu Euch niederschweben!“

„Geruhsame Nacht!“ sprach auch sie.

Er verneigte sich auf Augsburgische Manier demüthig hoffärtig. Dann wartete er noch, bis auf ihr Klopfen aufgethan wurde; darauf schritt er gehobnen Hauptes davon.

Aus Elsbeth’s Seele aber war die Erinnerung an das Kloster gänzlich entschwunden – andere Dinge erfüllten ihren Sinn.

Als sie in’s Haus trat, löste sie den Sturz und rief die Magd:

„Schaffe ihn mir aus den Augen, auf den Kehrichthaufen oder in den Lumpensack! Ich habe ihn in einem Gelübde verschworen. Er hat mich nit geschützt, mit meinem brävsten Freund entzweit und ist mir allweg ganz zuwider.“

(Fortsetzung folgt.)




Clara Schumann.[1]

Von La Mara.


Wir sind im Gewandhaussaal zu Leipzig. Die berühmten classischen Musikräume prangen heute – wir schreiben den 24. October 1878 – in heiterem Festglanz. Grün- und Blumengewinde hangen hernieder; umkränzt stehen Claviersessel und Flügel, und die alte Inschrift zu Häupten des Orchesters, das „Res severa est verum gaudium“, (Eine ernste Sache ist eine wahre Freude) sieht einem festlich erregten Publicum in’s Angesicht. Wem wohl die seltene Feier gilt? Der Concertzettel, der heute auch ein Festgewand angelegt und neben dem lorbeergeschmückten Doppelmedaillon Robert und Clara Schumann’s die Jahreszahlen 1828 und 1878 nennt, giebt darauf Antwort: Clara Schumann’s goldenes Künstlerjubiläum begehen wir.

Da ist sie selber, die Gefeierte. Das Haupt mit dem milden, sinnenden Ausdruck ein wenig geneigt, das Haar vom ersten Reif des Lebenswinters schon gestreift, so grüßt sie ein tausendstimmiger Jubelruf, ein Blumenregen ohne Ende. In dieser Blumenspende, [605] diesem Jubelruf faßt das musikalische Leipzig seinen Dank für die Gaben eines halben Jahrhunderts zusammen. Nimmt es uns Wunder, wenn die Begeisterung jetzt zur hellen Flamme auflodert? Zählt die noch immer als Erste ihres Gleichen verehrte Künstlerin, von dem Doppelnimbus der hinterlassenen Gattin und Kunstgefährtin eines unserer geliebtesten Tondichter umflossen, nicht von je zu den bevorzugtesten Gästen im Gewandhaus? Und ist sie nicht obendrein nach Geburt und Erziehung ein Leipziger Kind? Hat die alte Musikstadt nicht ihre Kindheit und Jugend, ihr erstes Liebes- und Eheglück, wie die Entwickelung ihrer Künstlerschaft mit angesehen und erscheint dieselbe somit nicht als berufenste Zeugin ihrer künstlerischen Wesenheit und ihrer Triumphe?

Clara Schumann.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Noch jenseits der musikalischen Glanzperiode Leipzigs, die sie herankommen sehen, mit durchleben und schmücken helfen sollte, fiel allerdings Clara’s Geburt. Bescheidene Blüthen nur trieb das Musikleben daselbst, als sie am 13. September 1819 dem bekannten Clavierpädagogen Friedrich Wieck als erstes Kind in die Wiege gelegt ward. Der Vater selbst, der, seine Carrière als Hauslehrer beginnend, eine musikalische Instrumentenhandlung und Leihanstalt am Orte begründet hatte und überdem als Clavierlehrer thätig war, half an seinem Theile die musikalische Bildung in Leipzig fördern. Von ihm und seiner ersten Gattin, Marianne geborene Tromlitz, die als Clavierspielerin und Sängerin in den Gewandhausconcerten wiederholt und erfolgreich ihr Licht leuchten ließ – sie vermählte sich später, nach erfolgter Trennung vom ihm, mit dem Musiklehrer Bargiel in Berlin, dem Vater des [606] Componisten Waldemar Bargiel, während Wieck mit Clementine Fechner in Leipzig einen zweiten Ehebund schloß, dem die Pianistin Marie Wieck entstammt – erbte Clara auch die tonkünstlerische Begabung. Während ihrer allerersten Lebensjahre zeigte sie freilich keine sonderlichen Anlagen. Kaum aber verrieth sie, fünf Jahre alt, musikalisches Talent, als ihr Vater sie sofort in seine künstlerische Zucht nahm und nach der ihm eigenthümlichen zweckmäßigen Methode mit so glücklichem Erfolge auf dem Clavier unterrichtete, daß sie bereits nach vier Jahren Concerte von Mozart und Hummel auswendig mit Orchester zu spielen vermochte und den ersten Schritt in die Oeffentlichkeit wagen durfte.

In einem Concert der Pianisten Perthaler aus Graz am 20. October 1828 erschien die Neunjährige zum ersten Male in dem berühmten Musiksaal ihrer Vaterstadt, um mit Kalkbrenner’s vierhändigen Variationen über einen Marsch aus „Moses“ (Opus 94) zu debutiren. Sie trug dieselben in Gemeinschaft mit Emilie Reichold, einer Schülerin ihres Vaters, laut einem Bericht der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ vom November 1828 „mit allgemeinem und verdientem Beifall“ vor, und die Kritik äußerte an gleicher Stelle über jene erste Leistung: „Unter der Leitung ihres musikerfahrenen, die Kunst des Pianofortespiels wohl verstehenden und dafür mit Liebe sehr thätigen Vaters dürfen wir von ihr die größten Hoffnungen hegen.“

Um die Zeit ihrer Erstlingserfolge war es, als Robert Schumann – Musiker im Herzen, seines Zeichens aber dazumal noch Student der Rechte – zuerst in ihr Leben trat und, durch ihre virtuosen Leistungen befeuert, ihren Vater um seinen Unterricht bat. Zum ersten Mal begegneten sich ihre Schicksalssterne. Doch zunächst nur vorübergehend, da der Mutter Gebot, die Fortsetzung seiner juristischen Studien verlangend, Schumann im Frühjahr 1826 nach Heidelberg trieb. Anderthalb Jahr später aber, nachdem ihm inzwischen Wieck’s Autorität zum Erreichen seiner Wünsche und Erfassen des ersehnten Künstlerberufs verholfen, kehrte er, und diesmal dauernd, nach Leipzig zurück und nistete sich als sein Hausgenosse so nahe als möglich bei seinem Meister ein.[2] Er brachte jugendlich-frische Elemente und mit ihnen eine neue poetische Lebensströmung in das einem künstlerischen Verkehr gastlich offen stehende Haus – gewiß eine wohlthätige Anregung für Clara, die von der eisernen Hand des Vaters streng genug geführt ward. Die Anstrengungen der Arbeit lernte sie frühzeitig kennen. Sa lange ihre physischen Kräfte ausreichten, hielt man sie am Clavier fest. Zu Spielen und Erholungen, wie sie sonst das Kindesgemüth ergötzen, ließ man ihr so wenig Muße, daß sie, wie Liszt erzählt, die kurzen Augenblicke, wenn sie ihre Lieblinge, junge Kätzchen, einmal liebkoste, sich hinter des Vaters Rücken abstehlen mußte. „Durch vieles Spielen oder vielmehr trotz des vielen Spielens,“ fagt Liszt, „aber erwuchs ihr zuletzt statt Ueberdruß, wie man es wohl glauben möchte, das innere Verständniß dessen, was sie spielte. Von da an versuchte ihr Geist immer höher in die geheimen Regionen der Poesie aufwärts zu dringen.“

Zu improvisiren und componiren hatte Clara schon im zehnten Jahre angefangen. Compositionsunterricht beim Thomas-Cantor Weinlig und später bei Heinrich Dorn gab ihrem schöpferischen Trieb Nahrung und Regelung. Ein Thema von ihr liegt bereits einem der frühestens Werke Robert Schumann’s – den Impromptus Opus 5 – zu Grunde: das erste Zeichen seiner ideellen Hinneigung zu ihr, das nach außen drang.

„Da ich Leute kenne,“ schreibt er 1833 von ihr, „die sich schon auf das nächste Mal freuen, wenn sie eben Clara gehört hatten, so frag’ ich, was denn das Interesse für sie so lange nährt? Ist es das Wunderkind, über dessen Decimenspannungen man den Kopf schüttelt, obwohl verwundert? Sind es die schwierigsten Schwierigkeiten, die sie spielend als Blumenketten in’s Publicum zurückschlingt? Ist es vielleicht einiger Stolz, mit dem die Stadt auf die Eingeborene sieht? Ist es das, daß sie uns das Interessanteste der jüngsten Zeit vorführt in kürzester Zeit? – Ich weiß es nicht: ich meine aber einfach, es ist der Geist, der zwingt.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Sie zog frühzeitig den Isisschleier ab. Das Kind steht ruhig auf – der ältere Mensch würde vielleicht am Glanz erblinden.“

Doch nicht Schumann und Leipzig allein freuten sich an Clara’s aufblühender Künstlerschaft; Vater Wieck säumte nicht, seinem Kinde die Welt und der Welt sein Kind zu zeigen. Die Elfjährige schon führte er hinaus, und befriedigt berichtet er in die Heimath, „welches Aufsehen“ sie und er selbst, als ihr Bildner, in Dresden machen. „Aber ich bin ängstlich,“ fügt er hinzu, „daß die Ehren und Auszeichnungen auf Clara einen schlimmen Einfluß üben könnten. Merke ich etwas Nachtheiliges, so reise ich sogleich ab, damit sie wieder in bürgerliche Ordnung kommt; denn ich bin zu stolz auf ihre Anspruchslosigkeit und vertausche dieselbe um keine Ehre der Welt.“

Im nächsten Jahre (1831 bis 1832) geht es weiter nach Weimar, Kassel, Frankfurt am Main und Paris.

„Ich hoffe, Clara soll uns keine Schande in Paris machen,“ heißt es in einem uns vorliegenden ungedruckten Briefe Wieck’s an seinen dort lebenden Schwager, Maler Fechner. „Die Urtheile Spohr’s und vieler anderen edlen und unparteiischen Kenner, wo der fürchterliche Neid keine Rolle spielt, bringe ich alle mit, und wir wollen nun sehen, was Chopin, Pixis, Hunten, Kalkbrenner und Andere zu einer musikalischen Pianistin (ich habe nie eine gekannt außer der verstorbenen Sygmanowska in Petersburg) sagen werden, die in der großartigen Field’schen Schule ebenso von mir ausgebildet worden, als in der Wiener und neuesten französischen, die verhältnißsmäßig ebenso gut vom Blatt spielt, Partituren liest, phantasirt und componirt.“

In Weimar faßt Goethe – wie früher in Leipzig schon Paganini, der ihm eine glänzende Zukunft weissagt – ein tiefes Interesse für das wunderbare Kind. Zum Danke für die Freude, die ihm ihr Spiel bereitete, sendet er „der geistreichen Clara Wieck“ sein Bild. In Kassel lernt sie Spohr, in Paris, von wo sie die Cholera nur zu schnell vertreibt, Alexander van Humboldt, Mendelssohn, Meyerbeer, Kalkbrenner und der eben dort concertirende Chopin kennen. Für des Letzteren Compositionen faßte Wieck van Anbeginn ein so lebhaftes Interesse, daß er in verschiedenen musikalischen Zeitschriften eine Kritik oder, wie er selbst sagt, eine ästhetische Rhapsodie über Opus 2 veröffentlichte. Dieses Variationenwerk und andere Schöpfungen des polnischen Romantikers machte Clara zuerst in weiteren Kreisen bekannt. Auch Beethoven’s Sonaten, Bach und Mendelssohn nimmt sie nun in ihr Concertrepertoire auf, das sich bisher im Wesentlichen auf Bravourstücke von Herz, Kalkbrenner und Moschekes beschränkt hatte. –

Um bei Mieksch Gesang, bei Capellmeifter Reißiger Instrumentation zu treiben, nahm sie 1833 einen halbjährigen Aufenthalt in Dresden, wo sie unter Anderem die Bekanntschaft mit der sie in hohem Maße begeisternden Schröder-Devrient erneute, die schon in ihrem Concerte in Paris mitgewirkt hatte. Dann ließ sie sich in ihrer Vaterstadt mit Beriot und Pauline Garcia gemeinsam hören. Den Ersten und Größten in ihrer Kunst durfte sie, die Jugendliche, sich schon gesellen. Bald pflückte sie sich in Berlin unter Spontini’s Gönnerschaft, bald in Paris, bald in Prag und Wien neue Lorbeeren. Meinte Rellstab, der allmächtige Kritiker der preußischen Hauptstadt, auch bedauernd: „Schade, daß sie in den Händen eines Vaters liegt, der solchen Unsinn von Chopin spielen läßt,“ das bedeutende Talent der Spielerin mußte er doch anerkennen. Auch Fétis bestätigt, welch lebhafte Sensation sie an der Seine erregte, und an der Donau vollends feierte sie Siege über Siege. Die Kaiserin von Oesterreich ernannte sie zu ihrer Kammervirtuosin – eine Ehre, die bis dahin noch keiner Ausländerin widerfahren war – die Aristokratie zog sie begierig in ihre Kreise.

„Die Poeten,“ bezeugt Liszt, der sie hörte, „erkannten in dieser anmuthigen Erscheinung eine Tochter ihres Vaterlandes. Sie streuten Perlen und Gesänge vor sie hin und feierten diesen Benjamin ihres Stammes, der, mit schweifendem geistvollem Blicke umherschauend, mit seltsamen Lächeln einer Najade glich, die im Lande der Prosa sich unheimlich fühlte.“

So besang Grillparzer sie und ihren Vortrag von Beethoven’s F-moll-Sonate:

„Ein Wundermann, der Welt, des Lebens satt,
Schloss seine Zauber grollend ein
Im festverwahrten, diamantenen Schrein
Und war den Schlüssel in das Meer und starb.
Die Menschlein mühen sich geschäftig ab,
Umsonst! kein Sperrzeug löst das harte Schloß

[607]

Und seine Zauber schlafen wie ihr Meister.
Ein Schäferkind, am Strand des Meeres spielend,
Sieht zu der heftig unberufenen Jagd;
Sinnlos, gedankenlos, wie Mädchen sind,
Senkt sie die weißen Finger in die Fluth
Und faßt und hebt und hat’s. – Es ist der Schlüssel.
Auf springt sie, auf, mit höh’ren Herzensschlägen;
Der Schrein blickt wie aus Augen ihr entgegen.
Der Schlüssel paßt; der Deckel fliegt. Die Geister,
Sie steigen auf und senken dienend sich
Der anmuthreichen, unschuldsvollen Herrin,
Die sie mit weißen Fingern spielend lenkt.“

Das war Clara Wieck’s letzte Mädchenreise. Unwiderstehlich, übermächtig war die seit Langem geheim gehaltene Liebe zwischen ihr und Robert Schumann mittlerweile an’s Tageslicht getreten. Daß er in ihr seine Muse gefunden, das verriethen schon die „Schwärmbriefe an Chiarina“[WS 1] in der von ihm gegründeten „Neuen Zeitschrift für Musik“; die Davidsbündlertänze“, der „Carneval“, die Fis-moll-Sonate, die „Kreisleriana“, die Humoreske“, die „Novelletten“ und „Nachtstücke“ gaben es tönend vor aller Welt kund und erzählten es Jedem, der zu hören verstand und der „inneren Stimme“ lauschte. Und Clara hatte dem stillen Mann mit dem tief gegründeten Dichtergemüth ihr Herz geschenkt; sie war sein trotz des heftigen Einspruchs des Vaters, der sein Kleinod mit eifersüchtigen Blicken hütete und von einer Verbindung Beider, da er ihre Zukunft nicht genügend gesichert glaubte, nur unter der Bedingung eines längeren Aufschubs etwas hören wollte. Wie konnte gleichwohl sein Wille trennen und aus einander halten, was sich doch unaufhaltsam zu einigen trachtete, was die Natur selber für einander bestimmt und geschaffen hatte? Schmerzliche Kämpfe konnte er den Beiden wohl bereiten, seinen Segen konnte er der Wahl seines Kindes verweigern, aber er konnte nicht hindern daß sie endlich, dank dem Beistand der Gerichte, erreichten, was er selber ihnen hartnäckig vorenthielt: daß sie ohne seinen Segen zum Altare traten. In der Kirche zu Schönefeld bei Leipzig, am 12. September des Jahres 1840 empfing ihr Bund die Weihe von oben. Und der Segen des Himmels fehlte ihrer Ehe nicht.

„Ihre Geschicke,“ sagt Liszt, „erfüllten sich in dieser unter dem Segensstrahl der Kunst erblühten gegenseitigen Liebe, und fortan lebte er dichtend und sie dichtete lebend. Es war keine glücklichere, keine harmonischere Vereinigung in der Kunstwelt denkbar, als die des erfindenden Mannes mit der ausführenden Gattin, des die Idee repräsentirenden Componisten mit der ihre Verwirklichung vertretenden Virtuosin. Beide übten die Kunst in verschiedenen Richtungen von gleicher Bedeutsamkeit aus. Interpreten desselben poetischen Gefühls, schauten und verkündeten sie dasselbe Vorbild des Schönen, waren sie von demselben Abscheu gegen Triviales in der Kunst, von derselben Ehrfurcht für gleiche Eigenschaften erfüllt. Hand in Hand gehend, trugen sie gleiche Kränze und gleiche Palmen, ward Beiden gleicher Beifall; denn Ihn bewundern heißt Sie bewundern, die in verschiedenen Zungen, aber im herrlichsten Einklang sangen. Die Annalen der Kunst werden Beider Gedächtniß in keiner Beziehung trennen; die Nachwelt kann Beider Namen nicht vereinzelt nennen; sie wird mit einem goldnen Schein beide Häupter umweben, über beiden Stirnen nur einen Stern erglänzen lassen, wie von einem berühmten Bildner unsrer Zeit[3] die Profile des unsterblichen Paares schon in einem Medaillon vereinigt sind.“

Bald gaben sie von dem nach langen Kämpfen errungenen Glück dankbar auch nach außen Kunde. Hatte er ihr kurz zuvor schon seine ersten Lieder, die „Myrten“, als köstlichste Brautgabe dargebracht, so sangen sie nun vereint die „zwölf Gesänge“ aus Rückert’s Liebesfrühling (Opus 37); die ersten beredten Zeugen ihres jungen Eheglücks, die ihnen der Dichter selber mit dem poetischen Dankesgruß lohnte:

„Lang ist’s, lang,
Seit ich meinen Liebesfrühling sang;
Aus Herzensdrang,
Wie er entsprang,

5
Verklang in Einsamkeit der Klang.


Zwanzig Jahr
Wurden’s, da hört ich hier und dar
Der Vogelschaar
Einen, der klar

10
Pfiff einen Ton, der dorther war.


Und nun gar
Kommt im einundzwanzigsten Jahr
Ein Vogelpaar,
Macht erst mir klar,

15
Daß nicht ein Ton verloren war.


Meine Lieder
Singt Ihr wieder;
Mein Empfinden
Klingt Ihr wieder;

20
Mein Gefühl

Beschwingt Ihr wieder;
Meinen Frühling
Bringt ihr wieder;
Mich, wie schön,

25
Veriüngt Ihr wieder.

Nehmt meinen Dank, wenn auch die Welt,
Wie mir einst, ihren vorenthält!“

An eigenen Compositionen – meist für Clavier und Gesang, doch darunter auch ein Concert mit Orchester, ein Trio und Romanzen für Pianoforte und Geige – veröffentlichte Clara im Laufe der Zeit 23 opera und einiges ohne Opuszahl Erschienene. Aber auch das, was ihr Gatte schuf, durchlebte sie treulich mit ihm, und an seinem Streben nach dem Höchsten nahm sie theil.

„Er war ihr“ – wie Ferdinand Hiller in bewegter Rede am Grabe Robert Schumann’s bezeugte – „wie der Tochter der Vater, wie der Braut der Bräutigam, wie dem Jünger der Meister, wie dem Gläubigen der Heilige.“

Als liebevolle Vermittlerin stand sie zwischen dem in seine Traum- und Gedankenwelt vertieften, schweigsamen Manne und dem praktischen Leben, der Außenwelt. Von der stillen Heimstätte, die sie sich als Mittelpunkt harmonischsten häuslichen Glückes zunächst in Leipzig, dann in Dresden (von 1844 bis 1850) und zuletzt in Düsseldorf gegründet, zog sie ihn auch zeitweilig mit in’s Weite hinaus, in Rußland wie in den verschiedensten Gegenden Deutschlands, Oesterreichs und der Niederlande Triumphe mit ihm feiernd. Durch seinen Genius empfing der ihre seine eigentlichste höchste Weihe. Weit über das, was Clara Wieck einst war, wuchs Clara Schumann hinaus. Aus der „lieblichen Musenspielgenossin ward eine weihevolle, treu pflichtige und strenge Priesterin“.

Sie offenbarte der Welt, was in seiner Seele erklungen und rastete nicht, bis sie seinen tiefsinnigen Clavierdichtungen ein immer allgemeineres Verständniß erschlossen. So war die Ehe dieser beiden Muesenkinder ein gegenseitiges seliges Geben und Nehmen; so war ihre Größe sein, seine Anerkennung ihr Verdienst. Konnte es im Jahre 1846, als Beide Wien besuchten, wie Hanslick erzählt, noch geschehen, daß man von ihm nur als von dem „Mann der Clara Wieck“ sprach, und bei einem Hofconcert sich eine hohe Person nach Clara’s Production mit der huldvollen Frage an ihren Gatten wandte: „Sind Sie auch musikalisch?“ so lernte die Welt dank den Bemühungen der treuen Gattin allmählich erkennen, was sie in ihm besaß.

Und dem erwählten Berufe blieb Clara treu in guten wie in bösen Tagen. Als wenige Jahre, nachdem Robert Schumann sein bisheriges vorwiegend freies Künstlerleben gegen eine amtliche Wirksamkeit in Düsseldorf vertauscht hatte, sich im Februar 1854 an ihm das furchtbarste Geschick erfüllte, als Krankheit des Leibes und der Seele den reichen Geist in Fesseln schlug, bis nach zwei trauriger Jahre Frist der mitleidige Tod das umnachtete Dasein endete, da erhob sich die Schmerzgebeugte „mit der Willensstärke der Mutter, mit der Begeisterung der Künstlerin, mit der ungebrochenen Liebe zu dem Dahingeschiedenen“, um das Priesterthum seiner Kunst in seinem Sinne zu vollenden. Als seine Wittwe, die ihr Heim von Düsseldorf wechselnd nach Berlin (von 1857 bis 1861), nach Baden-Baden (bis 1873), sodann wieder nach Berlin (bis 1878) und endlich nach Frankfurt am Main verlegte, wo sie noch gegenwärtig an der Hoch’schen Hochschule für Musik unterrichtet, trat sie von neuem in die Welt.

„Wenn sie den Dreifuß des Tempels bestieg“ – so hören wir Liszt sie schildern – „spricht nicht mehr das Weib zu uns; sie unterhält uns weder als Dichterin von irdischer Leidenschaft, vom stürmischen Kampf menschlicher Geschicke, noch überzeugt sie uns durch die Kühnheit ihrer Anreden; noch weniger bewirbt sie sich um Sympathien. Eine unterwürfige, glauben- und ehrfurchtsvolle Geweihte des Delphischen Gottes begeht sie mit schauernder Gewissenstreue seinen Cultus. Zitternd, auch nur ein Jota des [608] zu kündenden Spruches zu vermissen, eine Silbe falsch zu betonen, bezähmt sie ihr eigenes Gefühl, um nicht zur schuldigen, trügerischen Interpretin zu werden. Sie entsagt den eigenen Eingebungen, um als unbestechliche Vermittlerin, als treue Auslegerin die Orakel zu verkünden. Und so ist sie von Andacht beherrscht, daß das bewegliche menschlichere Element vor dieser objectiven Interpretation der Kunst fast gänzlich zurücktritt. Dagegen wird Niemand in der ergreifenden Wahrheit ihr den Vorrang abgewinnen, mit welcher sie die durch volles Verständniß geheiligten Meister vorträgt. – Selten wird wieder, wie sie, eine Frau ihr ganzes inneres Leben in die Kunst übertragen, um nur noch in ihrem Gebiet zu fühlen und zu genießen. Eine vorwurfsfreie Vollendung charakterisirt jeden Ton dieser sanften leidenden Sibylle, die, Himmelsdüfte athmend, mit der Erde nur noch durch ihre Thränen verbunden bleibt.“

Und an anderer Stelle sagt er: „Es ist öfters bemerkt worden, wie genau gewissenhaft Frau Schumann’s Vorbereitungen zum öffentlichen Auftreten sind, wie sie die Tastatur durchspürt und jeden Ton prüft, dessen wenn auch richtiger Klang die gewollte Resonanz und Färbung nicht vollständig hergiebt, wie sie sorgt, daß ihr Sitz nicht um das Geringste zu hoch oder zu niedrig sei, wie sie nicht allein lange Stunden auf dem Piano übt, was sie spielen soll, um alle seine Feinheiten, Schwächen und Vorzüge kennen zu lernen, sondern womöglich in dem betreffenden Saale selbst, um abzulauschen, wie in dessen Akustik jeder Accord, jedes Arpeggio, jedes Anschwellen und Abnehmen der Tonfluthen sich ausnehmen wird. Wir können darin nur eine Nothwendigkeit ihres Wesens sehen, eine Consequenz ihrer Verfahrungsweise, ihrer Auffassung von Kunst, Berufstreue und Schwierigkeit der künstlerischen Lebensaufgabe, die ihr nicht erlaubt, ihrer von der Gunst des Augenblicks und der Stimmung abhängigen persönlichen Begeisterung zu vertrauen, sie vielmehr überzeugt, daß, um der Würde der Kunst treu zu bleiben, man zu jedem ihrer Feste mit demselben Ernste, derselben Weihe schreiten muß. In jeder Hinsicht makellos, ist sie durch andauernde Sorgfalt, Energie des Willens und ascetische Hingebung zu einer Meisterschaft gelangt, die sie gewissermaßen als unfehlbar stempelt.“

„Andere dichten – sie ist eine Dichtung,“ schreibt Schumann von Clara, der Hiller mit Recht nachrühmt, daß sie inmitten aller Triumphe stets das „einfachste, wahrhaftigste, echteste Weib, die aufopferndste Mutter, die getreue Freundin“ bleibt. Berlioz nennt sie „die Erste und Einzige“, und Liszt fügt hinzu: „Wenn auch Viele mehr Lärm machen, Wenige geben so viel Musik.“

Nahezu zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit Liszt jene Worte schrieb; aber sie haben ihnen nichts von ihrer vollen Geltung geraubt. Als die berufenste Vermittlerin der unter ihren Augen entstandenen, vielfach für sie selber gedachten und durch sie allmählich populär gewordene Schöpfungen ihres Gatten wie der classischen Meisterwerke bewundern wir sie noch heute und ehren und lieben in ihr mit Hans von Bülow’s Worten die „noch immer unentthronte Königin der Clavierspielerinnen“.





Die neue französische Jugendwehr.

Am 13. Juli dieses Jahres, am Vorabende des französischen Nationalfestes, paradirte das jüngst in’s Leben gerufene Pariser Schülerbataillon uniformirt und bewaffnet vor dem Kriegsminister und vor der festlich gestimmten, aufjauchzenden Pariser Einwohnerschaft. Daß an dieses Auftreten zukünftiger Krieger die Zuschauer hochgehende Hoffnungen knüpften, läßt sich bei dem sanguinischen Charakter der Franzosen als selbstverständlich voraussetzen. Dieses Auftreten war die erste öffentliche Kundgebung der seit Kurzem gesetzlich im ganzen Gebiete der französischen Republik eingeführten soldatischen Ausbildung der schulpflichtigen Jugend. Mit dieser Ausbildung hat man sich keine geringere Aufgebe gestellt, als die Wehrkraft des Volkes zu heben, oder, wie der Minister Jules Ferry in seinem officiellen Rundschreiben an die Schulbehörden des Landes vom 29. Mai 1880 sagt, „die beabsichtigten Erfolge unserer Militärgesetze zu sichern“.

Den militärischen Vorrang, in dessen vollständigem Besitze man sich jenseits des Rheines bis zum Kriege von 1870 und 1871 glaubte, hofft man zu einem Theile damit wieder zu erlangen, daß man in den Schulen Marschübungen und Ausflüge mit den Knaben anstellt, ihnen Gewehre zum Exerciren in die Hände giebt und im dritten Trimester Unterricht im Schießen ertheilt, das nach der Erklärung des Ministers „ebenfalls großes Interesse darbiete“. Neben diesen militärischen Uebungen ist gleichzeitig in allen öffentlichen Unterrichtsanstalten für Knaben durch das Gesetz vom 27. Januar 1880 das Turnen obligatorisch eingeführt. Auch dies betrachtet man „als eine unerläßliche Ergänzung des Schulunterrichts“ und hat daher für beides bestimmte Stunden des Schulplans in Anspruch genommen.

Man sieht aus diesen Neuerungen, daß unsere Nachbarn etwas von uns gelernt haben, indem sie erkennen, daß die Erziehung der heranwachsenden Generation zu körperlicher Kraft und Gewandtheit eine Hauptbedingung des nationalen Aufschwungs und namentlich die nothwendige Grundlage für die allgemeine Heerpflicht ist.

Auch weiterhin giebt sich jenseits der Vogesen das Verlangen kund, in beregter Richtung Versäumtes nachzuholen. So wurde in den letzten Jahren den Bestrebungen der französischen Turnvereine seitens der Vertreter der Regierung eine bisher ungewohnte Aufmerksamkeit geschenkt. Am 6. Februar 1880 z. B. empfing der Kriegsminister in Paris den Präsidenten und den Delegirten des Verbandes der französischen Turnvereine. Der Präsident betonte in seiner Ansprache, daß „die Turnvereine einen Bindestrich zwischen Schule und Armee bildeten“, worauf der Minister versprach, die Vereine auf alle mögliche Weise zu begünstigen. Ferner wurde das von ungefähr 2000 Turnern am 28. Mai dieses Jahres in Rheims abgehaltene französische Turnfest ausgezeichnet durch die Anwesenheit des Unterrichtsministers Jules Ferry, des Ministers des Innern Goblet und des Generals Chanzy. Ferry pries vom pädagogischen Standpunkte aus das Turnen als eine Vorschule der Disciplin, des Pflichteifers, freiwilliger Unterordnung, ohne welche gerade die Republik nicht bestehen könne. Andererseits begrüßte Goblet die Turnvereine als die schönsten Blüthen des Vereinswesens, des Geistes der Association, der in Frankreich noch gar sehr der Entwickelung bedürfe. Man hat sich also in Frankreich entschlossen, die Pflege des Turnwesens mit allen Kräften zu fördern.

Es liegt im französischen Nationalcharakter, jede Neuerung schwungvoll in Scene zu setzen. So mußten denn im vorliegenden Falle die kleinen Turner Uniformröcke erhalten und Gewehre in die Hände bekommen. Das ist natürlich in Frankreich eine begreifliche Erscheinung, doch wird man wohl in Paris kaum geahnt haben, daß diese, man möchte sagen, harmlose Spielerei in gewissen deutschen Kreisen eine unverkennbare Eifersucht und den Wunsch nach Nachahmung wach rufen werde. Das geschah aber wirklich; denn man hat es für angezeigt gefunden, in einem Theile der deutschen Presse unter Hinweisung auf die französische Jugendwehr die Einführung einer soldatenmäßigen Ausbildung der im schulpflichtigen Alter stehenden deutschen Knaben zu erörtern. Man witterte in dieser französischen Neuerung für uns eine Gefahr und vergaß doch ganz und gar, daß die französische Behörde nur das nachgeahmt hat, was seiner Zeit in Deutschland von einer Anzahl von Vereinen angestrebt und ausgeführt worden ist. Uns allen sollte noch erinnerlich sein, daß zu Anfang der sechsziger Jahre in der Zeit des ersten Aufwallens politisch freier Regungen nach einer sterilen Reactionsperiode sich Vereine gründeten, welche Jugendwehren in’s Leben riefen. So wurde z. B. zur Zeit des ersten deutschen Bundesschießens im Juli 1862 in Frankfurt eine Jugendwehr gegründet, und andere Orte, wie Heidelberg, Darmstadt, Wiesbaden, folgten bald diesem Beispiele. Die Frankfurter Jugendwehr hielt im Jahre 1864 zwei Manöver ab, und das Jahr darauf im September kamen die Jugendwehren aus vielen Städten in Frankfurt zusammen, um einen Jugendwehrtag und Tags darauf ein Manöver abzuhalten, an welchem sich die Stuttgarter sogar mit vier Kanonen und vierundvierzig Artilleristen betheiligten. Württemberg war in Angelegenheiten der Jugendwehr allen voran.

„Die Bedeutung dieser Institute,“ schrieb man damals, „steht außer Frage. Sie sind ein wichtiges Erziehungsmittel. In ihnen liegt aber auch der fruchtbarste Keim für die Wehrtüchtigkeit des Volkes, und sie befördern den Geist der Vaterlandsliebe.“

[609] Trotz dieses Lobes bedurfte es jedoch nur des Hauches einer ernsten Kriegszeit, um die Jugendwehren über den Haufen zu werfen. Am längsten hielten sich die Württemberger, die noch einige Jahre nach 1866 vegetirten, bis auch sie endlich der Kriegslärm von 1870 gänzlich hinwegfegte. Wenn dem Wesen der Jugendwehren etwas Gesundes und Volksthümliches inne gewohnt hätte, so wäre sicher ihr Bestand nicht ein so vorübergehender, ihr Ende kein so klägliches gewesen.

Wie anders dagegen das Turnen, das trotz Verfolgung und Aechtung jederzeit gekräftigter und gefeiter aus schlimmer Zeit hervorging! Es widerstrebt dem deutschen Geiste, unverständige Knaben und halbreife Jünglinge in vertrautem Umgange mit Waffen zu sehen. Andererseits sind aber auch die militärischen Uebungen gar nicht so geartet, daß sie auf die Dauer von Jahren irgend einen Menschen fesseln könnten. Der Stoff ist ein allzu beschränkter und einseitiger, als daß er das Interesse der Betheiligten länger zu beanspruchen vermöchte, als der Reiz der Neuheit dauert. Das Uebungswerk ist so gering an Inhalt, daß die erste Ersatzreserve sich denselben in acht bis höchstens zehn Wochen so anzueignen vermag, daß sie im Kriegsfalle der activen Armee einverleibt werden kann.

Gegenwärtige Uniformirung der schwedischen Regimenter, welche bei Lützen mitgefochten haben.

Die früheren deutschen Bestrebungen für Jugendwehren und die jetzigen der Franzosen unterscheiden sich allerdings dadurch, daß die ersteren privatlicher Natur waren, während letztere auf einer staatlichen Einrichtung beruhen. Es liegt daher schon in der ganzen Institution, daß die französischen Jugendwehren von längerem Bestande sein werden, als es die deutschen waren. Sicher werden daher von Zeit zu Zeit unsere Zeitungen von öffentlichen Paraden, von größeren Uebungsmärschen, oder wohl gar von Manövern ganzer Bezirke dieser Jugendwehren berichten können. Auch wird es nicht fehlen, daß dieser oder jener hohe Officier es angezeigt finden wird, diese Soldaten en miniature öffentlich in warmer Ansprache als würdige zukünftige Stützen der Armee der großen Nation zu verherrlichen.

Eine Aenderung in diesen neu eingeführten Verhältnissen kann nur die Erkenntniß herbeiführen, daß diese militärischen Uebungen nicht von dem erhofften Werthe sind, nicht den Vortheil gewähren, der in einem entsprechend richtigen Verhältniß zu der verbrauchten Zeit, zu den verausgabten Geldkosten, zu den verursachten Mühen steht. Bevor aber derartige Erörterungen überhaupt sich ermöglichen lassen, sind selbstverständlich die Erfahrungen einer Reihe von Jahren nothwendig. Lassen wir daher den Franzosen ihre Freude an den neuen, militärisch ausgerüsteten Jugendwehren! Diese bringen uns keine Gefahr. Je länger und je mehr sich die Franzosen an solchen Spielereien ergötzen und sich daran bei Nationalfesten erwärmen, um so harmloser für uns wird die ganze Angelegenheit, da sie dabei den Schwerpunkt der turnerischen Erziehung ihrer Jugend in diese Aeußerlichkeiten legen und die Hauptsache, die eigentliche straffe Turnerarbeit, die methodische Erziehung des Körpers zu Kraft und Gewandtheit mittelst anstrengender und durchbildender Uebungen vernachlässigen.

Ernster für uns wird jedoch die Situation von dem Tage an, wo die zeitraubende und verhältnißmäßig ganz geringen Nutzen gewährende Soldatenspielerei in Frankreich fortfällt, dafür aber das Turnen um so mehr in den Vordergrund tritt; denn dann stände fest, daß unserem Erbfeinde auf den Turnplätzen mit der Zeit [610] ein Material für seine Armee erwachsen würde, das unsererseits alle Aufmerksamkeit und Beachtung verdiente.

Deutschland ist glücklicher Weise in Betreff der Turnfrage Frankreich weit voraus. Durch die Thätigkeit der seit mehr als einem Menschenalter über unser ganzes Vaterland sich ausbreitenden Turnvereine, die leider bis zur Stunde von den deutschen Regierungen so gut wie gar keine aufmunternde Unterstützung erhalten haben, hat sich in vielen Gauen ein gewisses Verständniß für die Pflege der Leibesübungen verbreitet, sodaß die Einführung des Turnunterrichts in den Schulen vielerorts einen bereits vorbereiteten Boden fand.

In vielen Provinzen Deutschlands ist schon seit Jahren der obligatorische Turnunterricht eine vollendete Thatsache; für die weitere Entwickelung der Turnsache steht eine zahlreiche und wohlgeschulte Turnlehrerschaft in Wirksamkeit, und eine reichhaltige Turnliteratur hat jede Buchhandlung zur Verfügung. So werden Jahrzehnte vergehen, bevor Frankreich bei allem Eifer, den es jetzt bei Einführung des Turnunterrichts zur Schau trägt, unsern jetzigen Standpunkt im Turnen erreichen wird.

Einige Vertreter der deutschen Presse sind im Hinblick auf jene französische Spielerei so weit gegangen, zu behaupten, „die turnerische Ausbildung werde die militärische Exercirausbildung weder ersetzen noch überflüssig machen können.“

So absprechend für das Turnen dieses Urtheil lautet, so unbegründet ist es. Richtig ist an demselben nur, daß jeder zum Militär ausgehobene Turner sich das specifisch Militärische, wie z. B. das Verständniß für die Bedeutung der Abzeichen, der Befehle, der Gewehrgriffe, der Marschbewegungen, in einer besonderen Recrutenzeit anzueignen hat. Dasselbe würde aber auch der Fall bei allen denen sein, die sich einer wirklichen militärischen Erziehung erfreuten; denn es ist kaum vorauszusehen, daß bei solchen die Militärbehörde von einer Lehrzeit absehen dürfte, da ohne allen Zweifel die einheitliche militärische Ausbildung der aus den verschiedensten Gegenden in ein Regiment Eintretenden immer etwas zu wünschen übrig lassen würde. Gern kann man zugeben, daß in diesem Falle für die Recrutenausbildung eine kürzere Dauer nöthig und die Arbeit selber für die Exercirmeister leichter sein werde als zur Zeit. Diesem vermeintlichen Vortheile steht aber die seit vielen Jahren so oft und in den verschiedensten Gegenden beobachtete Thatsache gegenüber, daß gute Turner sich mit der größten Leichtigkeit in die militärischen Exercitien hineinfinden. „Turnerisch vorgebildete Soldaten haben an das specifisch Militärische etwa so viel Mühe zu verwenden, wie ein schon ausgebildeter Soldat braucht, ein neues Reglement kennen zu lernen.“ (Dr. F. A. Lange: „Die Leibesübungen“.)

Es ist diese Erscheinung die natürliche Folge davon, daß auf den Turnplätzen complicirtere Ordnungsübungen getrieben werden, als die militärisch-taktischen Uebungen an sich sind, und daß zu zusammengesetzten Frei-Uebungen und zu den meisten Geräthübungen eine größere körperliche Ausbildung nöthig ist, als zur Erlernung der verhältnißmäßig einfachen Gewehrübungen. Die sogenannte militärische Jugendausbildung hat daher in der angedeuteten Richtung der turnerischen gegenüber gar nichts voraus. Dagegen bietet diese für die Wehrhaftmachung des Volkes so große Vortheile, wie sie durch jene gar nicht zu ersetzen sind. Nur in kurzen Worten möge dies noch dargethan werden.

Die Aufgabe des Turnens ist die harmonische Durchbildung des ganzen Körpers; daher findet bei demselben denn auch die ganze Bewegungsanlage des Menschen durch entsprechende Uebungen eine verhältnißmäßige Berücksichtigung. Kräftig und gewandt soll sich der Einzelne durch die turnerischen Uebungen machen, und in welch hohem Grade dies zu ermöglichen, bedarf wohl zur Zeit keiner Erörterung mehr. Viele Uebungen sind weiter so geartet, daß sie direct der Ausbildung von Entschlossenheit und Muth Vorschub leisten, daß sie die Behendigkeit und Schnelligkeit des Uebenden fördern, seine Ausdauer und Anstelligkeit erhöhen. Weiter ist es eine bekannte Thatsache, daß durch turnerische Leibesübungen die Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen Krankheiten und Witterungseinflüsse bedeutend erhöht wird. Diese aus dem Turnen sich ergebenden Vortheile machen aber gleichzeitig die Haupttugenden des tüchtigen Wehrmannes aus. Turnen und Wehrtüchtigkeit sind daher auf das Engste mit einander verschwistert.

Das Material des Turnens ist von einem solchen Umfange, von einer so großen Vielgestaltigkeit, daß für den Strebsamen des Lernens kein Ende ist. Das ist es, was das Turnen nicht zum Ueberdruß werden läßt, was immer neue Reize bietet. Diese hier mur kurz angedeutete Allseitigkeit einer turnerischen Erziehung läßt sich gar nicht mit der sogenannten militärischen, die bekanntlich ihren Schwerpunkt auf die Einübung einiger Marschformen, einiger Ordnungsübungen und Gewehrgriffe legt, vergleichen. Wer nur einigermaßen Kenntniß von dem hat, was man zur Zeit unter der Durchbildung des Körpers versteht, und wer weiß, welche Mittel man zur Erreichung dieses Zieles anwendet, der wird nicht einen Augenblick in Zweifel darüber sein, daß unsere Jugendbildung bezüglich der leiblichen Ausbildung den richtigen Weg betreten hat, und dem wird es nie beikommen, der sogenannten „militärischen Jugenderziehung“, die schließlich doch in nichts Anderem gipfelt, als im sogenannten „Soldatenspielen“, ein Wort der Anerkennung zu schenken, mögen auch die Paraden der französischen Jugendwehren noch so prunkend ausfallen, mag ihr Lob auch weithin erschallen.

Dagegen ist in ernste Erwägung zu ziehen, ob unsere bisherigen Veranstaltungen zu tüchtiger turnerischer Erziehung der Jugend auch genügen. Leider muß man bekennen, daß wir, trotz des erwähnten Vorsprungs vor den Franzosen, noch lange nicht auf einem Standpunkte stehen, der dem Ideale nahe käme.

Der Turnunterricht ist noch lange nicht in alle deutschen Schulgemeinden eingeführt. Ferner sind nicht selten da, wo jetzt schon geturnt wird, die Unterrichtseinrichtungen von großer Dürftigkeit; auch wird an vielen Orten nur in den Sommermonaten geturnt; endlich werden in den allermeisten Fällen nur zwei Stunden wöchentlich für den Turnunterricht angesetzt, während doch die Sorge für die Gesundheit des Einzelnen, für die Wohlfahrt des Volkes zu der Forderung drängt, bei der Jugenderziehung den Leibesübungen jeden Tag eine Stunde zu widmen. Daß die Erfüllung dieser Forderung nicht unmöglich ist, dafür liefert das so hochcultivirte Volk des Alterthums, die Griechen, einen thatsächlichen Beweis; in den altgriechischen Unterrichtsanstalten hatten die Zöglinge täglich auch Leibesübungen zu betreiben.

Auf dem Gebiete der Schule ist daher betreffs der Leibespflege noch ein großes Feld zu bestellen, und wenn hier deutscherseits nicht in einem rascheren Tempo vorgeschritten wird, so kann es sich ereignen, daß die Franzosen bei ihrem jetzigen Eifer uns einholen, ja sogar überholen. Es seien deshalb alle Die, welche durch die Parade der Pariser Jugendwehr stutzig geworden, auf das ernstlichste eingeladen, mit allen Kräften für eine durchgreifendere turnerische Erziehung unserer Schuljugend einzutreten.

Wohl verdienen die deutschen Turnvereine alles Lob, daß sie bisher den Jünglingen bequeme Gelegenheit geboten haben, ihren Körper zu üben und zu stählen. Leider ist es jedoch nur ein ganz kleiner Procentsatz der deutschen Jünglinge und Männer, welche die Vereinsturnplätze besuchen.

Nach der letzten Statistik vom 1. Januar dieses Jahres haben 1881 von den 42 Millionen Einwohnern des deutschen Reiches in nicht mehr als 2067 Orten nur 108,032 Mann geturnt. Dies ist ein Ergebniß, das im Interesse unserer Nation auf das Tiefste beklagt werden muß, weil es offen darlegt, wie wenig noch bei uns auf die Pflege und Ausbildung des Körpers gegeben wird. Nicht blos der Einzelne, der sich dieser Ausbildung entzieht, leidet darunter, sondern die ganze Nation, indem ein großer Theil der dem deutschen Volke innewohnenden Anlagen sowohl für gewerbliche Zwecke wie auch für die Wehrtüchtigkeit unausgebildet und daher unbenutzt bleibt. Hier muß im Interesse der Allgemeinheit Wandel geschaffen werden.

Wie sehr der Staat bei der geltenden allgemeinen Wehrpflicht interessirt ist, jederzeit ein tüchtiges Aushebungsmaterial zur Hand zu haben, und wie ein solches durch eine langjährige turnerische Uebung zu erlangen ist, bedarf nicht mehr der Begründung. Daher sind Mittel und Wege zu schaffen, die dahin führen, daß die Jugend nicht blos während der Schulzeit, sondern auch nach derselben bis wenigstens zur Recrutirung regelmäßig Leibesübungen treibt. Mit einem Schlage könnte man nach dieser Richtung hin Großes erreichen, wenn gesetzlich vorgeschrieben würde, daß Jeder, der sich ein gewisses Maß körperlicher Durchbildung angeeignet hat, eine kürzere active Militärdienstzeit sich erwerben kann. Von Stund an würden die Turnplätze überfüllt sein; man würde regelmäßig üben, um seiner Zeit den gestellten Ansprüchen zu genügen. Ohne alle Kosten würde alsdann der Staat für [611] seine Armee ein Material erhalten, wie es besser kaum zu erhoffen wäre.

Unerörtert bleibe hier ganz und gar, welche finanziellen Vortheile dem Staate erwachsen müßten, wenn bei den meisten seiner Heerpflichtigen die active Dienstzeit auf die Hälfte der jetzt üblichen herabgesetzt würde, ohne auch nur die geringste Einbuße an der Tüchtigkeit des Heeres zu erleiden. Dagegen sei hervorgehoben, welcher physische und moralische Nutzen der Jugend selbst erwachsen würde, wenn sie genöthigt wäre, einer gesundheitförderlichen Thätigkeit ihre Freistunden zu widmen, die zur Zeit leider nicht immer erfreuliche Verwendung finden.

Endlich sei betont, daß all dies nicht blos dem gegenwärtigen Geschlechte, sondern auch dem kommenden zum Vortheile gereichen würde; keine Schätze der Erde überwiegen die einem Kinde von Geburt an innewohnende Gesundheit, Kraft und Widerstandsfähigkeit.

Im eigenen Interesse des Staates liegt es daher, die turnerische Erziehung der ganzen Nation von früher Jugend auf mit allen Kräften zu fördern. Zur Zeit hat dies der Staat um so nöthiger, als Frankreich das Schulturnen eingeführt hat und bei richtiger Handhabung desselben das französische Volk die beabsichtigte Hebung der Wehrtüchtigkeit erreichen wird. Die jetzt beliebten militärischen Extravaganzen der französischen Jugenderziehung können uns nicht blenden. Möge unser Bestreben vielmehr dahin gehen, durch erhöhte und verallgemeinerte Ausbildung des Turnwesens die leibliche und geistige Tüchtigkeit unseres Volkes mehr und mehr zu heben! M. Zettler.


Gustav Adolf.

(1632–1832–1882.)
Gedenkworte von Herman Semmig.

In den Tagen vom 12. bis 14. September dieses Jahres begeht der evangelische Verein der Gustav-Adolf-Stiftung zu Leipzig die fünfzigjährige Jubelfeier seiner Stiftung und als Nachfeier auf dem Schlachtfeld von Lützen am 15. September[4] die zweihundertfünfzigjährige Gedächtnißfeier des Todes Gustav Adolf’s, des Heldenkönigs von Schweden, der zur Rettung des protestantischen Glaubens nach Deutschland geeilt war und für denselben auf jenen Ebenen sein Leben ließ. Ein Fest der Liebe, ein Werk frommen Friedens mitten in den kampferregten Tagen der Gegenwart! Verweilen wir heute mit ernstem Sinn bei der Betrachtung dieses ernsten Augenblicks, erwägen wir den geistigen Gehalt, den unser öffentliches Leben und die fortschreitende Entwickelung der Menschheit daraus zu ziehen hat!

Schiller sagt in seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“: „Alle Weltbegebenheiten, welche sich in jenem Zeitraum ereignen, schließen sich an die Glaubensverbesserung an, wo sie nicht ursprünglich daraus herflossen.“ Diese Glaubensverbesserung aber ging von Luther aus.

„O Luther! Held des Wortes, ja zerrissen
Hast Du das Band, womit uns Rom unschlang;
Dem eignen folgend, machtest die Gewissen
Du Aller frei von schnödem Glaubenszwang.
Mag, wie der Neuzeit Eiferer gesprochen,
Auch sein, daß er noch selbst befangen war,
Sein Werk allein hat freie Bahn gebrochen
Dem deutschen Geist, dem sonnendurst’gen Aar.

Und heute, wo von Neuem uns die Raben
Umkrächzen, heis’re Prediger der Nacht,
Drein uns die Pfaffen möchten neu begraben,
Weil nur im Schatten sicher ihre Macht;
Heut’, wo sie an den Erbfeind uns verrathen,
Woll’n wir um Luther’s großen Namen her
Uns einig schaaren, wie’s die Väter thaten,
Der Freiheit und des Lichtes heil’ges Heer.“

So schrieb der Verfasser dieses Artikels vor dreißig Jahren – und in der That: Luther’s Wort hat dem deutschen Geiste freie Bahn gebrochen. Ist nicht die deutsche Literatur, Bildung und Wissenschaft zum größten Theil auf protestantischem Boden entsprossen und erwachsen? Haben sich nicht auch die Schriftsteller der katholischen Länder an diese Literatur vielfach angeschlossen? Hat letztere nicht anregend und befruchtend auf die katholischen habsburgischen Länder eingewirkt? Aus einem protestantischen Pfarrhause ging Lessing hervor, der unsere Poesie vom ausländischen Einfluß befreit hat; an Luther’s Bibelübersetzung bildete sich der Genius Klopstock’s; Kant’s „Kritik der reinen Vernunft“ ist in gewissem Sinne die philosophische Fortsetzung der befreienden Geistesthat Luther’s, und ein hochgestellter protestantischer Geistlicher, J. G. Herder, predigte in dem Lande des ernestinisch-sächsischen Hauses, das für seine Vertheidigung Luther’s zum Märtyrer geworden ist, das Evangelium der Humanität.

Und die Keime, aus denen später diese ganze Literatur und Bildung, der Stolz der deutschen Nation, erwuchs, standen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges auf dem Punkte völlig erstickt zu werden. Unsere Voreltern haben sich der damals drohenden Feinde kräftig erwehrt, aber traurige Verhältnisse fügten es, daß die Entscheidung des Kampfes bei Fremden lag; dem edlen Schwedenkönige Gustav Adolf hauptsächlich verdanken wir die Rettung, und deshalb ist er uns kein Fremder mehr, hat er deutsches Bürgerrecht in unserer Geschichte.

Acht Jahre nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges bekämpften den Protestantismus zwei Heere zugleich: das der Liga unter Tilly und das des Kaisers unter Waldstein (Wallenstein ist die von den Franzosen und Italienern im siebenzehnten Jahrhundert gebrauchte Form). Bei der Unthätigkeit der lutherischen deutschen Hauptmächte (Kursachsen und Brandenburg) drohte dem ganzen Protestantismus die Vernichtung. Da erschien der deutschen Freiheit, der Freiheit der Gewissen, ein Retter in dem Schwedenkönige Gustav Adolf. Wir wissen es wohl, und auch Schiller hat es in seinem oben angezogenen Werke nicht verleugnet, daß den König nicht blos religiöse, sondern auch politische Motive zum Kampfe trieben. Der neueste Geschichtschreiber dieser ganzen wichtigen Epoche, der stets nüchtern abwägende Gindely, sagt in seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ (Leipzig, 1882): „Er war ein aufrichtiger Protestant und für seine Ueberzeugung zu großen Anstrengungen und Opfern bereit, aber man darf nicht übersehen, daß seine eigene Sicherheit mit der des Protestantismus innig verknüpft war; denn nur so konnte er sich sichern vor den berechtigten Erbansprüchen der Könige von Polen auf die Krone von Schweden, und daß dieser Umstand seine Opferwilligkeit und Thatkraft erhöhte, unterliegt keinem Zweifel.“

Ja, sein eigenes Interesse gebot ihm, in den Kampf einzutreten, als Waldstein mit dem kaiserlichen Heere an der Ostsee erschien. Es war offenbar: die Habsburger wollten über das Meer herrschen und, ihrer spanisch-jesuitischen Politik gemäß, die Macht des protestantischen Schwedens brechen. Zu seiner Wehr suchte daher Gustav Adolf sich einige Häfen an der deutschen Ostsee zu sichern, und später waren es seine Erfolge, die ihn verleiteten, seine Macht zu erweitern. Ist dies mehr seine Schuld, die des Bedrohten, der nur sich und seinen religiösen Glauben zu vertheidigen suchte, oder des fanatisch ehrgeizigen Kaisers, der seiner Herrschaft eine unermessene Ausdehnung geben und seinen Glauben allen Widerstrebenden aufzwingen wollte?

Aber auch die katholischen Mächte wurden nicht blos vom Glaubenseifer getrieben; von politischen Beweggründen gedrängt, zerfielen sie gerade im Augenblick, wo der Protestantismus verloren schien. Die katholischen Fürsten Deutschlands gewahrten, daß der Kaiser nach unumschränkter Macht strebte, und verlangten, behufs der Ordnung des kaiserlichen Heeres nach den Grundgesetzen des Reiches, die Absetzung Waldstein’s; sie erhielten sie auf dem Reichstage zu Regensburg am 13. August 1630; an seine Stelle trat Tilly als Obergeneral des kaiserlichen und ligistischen Heeres. Selbst der Papst Urban der Achte verweigerte dem Kaiser seine Unterstützung; gewissermaßen als italienischer Patriot betrachtete er die Siege der Habsburger mit mißgünstigen Augen, als der

[612]

Gustav Adolf’s Tod.
Originalzeichnung von P. René Reinicke.

[613]

Ueberführung des sterbenden Pappenheim vom Schlachtfelde.
Originalzeichnung von P. René Reinicke.

[614] Kaiser bei dem Besitzwechsel von Mantua in spanischem Interesse verfügen wollte. Endlich wurde auch in Frankreich, das seit einem Jahrhundert der österreichisch-spanischen Weltmonarchie entgegengekämpft hatte, der leitende Staatsmann Richelieu besorgt über Habsburgs Pläne. Letzterer hatte den Frieden zwischen Polen und Schweden vermittelt, was Gustav Adolf möglich machte, im Juli 1630 in Pommern zu landen.

Wären die beiden lutherischen Kurfürsten von wahrhafter religiöser Begeisterung beseelt gewesen, rasch hätte die Sache der Gewissensfreiheit den Sieg errungen. Die ligistischen Fürsten waren damals (vor der Absetzung Waldstein’s) eher geneigt gegen das kaiserliche Heer als gegen Gustav Adolf Front zu machen, dieses Heer selbst aber war vielfach gelähmt, und Maximilian von Baiern schloß ein Bündniß mit Frankreich „gegen alle Feinde“ (worunter der Kaiser zu verstehen war) und verhandelte sogar über eine Neutralität mit Schweden. Aber die lutherischen Kurfürsten, weit entfernt, sich mit Gustav Adolf zu vereinigen, kamen ihm mißtrauisch entgegen. Nun schlossen sie zwar im Februar 1631 den Leipziger Convent, einen Versuch, durch nationale Mittel sich des Kaisers zu erwehren und den Protestantismus zu retten, aber bei ihrer Verzagtheit und Halbheit kam es nicht zur That. Inzwischen hatte die zweideutige Gesinnung der beiden Kurfürsten Gustav Adolf, der nur mit Vorsicht und Mühe hatte vordringen können, gehindert, Magdeburg zu retten. Die Stadt fiel am 20. Mai 1631. Entschlossen, den Untergang der Heimath nicht zu überleben und dem Feinde nur einen Trümmerhaufen zu hinterlassen, steckten die Bürger, wie Wittich nach gründlichen Forschungen dargethan hat, ihre Stadt selbst in Brand, die bis auf den Dom und etwa fünfzig Häuser in Schutt und Asche sank. Seit diesem Tage hat sich der Fluch der Geschichte an Tilly’s Namen geheftet.

Aber am 17. September 1631 wurde Tilly bei Breitenfeld von dem Schwedenkönige gründlich geschlagen, und seit diesem Tage sah in den protestantischen Landen der gemeine Mann zu Gustav Adolf wie zu einem Erlöser empor.

Aber mehr als alle Siege hob den Retter des Protestantismus der Tod in jene ideale Höhe, wo der im heiligen Kampf Gefallene, von allen Schlacken irdischer Interessen und Triebfedern befreit, in der Glorie des Märtyrers schwebt. Die gewonnene Schlacht bei Breitenfeld hatte jenen protestantischen Siegeszug nach Westdeutschland, Böhmen und Baiern zur Folge gehabt, auf welchem Gustav Adolf auf der Höhe seines Ruhmes stand, aber auch von politischen ehrgeizigen Gedanken ergriffen ward, durch welche sein erhabenes Streben mit selbstsüchtigen Zwecken verquickt wurde.

Unterwegs, nach der Schlacht am Lech, 5. April 1632, sah er Tilly fallen – da trat Waldstein wieder auf den Plan. Bei Lützen kam es am 16. November 1632 zur Entscheidungsschlacht; Gustav Adolf fiel, aber sein Tod entschied den Sieg; denn er entflammte sein nun von Bernhard von Weimar geführtes Heer zu erbittertem Rachekampf. Auf der feindlichen Seite fiel, zum Tode verwundet, Pappenheim mit dem Ausrufe: „Ich scheide fröhlich dahin, da ich weiß, daß dieser unversöhnliche Feind meines Glaubens an einem Tage mit mir gefallen ist“; er erlag am folgenden Tage in Leipzig seinen Wunden.

Wenn man sich lange Zeit gefragt hat, ob Gustav Adolf nicht mitten in der Schlacht von Mörderhand getroffen worden sei, so wird dies jetzt allgemein verneint. Interessant ist übrigens, was Gindely hierüber mittheilt: er behauptet nämlich, daß wirklich Jemand, dessen Name nicht genannt worden ist, nach der Schlacht bei Breitenfeld damit umging, den König zu ermorden.

Der Beichtvater der spanischen Infantin, Gemahlin Ferdinand’s des Dritten, der Kapuzinermönch Diego de Quiroga, dem das Anerbieten gegen 30,000 nach vollbrachter That zu zahlende Ducaten gemacht wurde, nahm dasselbe unter Zustimmung der beiden spanischen Gesandten am Wiener Hofe an und berichtete darüber nach Madrid. Dort wurde darüber berathen, aber dem Mönche der Befehl ertheilt, nicht darauf einzugehen; die königliche Antwort lautete: „wiewohl man dem Morde ohne jeden Skrupel beistimmen könnte, so scheint doch eine solche Handlung eines mächtigen und gerechten Königs nicht würdig zu sein, und deshalb dürften sich die königlichen Diener weder wissentlich noch mit ihrem Rathe daran betheiligen.“

„Aber durch welche Hand Gustav Adolf auch mag gefallen sein,“ sagt Schiller, „so muß uns dieses außerordentliche Schicksal als eine That der großen Natur erscheinen. Die Geschichte, so oft nur auf das freudenlose Geschäft eingeschränkt, das einförmige Spiel der Leidenschaft aus einander zu legen, sieht sich zuweilen durch Erscheinungen belohnt, die gleich einem kühnen Griff aus den Wolken in das berechnete Uhrwerk der menschlichen Unternehmungen fallen und den nachdenkenden Geist auf eine höhere Ordnung der Dinge verweisen. Es war nicht mehr der Wohlthäter Deutschlands, der bei Lützen sank – die wohlthätige Hälfte seiner Laufbahn hatte Gustav Adolf beendet; sein schneller Abschied von der Welt sicherte dem deutschen Reiche die Freiheit und ihm selbst seinen schönsten Ruhm.“

Ja, der frühe Tod des Königs hat sein Gedächtniß geheiligt, und keinem Führer der Gegenpartei ist ein so glänzender Nachruhm geworden. Charakteristisch ist, was Matthisson hierüber mittheilt. Als dieser 1792 auf dem Postschiffe von Lyon nach Avignon die Rhone hinabfuhr, traf er unter den Reisenden einen Grafen Tilly, welcher lange zu Bastia in Garnison gestanden hatte.

„Dieser,“ sagt Matthisson, „zeigte vielseitige Kenntnisse und feinen Geschmack. Wir lasen mit einander im Horaz und in Hume’s ‚Geschichte Englands‘, wovon er den ersten Theil bei sich hatte. Ich freute mich seines warmen und richtigen Gefühle und ward oft angenehm durch das Neue und Scharfsinnige seiner Bemerkungen überrascht. Er gestand freimüthig, daß er sich seines berüchtigten Ahnherrn, des Eroberers von Magdeburg, tief in der Seele schäme und daher unmöglich einen Geschlechtsnamen lieben könne, welchen dieser Unhold mit unvertilgbarer Schande gebrandmarkt habe.“

Wallenstein ist die Ehre widerfahren, von Schiller selbst zum Helden eines Dramas erhoben zu werden; das psychologische Räthsel reizte den Dichter, aber von ihm als dem Gegner Gustav Adolf’s bei Lützen sagt Schiller, der Historiker: „auf dem Bette, wo Gustav erblaßte, sollte Wallenstein den schuldbewußten Geist nicht verhauchen.“

Nach dem Tode Gustav Adolf’s konnte es nicht länger verborgen bleiben, daß es nur noch die Eroberung deutscher Grenzländer war, was die Fremden in Deutschland erstrebten. Das ganze Elend endete am 24. October 1648 der westfälische Friede, der den Augsburger Religionsfrieden auch auf die Calvinisten ausdehnte.

„Nun danket Alle Gott,“ sang damals nach Jesus Sirach 50, 24 - 26. Martin Ringhardt, Archidiakonus zu Eilenburg in Kursachsen, der den Friedensschluß nur ein Jahr überlebte. Leider währte es im letzteren Lande noch hundertfünfzig Jahre, ehe die Reformirten staats- und kirchenrechtlich der lutherischen Landeskirche gleichgestellt wurden. „Nun danket Alle Gott“ – daß auch diese Zeit vorüber ist!

Man weiß, daß, nachdem der westfälische Friede den deutschen Protestanten die Religionsfreiheit gegeben hatte, die Protestantenverfolgungen unter Ludwig dem Vierzehnten in Frankreich wütheten. Trotzdem ist man verblendet genug gewesen, das Zeitalter der Aufklärung, wie man das achtzehnte Jahrhundert genannt hat, aus Frankreich herzuleiten. Nein, aus dem im Despotismus versumpften, vom Fanatismus entnervten Frankreich konnte das Licht nicht kommen; in der protestantischen Welt, in Holland, England, Genf und Deutschland, ging die Sonne der neuen Zeit auf; dem protestantischen England haben Montesquieu und Voltaire, der Vertheidiger der verfolgten Protestanten, ihr Bestes entlehnt. Einzig die glaubensvolle protestantische Welt, die auch das Kleinod des freien Gedankens in sich barg, rettete die europäische Gesittung. Unter den Vertheidigern und Märtyrern derselben aber steht Gustav Adolf oben an; er rettete das Herz Europas, Deutschland.

Wie sich nun bei uns die starre Wortgläubigkeit in werkthätige Nächstenliebe auflöste, wie dann der von Rom befreite Geist in der Philosophie die Tiefen des Geistes erforschte, das zu entwickeln, fehlt uns hier der Raum. Aber das Eine müssen wir doch betonen: daß nun die befreiende That des Fremden von einer deutschen protestantischen Macht fortgesetzt wurde. Der große Kurfürst von Brandenburg (1640 bis 1688), die Politik seines Vorgängers wieder gut machend, schützte Holland gegen das fanatische Frankreich, das diesen protestantischen Staat zu vernichten trachtete, und suchte auch das von Schweden eingenommene deutsche Gebiet wieder zu gewinnen.

Die schwedischen Heerführer und Truppen hatten sich nach ihres Heldenkönigs Tode derselben Zügellosigkeiten schuldig gemacht, die von den Kaiserlichen begangen worden waren; dann hatte Schweden sich für seine Kriegskosten durch deutsche Länder bezahlt [615] gemacht; es waren dies einfach Eroberungen. Dagegen erhob sich nun der große Kurfürst als deutscher Patriot, aber der Sieger von Fehrbellin wurde von Kaiser und Reich verlassen. Er war der wahre Gründer Preußens, dessen großer König Friedrich der Zweite später das von den Habsburgern möglichst wieder katholisirte Schlesien zurückeroberte.

„In Preußen, dem Vororte des Protestantismus,“ sagt der Kirchenhistoriker Karl Hase, „fiel auch, als zum Jubelfeste der Reformation Friedrich Wilhelm der Dritte 1817 einen Aufruf zur freien Einigung erließ, diesem Könige die Union zu einer evangelischen Kirche als eine reife Frucht des Zeitalters zu; diese Union geschah nach des Königs Absicht selbst mit Auflösung des lutherischen wie reformirten Namens in der unirten evangelischen Kirche.“

Fünfzehn Jahre später (1832) führte die Säcularfeier des Heldentodes Gustav Adolf’s zu einer andern, rein geistigen und werkthätigen Union, der Gustav-Adolf-Stiftung, die allen verstreuten protestantischen Gemeinden, gleichviel ob lutherisch oder calvinistisch, Hülfe und Unterstützung gewähren und ein neutrales Gebiet für alle Parteien in der evangelischen Kirche sein will. Es war ein geistiges Denkmal für den Heldenkönig, dem der König von Preußen 1837 über dem Schwedensteine, einem zur Zeit der Gletscherperiode aus Schweden herabgekommenen erratischen Blocke, bei welchem Gustav Adolf gefallen war, ein künstlerisches Denkmal errichtete. Ein Sohn des ernestinischen Sachsens, der 1783 in Prießnitz bei Altenburg geborene und auf der Universität zu Jena gebildete Professor und Superintendent Großmann zu Leipzig, faßte den Gedanken zur Gustav Adolf-Stiftung.

Es war bedeutsam, daß dies im albertinischen Sachsen geschah, als ein Symbol der Versöhnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Stämmen, Völkern und Kirchen. Schwedens König Karl der Vierzehnte Johann trat dem Verein sofort bei; in Deutschland aber, wo das Werk nur langsam Verbreitung fand, wurde es durch den Aufruf an die protestantische Welt gefördert, welchen Hofprediger Zimmermann in Darmstadt am 31. October 1841 erließ. Verfasser dieses verkehrte damals im Auftrage seines Vaters, der eifrig im Innern des Landes dafür wirkte, selbst mit Professor Großmann, dessen Andenken ihm theuer geblieben ist. Zu Baiern bedurfte es des Sturmjahres 1848, um dem Vereine die Erlaubniß zu erringen.

Seine allgemeinen Betrachtungen über den Ausgang des Dreißigjährigen Krieges schließt Schiller mit dem letzten Schmerzensschrei: „Zur Kaiserkrone hat noch kein protestantisches Haupt sich erhoben.“ Diese seine Sehnsucht ist am 18. Januar 1871 nach dem glorreichen Kriege gegen Frankreich erfüllt worden. Da richtete zuerst der jugendliche, vaterländisch gesinnte König Ludwig der Zweite von Baiern an den König von Preußen das Wort: er möge die deutsche Kaiserkrone annehmen und so das Werk der Einigkeit Deutschlands vollenden. Aus Baiern kam dieser erste Ruf, aus demselben Lande, dessen Fürst im Dreißigjährigen Kriege gegen den Protestantismus die katholische Liga gegründet hatte. „Welche Wendung durch Gottes Fügung!“ Unwillkürlich bricht man in diese Worte aus, die König Wilhelm nach der Schlacht bei Sedan an seine Gemahlin richtete. Und im eigenen Lande des Königs von Preußen verkennt man noch den tiefen Sinn dieser Wendung; noch immer lässt man sich dort durch den „Zauberer von Rom“ blenden.




Blätter und Blüthen.

Die Soldatenbraut. Ich war nach längerer Abwesenheit wieder einmal daheim, in der alten traulichen Universitätsstadt an der Ostseeküste. Gestern war ich eingezogen durch das ehrwürdige Stadtthor, vorbei an den giebelgeschmückten Häusern. Heute hatte es mich früh aus dem Bette getrieben, und der goldige Sonnenschein regte mich zu einem Spaziergange an; alte bekannte Plätze in der Vorstadt wollte ich aufsuchen, wo ich als Kind gespielt. Unterwegs schwenkte mit mir zugleich ein kleiner Trupp Soldaten in eine Straße ein, um zur täglichen Uebung aufzumarschiren – da bot sich mir ein befremdendes Schauspiel: den Soldaten zur Seite trabte mehr, als es ging, ein altes Mütterchen, mit keuchendem Athem; sie schien offenbar ihre ganze Kraft aufwenden zu müssen, um nicht hinter den Marschirenden zurückzubleiben.

Die Alte erregte mein Interesse, und ich fragte einen Vorübergehenden, wer sie sei; da erhielt ich von der Straßenjugend den Spottnamen „die Soldatenbraut“ als Antwort, ein älterer Mann aber sagte mir, bei dem Mütterchen müsse es wohl im Kopfe nicht ganz richtig sein; denn sie rücke regelmäßig in Winter wie im Sommer, mit den Recruten aus, achte auf jede ihrer Bewegungen und kehre dann auch mit ihnen in die Stadt zurück, nachdem sie genau die Parole für den folgenden Tag erfahren. Nach dieser Erklärung mußte ich mit doppeltem Interesse zu der alten Frau hinüber blicken.

Es war im Jahre 1815 – so erzählte mir später ein Freund, den ich um das Schicksal der Alten befragt hatte – als nach glücklich beendetem Kriege gegen Frankreich unsere siegreichen Truppen in die Heimath zurückkehrten; in allen deutschen Gauen herrschte freudige Erregung; denn der Landesfeind war besiegt, und die Brüder und Gatten, die uns von jahrelanger Schmach befreit, kehrten jubelnd heim. Wie viele Opfer, wie viel theures Blut hatte der Krieg gekostet! O, des Jammers war kein Ende, und doch jauchzte selbst der schwer Betroffene noch in seinem Schmerz aus Freude über den Sieg und die endliche Befreiung aus der Fremdherrschaft und Knechtschaft.

Aber den rüstig einziehenden Kriegern folgten bleiche Gesichter, Verwundete und Kranke, die besonderer Pflege bedurften. So erboten sich denn die begüterten Bürger der Stadt, Verwundete in ihre Häuser zu nehmen und zu pflegen, um auch in dieser Weise dem Vaterlande noch einen Dienst zu leisten.

Nun lebte in unserer Universitätsstadt ein angesehener, schon ziemlich bejahrter Professor, der unweit der Stadt, jenseits des Stromes, ein niedliches Häuschen mit schattigem Garten besaß, so recht geeignet, um einem Reconvalescenten zum Aufenthalte zu dienen. Der Herr Professor hatte sich ebenfalls zur Aufnahme eines Verwundeten gemeldet, und eines Tages wurde ihm ein junger Officier in’s Haus gebracht; das Gesicht des Verwundeten bedeckte fahle Blässe, und mit größter Vorsicht mußte er in das für ihn bereitete Zimmer getragen und auf’s Bett gelegt werden. Unser Professor hatte früh die Gattin verloren, aber drei Töchter waren der Trost seiner Tage, und namentlich die jüngste, kaum der Kindheit entwachsen, ein liebliches ausgelassenes Mädchen, war die Freude seines Alters – Marie.

Mit der ganzen Innigkeit und Lebhaftigkeit ihrer sechszehn Jahre trauerte Marie um den armen Verwundeten und schenkte ihm ihr regstes Mitleid; freilich verging lange Zeit, ehe sie ihn sehen durfte; denn langsam besserte sich sein Zustand, und Alles, was sie für ihn thun konnte, war, daß sie täglich die schönsten Erdbeeren des Gartens für ihn pflückte und wohl auch eine Rose als Gruß aus dem sonnigen Garten darauf legte.

Da kam eines Tages die freudige Nachricht, der Arzt habe dem Patienten den ersten Gang in den Garten erlaubt, und bald war ein schattiges Plätzchen ausgewählt und mit aller Bequemlichkeit ausgerüstet, um den Leidenden aufzunehmen. Doch bevor er erschien, war sein junger Schutzgeist schon verschwunden, und nur von weitem betrachtete das schüchterne Mädchen mit warmem Interesse die bleichen Züge des jugendlichen Kriegers. Dieses Fliehen und Meiden, das sich täglich wiederholte, konnte aber nicht von Bestand sein; denn nachdem der Professor dem jungen Officier seine beiden ältesten Töchter vorgestellt, mußte auch das jüngste Töchterchen alle Scheu und Zurückhaltung bezwingen, und aus dem scheuen Vögelchen wurde bald ein gefangener Vogel – ja, ein gefangener! Mariens kleines Herz kannte fortan keine schönere Freude, als die, dem jungen Reconvalescenten nahe zu sein. Er war ihr einziger Gedanke. Ach, wie oft drang durch die Stille der Sommertage ihr fröhliches Lachen, wenn sie, neben ihm sitzend, seinen Erzählungen lauschte! Wie oft saß sie auf dem Zweige des alten dickarmigen Baumes vor ihm und sang wie eine Lerche in die Luft hinein, zu seinem Ergötzen, immer ein Lied nach dem andern! Wie oft saß sie aber auch still und ernst neben ihm, mit einem Buche in der Hand und las ihm vor; doch der Ernst hielt nicht lange Stand; schnell warf sie das Buch auf den Rasen und sprang lachend davon, die langen blonden Zöpfe im Winde wiegend.

Die Pflege unter so freundlichen Menschen that dem armen Verwundeten sehr wohl; die Blässe seiner Wangen machte mehr und mehr einer gesunden Gesichtsfarbe Platz, und seine Kräfte nahmen so erfreulich zu, daß er bald, auf den Arm des lieblichen Mädchens gestützt, in den Gängen des Gartens umher gehen konnte; aber es war nur ein kurzes Idyll, das die Beiden mit einander durchlebten. Nur eine kleine Weile noch – und die Kräfte des Patienten hatten so erfreulich zugenommen, daß der Arzt ihn für hergestellt erklärte und in Folge dessen von seinem Regimentschef die Ordre zur Abreise eintraf.

Wo war aber Mariens fröhliches Lachen, wo war ihre Heiterkeit geblieben? Armes Kind! Jetzt waren es ihre Wangen, die täglich bleicher wurden, von denen der rosige Hauch immer mehr verschwand, ihre Augen, die immer trüber blickten, wenn sie Morgens nach durchweinter Nacht zum Vorschein kam! Doch noch ein Aufblitzen des Glückes, ja ein noch höheres Glück als bisher, sollte ihr zu Theil werden: an derselben Stelle, wo sie so oft in traulichem Geplauder mit einander gesessen, da saßen sie heute noch einmal – zum letzten Mal, und da geschah es, daß er ihr von Liebe sprach, von glühender Liebe. Weinend hing sie an seinem Halse; sie hörte seinen Schwur, daß er ihr treu bleiben wolle, daß er wiederkehren werde, um sie heim zu holen als sein geliebtes, theures Weib. – – –

Hat er seinen Schwur gehalten?

Seht jenes alte Mütterchen! Tag für Tag zieht es mit den Soldaten zum Thor hinaus, ein Gespötte der Jugend.

[616] Marie ist alt geworden, alt und einsam, aber sie glaubt dem Schwur noch heute; sie wartet noch immer auf die Rückkehr des Geliebten, von dem sie nie wieder ein Wort gehört, nie eine Nachricht erhalten hat. Ach, hätte doch eine mitleidige Seele ihr gesagt, er sei gestorben!

Jahr auf Jahr verging; ihre Wangen wurden immer bleicher; alles Denken erlosch in ihr, und nur der eine Gedanke blieb klar in ihrer Seele: „Er kommt – er muß kommen;“ die ganze übrige Welt war ihr wie versunken, wie in dichten Nebel gehüllt.

Der Vater starb; die Schwestern starben – sie stand mit trockenen Augen an den Särgen ihrer Lieben; nichts bewegt mehr ihr Herz, als dieses Eine: „Er kommt – er muß doch kommen.“

Und so wandert sie noch heute mit den Soldaten hinaus, ewig ihn suchend, ewig ihn erwartend; sie wird wandern, so lange noch Athem in ihr ist. – Arme Marie, einst so jung, so schön – und nun? O grausame Liebe, die nicht Treue kennt noch Erbarmen!

E. R.



Zur Geschichte der schwedischen Regimenter, welche bei Lützen gefochten haben, ist wohl die Mittheilung nicht uninteressant, daß Schweden noch heute eine Anzahl von Regimentern aufzuweisen hat, die ihren Ursprung in Truppentheilen haben, welche an jener Schlacht betheiligt waren. Das Interesse für diese Nachfolger der ruhmreichen Streiter dürfte gegenwärtig in Deutschland um so größer sein, als bekanntlich der Plan besteht, Delegationen jener Regimenter zu der am 15. September dieses Jahres auf dem Schlachtfelde von Lützen stattfindenden Gedächtnißfeier (siehe diese Nr. S. 611) zu entsenden. Unter diesen Umständen dürften Abbildungen (vergl. S. 609) einiger Chargen dieser Truppentheile sowie die nachstehenden Mittheilungen über die Geschichte derselben unseren Lesern gegenwärtig besonders willkommen sein.

Die jetzige königliche Svea-Leibgarde stammt, gewissermaßen als eine Seitenlinie, von dem berühmten Gelben Regimente ab, das aus geworbenen Deutschen bestand, die im Jahre 1611 oder 1612 nach Schweden gewandert waren. Dieses Regiment hatte bei Lützen Mittags die Landstraße genommen; später, zu weit vorgegangen, mußte es vor Pappenheim, der mit frischen Reitermassen erschienen war, zurückweichen und erlitt ungeheure Verluste. In Reih’ und Glied, wie sie gestanden und bis zum letzten Augenblicke ausgeharrt hatten, lagen die tapfern Mannschaften hingestreckt, noch im Tode ein Bild der Ordnung und Disciplin. Später bei Nördlingen halb aufgerieben, bei Kaiserslautern noch mehr zusammengeschmolzen, ging das Gelbe Regiment mit Herzog Bernhard in französische Dienste und kehrte nie wieder nach Schweden zurück. Dieses Glück war nur der sogenannten Guardia vergönnt, die, aus je 30 „Adelsburschen“ bestehend, jeder der vier Compagnien zugetheilt war und den Dienst um des Königs Person zu versehen hatte. Diese Guardia begleitete, 60 Mann stark, die Leiche des Königs nach Stockholm zurück, und aus ihr stammt die jetzige Svea-Leibgarde (vergl. Nr. 6 auf unserer Abbildung, S. 609), die 1645 neu begründet ward.

Das Ostgöta-Regiment, das auf dem rechten Flügel mit der größten Tapferkeit kämpfte und dessen Rest in Merseburg überwinterte, während 411 Verwundete in Coburg untergebracht wurden, ward 1816 in die zwei schwedischen Leibregimenter (Nr. 2 und 3) verwandelt.

Von Reiterregimentern wirkten bei Lützen namentlich Uppland och Södermanland, von dem (anfangs aus 8 Compagnien zu je 125 Mann bestehend) nach der Schlacht bei Lützen kaum 300 Mann übrig waren und aus welchem die zwei noch bestehenden Dragoner- (Nr. 1) und Husarencorps (Nr. 5) und das Grenadiercorps (Nr. 4) des Leibregiments gebildet wurden. Die Vestgötareiter, die auf dem rechten Flügel kämpften und 1791 zu einer Infanterietruppe umgestaltet wurden, bilden als solche seit 1816 das zweite Leibregiment. Endlich Smålands Regiment! In 8 Compagnien unter Führung Federik Stenbock’s ausgezogen, war es bei Lützen, wo es zunächst der Infanterie auf dem rechten Flügel stand, auf 400 Mann zusammengeschmolzen. Als die Infanterie zum zweiten Male die Landstraße forcirte, erhielt Stenbock eine tödtliche Verwundung, und nun trat eine große Verwirrung ein. Da geschah es, daß den König, als er zur Stelle eilte, um sich selbst an die Spitze des Regiments zu stellen, die tödtende Kugel erreichte. Die Reiter hatten schwere Verluste erlitten und wurden in Meißen einquartiert. Im Jahre 1801 wurde Smålands Regiment in ein leichtes Dragoner- und 1822 in Smålands Husarenregiment (Nr. 7) umgestaltet.


Das Edison-Licht in New-York. In New-York geht soeben ein Culturwerk seiner Vollendung entgegen, dessen voraussichtliches Gelingen einer großen Entscheidungsschlacht in dem Kampfe gleichen wird, welchen auf Leben und Tod die Gasbeleuchtung mit dem elektrischen Lichte führt. Die neue muthige Rivalin, welche dort auf dem Kampfplatze erscheint und den Gasbrenner nicht nur aus großen Fabriksälen, sondern auch aus Comptoir- und Wohnstuben zu verdrängen sucht, ist unsern Lesern schon aus den früheren Jahrgängen der „Gartenlaube“ bekannt; wir meinen die kleine Edison’sche Glühlichtlampe, welche in unserem Blatte (vergl. Jahrg. 1880, Nr. 5) als das „Licht der Zukunft“ bezeichnet wurde.

In der Pearlstreet der nordamerikanischen Handelsmetropole erhebt sich nunmehr eine Centralstation, in welcher mit einer Dampfkraft von insgesammt 1500 Pferdestärken zwölf große elektro-dynamische Maschinen getrieben werden; sie sollen eine genügende Menge Elektricität erzeugen, um ein eine englische Quadratmeile bedeckendes Stadtviertel mit etwa 30,000 Edison-Lampen zu erleuchten. Von dieser Centralstelle laufen strahlenförmig nach allen Richtungen hin starke kupferne Hauptleitungen, welche wie die bekannten Gas- oder Wasserleitungsröhren die Straßen meistens in unterirdischen Canälen durchziehen. Mit diesen Hauptleitungen sind nun die Grundstücke der Consumenten durch besondere Hausleitungen verbunden, welche beim Eintritt in die Häuser zunächst sinnreiche Apparate zur Messung der Elektricitätsentnahme passiren. Von diesen Meßapparaten zweigen sich dünnere Drähte ab, welche nach allen Richtungen hin das Haus durchziehen und bald wie die Leitungen der gewöhnlichen Haustelegraphie in den Mauerputz eingelegt, bald einfach auf die Tapeten und Wände gelegt werden. Hier münden sie in die verschiedenartigsten Lampenformen, in elegante Kronleuchter, die von der Decke herabhängen, in Wandarme, die an geeigneten Stellen angebracht sind, oder in transportable Stehlampen, die man von dem einen Tisch des Zimmers auf den anderen nach Belieben stellen kann.

Wie bequem ist dabei das Anzünden und Auslöschen des Lichtes! Die Umschalter, welche zu diesem Zwecke dienen, werden häufig so angebracht, daß man die Räume, ohne sie zu betreten, erleuchten kann. So brennt man z. B. im Keller das Licht mittelst eines einfachen Hahnes von der Küche aus an, und um das Schlafzimmer zu erleuchten, genügt es, nur einen Knopf zu drehen, der mit der Hand bequem vom Bette zu erreichen ist.

Edison’s Lampe besteht bekanntlich aus einer im Innern luftleeren Glaskugel von Form und Größe einer Birne. In derselben befindet sich eine verkohlte Bambusfaser, die durch den elektrischen Strom bis zur Weißglühhitze erwärmt wird. Gegenwärtig werden fabrikmäßig drei Arten dieser Lampen erzeugt: die sogenannte A-Lampe, welche ein Licht von etwa sechszehn englischen Normalkerzen ausstrahlt, die B-Lampe, deren Lichtstärke acht Kerzen beträgt, und endlich die Hundert-Kerzen-Lampe, welche, wie ihr Name andeutet, eine Lichtmenge zu entwickeln vermag, die dem Glanze von hundert englischen Normalkerzen gleichkommt. Für den gewöhnlichen Hausbedarf kommen selbstverständlich nur die beiden zuerst erwähnten Lampen in Betracht, es ist aber dabei zu bemerken, daß für besondere Fälle Edison’sche Lampen von beliebiger, geringerer oder größerer Lichtstärke hergestellt werden können.

Auf die hygienischen Vortheile der elektrischen Lampen den Petroleum- oder Gasbrennern gegenüber hinzuweisen, dürfte kaum nöthig sein. Bekanntlich verschlingt eine gewöhnliche Gasflamme annähernd ebenso viel Sauerstoff wie die Lungen zweier Personen und füllt außerdem die Luft unserer Wohnräume mit Kohlensäure, Kohlenoxyd und anderen der Gesundheit schädlichen Gasen. Oft erhitzen auch die Gasflammen die Stubenluft in einer höchst lästigen Weise. Von allen diesen Uebelständen kann bei der Anwendung des elektrischen Lichtes nicht die Rede sein. Die Edison’sche Lampe entlehnt der Atmosphäre nichts, führt ihr auch nichts zu und entwickelt dabei zwölfmal weniger Hitze, als die gleichleuchtende Gasflamme.

Schon aus dieser gedrängten Mittheilung werden unsere Leser ersehen, daß der schließliche Ausgang des ersten in New-York in großem Maßstabe in Angriff genommenen Versuches, elektrische Beleuchtung in Privathäusern einzuführen, von der höchsten culturellen Bedeutung sein wird und daß er wohl verdient, mit dem größten Interesse verfolgt zu werden.




Kleiner Briefkasten.

E. R. in Danzig. Auf die in Nr. 34 an dieser Stelle aufgeworfene Anfrage wegen des Civilversorgungsscheines der Militäranwärter theilt man uns von competenter Seite freundlichst mit, daß bei Zurückgabe oder Nichtbenutzung des Civilversorgungsscheines allerdings eine Zulage, in der Regel von 6 oder 9 Mark monatlich, gewährt wird. Das entsprechende Gesuch würde an das königliche Kriegsministerium einzureichen sein. Nähere Auskunft über derartige Pensionsverhältnisse wird den betreffenden Invaliden stets an den Pensionszahlstellen ertheilt.

W. L. in Prag. Ihre günstige Meinung von den Robert Keil’schen Werke „Goethe, Weimar und Jena im Jahre 1809“ deckt sich völlig mit unserer Anschauung über diese verdienstvolle Publication, und wenn Sie das Lob, das unser Kritiker dem Buche so reichlich spendet, als ein nur gerechtfertigtes, die Ausstellungen aber, die er an demselben macht, als „nicht ganz zutreffende“ bezeichnen, so widersprechen wir Ihnen auch hierin im Allgemeinen nicht. Wir sehen, wie Sie, keine Veranlassung, die von einem so gewissenhaften Goethe-Forscher vertretene Echtheit der in dem Werke mitgetheilten „Abhandlung Goethe’s“ anzuzweifeln, obgleich der Beweis für dieselbe natürlich nur auf Grund des Originalmanuscriptes geführt werden kann. Der Werth jener Abhandlung will nicht, wie unser Kritiker es thut, im Hinblick auf den Dichter, sondern auf den Staatsmann Goethe gemessen werden. Wie hoch übrigens bedeutende Männer von dem Keil’schen Werke denken, das illustrirt wohl am besten die nachfolgende Stelle aus einem uns mitgetheilten Briefe Gustav Freytag’s, welche folgendermaßen lautet: „Ich habe das interessante Buch sogleich durchgelesen und bitte Sie, auch Herrn Keil meinen Glückwunsch zu dieser Bereicherung unserer Goethe-Literatur übermitteln zu wollen. Dergleichen anspruchslose und mit sachkundigem Commentar versehene Mittheilungen originaler Aufzeichnungen sind mir und wahrscheinlich vielen Anderen weit lieber als langathmige ästhetische Abhandlungen.“

L. L. in Riga. Besten Dank! Senden Sie freundlichst mehr dieses Genres!

K. K. in B. Leider ungeeignet! Verbindlichsten Dank!

M. M. Verfügen Sie über das nicht verwendbare Manuscript!

Ida und Ella. Das betreffende Buch ist durch jede Buchhandlung zu beziehen. Fragen Sie gefälligst an Ihrem Orte nach!

F. P. in St. Reiner Schwindel, wie alle solche Anpreisungen.

E. L. in Nixdorf. Ungeeignet, weil allzu reflectirend und nicht knapp genug gehalten! Ihr Manuscript kam als unbestellbar von der Post zurück. Es liegt für Sie bereit. Schreiben Sie uns gütigst!

H. Nictspe. Zur Begutachtung des Eingesandten fehlt uns alle Zeit. Dasselbe steht zu Ihrer Disposition.


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Aus dem gegenwärtig unter der Presse befindlichen fünften Bande von La Mara’s Werke „Musikalische Studien- und Charakterköpfe“: „Die Frauen im Tonleben der Gegenwart“ (Leipzig, Breitkopf und Härtel). Wir empfehlen diesen neuesten Band des vortrefflichen Werkes der allgemeinsten Beachtung unserer Leser.
    D. Red.     
  2. Eine ausgeführtere Lebensskizze Robert Schumann’s siehe: „La Mara, Musikalische Studienköpfe“. 1. Band, 5. Auflage. Leipzig, Schmidt und Günther.
  3. Rietschel.
  4. Unter Berücksichtigung der besseren Jahreszeit wählte man den Septembermonat zur Feier, während der Gedenktag der Schlacht bekanntlich in den November fällt. D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)