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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[153]

No. 10.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.

Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


„Sie haben eben noch ein gar kurzes Zeitmaß für Ihre Weltanschauung, liebe Mimi,“ erwiderte Meinhard, „Ihre Ansicht wird wohl nicht für alle Zeiten abgeschlossen sein. Aber nicht das ist’s, was mir Anstoß erregt, sondern die Unbilligkeit, ja die Gehässigkeit Ihres leidenschaftlichen Urtheils. Wie können Sie so von – von Ihrer Tante sprechen! Sie hätte Netze ausgeworfen? O nein, mein liebes Kind, es ist doch viel eher anzunehmen, daß sie selbst von einem solchen umgarnt wurde.“

„Sie braucht ihn ja aber auch gar nicht zu nehmen, Onkel Meinhard, wenn sie nicht will.“

Er vermochte der sehr richtigen Bemerkung nichts entgegenzustellen, als sein Gefühl.

„Da mögen mancherlei Beweggründe mitwirken, in die ich keinen klaren Einblick habe. Was aber über allen Zweifel erhaben ist, das ist die Abwesenheit jeder bewußten Koketterie zur Herbeiführung des nun erfolgten Abschlusses. Sie mag den jungen Mann gern gesehen, ihn liebgewonnen haben – es sind ja wohl so mancherlei Vorzüge an ihm, die einem Frauenauge werthvoll erscheinen mögen, die bestechen und vorhandene Mängel übersehen lassen. Ich werfe mich da nicht zum Richter auf, aber besonderer Künste bedarf es bei ihr gewiß nicht, um ein Männerherz anzuziehen, selbst nicht, um das Mißverhältniß der Jahre, das hier allerdings besteht, auszugleichen. Prüfen Sie doch nur, ohne sich von Ihrem Unmuthe verblenden zu lassen, und Sie werden gestehen müssen, daß, wenn Sie die Reihe der Ihnen bekannten jungen Damen im Geiste durchgehen, Wenige ihr gleichkommen dürften. Ob Sie nun ihr schönes, volles Haar, ihre schlanke Gestalt, den anmuthigen Ausdruck ihrer Züge, ihr bezauberndes Lächeln, die wunderbare Tiefe ihres Blickes, kurz die ganze Schönheit ihrer Erscheinung, oder ihre Bildung und die natürliche Grazie ihres Benehmens in Vergleichung ziehen wollen – nirgends, Mimi, wird Ihnen ein so durchaus vollkommenes Bild von echter Frauenschönheit entgegentreten – nirgends, wohin Sie auch blicken mögen.“

„Am allerwenigsten im Spiegel. Ich weiß es ja; ich bin nicht blind. Aber ich möchte schöner und anziehender sein als sie. Ich möchte es sein.“

„Dann seien Sie vor Allem gerechter, und gestehen Sie ein, daß es ein Glück sein muß, eine solche Frau zu gewinnen, deren häuslicher Sinn, deren Thatkraft, deren Wissen und Denken eine Heimath zu schaffen im Stande sind, in der es Jedem wohl werden muß. Hilda’s Herz ist von einer so unerschöpflichen Güte, von einem so edlen Pflichtgefühl und so rührender Treue erfüllt, daß, wer darinnen aufgenommen wird, sich wirklich vorkommen muß, als sei er im Himmel.“

Verwundert blickte Mimi zu Meinhard auf, der mit begeisterter Wärme gesprochen hatte, und voll schlauer Schalkhaftigkeit fragte sie dann:

„Ja, aber warum heirathen Sie sie denn selbst nicht, Onkel Meinhard?“

Die Frage trieb ihm eine starke Röthe auf die Stirn; ein Zug des Schmerzes trat in sein Antlitz, und das Feuer in seinen Augen erlosch.

„Es kommt bei den meisten Dingen auf Erden nicht blos auf unseren Willen an, das werden Sie auch noch erfahren,“ sagte er dumpf.

„O, das hab’ ich schon erfahren,“ fiel sie altklug ein und machte ein sehr betrübtes Gesicht. Dann hängte sie sich vertraulicher an seinen Arm und suchte mit ihm Schritt zu halten. „Ich habe schon lange gedacht, es müßte zwischen Hilda und Ihnen etwas sein. Sie sehen sie immer wie verklärt an – man kann es in Ihren Augen lesen, wie gern Sie in ihrer Gesellschaft sind. Aber ich habe bisher immer fest und sicher geglaubt, daß auch die Tante gar viel auf Sie halte, und nun – also auch Sie sind hintergangen worden, Onkel Meinhard?“

„O nein, niemals.“

„Aber Tante Hilda hat Sie doch angezogen – nicht wahr? Und dann ohne Weiteres fallen lassen. Ich begreife nur nicht, wie Sie da noch für sie schwärmen können – das begreife ich wirklich nicht. Wer falsch gegen mich war, den kann ich nur hassen – o, aus ganzer Seele und unversöhnlich hassen!“

„Aber es war auch Niemand falsch gegen mich. Die Anziehungskraft ist keine Willensthätigkeit, sondern gleicht nur der Eigenschaft des Magnets, und ebenso unbewußt übt ein schönes, edles Frauenbild seinen Zauber, dem man sich nicht entziehen kann.“

„Das ist’s ja eben, was mich grämt. Man kann gar nicht zur Geltung kommen neben ihr. Wenn es nur ein Mittel gäbe, die Männer vor dem Einfluß dieses bösen Zaubers zu bewahren, ein Mittel gegen ihre Verlockungskünste! O, diese Sirene! Wissen Sie was, Onkel Meinhard? Sie brauchten gar nicht auf Hilda zu hören, sie gar nicht anzusehen – dann fiele auch der Vergleich zwischen Tante Hilda und mir nicht so zu meinen Ungunsten aus, und Sie und Andere fänden mich vielleicht gar nicht so häßlich.“

[154] Meinhard mußte über diese hastig hervorgesprudelten Selbstanklagen lächeln, wie tief und düster sein Ernst auch war.

„Nun,“ meinte er, „so schlimm ist es denn doch nicht.“

„O ja, o ja – ich weiß es.“

„Sie verfallen jetzt in den umgekehrten Fehler und thun sich selbst Unrecht. Mir ist es wohl gestattet, Ihnen zu sagen, daß Sie ein liebes, hübsches, herziges Mädchen sind.“

„Wirklich?“ fragte sie gespannt zu ihm aufblickend. „Machen Sie mir aber auch keine Complimente, wie – wie Andere, die mir dasselbe sagen?“

„Gewiß nicht. Was Ihnen an Gleichmaß und Selbstbeherrschung noch mangelt, das werden die Jahre bringen. Sie sind ja noch so jung, aber auch die Jugend ist nur ein Reiz mehr.“

„Ich mißfalle Ihnen also nicht, Onkel Meinhard? Die Hand auf’s Herz! Volle Wahrheit!“

„So wenig, daß ich vielleicht sogar Gefahr liefe – wenn ich jünger wäre.“ In sein Lächeln mischte sich ein Zug von Bitterkeit.

„O, aus dem Alter mache ich mir gar nichts,“ versicherte sie treuherzig. „Wir zwei sind Zurückgesetzte, Uebersehene, Ausgestoßene; wir gehören als Leidensgenossen zusammen; wir müssen einen Bund schließen und uns an den Andern rächen. Wissen Sie was, Onkel Meinhard? – das Beste ist, wir machen’s wie die Andern.“

„Nun?“ fragte er gespannt.

„Wir heirathen einander,“ sagte sie ganz ernsthaft.

Dieser kindische Vorschlag des lebhaften kleinen Sprudelkopfes machte ihn abermals lächeln; zu anderer Zeit hätte ihn Meinhard wohl mit Scherz aufgenommen und eine lustige Neckerei daran geknüpft, jetzt aber bewegte er nur leise den Kopf.

„Wenn ich nicht glauben soll, daß Sie auch nur ein Schmeichler sind, der mir allerlei in den Kopf setzen wollte,“ meinte Mimi in ihrer eilfertigen Weise, „so dürfen Sie jetzt nicht zurücktreten. Es wird so hübsch sein, wenn wir gleichfalls unsere Verlobung anzeigen. Und ich werde ein großes Medaillon tragen mit einem verschlungenen B und E darauf und Ihrem Portrait darin, und das werde ich alle Augenblicke hervorziehen und küssen, wie es Lina Gertenau macht, damit Alle sehen, wie lieb ich Sie habe und wie glücklich ich bin. – Wann soll es denn sein?“

„Allerdings nicht so auf der Stelle, da ich noch heute abreise.“

„Sie reisen ab? Wie ungeschickt! O, wie verdrießlich! Aber Sie kommen zurück – nicht wahr, bald?“

„Kommen Sie mit hinein!“ forderte er seine Begleiterin, welche stehen geblieben war, als sie vor dem Schlosse anlangten, zum Eintritt auf.

„Nein, ich will nicht in’s Haus; ich will Niemandem begegnen,“ erklärte sie, der Thür den Rücken wendend, faßte aber dabei seine Hand und sah ihm ernst bittend in die Augen, indem sie von Neuem in ihn drang. „Also wenn Sie zurückkommen! Sie versprechen mir’s? Abgemacht? Topp! Ich halte Sie beim Worte. Vergessen Sie’s nicht! Sobald Sie zurückkommen, – bitte, bitte, lieber, guter Onkel Meinhard.“

„Was thu’ ich aber, wenn sich der kleine Kopf inzwischen eines Andern besonnen hat?“ scherzte er, um über die Pein der Situation schneller hinwegzukommen.

„O – ich brauche keine Bedenkzeit! Vergessen Sie das Medaillon nicht!“

Meinhard winkte ihr mit der Hand freundlich einen Abschiedsgruß zu, während sie die Stufen hinunterschritt. Er ging in’s Haus. Das wohlwollende Lächeln schwand dabei langsam aus seinen Zügen, über die ein tiefer, kummervoller Ernst seinen Schleier zog. Im Corridore blieb er stehen, ehe er Jemand suchte, der ihm Auskunft geben könnte, ob die Herrschaft zu Hause, ob Fräulein Hilda – – Er mußte sich erst fassen, sich in die neue Lage hineinfinden.

Er stand im Begriffe zu scheiden, wieder wie vor fünfzehn Jahren mit der Ueberzeugung, daß es für immer sei. Dieser Besuch war ein Abschiedsbesuch – von Hilda wollte er sich verabschieden. Damals – als er vor fünfzehn Jahren schied – hatte er den Tod im Herzen zu tragen vermeint, und doch war er am Leben geblieben, war wiedergekommen und hatte sogar eine lange Zeit hindurch sich wohl gefühlt. Es war nicht die volle Zufriedenheit und doch – eine Art von Glück gewesen.

Nun hatte auch das ein Ende gefunden. Diesmal war es nicht ein wildes Auflodern der Verzweiflung, das ihn von dannen trieb; er war älter, ruhiger geworden, aber was er empfand, wog doch nicht um ein Quentchen leichter als dazumal, nur daß er nicht mehr die Vollkraft der Jugend hatte, es zu tragen, und daß sein gereifter Verstand ihm klar die Zukunft zeigte, die seiner harrte, eine öde Zukunft ohne Liebe, ohne Glück. Nach der ersten Flucht hatte ihn sein Lebensweg gleichsam in einem Bogen zur Ausgangsstelle zurückgeführt, aber aus der Selbstverbannung, in welche er jetzt zu gehen im Begriffe stand, gab es keine Wiederkehr. Die Jugend ist nie hoffnungslos; denn das Leben liegt ja noch freundlich winkend vor ihr, aber was der Mensch in späteren Jahren verliert, ach, dafür giebt es keinen Ersatz mehr.

Ungeliebt neben Derjenigen hergehen zu müssen, deren Bild er, soweit er zurückdenken konnte, stets in gleicher Verehrung und Treue im Herzen getragen, das war ihm einst als eine Unmöglichkeit erschienen, bis er dann erkannte, daß es ihm noch weit schwerer fiel, das theure Mädchen zu meiden. So hatte er denn wieder ihre Nähe gesucht, und resignirt nahm er mit dem bescheidenen Loose vorlieb, das ihm das Schicksal vorbehalten hatte. Er sah sie; er trank den Sonnenstrahl aus ihren Augen; er durfte seine Gedanken mit ihr austauschen, einen regen Verkehr mit ihrem Hause unterhalten und das milde Behagen einer herzlichen Freundschaft genießen; er hatte seinen stürmischen Willen beherrschen gelernt und ihn zur Genügsamkeit erzogen, um nicht auch noch dieses bescheidene Maß von Seelenfrieden einzubüßen. Und manchmal war sogar ein Freudenstrahl in dieses stille Leben gefallen. Ein Ton ihrer Stimme, ein Druck ihrer Hand, ein klarer, beseligender Blick ihres Auges weckten dann die längst begrabenen Hoffnungen aus dem Scheintode auf, und er konnte für Momente, für Stunden sogar sich dem lieblichen Traume hingeben, daß in der Tiefe dieses keuschen, ruhigen Mädchenherzens doch eine Stimme lauter für ihn, als für jeden Anderen spreche; er konnte sich in dem beglückenden süßen Gedanken sonnen, daß er Hilda mehr sei, als blos der Jugendfreund, der Vertraute, der Rathgeber.

Kein Freier war ihm vorgezogen worden, und es hatte den Anschein, daß die Hingebung für die Familie Hilda’s Leben ganz und gar ausfüllen sollte, vielleicht kam aber einmal doch eine Aenderung in diese kleine Welt; ein Frühlingshauch zog durch die eingerissene Wand und dann – stand er nahe genug, um die Blüthen auf deren Erschließen er so lange in Geduld und Treue geharrt, in seinem Busen aufzufangen.

So war er geblieben, auf alle Begünstigungen verzichtend, die sich für seine materielle Existenz boten, ein pflichteifriger Diener des Staats in beschränkter Stellung und ein stiller Gast im stillen Hause.

Er war nicht ehrgeizig, aber er hätte es sein können um einen Preis, um sie, um die Geliebte. Für sie hätte er sich emporschwingen mögen zu hervorragender Stellung; er hätte den Ehrgeiz für sie gehabt, doch hier, wo derselbe ihn nur aus ihrer Nähe entfernen mußte, unterdrückte er ihn – nur für sie.

Dann war eine Zeit gekommen, wo der alte Liebestraum in ihm erwacht war, und vorsichtig, um ihn nicht wieder zu zerstören, hatte er gewartet und langsam mit zaghaft gewordener Hand hinwegzuräumen gesucht, was noch zwischen ihm und Hilda lag. Der Zufall schien ihm die Hand zu bieten und hatte seine Absichten gefördert. Da, in dem Momente, wo er endlich das Glück zu fassen vermeinte, war er von neuem zurückgeschleudert in’s Hoffnungslose, wie damals, nur weit bitterer noch; seine Hingebung, seine Treue hatten Zorn und Verachtung geerntet. Die Liebe hatte er gesucht, und die Mißdeutung war ihm begegnet.

So hatte der Traum abermals ein jähes Ende gefunden, und nicht genug an der Enttäuschung – ein Anderer, Glücklicherer war ihm zuvorgekommen und hatte spielend die aufgebrochene Blüthe gepflückt mit der kecken Hand der Jugend, die gewinnt, weil sie wagt.

Nun war es für immer vorbei.

Hier gab es keine zweite Rückkehr mehr. Was er heute erfahren, bestätigte ihm nur, daß er richtig gehandelt, als er gestern nach der so schroff abgeschlossenen Zusammenkunft mit Hilda seinen Entschluß gefaßt und die Brücke hinter sich abgebrochen. Die neue Erfahrung war tief schmerzlich, aber nicht Zorn und Scham rief sie diesmal in ihm hervor, nein, nur Trauer und Mitleid für Hilda; tief beklagte er ihre Wahl, in der er kein [155] Glück für sie voraussehen konnte, für sie, deren seelische Bedürfnisse und Gemüthsregungen er jahrelang zu seinem eingehendsten Studium gemacht, so daß er es genau zu kennen glaubte.

Er erwog, nachdem seine Betrachtungen sich einmal dieser Seite zugewendet, still bei sich, ob er nicht warnend seine Stimme erheben müsse, aber man hatte ihm ja mit der Freundschaft das Recht dazu gekündigt.

Das Erscheinen des Kammermädchens setzte seinen Betrachtungen ein Ziel. Mit ruhiger Freundlichkeit nahm er die Mittheilung entgegen, daß er Niemand zu Hause finde außer dem Fräulein Hilda, welche sich im Salon befinde. Bevor er jedoch dort eintrat, zögerte er noch einen Augenblick an der Thür. Dann aber hatte der feste Wille des Mannes den Ausdruck der Bekümmerniß aus seinen Zügen hinweggewischt, und seine Stimme – das fühlte er – hatte wieder Festigkeit gewonnen. Die tiefe Leidenschaft, die er sein ganzes Leben hindurch im Zaume zu halten gewußt, sollte er sie in diesem letzten Momente des Kampfes, jetzt, wo er im Begriffe stand, für immer von Hilda zu scheiden – sollte er sie jetzt nicht zu bezwingen vermögen? Er war ein Mann – und er war seiner sicher. Ruhig setzte er den Fuß auf die Schwelle des Salons.

In der nächsten Secunde stand er Hilda gegenüber.

Sie war nicht mehr in der unnatürlichen Erregung des vergangenen Tages. In Folge der nervösen Ueberreizung und vielleicht auch ein wenig des Champagnergenusses, dem sie über ihre Gewohnheit zugesprochen, war sie am Abend in einen tiefen schweren Schlaf verfallen, der sich bis spät in den Morgen hinein verlängert hatte. Bei ihrem Erwachen zeigte sich ihr alles in einem nüchternen Lichte, das unbarmherzig alle Täuschungen zerstörte.

Was hatte sie gestern gethan? Ach, um ihr Leben hatte sie wie ein Spieler gewürfelt, ihr Wort verpfändet, und nun war sie die Braut eines Mannes, den sie nicht liebte, der um soviel jünger war als sie, der ihr nicht einmal jene Achtung abrang, die man dem ernsten Wollen, dem festen Charakter auch eines Jüngeren zollt, ja für den sie beinahe etwas wie die Nachsicht eines mütterlichen Wohlwollens empfand. Wie war es denn nur gekommen, daß sie sich so rasch hatte entschließen können, ihm – gerade ihm ihre Hand zu versprechen?

Wilhelm! – der Gedanke an ihren Bruder blitzte in ihr auf, und damit gewann alles wieder Schluß und inneren Zusammenhang. Einer helfenden Hand für den kranken Bruder im Jägerhause hatte sie bedurft, und die hatte sie gefunden. Das erklärte alles; das erklärte ihr Opfer. Wilhelm! Schnell zu ihm! Schon am frühen Morgen hätte sie im Jägerhause sein sollen, und nun war der Vormittag schon so weit vorgerückt. Sie mußte mit Edwin alles ordnen; er konnte ihr seine Hülfe nicht versagen; denn sie war – sie erschrak bei dem Gedanken – sie war seine Braut.

Da vernahm sie Schritte, Männerschritte, an ihrer Thür. Das konnte nur Edwin sein. Sie trat zur Thür und – sah Meinhard in’s bleiche, ernste Gesicht.

Betroffen wich sie zurück. Sie hatte das Gefühl eines Kindes, das auf unrechten Wegen ertappt wurde, und in Scham und Verlegenheit schlug sie den Blick nieder vor Meinhard’s strengen Augen, in denen sie nur zu deutlich die bange, schmerzliche Frage las: „Was hast du gethan?“ – dieselbe Frage, die heute unerbittlich all ihre Gedanken kreuzte. Aber dann durchzuckte sie wieder der Gedanke: Er – ganz allein er trägt die Verantwortung für Alles, was geschehen.

„Lassen Sie mich mit einem Friedensworte beginnen!“ sagte Meinhard ruhig, indem er näher trat und seinen Hut ablegte, „lassen Sie mich Ihnen meinen – Glückwunsch darbringen! Nicht in dem gewöhnlichen Sinne geschieht es, sondern es ist wirklich mein inniger Wunsch, daß Sie Ihr Glück in der soeben geschlossenen Verbindung finden mögen, weil es mich betrüben würde, Sie nicht glücklich zu wissen.“

„Die Nachricht muß ja Flügel gehabt haben, daß sie schon zu Ihnen gedrungen und Sie zu so ungewöhnlich früher Zeit hier erscheinen,“ entgegnete Hilda, welcher der tiefere Sinn seiner Worte nicht entgangen war; sie zwang sich, eine spöttische Mißbilligung ihrer Wahl aus seinen Worten herauszuhören, um sich gegen ihre eigene Beklommenheit mit allem Stolze wappnen zu können. Wollte er ihre letzte Begegnung im Amtshause vergessen – gut, sie ging darüber nicht hinweg. „Uebrigens kann ich für Ihre Theilnahme kaum danken,“ sagte sie. „Glück oder Unglück, was mich auch treffen wird, ich beanspruche es ja ganz allein für mich. Was die Andern angeht, so wird nur in Betracht kommen, daß von jetzt ab mein Wille eine unbedingte Berücksichtigung finden wird, weil mir die Mittel zu Gebote stehen, ihm Nachdruck zu verleihen.“

„War das der einzige Beweggrund zu Ihrem Entschlusse?“ fragte er gespannt.

Sie senkte trotzig die Lider vor dem Blick, der sie bis auf den Grund der Seele durchforschen zu wollen schien. Wie dreist war es von Meinhard, eine solche Frage an sie zu richten! Sie verdiente keine Antwort.

„Ich bedaure,“ sagte sie dann, „daß augenblicklich mein Bräutigam nicht hier ist, um sich mit Ihnen über das Recht aus einander zu setzen, welches Sie in so ausgedehntem Maße auf mein Vertrauen beanspruchen. Er ist in der Stadt. Uebrigens dürfen Sie ihn heute noch zur Regelung meiner finanziellen Angelegenheiten erwarten.“

Meinhard richtete sich kalt auf.

„Dazu bedarf es keines Mittelsmannes, Fräulein Hilda,“ er nahm mit großer Ruhe aus der Brusttasche dasselbe Paket, das er ihr gestern vorenthalten.

„Hier!“ sagte er. „Ihnen dies zu überreichen ist der Zweck meines Kommens.“

„Sie bringen mir das Geld?“ rief Hilda erstaunt und nahm das Paket aus seiner Hand; sie zwang sich zu einem kalten Ton, indem sie fortfuhr: „Sie kommen wohl aus Furcht vor den Folgen Ihrer Weigerung?“

„Möglich. Aber nicht vor denen, die mich treffen könnten.“

Er betonte das so sonderbar. Bestürzt sah sie zu ihm auf. Was wollte er damit sagen? Wußte er – –? Langsam, um ihre Unruhe zu verbergen, ging sie auf das kleine Sopha zwischen den Fenstern zu und ließ sich darauf nieder. Noch immer drückte sie das Paket fest und leidenschaftlich an sich, als könnte es ihr wieder entrissen werden.

„Haben Sie Dank, daß Sie kamen!“ sagte sie, „Sie thaten gut daran, meinem Bevollmächtigten zuvorzukommen.“

„Ihrem Bevollmächtigten zuvorzukommen? Das war gar nicht meine Absicht, namentlich wenn Sie unter Ihrem Bevollmächtigten Herrn von Tonner verstehen. Die Nachricht von Ihrer Verlobung erhielt ich soeben erst hier. Hätte ich darum früher gewußt und um Herrn von Tonner’s Anwesenheit in der Stadt, so wäre mir der Weg hierheraus erspart worden und –“ erst nach einer kleinen Pause setzte er leise, aber mit einem Anklange von Bitterkeit hinzu – „diese Begegnung. Ich hatte keinen Anlaß, dieselbe zu suchen, obwohl es mir leid gethan, daß Sie gestern in Unwillen von mir schieden. Ich hätte meinen heutigen Besuch sogar vermieden, weil ich der Meinung war, daß er Ihnen nicht erwünscht kommen dürfte. Darum wollte ich nur Franz aufsuchen und in seine Hände das mir anvertraute Gut zurücklegen, dessen Verwaltung ich so wie so nicht mehr zu führen in der Lage bin, selbst wenn die räumliche Entfernung unserer künftigen Wohnsitze nicht allzu viele Unzukömmlichkeiten mit sich brächte.“

Abermals trat eine kurze peinliche Pause ein. „Unsere künftigen Wohnsitze“ hatte er gesagt. Das Wort fiel, wie weckend, in Hilda’s Ohr. So wollte er fort von hier? Sie fühlte, wie die Kälte ihrer Empfindung plötzlich wich; bei dem Gedanken, daß er scheiden wollte, überfiel sie ein unnennbares Bangen; es war etwas in ihr, das sie einer Schuld zieh, einer Schuld des Herzens am Herzen, etwas, das sie fragte: Hast du ihm doch vielleicht Unrecht gethan?

Schweigend stand er ihr gegenüber; sie fühlte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Er griff nach seinem Hute; er wollte gehen – aber sein Herz war mächtiger als sein Stolz; so that er denn einige Schritte auf Hilda zu und bot ihr freundlich und ernst die Hand:

„Sie hatten gestern Recht, Hilda; ich durfte Ihnen die freie Verfügung über Ihr Eigenthum nicht schmälern, aber es giebt im Leben Lagen, wo man einzig und allein dem Impulse seines Herzens folgen muß, wo jede andere Entscheidung ein unsühnbares Unrecht gegen dasselbe ist. Ich hätte Ihnen vertrauen sollen, aber man irrt oft bei den besten Absichten. Ich hoffe, diese Erklärung genügt, um uns friedlich scheiden zu lassen. Hilda, möge Ihnen alles, alles zum Glück ausgehen, und grüßen Sie mir recht herzlich Ihren Bruder! Gern hätte ich ihn noch einmal gesehen, aber meine Abreise drängt, und er kommt wohl bald einmal nach Wien.“

[156] „Sie gehen fort?“ rief sie verwirrt und erhob sich plötzlich mit einer so heftigen Bewegung, daß das Paket von ihrem Schooße zur Erde fiel.

War sie schon weicher geworden bei den ersten Worten seiner Abbitte, so hatte sie jetzt über den einen Gedanken: er verläßt uns! alles vergessen, was zwischen ihr und ihm lag. Er, der alte treue Freund, der Gespiele ihrer Jugend, er war da, um Abschied von ihr zu nehmen. So unvorbereitet, so plötzlich! War es denn möglich? Und es stürmte in ihr – sie kannte sich selbst nicht mehr.

„Heute noch,“ beantwortete er ihre Frage, indem er das Paket aufhob und auf den Tisch legte. „Ich habe mich nach reiflicher Ueberlegung denn doch für den Antrag des Ministers entschlossen. Er drängt, und so habe ich die telegraphisch geführten Verhandlungen mit der Zusage abgeschlossen, noch diesen Abend zu reisen. Meine Geschäfte sind bereits übergeben, und mein kleines Hauswesen kann später leicht aufgelöst werden. Die Raschheit erleichtert mir den Abschied.“

„Wann haben Sie denn diesen Entschluß gefaßt, so schnell, so ganz unvermuthet?“

„Gestern. Und es war, wie ich sagen muß, ein guter Genius, der mir ihn eingab.“

„Ein guter Genius?“ fragte sie. Sie verstand, daß sie es war, welche ihn forttrieb, und eine schwere Last fiel ihr auf’s Herz. „Aber Sie sagten doch, nur ein Wunder könne –“

Doch da stockte sie schon wieder.

„Ein Wunder!“ wiederholte er mit eigenthümlicher Betonung. „Ja, ein Wunder,“ und wehmüthig lächelnd sah er vor sich hin. Er nickte und seufzte in sich hinein.

„Nur unter gewissen Verhältnissen konnte mir mein Verbleiben wünschenswerth erscheinen – aber man ändert oft schnell seine Entschlüsse. Nehmen Sie an, ich sei plötzlich ehrgeizig geworden – das ist ja die letzte Leidenschaft, welche sich bei dem alternden Manne einstellt.“

„Sie können uns verlassen?“ fragte sie vorwurfsvoll.

„Gehen Sie denn nicht auch?“ fragte er zurück.

Hülflos sah sie ihn an.

Das Schmerzliche der Situation trat lebhaft vor ihre Seele. Jetzt wußte sie wieder, was geschehen war, und wie es sich Ring an Ring gefügt. Der Schreck krampfte ihr die Brust zusammen; sie glaubte vergehen oder bei Meinhard Zuflucht suchen zu müssen.

Zitternd faltete sie die Hände und preßte sie gegen die Brust.

„O, was hab’ ich Ihnen gethan!“ stammelte sie. „Und Sie sind so gut – so gut, und lassen es mich nicht mit einem einzigen Worte empfinden. Sie hätten ein Recht, mich zu verachten, mich bis in den Staub zu demüthigen, daß ich Sie wie eine Wahnsinnige beleidigte. Ich weiß, daß Sie mir niemals verzeihen können –“

„Hilda, machen Sie mir den Abschied nicht schwer!“ unterbrach er sie. „Hätte ich einen Groll gegen Sie gehegt, so würde ich hier nicht eingetreten sein und nicht so gesprochen haben, wie ich es that. Noch einmal alles Gute Ihnen – –“

Er hielt inne.

Er vermochte nicht länger in die thränenerfüllten, flehend auf ihn gerichteten Augen zu blicken, vor denen er seine ganze gewaltsame Fassung schwinden fühlte.

„Sagen Sie mir ein kurzes herzliches Lebewohl!“ bat er, und als sie schwieg, da ergriff er ihre immer noch gefalteten Hände – sein Gefühl übermannte ihn; er schlang den Arm um sie, zog sie an sich und küßte ihre Stirn.

„So viel wird ja dem Freunde nicht verwehrt sein,“ flüsterte er mit bebender Stimme. „Lebe wohl, Hilda!“

(Fortsetzung folgt.)




Allerlei Hochzeitsgebräuche.

Nr. 1.0 Verlobung und Trauung in Steiermark.


Die deutsche Sprachgrenze Steiermarks zieht sich durch jenen Theil des Landes, den man gewöhnlich Mittelsteiermark nennt, nach Kärnten einerseits und nach Kroatien andererseits. Nördlich von dieser Linie finden wir überall unverfälschtes, kerndeutsches Volksthum, kräftig und stark entwickelt. Hier hat sich die Sitte der Väter seit vielen Jahrhunderten erhalten und macht sich heutzutage noch vielfach bemerkbar, besonders aber in alten Wortformen, Sprüchwörtern, Wendungen und Ausdrücken.

Die Bewohner von Deutsch-Steiermark bedienen sich der baierisch-österreichischen Mundart, und nur an der erwähnten Grenze des deutschen Elementes zeigt sich in der Modulation der Stimme und im Gebrauche einzelner Worte ein verschwindender Einfluß der slovenischen Nachbarn. Dasselbe gilt von den verschiedenen volkstümlichen Gebräuchen, deren sich noch immer eine reiche Zahl im Landvolke – dies ist ja allein Bewahrer des Altherkömmlichen – erhalten haben.

Ganz eigenartige Volksgebräuche leben besonders in dem oben angedeuteten Grenzgebiete des deutschen Stammes, und es dürfte von Interesse sein, hier einiger Hochzeitsbräuche zu gedenken, die, wie so manche andere, noch auf den Ursprung aus längst vergangener Zeit hinweisen.

Die Gegend von Wildon, Stainz, Leibnitz, Eibiswald und Mureck ist hier vor Allem in’s Auge zu fassen, wie auch Gleisdorf, Fürstenfeld , Radegund fast dieselben Gebräuche aufweisen, welche übrigens selbst mit denen im hochgebirgigen Norden der Mark Vieles gemein haben.

Wir leben in einer nüchternen, klugen Zeit, und so sind es, wie überall, so auch in der schönen Steiermark meistens praktische, pecuniäre Interessen, welche heute die Brautleute zusammenführen. Von der künftigen Hauswirthin, welche die bald umfangreiche, bald kleinere Bauernwirthschaft zu führen hat, wird verlangt, daß sie diese Führung versteht, wohl auch einiges Vermögen besitzt. Die Romantik einer Heirath aus Liebe findet sich bei den steierischen Landleuten immer seltener. Niemals geht der junge Mann selbst werben, sondern, wie in vielen anderen Gebieten Deutschlands, besorgt dies der Brautwerber, in ganz Steiermark „Bittelmann“ genannt. Oefter kommen auch zwei „Bittelleute“ vor. Es sind gewöhnlich ältere Freunde des Hauses, die sich zu den Eltern des Mädchens begeben und oft mit scheinbar großer Verwunderung von diesen empfangen werden. Die Angelegenheit zwischen dem Bittelmann, den Eltern und dem Mädchen findet jedoch zumeist ihren gewünschten günstigen Abschluß.

Hat der Bittelmann die Zusage empfangen, so wird ein Tag verabredet, an welchem die Braut mit ihren Eltern und etwa noch einigen Freunden des Hauses zum Hause des Bräutigams auf die „Bschau“ geht, das heißt sich den Stand seiner Wirthschaft, der Gebäude, seines Kellers und Stalles beschaut. Natürlich wird der Bräutigam für diesen Fall Alles auf’s Glänzendste herausputzen, und es kommt sogar vor, daß er bei Nachbarn sich besonders schöne Stücke leiht, um sie als die seinen auszustellen. Hier werden nun die besonderen Punkte wegen der Mitgift ganz in Ordnung gebracht, und dann erfolgt das „Versprechen“, die eigentliche Verlobung. Sowohl bei der „Bschau“ wie auch beim „Versprechen“ geht es natürlich ohne ein Mahl nicht ab, an dem „Versprechmahl“ nehmen jedoch nur die Brautleute, die zwei „Beistände“ – meist sind dies die Bittelleute – und die beiderseitigen Eltern Theil.

Alsdann werden beim Pfarramte die nötigen Schritte eingeleitet, und das Brautpaar begiebt sich einige Male zum Geistlichen, um über die religiöse Bedeutung der Ehe, welche nach katholischem Glauben ein Sacrament ist, genau unterrichtet und geprüft zu werden. Nachdem dies geschehen, erfolgt die Einladung zur Hochzeit durch den „Hochzeitlader“. Dieser ist eine wichtige Person; in festlichem Gewande, einen Haselstock in der Hand, am Rocke und Hute einen gewaltigen Blumenstrauß mit flatternden rothen Seidenbändern, begiebt er sich zu denjenigen Personen, welche eingeladen werden sollen, und da diese oft stundenweit aus einander wohnen, so muß er häufig schon vierzehn Tage vor der Hochzeit mit den Einladungen beginnen. In jedem Hause, in das er entsandt wird, spricht er seinen Ladungsspruch, welcher seine bestimmte Formel hat. In Obersteier ist er nicht selten in Reimen abgefaßt, im Mittellande, von dem hier vorzugsweise die Rede ist, aber lautet er etwa:

„Grüaß Gott, meine liebn Leut! I kimm (komme) mit aner schian (schönen) Bitt. Seids denna so guat, thuats den Brautleute

[157]

Der „Gugelhupftanz“ in Steiermark.
Nach einer Skizze von F. Schlegel auf Holz gezeichnet von G. Sundblad.

[158] den Gfalln und die christliche Liab erweisen und thuats es an ihrn Ehrntag in die Kirch zum Gottsdienst begleiten. ’s Frühstück is beim ....-Wirth, Kirchngehn ma (in die Kirche gehen wir) um a neuni (neun); die Kubalazion (Copulation) wird um alfi (elf) und aft (dann) ha’ma a kloans (ein kleines) christlichs Mahl beim .... ’s Essn wird ganz kloan ausfalln. A Suppn, a Stückel Fleisch, an Krapfen – sist nix (sonst nichts). Es wird a schiani Hoazat werdn; denn es kemmen (kommen) daheifti (viele) Freund zsamm.“

So lautet einer der kürzesten Sprüche. Sehr bemerkenswerth ist es, daß keineswegs, wie zumeist in Obersteiermark, die Gäste immer unentgeltlich bewirthet werden; denn es giebt „Schenkhochzeiten“, wobei die Brautleute das Mahl bestreiten, und „Zahlhochzeiten“, wo dies die Gäste aus eigenem Sacke thun. Es ist ebenso komisch wie begreiflich, daß zu letzteren Hochzeiten viel mehr Gäste geladen werden, als zu ersteren.

Wichtige Personen unter den Geladenen sind die „Beistände“ (Zeugen), die „Brautführer“ und die „Kranzeljungfrauen“, welche letztere besonders gute Tänzerinnen sein müssen.

Inzwischen ist der eigentliche Hochzeitstag hereingebrochen. Bräutigam und Braut sind festlich gekleidet. Ersterer trägt Sträuße künstlicher Blumen an Hut und Rock, welche lange Seidenschleifen haben, während die Braut ein Myrthenkranz schmückt; ihr Rock ist dunkel, meist schwarz, da ein lichtes Hochzeitsgewand nicht für anständig gilt; rothe Seidentücher, als Halstuch beim Bräutigam und als Busentuch bei der Braut, sind sehr beliebt.

Das Hochzeitsfest beginnt nun mit einem lustigen Frühstück. Strudel, Knödel (Klöse) mit Schweinefleisch, Rindfleisch, Suppe, Kraut und dergleichen werden schon hier verabreicht, und die Vorliebe des Steiermärkers, viel zu essen, tritt dabei ergötzlich hervor; fehlen dürfen hier nicht die „Krapfen“, in Fett gebackene Teigballen, welche die unter dem Namen Krapfen in Süddeutschland bekannte Mehlspeise an Größe wohl um das Vierfache überragen. Nach dem Frühstück erfolgt unter Vortritt der Musikanten der Zug zur Kirche, an dem alle Geladenen, die Männer mit Sträußchen am Hute geschmückt, theilnehmen; in der Kirche selbst schreiten die Brautleute mit den Beiständen und Kranzeljungfern voran; die Männer schließen sich ihnen an, und den Schluß bilden die Frauen und Mädchen.

Vor allem wird in der Kirche nun großer Gottesdienst, ein „Hochamt“, abgehalten, und interessant ist es, daß beim Offertorium ein von altersher überkommenes Lied eingeschoben wird, das auch die Kirchengeher mitsingen. Diese Lieder kann man den wirklichen Volksliedern der deutschen Steiermärker beizählen. Hier die erste Strophe eines solchen Hochzeitsliedes:

„Zur Hochzeit, zur Hochzeit, kommt alle frommen Gäst’,
Ach eilet, nicht weilet, nur keiner sei der Letzt’,
Weil Jesus sich selbst ladet ein, der wahre Gast,
Maria auch, die Jungfrau rein,
Ladet sie auch zur Hochzeit ein;
Zur Hochzeit, zur Hochzeit, kommt alle frommen Gäst’.“[1]

Die Brautleute communiciren während des Gottesdienstes, und nach demselben erfolgt die eigentliche Trauung, wobei selbst dem armen Manne der „Johannissegen“ nicht fehlen darf; es ist dies jener Trunk Weines, den nach vollzogener Copulation der Priester und jeder Gast auf das Wohlsein des Brautpaares noch in der Kirche zu sich nimmt, und die Flasche mit Wein, welche Jeder schon im Voraus hierzu erhielt, ist von sehr bedeutender Größe. Sie muß ausgetrunken werden. Der Priester trinkt zuerst mit den Worten: „Aüf das Wohl des Bräutigams!“ sodann auf das Wohl der Braut.

Dieser „Johannissegen“ ist zweifellos eine Erinnerung an den alten germanischen Minnetrunk, der in’s christliche Zeitalter mit herüber gebracht wurde und dessen Name durch jene Erzählung vom vergifteten Weine erklärt wird, den, der Legende nach, der Evangelist St. Johannes segnete und, ohne daß ihm das Gift etwas geschadet hätte, austrank.

Unmittelbar nach der Trauung begiebt sich die „echte“ Kranzeljungfer – als solche gilt nur eine, die auch ihren Myrthenkranz bis zu Ende der Hochzeit auf dem Kopfe behalten muß – mit einem Teller, auf dem sich drei Krapfen befinden, zwischen welchen ein Thaler oder zwei Guldenstücke liegen, in die Sacristei und bietet diese Gabe dem Geistlichen dar; ähnlich, natürlich mit geringerer Gabe, wird der Meßner bedacht.

Der nun aus der Kirche kommende Zug, an dessen Spitze der junge Mann mit den Kranzeljungfern einherschreitet, begiebt sich in’s Hochzeitshaus, gewöhnlich in ein Gasthaus. Auf dem Wege begleiten die jungen Bursche den Zug, wie schon auf dem Gange in die Kirche, mit Jauchzen und Pistolenschüssen, ja mitunter werden auch Böller abgefeuert.

Im Hochzeitshause mit dem Zuge angekommen, muß die Braut, zum Zeichen ihrer Würde als Hausfrau, zuerst das Kraut salzen, eine Ceremonie, die mit einem guten Trinkgelde für die dabei mitfungirende Köchin verbunden ist. Vorher findet jedoch noch das „Brautstehlen“ statt; lustige Bursche suchen nämlich die junge Frau gewaltsam zu entführen, und gelingt es ihrem Manne nicht, die Entführte rechtzeitig zu erhaschen, so muß er sie durch Bezahlung einer Weinzeche an die Burschen auslösen. Uebrigens kommt auch ein „Bräutigamsstehlen“ vor – dann haben die Kranzeljungfern jene Zeche zu zahlen.

Nach diesem spaßhaften Intermezzo begiebt sich die Gesellschaft – es ist gewöhnlich schon späterer Nachmittag geworden – zum eigentlichen „Hochzeitsmahle“. Da pflegt es eine stattliche Tafel zu geben; am Tische sitzen obenan Bräutigam und Braut, Hochzeitsvater und Beistände, und während das Mahl eröffnet wird, ertönen draußen Böllerschüsse, die sich, sobald der Braten aufgesetzt wird, wiederholen; da das Essen und Trinken, begleitet von der fröhlichsten Stimmung, nun stundenlang dauert, so wird vom jungen Volke dazwischen tüchtig getanzt.

Dies ist der Zeitpunkt zur Aufführung eines Tanzes, der ein ganz besonderes Interesse in Anspruch nimmt, nämlich des sogenannten „Gugelhupftanzes“. Gugelhupf heißt in den deutsch-österreichischen Ländern bekanntlich jene Gattung von Gebäck, das der Norddeutsche Napfkuchen nennt. Es liegen bei den Hochzeiten „Gugelhupfe“ bereit, welche so geformt sind, daß man sie wie eine Mütze auf den Kopf setzen kann – und nun kommt der Spaß: solche Gugelhupfe werden rings mit brennenden Kerzen besetzt; die Kranzeljungfern befestigen dieselben auf dem Kopfe, und tanzen damit so lange herum – gewöhnlich wird zum Tanze der Steirische gewählt – bis die Kerzen niedergebrannt sind.

Es ist vielleicht in diesem Tanze der Rest eines jener uralten Gebräuche zu suchen, deren ja so viele in den Sitten des Landvolkes verborgen sind. Die brennenden Kerzen dürften auf einen altgermanischen Cultus der Freja (Freyja), der Liebes- und Erdgöttin hinweisen, wie denn mehrfach gelehrte Alterthumsforscher die üblichen Johannis-, Oster- und Maifeuer mit dem Cultus dieser Göttin in Verbindung gebracht oder aus demselben hergeleitet haben. Die brennenden Lichter auf den Kuchen der erwähnten Tänzerinnen bei Hochzeiten scheinen somit im Zusammenhang mit einem Feueropfer zu stehen, das dieser Göttin in der Vorzeit gebracht wurde. Auch das Gebäck selbst, welches aus den Früchten der Erde erzeugt wurde, dürfte auf die Erdgöttin Freja hindeuten. Nachdem der Tanz vorüber ist, wird der Gugelhupf wieder abgesetzt, der Wirth zerkleinert denselben, und die Stücke werden nun den Hochzeitsgästen vorgesetzt.

Was das Tanzen bei der Hochzeit anbelangt, so harrt noch eine besondere, nicht eben leichte Aufgabe des Brautführers und der Kranzeljungfer; der erstere hat nämlich dafür zu sorgen, daß er mit jeder der eingeladenen älteren Frauenspersonen ein Tänzchen mache – so erfordert es die gute alte Sitte; die „echte“ Kranzeljungfer aber hat ihrerseits alle älteren Männer hervorzusuchen, die sich unter den Eingeladenen befinden, und mit diesen zu tanzen. Noch war in früherer Zeit der „Ehrentanz“ üblich, wobei der Brautführer gegen Ende des Mahles, den geschmückten Hut auf dem Kopfe, vor den Hausvater trat und in einer langen wohlgesetzten, gereimten Rede um die Gestattung eines Ehrentanzes mit der Braut bat. Aus dieser Rede hier einige Zeilen als Probe:

„Wir hörten die Musik erklingen
Und sahen die Jungfrau Braut zur Thüre hereinspringen –
Auf dieselbe thät ich mich spitzen;
Sie wird gewiß nicht weit vom Herrn Hausvater sitzen.
So thu ich denn jetzt gar studiren;
Ich möcht sie gern auf den Ehrentanz führen,
Wenn der Herr Hausvater sie möcht erlauben, möcht ich ihm spendirn
Ein Paar Ochsen und auch einen Baum voll Birn etc.“

[159] Nachdem ihm der Ehrentanz zugesagt war, trat er denselben mit der Braut an. Das fröhliche Steiermarkvolk versteht das Tanzen.

Zum Schluß sei noch des „Bschoad-Essens“ (Bescheid-Essens) gedacht. Es herrscht nämlich in Steiermark die naive Sitte, daß sich jeder Gast einen Theil des übrig gebliebenen Essens mit nach Hause nimmt, um sich am nächsten Tage daran zu delectiren. Dieses „Bschoad-Essen“ zählt zu den originellsten Eigenthümlichkeiten der steiermärkischen Hochzeiten, deren Gebräuche, wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich, vielfache Aehnlichkeiten mit den diesbezüglichen Sitten auf schwäbischem, fränkischem und allemannischem Boden, sogar mit denen in Schlesien, Mecklenburg und in anderen nördlichen deutschen Ländern aufweisen. Nur ein Gebrauch wie das „Gugelhupftanzen“ ist dem Verfasser dieser Zeilen bisher noch nirgends anderswo begegnet.

Freilich – nicht auf allen Hochzeiten geht’s lustig und üppig her; nicht alle haben wohlbesetzte Tafeln aufzuweisen, aber gewisse althergebrachte Gebräuche werden kaum bei einer einzigen außer Acht gelassen. Die ärmere Braut ist übrigens gottlob! meistens ebenso heiter, wie die reiche, und das Volkslied läßt wohlgemuth das unbekümmerte Mädchen singen:

„A gescheckts[2] Paar Oxen
Und a schneeweißi Kuah,
Das giebt mir mein Voter,
Wann i heirathen thua.“

Anton Schlossar.     


  1. Man findet das Lied vollständig in des Verfassers Sammlung: „Deutsche Volkslieder aus Steiermark“ (Innsbruck 1881.) Es ist in vielen Theilen Steiermarks gebräuchlich.
  2. Ein scheckiges, geflecktes.




Amélie Godin.

Ein Literaturbild.


Zu den wenigen wahrhaft dichterischen Talenten unter den Erzählerinnen der Gegenwart gehört vor allem die in den Leserkreisen der „Gartenlaube“ so allgemein geschätzte Amélie Godin. Ein eingehenderes Lebens- und Charakterbild der reich begabten Frau wurde unseres Wissens ihren vielen Freunden bisher noch nicht geboten, und so dürften die nachfolgenden Mittheilungen über das Leben und Wirken derselben gerade an dieser Stelle, wo sie den Augen so vieler ihrer Verehrer begegnen werden, nicht unwillkommen sein.

Unsere Dichterin wurde als Tochter des Arztes Dr. Friedrich Speyer in Bamberg am 22. Mai 1824 geboren. Die Ehe der Eltern war eine so harmonische, daß Amélie sich nicht der leisesten Verstimmung zwischen Beiden erinnert. Der humane, liebenswürdige Charakter des Vaters, der klare Verstand und das milde Herz der Mutter, einer geborenen Baronesse von Godin, lenkten das von Haus aus gutartige Naturell des Kindes mit Leichtigkeit in ihre eigenen Bahnen und weckten ihm schon früh ein Mitempfinden menschlicher Leiden und Freuden, welches ihm unbewußt zur Seelengewohnheit wurde.

Manches nicht für das Ohr des Kindes berechnete Wort des Vaters, dessen Menschenliebe in seinem Berufe oft genug Gelegenheit fand, sich zu betätigen erregte des Kindes stilles Aufmerken und ließ es Antheil für andere Classen der Gesellschaft gewinnen, als die es um sich sah – Antheil für das Volk. Hierdurch glich sich, wie von selbst, die Vereinsamung aus, welche Amélie, da sie ohne Geschwister und ohne Schulbesuch aufwuchs, sonst der Welt, deren Erkennen in gewissem Sinne auch dem Kindesalter schon nahe tritt, leicht hätte entfremden können.

Die Kleine zeigte sich bis zum zehnten Lebensjahre still, fast apathisch, saß am liebsten mit ihrem Buche im Winkel und machte sich nicht viel aus den prächtigen Spielsachen, mit denen der Liebling des geschätzten Arztes nicht nur von Freunden und Verwandten, sondern auch von dessen Patienten überschüttet wurde. Auch zur Theilnahme an den täglichen Abendspaziergängen mußte sie stets animirt werden, obgleich die Eltern ihre eigene große Liebe zur Natur auch dem Kinde früh mittheilten. Führte sie der Weg, wie dies oft geschah, nach einem hochgelegenen Gartenhäuschen, so erbat Amélie sich stets als höchste Gunst, inzwischen auf einem kleinen, in halber Höhe des Weges gelegenen Friedhof, der längst schon nicht mehr benutzt ward, verweilen und dort umherspielen zu dürfen. Der poetische Reiz einer üppigen Vegetation zwischen alten Grabsteinen übte eine unbewußte, aber mächtige Anziehungskraft auf das empfängliche Gemüth des Mädchens. Damals gingen der etwa Achtjährigen die ersten kleinen Gedichte auf, welche von den Eltern freundlich hingenommen wurden, ohne daß sie Gewicht darauf gelegt, aber auch ohne daß sie diesen Hang zur Poesie in dem Kinde unterdrückt hätten.

Im zwölften Jahre beschenkte Amélie ihren Vater mit einem Schreibhefte, welches sie mit selbstverfaßten Gedichten jeder Form gefüllt hatte, Reimereien, über deren Pathos Eltern und Tochter später herzlich lachten. Bei diesem Hange des Kindes zur Träumerei fehlte es ihm jedoch weder an ernstlichem Unterricht, noch an fröhlichen Gespielen, deren Einfluß von Jahr zu Jahr seine Lebhaftigkeit steigerte.

Dem Hause des Vaters gegenüber befand sich die Dienstwohnung des Baurathes Panzer, dessen Frau eine Freundin der Mutter Améliens war und mit dessen Kindern die Letztere auf wuchs. Die älteste Tochter, Mathilde, nur ein Jahr älter als Amélie selbst, ward dieser zum Ideal einer schwärmerischen Freundschaft, die Jahre hindurch beiden Mädchen als das Höchste galt, was ihnen das Leben darbot. Im großen Hofe drüben wurde gespielt, gemeinschaftlich gelesen, wurden Ritterstücke aus dem Stegreif aufgeführt.

Wenn man den Spielgang der Vierjährigen in eine dem Vaterhause gegenüberliegende Mädchenschule abrechnet, hat Amélie nie eine Schule besucht. Einige Professoren des Bamberger Gymnasiums hatten sich auf die Bitte der Eltern dazu verstanden, im Speyer’schen Hause regelmäßige Privatstunden zu geben, an denen drei ältere Freundinnen Améliens Antheil nahmen und deren Programm so ziemlich Alles umfaßte, was in Instituten gelehrt zu werden pflegt. Unter den Lehrern war Professor Ruith, welcher in Geschichte und Literatur unterrichtete, der beliebteste. Ein Emigrant aus guter Familie, der sein Idiom vortrefflich sprach und lehrte, gab den französischen, eine Cousine den englischen, ein sprachkundiger junger Doctor den italienischen Unterricht. Zum Religionslehrer – Amélie ward gleich ihrer Mutter als Katholikin erzogen – hatte der dem Speyer’schen Hause befreundete Erzbischof eine geeignete Persönlichkeit empfohlen. Musik ward mit besonderer Vorliebe gepflegt und jede Gelegenheit benutzt, um, mitunter auch auswärts, Gutes zu hören. Alle diese verschiedenen Unterrichtsstunden füllten Zeit und Geist der Heranwachsenden zur Genüge; Herz und Phantasie kamen auch nicht zu kurz, und so vergingen die ersten fünfzehn Lebensjahre Améliens in so glücklichen Verhältnissen, daß sie nicht einmal eine Ahnung davon hatte, eines wie bevorzugten Ausnahmezustandes sie sich zu erfreuen hatte, sondern Gang und Gestaltung ihres Lebens als etwas ganz Selbstverständliches betrachtete. Da nahm ein Herzschlag den Vater in der Fülle seiner Kraft und seines Wirkens plötzlich hinweg, und Amélie erfuhr, was es heißt, ein Theures zu verlieren. Sie erfuhr den ersten Wechsel ihres Lebens. Ihre Mutter verkaufte bald darauf das Haus, in dem sie Alle so glücklich gelebt, und bezog mit ihrer Tochter eine Mietwohnung.

Ungefähr um dieselbe Zeit ward auch Panzer als Baurath nach München versetzt, und so verlor Amélie zugleich ihre liebste Freundin. Tröstlich wirkte eine Reise in des Vaters Heimathstadt Arolsen, wo Verwandte lebten, die das alte, seit Generationen der Familie zugehörige Vaterhaus inne hatten, welches Amélie mit den Eltern wiederholt besuchte und das ihr von Klein auf das unverrückbare, stetige Familien-Daheim repräsentirte. Von dort nach Bamberg zurückgekehrt, wurde die Musik mit neuem Eifer aufgenommen und wissenschaftlicher Uebung viel Zeit und Hingabe gewidmet; viele Gedichte entstanden damals in Heimlichkeit.

Ein Jahr später ging Améliens Mutter nach München, um Panzers zu besuchen. Kaum dort angekommen, erkrankte Amélie heftig am Typhus, und die hierdurch bedingte Verlängerung des Aufenthaltes bestimmte die Mutter, sich für die ganze Dauer des bevorstehenden Winters dort einzurichten. Dieser Winter und ein zweiter, welchen Amélie mit achtzehn Jahren als Gast des Panzer’schen Hauses in München verlebte, übte großen Einfluß auf ihre geistige Richtung, gab ihrem Sinne und Geschmacke für künstlerische Anschauung der Dinge den ersten Anstoß. Friedrich Panzer, ein [160] geistreicher, gemüthvoller, poetisch veranlagter Mann, beschäftigte sich nicht nur persönlich gern mit seiner jungen Gastfreundin, er lebte auch inmitten eines Kreises von Gelehrten, Dichtern und Künstlern, und obgleich die jungen Mädchen sich diesen Männern gegenüber bescheiden zurückhielten, konnte doch eine engere Berührung auch mit ihnen nicht ausbleiben. Graf Franz Pocci, der Dichter Kobell und andere bedeutende Männer verkehrten freundlich mit ihnen; Häuser, wie das des Geheimraths Thiersch, das Gärtner’sche, Kaulbach’sche, welche sie häufig besuchten, vereinigten Alles, was München damals an werthvollen, hervorragenden Persönlichkeiten besaß und was fremde Nationalitäten dorthin verpflanzt hatten. Als Amélie zum zweiten Male von München nach Bamberg zurückkehrte, brachte sie, wenn auch ohne sich darüber klar zu sein, einen Maßstab für Werth und Reichthum des Lebens mit. Die gute Musik, welche sie in der Residenz gehört, der Unterricht, welcher ihre eigenen Gesangstudien dort gefördert, ließ in ihr den Wunsch zurück, damit noch weiter zu kommen, was unter der Leitung des trefflichen Musikers Grenzebach, der damals in Bamberg Capellmeister war, erreicht wurde. Grenzebach war nun der Ansicht, daß seine Schülerin ihre Stimme für die Bühne ausbilden lassen müsse, und er ließ es an lebhaftem Zureden nicht fehlen; doch hatten weder Mutter noch Tochter Neigung zu solcher Berufswahl. Dagegen erfüllten sie gern den Wunsch des von ihnen persönlich sehr geschätzten Künstlers, daß Amélie in Concerten für mildthätige Zwecke oder in solchen berühmter Virtuosen, deren er manche bei ihnen einführte, Solopartien vortragen möge. Reizvolle musikalische Hausabende fallen in die Erinnerungen dieses Winters. Im darauffolgenden Sommer wurden Mutter und Tochter durch Verwandte bewogen, mit diesen eine Rheinfahrt zu unternehmen, und auf dieser Reise geschah es, daß Amélie den Ingenieur-Lieutenant Franz Linz kennen lernte – ein entscheidender Moment im Leben unserer Dichterin; denn im folgenden Frühjahr schon führte dieser sie als seine Gattin nach Coblenz. Wie sich seit ihrer frühen Kindheit alles sie innerlich Bewegende ihr stets zur Strophe gestaltet hatte, so entstand unter der Feder der jungen Frau in diesem Jahre Gedicht auf Gedicht, ohne je vor andere Augen zu kommen, als die es persönlich anging.

Während der folgenden Jahre wurzelte Améliens höchstes Lebensinteresse, nächst der eigenen Häuslichkeit, fortdauernd in der Musik, welcher auch Linz leidenschaftlich anhing. Beide Gatten nahmen an einem in schöner Blüthe stehenden musikalischen Verein thätigen Antheil, in Coblenz sowohl wie in Mainz, wohin, nach einer Zwischenstation in der Grenzfestung Saarlouis, Franz Linz 1850 versetzt worden.

In Mainz wurde ein nervöses Leiden, welches sich bei Amélie einstellte, ihr Veranlassung, dem Gebot des Arztes gemäß einen ganzen Sommer auf dem Lande zuzubringen. In Begleitung ihrer Mutter und ihrer drei Kinder, deren ältestes damals sechs Jahr alt war, zog Amélie in den Rheingau nach dem anmuthig gelegenen Oertchen Walluf. Da ihr Handarbeit, Lectüre und Musik zunächst verboten waren und sie ganz und gar nur mit den Kindern lebte, so kam sie auf den Einfall, Märchen auszudenken und niederzuschreiben, welche sich auf der Kinder Eigenart richteten, ihre kleinen Mängel und Unarten mit heiterer Ironie geißeln und ihnen dagegen das Ideale in kindlicher Form nahe rücken sollten. Der Versuch glückte; die Märchen wirkten und gingen den Kindern so in Fleisch und Blut über, daß sie gewisse Bezeichnungen und Namen daraus als stehende Redensarten in ihren „Kinderjargon“ aufnahmen. Um diese Zeit besuchte Amélie ein Onkel, der Buchhändler Speyer aus Arolsen; die Redensarten der Kinder fielen ihm auf, er ersuchte um Aufschluß, erbat sich die Märchenhefte und gab sie, nachdem er ihren Werth erkannt, nicht wieder zurück, sondern stellte der Verfasserin vor, sie müßten gedruckt werden. Amélien war diese Idee nie gekommen, doch gab sie ihrem Onkel freie Hand unter der Bedingung, auf dem Titelblatte nicht genannt zu werden. Fünf Verleger sandten ihm das Manuscript zurück; der sechste, Rudolf Chelius in Stuttgart, behielt es, zahlte ein hübsches Honorar und stattete die „Märchen, von einer Mutter erdacht“, gut aus. Als nach ein und einem halben Jahre die zweite Auflage gedruckt ward, bat der Verleger um die Wahl eines beliebigen Autornamens, „der Kataloge wegen“, wie er schrieb, und Frau Linz wählte den Familiennamen ihrer Mutter – Godin – welcher seither ihr Autorname geblieben.

Der unverhoffte Erfolg weckte die Lust, sich auch in der Novelle zu versuchen. Verschiedene Zeitschriften brachten Godin’sche Erzählungen. Dann erschien im Jahre 1862 Améliens erster Roman: „Eine Katastrophe und ihre Folgen“ (Breslau, Trewendt). Bis dahin war es der Dichterin geglückt, die persönliche Anonymität so fest zu halten, daß außer ihrem Gatten und ihrer Mutter Niemand von ihrer Thätigkeit erfuhr. Wie ihr Geheimniß bald nach Erscheinen dieses Buches unter die Leute kam, ist wohl schwer festzustellen, doch so viel steht fest: es ist gerade durch diesen ihren ersten Roman der richtige Name der Verfasserin bekannt geworden.

Die lebhafte Phantasie unserer Autorin schloß bei Abfassung ihrer Märchen einen wohlthuenden Bund mit den Eingebungen eines reichen Herzenslebens und wurde zugleich durch die in’s Auge gefaßten pädagogischen Ziele zwanglos in bestimmte Grenzen verwiesen. Rückblicke in die eigene glücklich verlebte Jugendzeit und ernste, hingebende Beobachtung ihrer sie umspielenden jugendlichen Genossen boten ihr geeignete Stoffe in unerschöpflicher Fülle, und ihr in das räthselhaft tiefe Leben und Streben der Kinderwelt ganz aufgehendes Sein und Empfinden ließ sie auch den für ihre Stoffe und für den Verkehr mit Kindern richtigen Ton mit Leichtigkeit treffen.

Aber diesen Erinnerungen einer frohen Jugend schlossen sich solche ernsterer, späterer Jahre an. Beim Beobachten ihrer Kinder streifte der Blick Améliens nicht selten an ihnen vorüber, und wie das Leben der Kinder selbst, so bot auch die Umgebung derselben mannigfache Reize, viele und tiefe Räthsel. Die vielgestaltigen Erscheinungen des Lebens zu erfassen, die Räthsel desselben zu lösen, das Erkannte sich dauernd zu eigen zu machen und zu lebensvollen Bildern auf’s Neue zu gestalten, wurde das Streben des in der jungen Schriftstellerin sich zu immer höherem Fluge entfaltenden Dichtergeistes.

Ihr ernstes Mühen nach Erweiterung ihres Gesichtskreises offenbart sich in den Erzählungen: „An der reißenden Wand“ (1850), „St. Maximin“ (1860), „Arnold Nobeling“ (1860), „Das Leben einer Frau“ (1861); es läßt sich auch in ihrem ersten größeren Werke, dem oben erwähnten Roman „Eine Katastrophe und ihre Folgen“ nicht verkennen. Während aber die Verfasserin in den ersten Erzählungen ihrer Selbstständigkeit noch wenig vertraut und deshalb zumeist an geschichtliche Thatsachen sich anlehnt, ist die „Katastrophe“ durchaus ein Product freier, eigener Erfindung, und während in den geschichtlichen Bearbeitungen die individuellen Anschauungen der Verfasserin durch den Zwang des Ueberlieferten fast gänzlich unterdrückt werden, gelangen in diesem Romane gerade die letzteren zur Geltung, wovon auch schon das demselben als Motto vorangestellte Wort Otto Ludwig’s Zeugniß ablegt: „Was die Menschen Glück und Unglück nennen, ist nur der rohe Stoff dazu; am Menschen liegt’s, wozu er ihn formt“.

Die Gatten hatten inzwischen den Rhein mit dem Norden vertauscht; sie lebten seit 1857 in Stettin und einige Jahre in Stralsund. Dieser stete Wechsel von Land und Leuten erweiterte die geistigen Gesichtspunkte unserer Dichterin; er vermehrte ihre Kenntniß von Welt und Menschen, Sitten und Anschauungen in rapider Weise, aber die mehr und mehr heranwachsenden Kinder, deren Erziehung bei dem Uebermaß dienstlicher Beschäftigung des Vaters zum größeren Theile der Mutter zufiel, sowie gesellschaftliche Verpflichtungen, die sich von der Stellung des Gatten nicht trennen ließen, nahmen die Zeit der gewissenhaften Frau so sehr in Anspruch, daß für Musik und Poesie nur vereinzelte, aber um so höher geschätzte Stunden übrig blieben. Ein paar neue Märchenbücher, einige Novellen entstanden in ziemlich großen Pausen, und manches Anregende mußte still bei Seite gelegt werden. So interessirte sich Frau Amélie von jeher lebhaft für Volkssagen und hatte nie die Gelegenheiten versäumt, denselben bei alten Mütterchen auf dem Lande und in alten Chroniken nachzuspüren. Besonders viel Anregendes dieses Schlages fand sich in Stralsund, was die Chronik, und auf der Insel Rügen, was die Sage betraf. Dort, wo Frau Linz oft verweilte, sammelte sie Vieles aus dem Munde der Fischer, Lootsen etc., die, wenn ihr anfängliches Zurückhalten überwunden ist, sich bekanntlich leichter und ausgiebiger äußern, als unser süddeutsches Landvolk. Das so Gesammelte zu vereinigen, fehlte es ihr aber an Zeit und Concentrirung; es wurde daher wieder einzeln ausgestreut. Was der Dichterin indeß aus jenen Tagen übrig blieb, war neugestärktes Interesse für das Leben und Regen des überall so charakteristischen Volkes.

Schwere Sorgen zogen vom Jahre 1865 an einen Strich

[161]

Amélie Godin.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

durch manche Interessen und Bestrebungen unserer Autorin. Der Oberst Linz, bis dahin ein Bild von Kraft und Gesundheit, hatte in Folge von Ueberanstrengung während des dänischen Krieges bei der ihm obliegenden Winter-Armirung Stralsunds und Rügens zu kränkeln begonnen, und es entwickelte sich ein schweres Leiden, das sein Ausscheiden von der Armee vor Ausbruch des Krieges 1866 nothwendig machte. Die Gatten zogen daher, die beiden ältesten Söhne in Rücksicht auf deren Zukunft zurücklassend, mit dem jüngsten Knaben nach Trier und ließen sich dort häuslich nieder. Was bisher eine Würze des Lebens gewesen, mußte jetzt dazu beitragen, den Herd zu wärmen, und so arbeitete Frau Amélie in diesen Jahren mehr mit der Feder, als bis dahin geschehen, während der Musik, welche sich nicht mehr mit dem Zustande des häuslichen Lebens vertrug, ein für alle Mal Valet gesagt wurde.

Manche literarische Verbindung knüpfte sich brieflich an, unter Anderem die mit der vortrefflichen Zeitschrift „Cornelia“, welche, nach den eigenen Worten der Frau Linz, „zu den wenigen der ihr bekannten Blätter gehört, die wirklich warm pulsirendes Familien- und Volksleben wiederspiegeln.“ Durch die „Gartenlaube“, welche einige ihrer Erzählungen brachte, wurde der Name Godin bekannter, und 1870 erschien der zweibändige Roman „Wally“ – zu verhängnißvoller Zeit; denn gerade in jenen Monaten traf die vielgeprüfte Frau ein schmerzlicher Schlag: noch ehe der Roman im Druck vorlag, hatte der Tod den Obersten Linz von sechsjährigem, schweren Leiden erlöst, vierzehn Tage vor Ausbruch des Krieges, welchen einer der Söhne als Freiwilliger bei dem hart geprüften 40. Regiment mitmachte. Man war in Trier dem Kriegsschauplatze der heißen Kämpfe so nahe, daß sich die Stadt bald mit Lazarethen füllte, die, vierzehn an der Zahl, Tausende von Verwundeten bargen. Jede Frau, jedes Mädchen, wenn nicht durch unmittelbare Pflicht an das eigene Haus gebunden, stellte sich zur Disposition der Krankenpflege, und diese Thätigkeit war es auch, die Frau Amélie über die eigenen Schmerzen und Sorgen hinweg half. Doch erkrankte sie selbst – wohl eine Folge der vielfachen jüngsten Aufregungen – im Laufe des Winters so schwer, daß sie Monate lang an das Bett gefesselt blieb.

Wie in der „Katastrophe“, so hält die Verfasserin auch in „Wally“ daran fest, daß das Schicksal des Menschen meistens vom Menschen selbst abhängig ist; während sie aber in der „Katastrophe“ diesen Satz gewissermaßen zum Gesetz erhebt, gesteht sie, der Wirklichkeit entsprechend, in „Wally“ zu, daß auch äußere, nicht in der Gewalt des Einzelnen liegende Umstände und Consequenzen [162] von Einfluß auf die Gestaltung des Menschenlebens sind. „Sein Schicksal bildet sich der Mensch, und seinen Menschen bildet sich das Schicksal. So umarmen sich denn doch Freiheit und Nothwendigkeit.“ Dieses Wort Sailer’s ist der Grundgedanke „Wally’s“.

Nachdem Friede geworden, Frau Améliens Sohn gesund und heil aus dem Kriege heimgekehrt, und auch der älteste Sohn aus dem Norden in ihre Nähe gekommen war, faßte sie wieder Muth zu literarischer Arbeit. In diese Zeit fällt der Beginn einer Beziehung, welche ihr im Laufe der Jahre ebenso theuer wie wichtig werden sollte: Sie ward aufgefordert, für den von Paul Heyse und Hermann Kurz herausgegebenen „Novellenschatz des Auslandes“ eine Feuillet’sche Novelle zu übersetzen. Die mit dem leider allzu früh verstorbenen Kurz begonnene Correspondenz führte zu brieflichem Gedankenaustausche mit Heyse, welchem alsbald die persönliche Bekanntschaft folgen sollte.

Der Gedanke der Dichterin, in ihre baierische Heimath zurückzukehren, war nur deshalb bis jetzt nicht zur Ausführung gekommen, weil es ihrer bejahrten Schwiegermutter Wunsch war, sie in ihrer Nähe zu behalten. Nach deren Tode aber (1873) löste Amélie ihren Hausstand in Trier auf und siedelte nach München über.

„Hier erst lernte ich,“ schreibt sie in einem Briefe an den Unterzeichneten, „im ernsten Sinne des Wortes arbeiten, jeden Plan reiflich durchdenken und an die Ausführung so viel Fleiß und Kraft setzen, wie mir überhaupt erreichbar. Der mich dies lehrte, ist Paul Heyse, welcher selbst, längst auf der Höhe literarischen Ruhmes, mit eisernem Fleiße nicht nachläßt.“

Ein werthvoller Freundeskreis, zu dem nächst der Heyse’schen Familie Hermann Lingg – früher, bis zu dessen Tode, auch Graf Franz Pocci – zählt, schließt sich dem Kreise herzlicher Verwandten und Jugendfreunde an und füllt Frau Godin’s von der großen Welt ganz zurückgezogenes Leben mit reichen Gaben. Das oft citirte Wort Goethe’s: „Was man in der Jugend sich wünscht“ etc., ist der Dichterin zur Wahrheit geworden; denn die Lebensluft umgiebt sie, in welcher zu athmen ihr natürlich ist.

Während ihres Aufenthaltes in München kamen zur Ausgabe: Gesammelte Novellen in fünf Bänden unter dem Titel: „Frauen-Liebe und -Leben“ (Leipzig, Günther, 1876) und ein fernerer Novellenband: „Sturm und Frieden“, welchem im Laufe der nächsten Zeit zwei weitere, bereits druckfertige Bände folgen sollen. Eine Sammlung deutscher und ausländischer Märchen, welche die Dichterin vor fünf oder sechs Jahren auf besonderen Wunsch des Verlagsbuchhändlers Karl Flemming in Glogau und mit großer Vorliebe unternahm, hat inzwischen einen bedeutenden Erfolg gehabt. Ihre alte Liebhaberei zu echten Volkssagen und Märchen aber ließ sie russische und polnische Steppenmärchen sammeln und herausgeben, die das Volksleben dieser Länder treu wiederspiegeln.

Alles jedoch, was entstand, erlitt große Unterbrechungen; denn schwerer Verlust an persönlichem Glück und Besitz blieb der Dichterin auch in München nicht erspart. Vor zwei Jahren schied ihr jüngster Sohn mit vierundzwanzig Jahren in voller Blüthe und hoher geistiger Begabung aus dem Leben. Vor Kurzem aber verlor sie nach langer Leidenszeit ihre Mutter, mit welcher zusammen sie alle Freude und alles Leid bisher getragen, da sie fast nie getrennt waren. In Zeiten so schweren Schmerzens will selbst der Segen der Arbeit nicht frommen; es heißt, sich in Geduld fassen, bis die Seele ihr Gleichgewicht wieder gefunden. Aber während ihr viel verloren ging, ist der Geprüften in zwei tüchtigen Söhnen, die beide bereits ihr Haus gegründet haben, auch viel geblieben.

Wie bei den Romanen Amélie Godin’s die Einfachheit in Schürzung und Lösung der Handlung und die künstlerische Schönheit in Ausdruck und Darstellung, so verdienen auch – um dies schließlich nicht unerwähnt zu lassen – die wohllautenden Reime und gutgebildeten Verse der 1864 bei Herosé in Wittenberg erschienenen Dichtung: „Der Magdborn. Eine Sage aus dem Rheinlande“, alle Anerkennung. „Der Stoff ist dichterisch erfaßt,“ sagt Kurz über dieses Werk, „und mit großer Zartheit dargestellt. Die Anordnung ist geschickt; die Begebenheiten entwickeln sich ungesucht, und die Charaktere sind mit großer Sicherheit gezeichnet.“

So ist denn der Blick auf das literarische Schaffen Amélie Godin’s ein nach allen Seiten hin erfreulicher. Was aber an allen Schöpfungen der hochbegabten Frau das Herz des Lesers mit so wohlthuender Macht gefangen nimmt, das ist der Hauch wahrer Herzenswärme und ungekünstelter Poesie, der in ihnen allen weht. Man kann von dem geistigen Bilde der edlen Frau nur mit dem Wunsche scheiden, der frische Schaffensquell, der in der allgeliebten Dichterin noch immer lebendig ist, möge sein reines Geisteswasser noch lange springen und sprudeln lassen zur Freude und Labung derer, die heute, in einer wenig poesiefreundlichen Zeit, noch Freude haben an den Gebilden echter Poesie.[1]
Dietrich Theden.     


  1. Wir benutzen diese Gelegenheit, um auf die in Kürze erfolgende Buchausgabe von „Mutter und Sohn“ (Leipzig, Ernst Keil) hinzuweisen. Die fesselnde Erzählung A. Godin’s, welche in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1881) eine beifällige Aufnahme gefunden, wird der geistvollen Verfasserin gewiß auch in dieser Form manchen neuen Freund erwerben und sei hiermit der allgemeinen Beachtung bestens empfohlen.
    D. Red.     




Ketten und Verkettungen.

Novellette von B. Oulot.

Sclaven sind wir, angeschmiedete, gefesselte, eiserne Halsbandträger – glauben Sie mir! Die Ketten halten uns allenthalben fest, uns sanft umschlingend oder uns schmerzlich drückend, unsichtbar oder sichtbar; wir tragen sie mit Geduld, oder wir küssen sie mit Wonne. Wir sind Sclaven allzumal, absolute Sclaven, ja, ich kann Ihnen versichern, daß Sie trotz der von Marquis Posa begehrten „Gedankenfreiheit“ nicht einmal denken können, was Sie wollen, sondern sogar mit ihrem originellsten Einfalle dem Zwange der Ideenverkettung unbewußt folgen müssen. Aergert Sie das? Mich nicht. Ich gehöre überhaupt nicht zu den Kettenraßlern, sondern zu den Fesselanbetern, und habe damit – seien Sie überzeugt! – das bessere Theil erwählt.

Sehen Sie, da sich alles auf dieser Welt verkettet, so muß man sich entweder über alles oder über gar nichts ärgern; denn das Einzelne ist nur Kettenglied. Da man nun aber nicht so ein Universaltruthahn sein kann, um die Welt mit unaufhörlicher Wuth zu betrachten, so muß man logischer Weise auch die Einzelheiten des Lebens in ihrer Eigenschaft als Kettenglieder mit Geduld hinnehmen. Das ist doch eine liebenswürdige Philosophie –

„Herr Oberlieutenant –“

„Kreuzdonnerwetter, habe ich Dir nicht verboten, mich im Schreiben zu unterbrechen?“

„Es hat Jemand diesen Brief gebracht, Herr Oberlieutenant.“

„Schon gut! Lege ihn hier her und störe mich unter keiner Bedingung wieder!“

Ist das nicht zum Todtärgern? Da hat man eine wichtige Abhandlung in der Arbeit, ist über seinen Schreibebogen gebeugt, das sinnende Haupt in die linke Hand gestützt, und verfolgt den Faden seiner Ideen – wenn man überhaupt Ideen hat – und herein tritt so eine platte Dienerphysiognomie – nein, ich drücke mich falsch aus, Physiognomien können nicht treten – ich wollte sagen: herein tritt so ein unwissender Wachtmeister und zerreißt jenen Faden mit einem schnarrenden „Herr Oberlieutenant“ und mit der Uebergabe eines unnützen Briefes. Ich sehe es ihm von weitem an, diesem Briefe, er ist von meinem Schneider und interessirt mich nicht; auch lasse ich ihn einstweilen ungelesen und nehme meine Arbeit wieder auf.

Diese Arbeit ist nämlich, wie Sie eingangs bemerkt haben werden, ein Capitel über die Verkettung der Dinge – ein ungeheures Thema.

Ich bin einfach daran, ein philosophisches Werk zu verfassen. Daß ich Oberlieutenant bin, ist doch kein Hinderniß; im Gegentheil. Herr von Hartmann, der die „Philosophie des Unbewußten“ geschrieben hat, war auch beim Militär, und das hat mich eben auf die Idee gebracht. Außerdem habe ich ja den Dienst quittirt. Da ich kürzlich durch den Tod meines Onkels in den Besitz eines Gütchens gelangt bin, habe ich die Cavallerie verlassen, um mich ganz der Oekonomie zu widmen, von welcher ich nichts verstehe, und befasse mich in Folge dessen mit der Schriftstellerei.

Was könnte ich wohl in den Mußestunden meiner Landeinsamkeit [163] Besseres beginnen, als ein epochemachendes Buch zu schreiben? Vielleicht trägt es mir nebst Ruhm noch die Mittel ein, auf den faden Schneiderbrief dort eine erquickliche Antwort geben zu können; denn aufrichtig gestanden, das Gut trägt soviel wie nichts, und die Oberlieutenantspension ist doch kein anständiges Einkommen.

Nun bin ich aber durch die bekannte Verkettung von Ideen von meinem Thema abgekommen, und es wird mich Mühe kosten, meine Gedanken wieder zu sammeln, um sie auf das Capitel der Ketten zurückzubringen.

Das Einfachste wäre, ich ließe für heute meine metaphysischen Betrachtungen ruhen – Herr von Hartmann hat sein melancholisches System auch nicht in vierundzwanzig Stunden fertig gebracht, – sehen wir also zu, wie sich mein achtbarer Schneider ausdrückt. So ein geschlossener Brief übt eine eigene Anziehungskraft aus; er will durchaus erbrochen werden.

O, Ueberraschung! – Das Schreiben ist nicht von dem Bewußten!

„Schloß Dürrstein. 15. September. 

Frau Katharina Meier giebt sich die Ehre, Herrn Baron Ritterglas für den Abend des 17. dieses zu der Verlobungsfeier ihrer Tochter Elsbeth mit Herrn Commerzienrath Schwanberg höflichst einzuladen.“

Höchst sonderbare Einladung! Frau Meier ist, wenn ich nicht irre, die steinreiche Zuckerfabrikanten-Wittwe, welche unlängst die Nachbarherrschaft Dürrstein angekauft hat. Aber ich habe dort niemals einen Besuch gemacht; ich wußte gar nicht, daß es eine Elsbeth Meier giebt, und nun verlobt sich das holde Zuckerkind; wünsche herzlich Glück dazu.

Ich werde der Einladung natürlich Folge leisten und morgen anstandshalber eine Visite in Dürrstein abstatten.

Eine Verlobung! Welch eine Kette von Bildern ruft dieses Wort in der Seele wach! Zwei Wesen, die sich geloben Eins zu werden – was muß da alles vorausgegangen sein, ehe sich die beiden Herzen fanden! Ich sollte eigentlich auch heirathen. Ich bin dreißig Jahre alt, von altem Adel, von nicht unangenehmem Aeußeren.

Gott verzeih’ mir, ich bin ja in den Stil einer Heirathsannonce verfallen – und – eine Idee – warum nicht? – Noch einmal frage ich: warum nicht? Cela n’engage à rien, und das Spielen mit dem Zufall ist ein reizendes Vergnügen. – Also denn, zur Stunde eine Annonce verfaßt und an ein Inseratenbureau expedirt:

„Heirathsgesuch.

Ein junger Mann, dreißig Jahre alt, von altem Adel, von nicht unangenehmem Aeußeren –“

Nein, das klingt zu banal; darauf antwortet kein geistvolles Wesen. Ueberschreiben wir die Annonce:

„Spiele des Zufalls.

In Ballsälen, Meerbädern, an Straßenecken und auf Landpartien finden sich durch die Verkettungen des Zufalls oft zwei Herzen, warum nicht auch in Zeitungsspalten? Ein junger Mann, welcher Titel, Gemüth und Verstand besitzt und sich eine Frau wünscht, welche ihrerseits Jugend, Schönheit, Vermögen und Geist zu bieten hätte, nimmt durch diese Zeilen einen Antheilschein an der großen Glückslotterie des Lebens. – Briefe unter der Aufschrift: ‚Cela n’engage à rien‘, an die Annoncenexpedition von Gottlieb Müller.“

„Bohuslav!“ (Der Mensch ist ein Pole.)

„Herr Oberlieutenant?“

„Trage diesen Brief zum Postmeister und bringe mir eine Empfangsbescheinigung darüber!“

„Zu Befehl, Herr Oberlieutenant!“

„Wie oft soll ich Dir noch sagen, daß Du mich Herr Baron und nicht Oberlieutenant zu nennen hast; ich bin nicht mehr Officier, sondern Gutsbesitzer.“

„Sehr wohl, Herr Ober – Herr Baron.“

„Bohuslav!“

„Befehlen, Herr Baron?“

„Hast Du die Herrschaften von Schloß Dürrstein gesehen?“

„Ja, Herr Oberlieutenant; – es ist ein wunderschönes Fräulein dort.“

„So? – Also jetzt gehe schnell zur Post!“

Der Brief wäre denn expedirt, und für die nächste Zeit steht mir viel Abwechslung bevor. Der Nachbarbesuch, die Verlobungssoirée, die Antwortschreiben auf meine Annonce, aus welchen sich dann weitere Correspondenzen entspinnen werden. – Ich fürchte, alle diese Zerstreuungen werden mich von der Abfassung meines Buches etwas ablenken.

Sie glauben gar nicht, welch eine Vertiefung, welch eine Concentrirung der Gedanken erforderlich ist, um ein Buch zu schreiben. Ich habe mir das gar nicht so vorgestellt. Dieses ist nämlich mein erster Versuch.

Vorläufig habe ich also meine Ansichten über Verkettungen hier niederschreiben wollen; denn diese sollen die Grundlage meines philosophischen Systems bilden – und um meine Ideen recht ungezwungen zu Papier zu bringen (ich habe mir ein ganzes Ries gekauft), denke ich mir einen geduldigen Lauscher, den ich höflich mit „Sie“ anrede.

Was ich Ihnen da sage, mein Lieber, ist eben nur der noch ungeordnete, planlose Ausdruck meiner sich kreuzenden Gedanken und soll das Material, als Notizenvorrath für mein eigentliches Werk dienen. – Ueberall, sowohl in der ideellen, wie in der materiellen Welt das Princip der Verkettung nachzuweisen, habe ich mir als Aufgabe gestellt. – Eine kolossale Idee! Wie? Darwin hat eigentlich etwas Aehnliches versucht, indem er den ineinandergreifenden Entwickelungsgang der Organismen demonstrirt hat, aber ich möchte diese Grundanschauung noch von anderen Seiten beleuchten, nach allen Richtungen: In der Entstehung der Welt vom Atom bis zum Sonnensystem, in der Geschichte der Menschen von Adam bis zu meinem Diener Bohuslav.

Er sagte, das Nachbarfräulein sei wunderschön. Warum habe ich das nicht früher gewußt?!

Eines beunruhigt mich ein wenig bei dieser Arbeit, nämlich, daß sich meine Gedanken gar nicht in ordentlicher Kette an einander reihen, sondern umherspringen wie die jungen Heuschrecken. Wenn also mein Werk gelingt, so werden wir es die „Philosophie der Heuschrecken“ nennen – aber das nur im Vertrauen, unter uns! Auf dem Büchermarkt soll es den Titel „Theorie der Verkettungen“ führen.

*  *  *

Mit meinem Ries Papier werde ich lange auskommen. Jetzt nehme ich erst das zweite Blatt in Angriff und habe nach Abschluß des ersten sechs müßige Tage vorüber gehen lassen. Sie glauben vielleicht, es sei Mangel an Consequenz, und daß ich zu jenen Menschen gehöre, welche allerlei beginnen, aber nichts zu Ende führen? Diesen Vorwurf will ich nicht verdienen, und so sitze ich wieder da, in meine Aufgabe vertieft. Ich fahre also in meinem Thema fort, und in der That, bei den Freiheitsbestrebungen unserer Zeit ist es interessant auf die Ketten hinzuweisen, die noch allenthalben die Fortschrittsbewegung hemmen – und andererseits ließe sich auch der Beweis aufstellen, daß so manche Fesseln eine wohlthätige Existenzbedingung sind.

Was ist Anstand, Sitte, Gesetz, wenn nicht Fesseln? Gäbe es diese nicht, so hätte ich neulich zu Fräulein Elsbeth gesagt:

„Prächtiges Mädchen, komme zu mir und lasse Deinen Schwanberg!“

Sie ist wirklich eine blendende Erscheinung. Wie eine Judith sieht sie aus: düster, entschlossen, gluthenbergend – es muß eine süße Kette sein, wenn sie, die nachtschwarzen Flechten lösend, deren seidene, duftende Ringe um den Hals des Geliebten schlingt.

Sie saß mir beim Verlobungsdiner gegenüber, und öfters ruhte ihr dunkles Auge auf mir; da durchzuckte mich der Gedanke:

„Ach, hätte ich Dich früher gekannt!“

Der Bräutigam ist ein gesetzter Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren, also um zwanzig Jahre älter als Elsbeth. Bis auf den Besitz einiger Millionen dünkt er mir ziemlich gewöhnlich. Die ganze Heirath ist offenbar eine von Mama Meier arrangirte Convenienzehe.

Ich begreife das stolze, energisch aussehende Mädchen nicht; wie konnte sie die lieblose, berechnende Wahl treffen?

Aber die ganze Gesellschaft geht mich ja gar nichts an. Zu der im December stattfindenden Hochzeit bin ich auch schon eingeladen. Die Mama war zuckersüß mit mir und scheint vor der Familie Derer von Ritterglas einen enormen Respect zu haben. Dies gewahrend, habe ich mir sehr feudale Airs gegeben und ihr [164] allerlei Legenden aus dem glorreichen Leben und von den glänzenden Alliancen der einstigen Rittergläser erzählt.

„Und Sie sind der Letzte Ihres Stammes?“ fragte Frau Meier gerührt.

„Ja, meine Gnädige, mit mir erlischt das Haus.“

„Wie traurig!“ seufzte sie.

„Ja,“ fuhr ich fort; „an meinem Sarge wird das alte Wappenschild gebrochen; das Schwert meiner Väter sinkt mit mir in’s Grab, und der Ruhm ihrer Thaten lebt dann nur noch in den Annalen der Geschichte fort.“ Frau Meier war nahe daran zu weinen, und so setzte ich tröstend hinzu: „Das heißt, meine Gnädige, wenn ich nicht ein paar Buben hinterlasse.“

Wenn sie wüßte, die gute Frau, daß ich gar nicht so aristokratisch gesinnt bin, und daß es mein höchster Ehrgeiz ist, nicht meinen Namen in Schlachtenchroniken und in den genealogischen Bäumen anderer erlauchter Häuser zu lesen, sondern einst im Conversationslexikon folgenden Passus nachschlagen zu können:

„Ritterglas, Emil Freiherr von, Philosoph, geboren den 15. October 1849. Verfasser von dem umfangreichen Werke ,Theorie der Verkettungen‘, welches den Grund zu einer neuen Schule legte. Biographien und Literatur siehe: Johannes Scherr, ,Kritik der neuesten Philosophie‘, L. Büchner, ,Vorlesungen über den Ritterglasismus‘. Leipzig 1885 etc.“

„Was bringst Du, Bohuslav?“

„Herr Oberlieutenant, die Post!“

Richtig, es ist die Post. Das ist immer ein angenehmes Gefühl, besonders wenn so Vielerlei da ist. Sehen wir eins nach dem andern an; die Zeitungen: „Leipziger Illustrirte“, „Schaarschmidt’s philosophische Monatshefte“, „Gartenlaube“, „Landwirthschaftliche Zeitung“! Eine wahre Wonne! – Und jetzt die Briefe: dieser ist wirklich von meinem Schneider; ein anderer von meiner alten Tante, der ich zum Namenstage gratulirt habe, Beides nicht interessant. Und dieses Paket? O Entzücken – von Gottlieb Müller’s „Annoncenexpedition“ – lauter Briefe, ein, zwei, drei – – siebenundzwanzig! Sämmtlich mit der Aufschrift: „Cela n’engage à rien.

Lebe einstweilen wohl, Philosophie! Ich habe wahrhaftig nicht Muße, weiter zu arbeiten. Jetzt stürze ich mich in die Lesefluth.

*  *  *

Von all den siebenundzwanzig Briefen hat nur einer Eindruck auf mich gemacht, und ich übertrage dessen Inhalt auf meine Notizblätter, weil von Ketten und Verkettungen darin die Rede ist. In eleganter amerikanischer Handschrift, correct und kühn hebt sich dieses Schreiben von seinen meist unorthographischen, fliegenfüßigen, nichtssagenden Gefährten ab.

„Abseits von der staubigen, einförmigen Lebensstraße,“ so lautet es, „die vor und hinter mir liegt, sehe ich einen geheimnißvollen Laubgang, der Gott weiß wohin führt – ob zu Abgründen, ob zu Rosenhainen, wie soll man’s sagen, da die Inschrift des Weisers einfach ‚Zufallsscheibe‘ lautet, und die ‚Verkettungen des Zufalls‘ bekanntlich in’s Unendliche gehen. In diesen Laubgang thue ich einen Schritt, vielleicht zwei – weit werde ich mich gewiß nicht wagen, aber es ist ein eigener Zauber um alles Ungewöhnliche, Undefinirte und – darüber sind wir ja von vornherein einig: cela n’engage à rien. Was den Reiz dieses Schrittes erhöht, ist, daß ich das Gefühl eines Gefangenen habe, der auf eine Stunde seine Ketten abwirft und frei umherläuft; denn ich bin rings von unzähligen Fesseln der Convenienz, der Erziehung, der Stellung festgehalten. Ich bin nicht frei, in keinerlei Bedeutung dieses Wortes, und darum freut mich der unerhörte Ausflug doppelt. Ich bin auch nicht glücklich. Aber ich will ja hier nichts von meiner Lebensgeschichte erzählen. Da ich den Schritt vom Wege wage, so hülle ich mich dabei in dichte Schleier. Der Empfänger dieser Zeilen soll ja jetzt nicht – und hoffentlich nie – erfahren, wer die Schreiberin sei. Das soll nur so eine flüchtige Begegnung von Seele zu Seele werden. Aus der Antwort auf diesen Brief werde ich überhaupt erst sehen, ob ich es mit einer Seele zu thun habe. – Adresse: A. Z. poste rasante, Wien.“

Der Brief entzückt mich. Er macht mir einen Eindruck, wie eine schwarzseidene Maske, hinter welcher Feueraugen und Perlenzähne blitzen. Aus diesen Augen blitzt der seltene Funke „Geist“. Meine Phantasie ist gleich Feuer und Flamme. In den Laubgang, wo meine Unbekannte nur einen Schritt vom Wege machen will, folge ich ihr gerne, und sie sagt es selbst: die Verkettungen führen bis in’s Unendliche; vielleicht führen sie uns beide bis – wie nannte sie’s – bis zu Rosenhainen oder weiter noch, zu Liebeshimmeln.

„Bohuslav!“

„Herr Baron?“

„Ein Glas kaltes Wasser!“

So – und jetzt ist es Zeit, wieder ernstlich zu arbeiten. Lassen wir die ganze Annoncenschreiberei bei Seite!

(Fortsetzung folgt.)




Die deutsche Doppelwacht.[1]
(Als Antwort auf Skobeleff’s Brandrede.)
Motto: 

Oesterreich und deutsches Reich,0 0
Zwei Seelen und Ein Gedanke! 
Deutsches Reich und Oesterreich,     
Zwei Herzen und Ein Schlag!  0


Vom Kölner Dom zum Stephans-Thurm
Welch feierliches Rauschen!
Sind’s Geisterstimmen, die im Sturm
Heilige Eide tauschen?
Vorüber ist der alte Zwist;
Geeint sind wir auf’s Neue;
Es scheitert fremde Macht und List
An uns’rer Brudertreue.
  Treu halten wir im Vereine,
  Die Schwerter bereit zur Schlacht,
  Wir an dem grünen Rheine,
  Ihr an der blauen Donau Wacht!

Wir sind entsprossen Einem Blut,
Und Einer Sitte Fahnen
Sind anvertrauet uns’rer Hut
Von unsern deutschen Ahnen.
Vier Augen weih’n mit ihrem Blitz
Die Schwerter uns zum Streite:
Es lebe hoch der alte Fritz
Und Joseph hoch der Zweite!
  Treu halten wir im Vereine,
  Die Schwerter bereit zur Schlacht,
  Wir an dem grünen Rheine,
  Ihr an der blauen Donau Wacht!

Ob es auch wanderlustig rinnt
Zuletzt durch fremde Lande,
Gesprungen kommt das Donaukind
Vom deutschen Vaterlande.
Es bleibt die Donau treu dem Rhein,
Dem Bruder treu die Schwester:
So soll auch uns’re Liebe sein,
Uns binden fest und fester.
  Treu halten wir im Vereine,
  Die Schwerter bereit zur Schlacht,
  Wir an dem grünen Rheine,
  Ihr an der blauen Donau Wacht!

Im Pulverdampf, im Arbeitsschweiß,
Im Kriege wie im Frieden,
Wir ringen nach dem Siegespreis,
Der uns’rer Treu beschieden.
Und droht’ uns Ost und West zugleich,
Fest stehen wir zusammen,
Das deutsche Reich und Oesterreich,
In Einer Liebe Flammen.
  Treu halten wir im Vereine,
  Die Schwerter bereit zur Schlacht,
  Wir an dem grünen Rheine,
  Ihr an der blauen Donau Wacht!

Leipzig.   Herman Semmig.


  1. Geschrieben 1880 zur hundertjährigen Feier der Thronbesteigung Joseph’s des Zweiten.




[165]

Zusammengefochten!
Nach dem Oelgemälde von C. Kronberger.

[166]

Ein Bild deutscher Verbrüderung in der Schweiz.

Es ist eine alte und bekannte, an sich vollkommen erklärliche und berechtigte Thatsache, daß die Menschen, wenn sie ihre Heimath verlassen und im Auslande ihren Aufenthalt genommen, sich zu ihren Landsleuten halten und zur Pflege heimathlicher Erinnerungen sowie zum patriotischen Schutze ihrer nationalen Interessen sich in Vereine zusammenthun. Eine besondere Art dieser Vereinigungen sind diejenigen, welche zur Unterstützung und zum Schutze hülfsbedürftiger Landsleute gegründet werden. Es gereicht den Deutschen zur besonderen Anerkennung, daß gerade sie es sind, welche die ältesten solcher Vereine besitzen. In zwei Jahren wird „Die deutsche Gesellschaft der Stadt New-York“ ihre Säcularfeier begehen. Der Zweitälteste dieser Vereine ist „Die deutsche Gesellschaft der Wohlthätigkeit in London“, gegründet, wie der Verein zu Baltimore, im Jahre 1817. Im Jahre 1842 folgte die Stiftung des „Deutschen Wohlthätigkeits-Vereins in St. Petersburg“, 1844 die Gründung des „Deutschen Hülfsvereins in Paris“ und 1855 die der „Deutschen Unterstützungsgesellschaft in San Francisco.“

Der siebente der deutschen Hülfsvereine, dem Alter nach, hat bereits im Jahre 1881 den fünfundzwanzigjährigen Erinnerungstag seines Bestehens gefeiert. Es ist der „Deutsche Hülfsverein in Zürich“, welcher der Mutterverein von zehn anderen Vereinen gleicher Art geworden, die sich heute wie ein Netz über die ganze Schweiz erstrecken.

Die traurige Reactionszeit der dreißiger Jahre hatte viele deutsche Flüchtlinge nach der Schweiz verschlagen. Das Jahr 1848 sandte eine Schaar neuer Emigranten, und die Schweiz wurde seitdem neben den Vereinigten Staaten von Nordamerika das Ziel aller Derer, denen es im deutschen Vaterlande zu eng wurde. Ihnen gesellten sich Hunderte von Deutschen zu, welche in der Schweiz freiwillig zur Ausübung gelehrter, industrieller, kaufmännischer Berufsarten oder aller denkbaren Gewerbe ihr Domicil nahmen. Daß nicht Alle die gehofften Träume verwirklicht sahen, liegt nahe. Und so darf es nicht Wunder nehmen, daß Manche früher oder später der Hülfe und Stütze ihrer deutschen Landsleute bedürftig wurden.

Es war zu Anfang des Jahres 1856, als der Züricher Professor Dr. Bobrik aus Danzig den ersten Mahnruf zur Bildung eines deutschen Hülfsvereins ergehen ließ. Der Ruf fand in einer am 7. Februar jenes Jahres zusammenberufenen Versammlung deutscher Männer lebendigen und freudigen Widerhall, und die Versammelten beschlossen die Verwirklichung des angeregten Gedankens. Lange schon deckt den Stifter die heimathliche Erde, sein Werk aber ist geblieben und gediehen; hoffen wir, daß es bestehe, so lange Deutsche in Zürich der Unterstützung bedürfen!

Schon das erste Jahr weist eine Mitgliederzahl von 227 auf, die sich seitdem zwischen dieser und der heute stärksten Zahl 345 bewegte, mit Ausnahme der Jahre 1862 bis 1865, in denen die Zahl bis zu 200 und darunter gesunken war. Der erste Präsident des Vereins war Heinrich Runge, ein politischer Flüchtling, heute Stadtkämmerer in seiner Vaterstadt Berlin und dort der ersten einer unter seinen Mitbürgern. Unter seiner mit großem Geschick geführten Leitung gedieh der Verein zusehends und fand Anerkennung von Privaten und Behörden. Da damals noch keine Staatsverträge über Krankenpflege bestanden, ordnete er die Unterbringung erkrankter Deutscher im Cantonhospital an, verschaffte hülfsbedürftigen, marschunfähigen Landsleuten durch Abkommen mit der Direction der Schweizerischen Nordwestbahn freie Eisenbahnfahrt in die Heimath und begründete das System der staatlichen Subventionirung des Vereins durch die österreichische und die deutschen Regierungen in der Art, wie sie noch heute besteht. Als Herr Runge im Jahre 1862, nach seiner Vaterstadt Berlin zurückkehrend, die Geschäfte dem einst in Preußen zum Tode verurtheilten Dr. Nauwerk übergab, war es bereits ein systematisch geordneter, blühender Verein, den er seinem Nachfolger überliefern konnte. Und Nauwerk leitete denselben sechszehn Jahre lang, seines Vorgängers würdig, mit unablässigem Eifer und viel Geschick, eine schwere Arbeit, da er allein alle Gesuche aus der ganzen Schweiz erledigen mußte. Ihm hat der Verein unendlich viel zu danken, vor allem seine Centralisation.

Es wäre ein Irrthum, wollte man annehmen, daß unter der Leitung politischer Flüchtlinge der Verein zum Herd einer revolutionären Propaganda geworden. Die Männer, welche einst, schmollend oder in politischer Acht, freiwillig oder gezwungen das Vaterland verließen und in der Schweiz eine neue gastfreie Heimath suchten, haben wohl lange an den Erinnerungen ihrer heißblütigen Vergangenheit gezehrt. Aber sie haben im letzten Menschenalter sehr viel gelernt und sehr viel vergessen – vor Allem gelernt, Deutschland über Alles zu stellen, vor Allem aber auch vergessen, den Werth des Menschen nur nach der eigenen Parteischablone zu messen.

Als sich im Jahre 1862 in Bern und bald darauf in Basel deutsche Hülfsvereine nach dem Muster des Zürcherischen bildeten, war es ein glücklicher Gedanke Nauwerk’s, den drei bestehenden Vereinen einen wohlorganisirten inneren Zusammenhang und einen Krystallisationspunkt zu geben, von welchem aus nach gemeinsamen Principien die Hülfsleistung zu regeln wäre. In einer auf den 20. November 1863 nach Olten berufenen Delegirtenversammlung der drei Vereine wurde die Ausführung der Idee Nauwerk’s mit allgemeinem Beifalle beschlossen, worauf sogleich der inzwischen gegründete Verein Genf dem Bunde beitrat.

Der Centralverein gab sich ein Statut, das in einfacher und praktischer Weise den gegenseitigen Verkehr zu Nutz und Frommen der Vereinscassen bestimmte und sich seither bewährt hat. Danach haben die Localvereine alljährlich fünf Procent ihrer Mitgliederbeiträge an die Centralcasse, deren leitender Vorort alle zwei Jahre wechselt, abzuliefern und empfangen dagegen nach Maßgabe der Höhe ihrer Ausgaben einen entsprechenden Antheil der Regierungssubvention. Der Centralverein regelt die größeren Unterstützungsfälle entweder selbstständig oder durch Circular. Alle Jahre versammeln sich Delegirte der Localvereine zu einer Generalversammlung, um ihre Erfahrungen auszutauschen, und senden sich allmonatlich, zur Vermeidung mißbräuchlicher Anrufung der Vereinshülfe, die Listen der Unterstützten zu.

Nach diesem bedeutungsvollen Schritte folgte im Jahre 1863 in Aarau, dann 1872 in Chur und Lausanne, 1875 in Neuenburg und Chauxdefonds und 1878 in Winterthur und St. Gallen die Bildung neuer Hülfsvereine nach dem Muster der bereits bestehenden.

Die Fürsorge aller dieser Vereine für die Hilfebedürftigen erstreckt sich nicht blos auf Reichsdeutsche, sondern auch auf Deutsch-Oesterreicher, und die Vereine genießen der thätigen Unterstützung der beiden Gesandten von Deutschland und Oesterreich-Ungarn, die auch, sowie der Gesandte Baierns, den alljährlichen Generalversammlungen regelmäßig beiwohnen.

In jüngster Zeit ist die Heimbeförderung armer Deutscher aus dem Reiche und aus Oesterreich-Ungarn durch Staatsverträge geregelt worden, und zwar der Art, daß die Staaten die eine, die Vereine die andere Hälfte der Fahrtaxe zahlen. Auch hat ein Staatsvertrag mit dem deutschen Reiche vom 31. December 1876, betreffend die Krankenpflege, den Vereinen eine ansehnliche Last abgenommen, indem seit diesem Zeitpunkte die Spitalkosten für dieselbe in Wegfall kommen.

Der deutsche Hülfsverein in Zürich hat seit den fünfundzwanzig Jahren seines Bestehens 18,040 arme Landsleute mit 96,320 Franken aus seiner Casse unterstützt, in vielen Fällen Kleider, Wäsche und Schuhe an sie abgegeben und ihnen durch Beschaffung von Arbeit und Rath Linderung ihrer Noth verschafft. Nicht selten wurden von Mitgliedern Sammlungen für deutsche Familien angeregt, bei Unglücksfällen größerer Art aber veranstaltete der Vorstand selbst Collecten unter seinen Mitgliedern. In hervorragender Weise geschah dies beim Brande von Glarus, bei der Ueberschwemmung im Rheinthale, der Wassersnoth in der Eifel, dem Grubenunglücke im Plauenschen Grunde und in Zwickau, den Bränden in Meiningen und in Todtnau, für die Nothleidenden in Oberschlesien und für die Kriegsgeschädigten der Jahre 1866 und 1870 bis 1871, so daß der Verein heute mit Befriedigung auf sein Wirken zurückschauen kann, wenn er auch oft hinter dem Wollen zurück bleiben mußte. Mit Dank und Wehmuth gedenkt der Verein vieler seiner dahingegangenen Mitglieder von hervorragender Thätigkeit, von denen die Namen mehrerer auch im deutschen Vaterlande einen guten Klang haben – eines Th. Knoch, Aug. Reimann, Justizrath Butte (Merseburg), Linke und in neuerer Zeit Krauß und Braun; der frühere deutsche Consul Herr Mark gehörte dem Verein fünfundzwanzig Jahre lang an, und heute ruht die Hauptlast der Geschäfte auf den Schultern des Herrn Henning, welcher seit dreizehn Jahren Cassirer des Vereins ist, und des Herrn Hühn, der seit länger als drei Jahren mit der ganzen Energie und Umsicht seiner Vorgänger die Präsidialgeschäfte versieht.

Es würde uns hier zu weit führen, wollten wir dem Berichte über den engeren Verein Zürich auch noch einen Ueberblick über die Thätigkeit der anderen Vereine beifügen, die sich über sämmtliche deutsche Grenzcantone mit Ausnahme von Solothurn, Schaffhausen und Thurgau und über die von Deutschen besonders lebhaft aufgesuchten Cantone der romanischen Schweiz, Neuenburg„ Waadtland und Genf, erstrecken.

Die Schweiz ist seit Jahrzehnten das Ziel der überschießenden deutschen Arbeitskraft, die leider nicht immer ihre Hoffnungen auf eine ersprießliche Verwendung erfüllt sieht. Von Jahr zu Jahr wächst diese Einwanderung, von Jahr zu Jahr steigert sich aber auch die Zahl der hülfsbedürftigen Deutschen. Es ist statistisch berechnet worden, daß die abnorme Vermehrung der Bevölkerung des Cantons Zürich allein dem Zuzug deutschen Elementes, das sich um 23,000 Köpfe seit 1870 vermehrt hat, zu danken ist.

Durch die Begründung und Ausbildung des Systems der deutschen Hülfsvereine in der Schweiz ist nunmehr, wenn auch in bescheidenen Grenzen, der Noth und dem Elend der nach der Schweiz verschlagenen armen und hülfsbedürftigen Deutschen abgeholfen und manche Thräne getrocknet worden. Immerhin möge der Antheil des Mutterlandes an dem schönen Unternehmen nicht ermatten! Die deutschen Hülfsvereine in der Schweiz bedürfen noch sehr der Hülfe von außen, um in Wahrheit den Namen „Hülfsvereine“ zu verdienen, den sie tragen; bis jetzt möchten sie eher den Namen „Unterstützungsvereine“ in Anspruch nehmen; denn gar Mancher, der wohl der Hülfe bedürftig wäre, muß noch heute abgewiesen werden und von dannen gehen, weil es den Vereinen an Fonds fehlt. Möge das Vaterland dieser Thatsache nicht vergessen!

A. von Rondow.     


Blätter und Blüten.

Zwei Heilige. Der gute Heilige und frühere Bischof St. Valentin hat es sich wohl schwerlich träumen lassen, daß er, der im dritten Jahrhundert mit Knütteln zerschlagen und zuletzt geköpft wurde, seinen Namen für eine artige Spielerei hergeben sollte.

Zu Shakespeare’s Zeit begnügte man sich bei der St. Valentin-Feier in England mit Geschenken, die aus Blumen und Gedichten bestanden. Master Pepys dagegen, der manche köstliche, werthvolle Aufzeichnung in seinen Tagebüchern uns bietet, erzählt, wie man zu seiner Zeit, im siebenzehnten Jahrhundert, seiner „Valentine“ kostbare Juwelen überreichte. Diese Aufmerksamkeiten wurden oft sehr kostspielig; denn die Herren hatten ihre [167] Geschenke doppelt zu spenden: Jeder beschenkte die von ihm gewählte Dame und die, welche ihn erkoren hatte; Beide mußte er außerdem zu Vergnügungen führen.

Die schöne Stuart, später Herzogin von Richmond, erhielt einmal vom Herzoge von York ein Valentin’s-Geschenk im Werthe von dreihundert Pfund Sterling, und Lord Mandeville gab ihr im nächsten Jahre einen Ring, der dreihundert Pfund Sterling werth war.

Charles, Herzog von Orleans, der prinzliche Dichter, welchen Heinrich der Fünfte bei Agincourt gefangen nahm, wird als einer der ersten Verfasser von Valentin-Gedichten genannt.

Am flottesten wurde das Fest unter der Regierung des genußsüchtigen Monarchen Karl des Zweiten in England gefeiert. Damals wurden sogar verheirathete Leute als Valentine und Valentin gewählt, und Mr. Pepys erzählt uns, daß er seiner Frau im Jahre 1667 ein Geschenk im Werthe von fünf Pfund Sterling machte, sich selbst beruhigend schreibt er aber in sein Tagebuch: „Schließlich hätte ich es ihr aber doch geben müssen, auch ohne daß sie meine Valentine wäre.“

Misson berichtet, daß in England und Schottland die durch das Loos bestimmten Valentins ihren Valentinen Bälle und Gesellschaften gaben und während dieser ganzen Zeit deren Namen auf ihren Aermeln oder auf der Brust trugen. Diese kleine Auszeichnung endigte gar oft in ernster Liebe.

In Amerika schwindet seit der Einführung des deutschen Ostereies allmählich die wohl aus England herübergebrachte Sitte der St. Valentin’s-Feier. Aber dennoch bleibt dort der Tag einer der schwersten für die Postbeamten; denn unter der großen Anzahl Schulkinder und Dienstboten herrscht noch heute das „Valentin’s-Fieber“. Urkomisch nimmt es sich aber aus, die Knaben zu sehen, die es verschmähen die Post in Anspruch zu nehmen, wie sie heranschleichen, sich dicht an den Häusern haltend und sich so der Wohnung der von ihnen erkorenen kleinen Schönen nähernd, das Couvert mit der Valentin’s-Karte auf die Thürschwelle legen, mit kräftigem Ruck die Klingel ziehen und dann Hals über Kopf davon eilen. Nächst den Schulkindern sind es in Amerika besonders die irländischen Dienstboten, die sich gegenseitig mit Valentin’s-Karten beschenken.

Gleich nach Neujahr erscheinen an den Schaufenstern in den großen und kleinen Städten Amerikas die Valentin’s-Bilder, -Karten und -Kästchen. Ein Herz, ein Pfeil, ein Amor sind und bleiben die am meisten Gesuchten, und naht der 14. Februar, da eilen die Dienstmädchen noch einmal so schnell, um die Thür zu öffnen, sobald die Klingel ertönt, hoffen sie doch jedes Mal, daß „Patrick“ oder „Mike“ ihnen ein Liebeszeichen in Form eines schön bemalten und bedruckten Bildes schickt.

Reizend sind die feinen „Valentins“, wie man sie nennt, die hier und da ein verliebter Jüngling der besseren Stände seiner Herzdame sendet. Viele von diesen wie aus Gazewolken hervortretenden Wünschen sind in Frankreich, einige in Deutschland und die meisten in Amerika selbst fabricirt. Von den letzteren werden die in Fächerform am häufigsten begehrt. Aber auch jene billigeren Karten, die nur wenige Cents kosten und auf denen der alten Jungfer, dem hochmüthigen Mädchen oder dem eitlen Manne hart mitgespielt wird, finden reichlich ihre Abnehmer.

Weder Extrabälle noch Concerte verherrlichen jetzt in Amerika dieses Fest, und jene Zeit, wo die jungen Schönen mit ihren Verehrern zusammen kamen, um den Tag durch Tanz und Spiel zu feiern, liegt weit hinter uns. Das deutsche Element gewinnt immer mehr Raum, und somit ziehen auch die Amerikaner es vor, ihren Kindern das Osterhäschen zu schenken und die Eier zu verstecken, welche, schön bemalt, oder aus Gurken geformt, die kleinen Herzen mehr erfreuen, als die bunten Bilder mit ihren holperigen Sprüchen, die sonst St. Valentin Allen brachte. Gar bald wird die Zeit kommen, wo man in Amerika nichts mehr von einer Valentin’s-Feier hört noch weiß.

Zwischen dem Valentin’s-Tage und Ostern liegt noch ein anderer Festtag, der mit einem stolzen Gefühl von allen irländischen Katholiken der Union begrüßt wird. Am 17. März feiern sie nämlich den Namenstag des heiligen Patrick, dieses frommen Mannes, der nach seiner Enthauptung mit dem Kopfe unter dem Arme zurück nach seiner geliebten grünen Insel geschwommen kam. Er, der dort die Schlangen vertilgt, überhaupt solche Wunder vollführt hat, daß noch heute der gläubige Irländer mit verklärtem Augenaufschlag die Thaten des Heiligen erzählt, wird alljährlich nicht nur diesseits des Oceans, sondern auch in der amerikanischen Union mit gebührenden Ehren überhäuft.

Alljährlich am 17. März (fällt der Tag auf einen Sonntag, so den 18.) finden in den Städten der Union große Processionen statt, welche von den Irländern veranstaltet werden. Wenn auch boshafte Menschen solchen Umzug „die alte Hutparade!“ nennen, da an dem Tage die wunderlichsten Façons an’s Tageslicht gefördert werden, so thut dieser Hohn dem frommen Eifer der Marschirenden keinen Abbruch. In langem Zuge ziehen die irländischen Männer durch die Straßen der Städte, voran Musik, nach einigen Abtheilungen wieder Musik und nochmals ein Musikcorps – alles trägt das Abzeichen der smaragdenen Insel, sei es nun ein grünes Sträußchen oder ein Endchen Band im Knopfloch, viele sogar die grüne Cravatte mit dem Wahrzeichen Irlands, dem dreiblätterigen Kleeblatt. An den Schaufenstern hängen um jene Zeit nur solche Cravatten, auf denen sich das in Silber gedruckte Kleeblatt gar glänzend ausnimmt. Vor dem Zuge marschirt eine Abtheilung Polizisten; ihnen folgen Marschälle zu Pferde mit schwedischen oder dreieckigen Hüten, auf denen grüne Federn schwanken; die über die Schulter hängende ebenfalls grüne Schärpe nebst den großen weißen Stulphandschuhen, hohen Stiefeln und gezücktem Schwert verleihen ihnen ein martialisches Ansehen; die hinter diesen Reitern Marschirenden tragen schwere seidene Fahnen, auf denen Bilder aus der irländischen Geschichte oder Scenen aus dem Leben des St. Patrick abgemalt sind; dann folgen die irländischen Soldaten in ihren grauen Uniformen mit auf der Brust gekreuztem Lederzeug und einer grünen Schleife oder Cocarde. Weiter erblicken wir Civilisten mit Heiligenbildern und dann die irländischen Logen. Die verschiedenen Abzeichen bringen eine angenehme Unterbrechung in das Chaos der dunklen Röcke.

Kleine Knaben, grün costümirt wie Laubfrösche, sprengen auf Ponys neben dem Zuge her und erregen allgemeine Bewunderung. Die Straßen sind dicht mit weiblichen Neugierigen besetzt, die auf den Treppenstufen oft stundenlang im strömenden Regen geduldig des Zuges harren.

Die Procession findet erst statt, nachdem in den katholischen Kirchen Messe gelesen und großes Hochamt abgehalten worden, und die ganze Feier zu Ehren des St. Patrick endet am Abend mit einem solennen Souper, an welchem der Bürgermeister, sowie andere Honoratioren als Ehrengäste Theil nehmen.

Wie Jung-Amerika dem 4. Juli, dem Jahrestag der Unabhängigkeit, entgegen jauchzt, so freut sich der Irländer in seinem Adoptiv-Vaterlande auf den 17. März. Wehmuthsvoll gedenkt er der alten Heimath und rührend sind die Loblieder, die der arme Insulaner dem Lande darbringt, wo er seine Jugend verlebte. Freilich verbrachte er diese seine Jugend mit Mutter und Vater und Schweinchen in einer elenden Hütte ohne Rauchfang. Aber die Erinnerung verklärt alles mit dem Hauche der Poesie, und jene Zeiten, wo er ohne Schuhe, in dürftige Lumpen gehüllt, hinauslief, um die Sonne am Ostermorgen springen oder die Elfen im Mondlichte tanzen zu sehen – sie webt ihren Zauber um das Haupt des Greises wie der Matrone, wenn sie im fernen Amerika, die unentbehrliche Branntweinflasche zwischen sich, am Familientische sitzen und an Irland denken. C. Hance.     


Die elektrische Beleuchtung von Dampfschiffen und Eisenbahnzügen. Seit Jahresfrist hört man fast jeden Tag von einem neuen Fortschritt auf dem Gebiete der elektrischen Beleuchtung. Ueberall werden Versuche angestellt, Straßen, Plätze, Festräume, Theater, Gemälde-Ausstellungen etc. mit elektrischem Lichte zu beleuchten, und fast überall mit dem günstigsten Erfolge. In Berlin werden seit vielen Monaten die meisten Bahnhöfe mit demselben erleuchtet, und zwar, wie der Rechnungsabschluß gezeigt hat, trotz der viel größeren Helligkeit, mit geringeren Kosten als bei der früheren Gasbeleuchtung. Scheint somit die Aufgabe für große Räume und offene Plätze der Lösung nahe, so nähert sich auch die elektrische Beleuchtung kleinerer Räume, wie der Zimmer und Corridore, Eisenbahncoupés etc., alle Tage der Vollendung mehr, und hier scheint die Edison’sche Glühlampe, welche in der „Gartenlaube“ schon vor Jahren sehr richtig als das „Licht der Zukunft“ (siehe Jahrgang 1880, Nr. 5) bezeichnet wurde, in ihren mannigfachen Umgestaltungen und Nachahmungen über alle anderen Einrichtungen den Preis davontragen zu sollen. Besonders wichtig dürfte diese Lampe aber für unsere Dampffahrzeuge zu Wasser und zu Lande werden, um nicht nur Licht, sondern auch erhöhte Sicherheit für die Reisenden zu schaffen.

Die alten Griechen, wie die alten Normannen und andere seefahrende Völker haben ihre Schiffe immer wie lebende Wesen betrachtet, denen man – ich erinnere an das Fahrzeug der Argonauten – eigene Ueberlegung und Wegkenntniß zuschrieb und die man daher am Vordersteven mit einem Thier- oder Menschenantlitz oder wenigstens mit großen gemalten Augen versah, damit sie ihren Weg sicher finden sollten. Im Berliner Antikencabinete kann man ein solches kürzlich im Piräus bei Athen gefundenes Marmorauge sehen, wie solche Augen dem Vordertheil der Schiffe zu beiden Seiten eingesetzt wurden. Statt jener symbolischen Augen bedürfen wir an unseren viel schneller fahrenden Dampfschiffen und Locomotiven wirklicher „Lichter“ und Feueraugen, die weit hinaus in die Dunkelheit blicken. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß es nicht nur für Nebel- und Kriegszeiten, sondern schlechterdings für alle Nächte wünschenswerth bleibt, noch weiter die Dunkelheit durchdringende „Augen“ an unseren Fahrzeugen zu haben. Die ersten derartigen Versuche werden schon seit einer Reihe von Jahren auf Kriegsschiffen gemacht, aber es wird nicht lange dauern, so werden alle größeren Schiffe und namentlich auch die Locomotiven solche elektrische Lichter erhalten, um Fahrwasser und Schienenweg auf große Strecken hinaus tageshell zu beleuchten, und so Zusammenstöße, Entgleisungen und Unglücksfälle aller Art auf das Möglichste zu erschweren. Auf der Strecke zwischen London und Brighton und auf der französischen Nordbahn zwischen Creil und Dammartin laufen bereits seit einiger Zeit derartige elektrisch beleuchtete Züge, und ihnen hat sich seit Kurzem ein Probezug zwischen Hanau und Frankfurt angeschlossen. Die Ingenieure Sedlacek in Leoben und Schuckert in Nürnberg haben elektrische Laternen construirt, welche nicht nur den Stößen der Locomotive auf’s Beste widerstehen, sondern auch den Bahndamm auf tausend Meter Entfernung so hell beleuchten, daß man auf dieser Strecke alle Einzelheiten erkennen kann. Auch die sich sonst hierbei darbietenden Schwierigkeiten konnten durch die Erfindungen der letzten Jahre, namentlich mit Hülfe des in der „Gartenlaube“ (1881, S. 488) bereits beschriebenen Elektricitätssammlers (Accumulators) von Faure mit Leichtigkeit überwunden werden, wie dies schon in unsern Berichten über „Die erste elektrische Weltausstellung“ in Aussicht gestellt wurde. Früher glaubte man eine besondere Dampfmaschine auf der Locomotive nöthig zu haben, um die elektrischen Maschinen, welche den die Lampen speisenden Strom erzeugen, auch auf den Halteplätzen in immerwährender Thätigkeit zu erhalten; der Accumulator erlaubt nunmehr, die zum Betrieb der Maschinen erforderliche mechanische Kraft einfach von der des Zuges an der bequemsten Stelle abzuzweigen und den Ueberschuß in einigen Accumulatoren aufzuhäufen, welche die Locomotiv- und Coupélampen während der Haltezeiten weiterspeisen. Bei den drei- bis vierhundert Pferdekräften unserer Züge ist natürlich die Abgabe von etwa zehn Pferdekräften für die Beleuchtung ohne jeden Nachtheil für die Schnelligkeit.

Die auf der obenerwähnten deutschen Bahnstrecke angewandten Apparate, welche von der Firma Möhrig in Frankfurt am Main geliefert und von dem Telephondirector Löbbecke angeordnet worden sind, übertragen die Kraft einfach durch Riemenscheiben von der Wagenachse eines Packwagens aus die in demselben aufgestellten elektrischen [168] Maschinen, sodaß diese bei einer Zuggeschwindigkeit von fünfzig Kilometern in der Stunde neunhundert Umdrehungen in der Minute machen, wodurch ein Strom entsteht, der nicht nur im Stande ist, sechszehn Lampen zu speisen, sondern auch genügende Elektricität in dem Accumulator für die Zwischenzeiten aufzuspeichern. Die Lampen sind Glühlampen in der Art der Edison’schen und erleuchten die Coupés so hell, daß man noch in den entferntesten Ecken im Stande ist, die feinste Perlschrift und Bleistiftnotizen bequem zu lesen.




Wiener Eissport. Gern komme ich, meinem Versprechen gemäß (vergl. das „Internationale Eislaufen in Wien“, Nr. 7 d. Jahrgangs), auf das diesjährige Costümfest des Wiener Eislaufvereins zurück. In jedem Winter wird nämlich, je nach der Strenge desselben, ein- oder zweimal ein solches Fest in der österreichischen Metropole abgehalten, dem die Erfahrung der berühmten Wiener Maskenbälle zu Statten zu kommen pflegt. Sowohl diese Erfahrung, wie diese centrale Lage des Eisplatzes, die andauernde Eisdecke[1] und die trotzdem im Vergleiche zu den nordischen Städten verhältnißmäßig milde Witterung, sowie endlich die großartige elektrische Beleuchtung wirken zusammen, um diese Nachtfeste zu ganz eigenartigen zu machen, gegen welche auch die berühmten Eisfeste in Petersburg, New-York und Montreal zurückstehen müssen. Um denselben stets neuen Reiz zu verleihen, pflegt eine gewisse Abwechselung in den Darstellungen eingehalten zu werden, indem in dem einen Jahre die Costüme nach den historischen Trachten eines gewissen Zeitalters gewählt werden, in dem andern die Trachten der verschiedenen Volksstämme Oesterreich-Ungarns zur Geltung kommen, im dritten ein niederländisches Eisfest in vervollständigtem Maße nachgeahmt und im vierten oder fünften ein venetianisches Nachtfest oder eine Nordpolfahrt zur Darstellung gebracht wird.

In diesem Winter war, theils wegen der Unsicherheit der Witterung, theils weil sich die Aufmerksamkeit auf das internationale Wettlaufen concentrirte, den Mitgliedern des Eislaufvereins die Wahl der Costüme anheim gestellt worden, sodaß unter den rauschenden Klängen der Militärmusik, unter dem Blitzen und Leuchten des elektrischen Lichtes und der bengalischen Feuer eine überaus bunte Menge „auf Flügeln des Stahls“ in der spiegelglatten Bahn sich herumtummelte, welche amphitheatralisch von Tausenden von Zuschauern umgeben war. Da sah man die mannigfachsten Verkleidungen, von der Rococodame bis zum Fichtenkleid des Waldfräuleins, vom Gorilla bis zum stahlgepanzerten Ritter. Den Brennpunkt des Schauspieles bildete diesmal eine Gesammtdarstellung der vier preisgekrönten Figurenläufer. Der fünfte Preisträger, Axel Paulson aus Christiania, war bereits in seine nordische Heimath zurückgekehrt.

Der Abend begann mit einem Festzuge, welcher sich auf dem benachbarten kleinen Eisplatze aufgestellt und, mit den ersten Klängen der Musik durch einen Canal in den großen Platz einlenkend, denselben mehrmals umkreiste, vorauf einen von einem Dutzend Pagen mit bengalischen Fackeln geleiteten Triumphschlitten, dessen leuchtende Pracht einen imposanten Eindruck machte. Der Zug stellte sich dann im Halbkreis auf, um den vier preisgekrönten Eiskünstlern Platz zu machen, während die jüngern und lebhaftern Mitglieder jede Pause benützten, um im Hintergrunde die Freuden des Eislaufes bis zur Neige auszukosten, und traute Liebespaare Arm in Arm ungestört in Bogen dahin schwebten. Waren ja Aller Augen auf die vier Preisträger gerichtet, welche mit vollendeter Eleganz wie spielend die schwierigsten und graziösesten Evolutionen und Gesammtfiguren ausführten; sie wirbelten, vorwärts und rückwärts springend, in mannigfaltigen Schlangen- und Schlingenwindungen durch einander und entlockten den Tausenden von Zuschauern einen Beifall, der weit stürmischer erbrauste, als er je im Ballet sich kundgab. Und doch wird dieses Bild noch von einem hinreißenderen Schauspiele übertroffen, von der Eisyacht nämlich, wenn sie, auf weiter Seefläche bei einer guten Brise lavirend, mit den Flügeln der „Windsbraut“ dahinfährt und den Courierzug hinter sich läßt. Doch davon ein anderes Mal! M. W.     



Ein Armenbegräbniß. Wie uns aus Neustadt bei Magdeburg berichtet wird, wurde dort im November vorigen Jahres die Leiche eines elfjährigen Knaben in folgender Weise beerdigt. Der Vater, ein beschäftigungsloser Arbeiter, nahm ein Brett, versah dieses mit zwei Leisten, legte sein todtes Kind darauf und ging mit dieser Last vor Tagesanbruch auf den Friedhof. Hier klopfte er den Todtengräber heraus, welcher ihm die Grabstelle mit dem Hinzufügen bezeichnete, er möge den Leichnam dort niederlegen. Der Vater that wie ihm geheißen und verließ den Friedhof. Das „Uebrige“ haben im Laufe des Tages die Todtengräber besorgt.

Gegen eine derartige Behandlung der Todten empört sich das Herz mit Recht, und wir halten es für angezeigt, hier öffentlich die Frage aufzuwerfen: wer trägt die Schuld an diesem Vergehen gegen die Humanität?

Nach den von uns angestellten Recherchen war die Leidensgeschichte des Knaben folgende:

Der Erdarbeiter Meffert, ein sonst fleißiger und ordentlicher Mann, wurde in Folge des Aufhörens der Arbeit beschäftigungs- und brodlos. Die geringe Habe der Meffert’schen Familie wanderte bald in’s Leihhaus, und da die Frau erkrankte und der älteste elfjährige Sohn an Auszehrung litt, sah sich der Vater genöthigt, die Hülfe der Armenbehörde anzurufen. Unter schweren Umständen wurde dem Kinde die Verabreichung der Armenmedicamente bewilligt, aber schon beim dritten Besuche erklärte der Armenarzt, es sei ihm verboten worden, ferner dem Kinde Medicamente zu verabreichen, weil der Vater den Herrn Armensecretär beleidigt habe. Das Kind blieb in Folge dessen ohne ärztliche Hülfe und siechte langsam dahin.

Nach dem Tode des Knaben wandte sich der Vater, da es ihm unmöglich war, einen Sarg zu beschaffen, an die betreffenden Communalbeamten mit der Bitte um die Bewilligung eines Armensarges, aber auch dieses Gesuch blieb ohne Erfolg. Der Begräbnißact wurde hierauf in der oben geschilderten Weise vollzogen.

Wir stehen heute mitten in einer Bewegung, welche die Armenpflege nach humanitären Principien neu gestalten will und den bedeutendsten Theil derselben öffentlichen Beamten zu übertragen beabsichtigt. Wenn aber aus dieser Neugestaltung ein wahrer Nutzen für die Armen erwachsen soll, so muß vor Allem darauf geachtet werden, daß die Grundsätze der Humanität in den Armenverwaltungen gebührend beachtet werden, was in der Sache Meffert’s in offenkundiger Weise unterlassen wurde.

Wir erachten es daher für unsere Pflicht, diesen traurigen Fall zur allgemeinen Kenntniß zu bringen, um durch die Macht der öffentlichen Meinung die Wiederholung ähnlicher Strafmaßregeln, welche, selbst wenn sie berechtigt wären, nur den Unschuldigen treffen würden, zu verhüten. D. Red.     




Gesang- und Musikliebhaberei der Eidechsen. Man hat die Eidechsen, diese niedlichen Thiere, welche so leicht zutraulich werden, im wärmeren Europa den Menschen in seinen Wohnungen besuchen und hinter jedem Steine und aus jeder Mauerritze der Ruinen ihr lauschendes Köpfchen hervorstrecken, bisher, und wie es scheint mit Unrecht, für gänzlich stumm gehalten. Die gewöhnlichen Eidechsen besitzen so gut wie die Geckos des Südens, welche ihr Geck-Geck in allen Tonarten erschallen lassen und bisher (abgesehen von den Krokodilen) als die einzigen stimmbegabten Eidechsen galten, eine feine Stimmritze, und wir halten sie also wahrscheinlich nur deshalb für stumm, weil sie ihr Stimmchen vielleicht nur in der Paarungszeit vernehmen lassen. Ein englischer Naturforscher, F. P. Pascoe, berichtete nun vor Kurzem, daß er auf den Triften und unter dem Gebüsch zu Ajaccio öfters eigenthümliche Lockrufe, ein zwei- bis dreimal in kurzen Pausen wiederholtes „Wied-Twied“ vernommen habe, welches er anfänglich einer Grille zuschrieb, bis er sich überzeugen konnte, daß es von einer kleinen Eidechse herrührte. Ein anderer Beobachter, P. S. Oliver, bestätigte dasselbe von einer kleinen Eidechse auf Sanct Helena. Mit diesen einem kurzen, schwachen Pfiff ähnlichen Locktönen steht es nun vielleicht im Zusammenhange, daß unsere gewöhnliche Mauereidechse, die im südlichen und westlichen Europa besonders häufig ist, verschiedenen Beobachtern zufolge, aufmerksam lauscht, wenn man ihr etwas vorpfeift. Der belgische Naturforscher De Selys-Longchamps, welcher sich seiner Zeit in der Umgebung von Turin mit dem Einfangen von Mauereidechsen beschäftigte, fand, daß sie ihn ohne zu fliehen näher kommen ließen, wenn er eine Melodie pfiff. War das bloße Neugierde oder eine Variation des Gedankens: wo man singt, da laß dich ruhig nieder etc., oder hörten sie das Pfeifen wirklich gerne? Die belgische Mauereidechse zeigte ihm diese Musikliebhaberei nicht, aber dies liegt vielleicht daran, daß sie dem Pfeifen nur in gewissen Jahreszeiten mit Hingabe lauscht. Damit stimmt sehr wohl eine neue Mittheilung von Professor Leydig in Bonn überein, dem ein im Ahrthal wohnender aufmerksamer Thierbeobachter versicherte, daß er die auf den Weinbergsmauern häufigen Eidechsen durch Vorpfeifen auf einem Schlüssel allezeit zu sich heranlocken könnte. Man wird dadurch an die orientalischen Schlangenzauberer erinnert, welche angeblich, gleich dem Rattenfänger von Hameln, durch Blasen auf einer eigenthümlichen Pfeife alle Schlangen eines Gehöftes zu sich lockten, um sie zu fangen. Es wäre interessant, über diese Musikliebhaberei verschiedener Reptilien weitere Beobachtungen anzustellen.


Kleiner Briefkasten.

Ein besorgter Vater in Hamburg. Wenden Sie sich an Herrn Director W. Schröder in Dresden, Oppelstraße 22 b.

Langjähriger Abonnent im Schwarzwald. Die landwirthschaftliche Centralschule in Weihenstephan.

Paula Fr. in Berlin. „Gartenlaube“ Jahrgang 1863, Seite 769!



Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig wendet sich an die Leser und Leserinnen der „Gartenlaube“ mit der herzlichen Bitte, im Interesse der guten Sache das in Nr. 6 der „Gartenlaube“ empfohlene
Portrait Friedrich Fröbel’s
auf feinem Kupferdruckpapier à 75 Pfennig
recht zahlreich bestellen zu wollen, und macht wiederholt darauf aufmerksam, daß der aus dem Verkauf dieses Portraits sich ergebende
Reingewinn
für die hochbejahrte Wittwe Friedrich Fröbel’s
bestimmt ist.
Bestellungen auf das Portrait können von jeder Buchhandlung ausgeführt werden.



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Sogar in diesem milden Winter hatten wir 42 Schleiftage.