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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[169]

No. 11.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Meinhard wandte sich zum Gehen, aber noch ruhte seine Hand in der ihren – eine unwiderstehliche Macht hielt ihn zurück.

„Hilda!“

Wieder neigte er sich zu ihr herab; sie hob den Kopf leise empor, und diesmal berührte sein Mund nicht Hilda’s Stirn, sondern die ihm dargereichten Lippen. Es war ein inniger, ein unsäglich schmerzlicher Kuß. Dann riß er sich los; er empfand etwas, als sollte sein Herz stille stehen; er fühlte, daß er nicht länger verweilen dürfe, wenn er Herr seiner inneren Bewegung bleiben wollte – die Augen voll Thränen eilte er hinweg.

Hilda war einer Ohnmacht nahe. Sie wollte Meinhard’s Namen rufen, aber die Kraft versagte ihr. Es war als habe ein feuriger Strahl den Schleier vernichtet, der ihren Blick bisher umhüllt hatte. Selig und doch zugleich entsetzt erwachte sie wie in einer andern Welt.

Da stand alles in einer schattenlosen, blendenden Klarheit vor ihrer Seele; all ihr Denken und Empfinden, der Inhalt ihres ganzen Lebens drängte sich in einen einzigen Augenblick zusammen. Ihr eigenes Innere lag wie von einem Zauberlichte erhellt da. Ein Bild nur stand vor ihr – ein einziges. Sie wußte jetzt, daß sie Niemand auf Erden hatte, der ihr theurer war; sie wußte, daß sie mit ganzer Seele ihm gehörte, daß alle ihre Gedanken nur auf ihn gerichtet waren, daß jeder Schlag ihres Herzens zitternd nach ihm rief – – und in dem Momente, wo in ihr diese Erkenntniß aufflammte, ging er, mit dem ihr ganzes Leben seit der Kindheit unaufhörlich verflochten war; er ging, unwiderruflich von ihr getrennt durch ihre eigene Schuld.

Noch sah sie sein mildes, liebevolles Auge; noch fühlte sie seine brennenden Lippen, den Arm, der sie so leidenschaftlich umschlang. – –

„Bruno!“

Sie war allein! – allein! – –

Eine Weile war vergangen.

Hilda, von der schmerzlichen Schwere des eben Erlebten überwältigt, war in halber Bewußtlosigkeit auf’s Sopha gesunken. Ihre Gedanken hatten dämmernd zwischen Wachen und Träumen geschwebt. Da war durch den Spalt der offengebliebenen Thür Bußbuß hereingeschlichen; der verscheuchte Liebling strich zuerst leise schnurrend an der Herrin hin; dann erst, als er sich auf dem in letzter Zeit so gefährlich gewordenen Gebiete von keinerlei Angriff bedroht sah, war er zu der Ruhenden hinaufgesprungen und hatte es sich wohl gefallen lassen, daß sich ihr müder Kopf in sein zusammengerolltes weiches Fell drückte.

Heimliche Stille webte in dem traulichen Gemache.

Nun aber klopfte es plötzlich leise an’s Fenster. Es klang als flattere ein verirrter Vogel gegen die Scheiben, als suche er, halb erstarrt in der Sturmnacht, bei seinen Feinden, den Menschen, Schutz gegen das Wüthen der Elemente. Wem konnte Hilda ein Obdach gewähren? War sie nicht selbst heimathlos, ohne Freund und Hülfe?

Es klopfte noch einmal an’s Fenster – leise, ganz leise; dann ward es wieder still. Aber nein, Schritte wurden vernehmbar, und ein altes runzliges Gesicht drückte sich zaghaft an die Glasthür. Hilda erkannte Trine. Diese hielt vorsichtig Umschau in dem Raume, ehe sie eintrat, und auch dann zögerte sie noch und winkte ihrer Herrin nur verstohlen hinaus.

„Ein Wort, gnädiges Fräulein!“ flüsterte sie leise.

Erschrocken fuhr Hilda auf.

Die von den Eindrücken der jüngsten Stunden in den Hintergrund gedrängte Erinnerung erwachte wieder. Sie hatte eine Zusage einzulösen, und da stand auch schon der Bote, der sie daran mahnte – die Alte aus dem Jägerhause.

„Wilhelm!“ dachte sie bei sich.

Sie griff nach dem Paket und steckte es rasch zu sich.

„Er läßt sagen, er wolle nicht mehr warten,“ richtete Trine ihren Auftrag aus, und dann fügte sie noch die Bemerkung hinzu: „Der muß es auch eilig haben. Wird wohl Zeit sein, daß er fortkommt, aber auch der junge Herr ist ganz ungeduldig; er will mit und thut recht verwunderlich. Es wird wohl gut sein, wenn das gnädige Fräulein hinauskommen.“

„Ich bin im Augenblick bereit.“

Nur noch Hut und Plaid holte Hilda vom Ständer im Vorhause, während Trine draußen im Garten wartete, und dann machten sich Beide auf den Weg, den sie in der gewohnten Weise über die Baumhalde hin abkürzten.

Der Nebel lag noch über Feld und Wald, aber er war dünner geworden, und das gab der Natur einen eigenartigen, melancholischen Reiz – Hilda achtete nicht darauf. Eiligen Fußes schritt sie über das feuchte Gras, das ihre Schuhe streifte, und über das Wassergeriesel hinweg, welches im Walde den Pfad stellenweise fast ungangbar machte. Ihre Gedanken waren wieder bei Meinhard; mit selbstquälerischer Schärfe suchten sie jeden Zug [170] in dem Wesen des Mannes hervor, der ihr sein Angedenken nur noch theurer, seinen Verlust nur noch schmerzlicher fühlbar machen mußte.

Jetzt erst erkannte sie, was er ihr war, was sie an ihm verloren hatte; sie sollte ihn nicht mehr sehen, ihm ihre großen und kleinen Sorgen nicht mehr anvertrauen, ihre Gedanken nicht mehr mit ihm austauschen dürfen? Unentbehrlich war er ihr geworden, und nun, wo diese Erkenntniß so klar vor ihren Augen stand, nun mußte sie ihn entbehren lernen! –

„Hilda, nun doch, endlich, endlich!“ tönte es ihr entgegen. „Ich habe Dich sehnlich erwartet, wie einen Engel vom Himmel.“

Ueberrascht sah sie auf. Das Ziel, an das sie gar nicht mehr gedacht, war erreicht. Sie stand mit der alten Trine vor dem Jägerhause.

Sie traute ihren Augen kaum, als sie sah, welch günstige Veränderung mit dem kranken Bruder über Nacht vor sich gegangen war. So hatte doch der Besuch des Arztes wohlthätig gewirkt. Gestern hatte sie Wilhelm apathisch und in bedenklicher Schwäche gefunden, und heute stand er mit der Miene eines Lebensmuthigen, die Wangen frisch geröthet, vollkommen angekleidet unter der Thür des Hauses, wo er seine Cigarre rauchte und nach der Erwarteten Ausschau hielt. Dem Anschein nach war er ganz wohlauf, ja sogar heiter. Er streckte der Schwester die Hände entgegen und zog sie eilfertig in’s Haus.

„Gut, daß Du da bist!“ sagte er, die Stubenthür aufstoßend. „Hoffentlich ist alles in Ordnung.“

„Ja, ich bringe das Geld.“

„Siehst Du, ich wußte es ja – gerade ihr Ausbleiben war ein gutes Zeichen.“

Diese Worte galten Schöpf, der mit dem Jäger Halder bei Cigarren, Wein und Karten am Tische saß. Der Jäger, den der alte Schlaukopf im Laufe der letzten Tage ganz für sich gewonnen, lachte noch vor Ergötzen über das Kunststück, das sich der Meister soeben hatte absehen lassen. Hilda’s Eintritt machte der lauten Unterhaltung der Beiden ein Ende; sie erhoben sich ehrerbietig, und Schöpf ließ mit einer graziösen Taschenspielerbewegung, während er grüßte, die Karten verschwinden.

„Ah, das laß ich mir gefallen,“ sagte er mit widerlich freundlichem Grinsen. „Sehen Sie, mein Fräulein, es geht alles. Man muß nur die Daumschrauben richtig ansetzen. Die alte peinliche Gerichtsordnung war klug genug, indem sie nicht alles dem Ehrgefühl der Herren Inculpaten oder dem untrüglichen Scharfsinn der hohen Geschwornenbank anheimstellte, wie heutzutage. Unter den Daumschrauben macht man nicht so leicht einen Hokuspokus. Ich bin für die Daumschrauben.“

„Auch ich – wenigstens für die, welche man Dir anlegen würde,“ fügte Wilhelm hinzu.

„Die würden merkwürdiger Weise Dich, mein Söhnchen, am meisten drücken,“ entgegnete Schöpf und sich zu Hilda wendend, sagte er: „Wir lieben heute unsere kleinen Scherze, mein gnädiges Fräulein! Bill ist wieder bei Laune und recht gesprächig. Er hatte offenbar Witterung – ein gutes Zeichen, daß sich der alte Instinct nun wieder regt.“

„Du fühlst Dich besser?“ fragte Hilda ihren Bruder theilnehmend.

„Besser? Ganz gut! Ein Bischen Müdigkeit noch, aber das ist alles, und ich wäre, weiß Gott, schon davongegangen, säße mein Kerkermeister hier“ – er deutete auf den Taschenspieler – „mir nicht jeden Augenblick auf den Fersen. Hoffentlich werden wir nicht zeitlebens wie Galeerensclaven an einander gekettet sein. Man sagt, Niemand hasse sich tiefer als die Beiden, die solch ein zusammengeschmiedetes Paar bilden, und ich glaube daran. Ich fühle etwas davon.“

„O, sehr schmeichelhaft!“ ließ Schöpf, sich verbeugend, einfließen.

„Kein Compliment, nur die reine Wahrheit! Daß ich doch schon fort wäre! Du glaubst nicht, Hilda, wie sehr ich mich sehne, irgendwo vom A anzufangen. Ich habe mir schon etwas ausgedacht. Ich gehe zuerst – Aber nein,“ unterbrach er sich und warf seinem Schwiegervater einen mißtrauischen Blick zu, „es braucht nicht Jedermann zu wissen, wo ich gelegentlich bequem zu finden wäre. Ich werde Dir schreiben, Schwester – alles ausführlich. Ja, ich fühle neue Lebenskraft in mir, und mein Fuß ist auch wieder heil und kräftig; ich bin gesund, wie ein Fisch im Wasser, als ob unser alter Doctor Schöller an mir ein Wunder gewirkt hätte mit der Mixtur, die er hier ließ. Ich habe sie übrigens gar nicht genommen und bin doch gesund geworden. Hätte ich das Zeug getrunken, schriebe man es natürlich der ärztlichen Weisheit zu. Der gute alte Mann wird staunen. Was er für ein bedenkliches Gesicht schnitt, wie erschrocken er war! Nur von Vorsicht und großer Schonung sprach er. Ich glaube, er hätte mich trotz des Herbstes noch in ein Modebad geschickt, wenn das ein Recept für mich wäre. Aber es war eigentlich recht überflüssig und ein Bischen voreilig, Hilda, daß wir ihn in’s Vertrauen zogen.“

„Das meine ich auch,“ äußerte Schöpf mürrisch. „Man weiß nie, bei welchem Kamin es hereinraucht.“

„Nein,“ meinte Wilhelm, „Verrath droht uns von dieser Seite gewiß nicht. Höchstens daß es ihm selbst ein kaltes Fieber zuzieht. Der arme Doctor!“

„Der Henker hole ihn! Schleicht ohnehin so allerlei spürnasiges Gesindel hier umher – Horch, was ist das?“ rief Schöpf, sich plötzlich unterbrechend, mit gedämpfter Stimme und Halder ängstlich am Arme fassend. „Ist das nicht Ihr Köter, der da draußen bellt?“

„Meiner Treu!“ erwiderte der Jäger. „Ich dachte, Sie machten es selber zum Spaß.“

„Teufel auch! Gehen Sie doch hinaus und passen Sie ein wenig auf!“

Der Jäger gehorchte der Aufforderung und trat vor’s Haus. Mit den Zeichen heftigster Angst folgte ihm Schöpf bis in den Flur und horchte dort zwischen den beiden offenen Thüren.

„Wer da?“ rief Halder barsch in den Wald hinaus, da aber keine Antwort erfolgte, pfiff er seinem Dachse, der denn auch bald wieder zurückgaloppirt kam.

„Sind’s Gensd’armen?“ fragte Schöpf leise.

„Die würden wohl anders auftreten. Man sieht nichts in dem Nebel.“

Trine meinte nun auch, daß es ihr auf dem ganzen Wege schon gewesen sei, als folge ihnen Jemand.

„Ach, was wird’s gewesen sein,“ meinte Halder achselzuckend. „Ein paar Kinder, oder ein altes Weib – Holzdiebe. Jetzt geht’s auf den Winter zu. Oder Leute, die sich einen Sack voll Laub holen. War ein leichter Schritt von einem Kinderfuß, hätt’ es sonst knicken hören. Komm’, Dächsel!“

Halder wollte wieder in’s Haus zurückkehren, das war aber keineswegs nach Schöpf’s Sinn. Seine Furcht war einmal rege. Der Jäger hatte ihm selbst berichtet, daß in der Großdorfer Schänke nach ihm so eigenthümlich gefragt worden sei. Für alle Fälle konnte ein Wachtposten nicht schaden, brauchte ja doch auch kein Zeuge dabei zu sein, wenn er das Geld in Empfang nahm. Er beredete Halder also, sich’s für eine Weile draußen bequem zu machen, und auch Trine hatte von Hilda einen Wink erhalten, für’s Erste in der Küche zu bleiben.

Der kleine Zwischenfall hatte Wilhelm weniger aufgeregt als seine Schwester; denn während sie sich zitternd am Tische hielt, konnte er scherzen.

„Es scheint, daß Du ein recht ruhiges Gewissen zum Schlummerkissen hast,“ verspottete er Schöpf.

„Mir ist doch nur um Dich bange.“

„Wirklich? Sag’ dann doch wenigstens: um das Geld, das ich Dir werth bin. Auch in dieser Variation behält die zarte Besorgniß noch hinreichend Rührendes.“

„Ich denke, es wäre genug geschwätzt,“ fiel Schöpf, der sich aus den Sarkasmen Wilhelm’s ungefähr so viel wie aus dem Summen einer Fliege machte, dem Spötter in’s Wort. „Wenn es gefällig ist, mein Fräulein, so erledigen wir unsere Geschäfte. Je rascher, desto besser!“

Hilda zog das Paket hervor, das noch in demselben Zustande war, wie sie es erhalten, und legte es, ohne ein Wort zu sprechen, auf den Tisch. Wie ein Geier wollte Schöpf darüber herfallen, doch Wilhelm’s Hand kam ihm zuvor und legte sich schützend auf das Päckchen.

„Halt!“ sagte er kaustisch. „Un, deux, trois! Allez, passez! Taschenspielerfinger eignen sich nicht besonders zum Controlliren.“

Er nahm das Messer, das in dem neben der Weinflasche liegenden Brodlaib stak, und durchschnitt den Bindfaden. Das oberste Blatt, nachdem der Umschlag aus einander gefallen, war [171] eine summarische Abrechnung mit Meinhard’s Unterschrift. Auf diese traf zuerst sein Blick, und erbleichend trat er zurück.

„Hilda! Du hast doch nicht –“ stieß er bestürzt hervor. „Du hast doch Meinhard nicht gesagt –?“

„Wie kannst Du denken!“ beruhigte ihn die Schwester. „Ich verrieth das Geheimniß mit keinem Worte. Uebrigens hättest Du, auch wenn das geschehen wäre, nichts von ihm zu befürchten, er hat die Stelle hier übergeben und reist noch heute ab; Du kannst ganz ruhig sein.“

Traurig und mit einem unterdrückten Seufzer hatte sie das gesprochen.

„Wilhelm – –“ fuhr sie fort, aber plötzlich unterbrach er sie:

„O, wie müde ich auf einmal werde! Hilda, reich mir ein Glas Wein!“ bat er, „kein Wasser! Der Wein stärkt mich mehr – ich fühle es, und heute habe ich ihm auch wieder Geschmack abgewonnen. Gieb nur!“

„Das sind ja blos sechstausend!“ ließ sich im gleichen Augenblick Schöpf vernehmen. Er hatte nicht gewartet und trotz Wilhelm’s Protest die Zeit zum Durchzählen verwendet.

„Ich habe nicht mehr herbeischaffen können,“ entschuldigte sich Hilda.

„Und obendrein in Papieren, die auf den Namen geschrieben sind. Hollah! Das ist wider die Abrede, mein Fräulein!“

Auf den Namen geschrieben! Daran hatte Hilda freilich nicht gedacht. Sie war zu wenig in financielle Geschäfte eingeweiht, um eine Ahnung davon zu haben, welche Formalität zur Uebertragung solcher Obligationen nothwendig sei.

„Daß Sie mir eine Falle legen wollten,“ meinte Schöpf, „erscheint mir selber nicht recht glaublich, aber das ändert die Sache nicht. Und daß mehr Geld nicht aufzutreiben wäre, das lasse ich mir so leicht nicht weißmachen. Wo sechstausend liegen, mein gnädiges Fräulein, da finden sich wohl auch noch weitere vier.“

„Ich habe aber gewiß nicht mehr zur augenblicklichen Verfügung!“

„Bah, suchen Sie nur!“

„Ich meine, Sie könnten sich auch mit dieser Summe begnügen. Sie ist groß genug, und ich weiß nicht, wie ich noch eine weitere beschaffen soll, ohne die Aufmerksamkeit zu erregen und auf – uns zu lenken.“

„Du hörst es ja, Vampyr! Gieb Dich zufrieden!“ mahnte auch Wilhelm.

„Nein,“ entgegnete Schöpf mit seiner ganzen brutalen Schroffheit. „Alles oder nichts! Ich bleibe auf diesem Flecke bis heute Abend sieben Uhr. Ist um jene Stunde nicht die volle Summe in meinen Händen, so sind die Unterhandlungen abgebrochen, und ich thue meine Schritte.“

„Dann mußt Du aber die Mausefalle aufthun und dürftest bei Deiner Zurückkunft mit Gefolge dieselbe wahrscheinlich leer finden.“

Ein tückischer Blick aus Schöpf’s kleinen Augen traf Wilhelm.

„Die Grenze ist nicht so rasch erreicht, mein Lieber, und sind die Hunde auf die Fährte des Hasen gesetzt, dann fangen sie ihn auch sicher ein. Man hat dafür ganz praktische elektrische Einrichtungen mit Drahtschlingen, haha! Uebrigens werde ich mich hüten, meinen werthen Freund und Schwiegersohn allzu sehr aus den Augen zu lassen. Es geht manch Bäuerlein hier vorüber, das eine kleine Botschaft für den Anzeigelohn gern übernimmt. Dem Manne kann geholfen werden, mein Junge.“

„Aber wie dann, wenn wir den Spieß umkehrten?“ erwiderte Wilhelm, scharf und höhnisch. „Die Mausefalle schlüge zu und hielte den fest, der Andere damit zu fangen meinte. Ich denke, Halder würde mir recht wohl den Gefallen thun und hier so lange Wache stehen, bis die bissige Ratte nicht mehr schaden kann. Was meinst Du dazu.“

Mit einem Satze war Schöpf an der Thür, und sein vor Wuth funkelnder Blick hing lauernd an Wilhelm, welcher aber kein Glied rührte.

„Ich protestire!“ sagte er. „Das ist Einschränkung der persönlichen Freiheit. Ein neues Verbrechen! Versuchen Sie es doch und meine Hülferufe werden die Entdeckung beschleunigen.“

„Es giebt Knebel auf der Welt, und man kann Ratten auch ersäufen,“ entgegnete Wilhelm, der an seines Quälgeistes Schreck und Angst Gefallen fand.

„Scherze nicht so furchtbar, Wilhelm!“ mengte sich nun Hilda ein. „Und Sie, Herr Schöpf, werden einsehen, daß wir an solche Gewaltmaßregeln gar nicht denken.“

„Ich weiß doch nicht –“

„Habe ich Ihnen denn nicht schon bewiesen, daß es mir Ernst damit ist, Ihre Forderungen zu erfüllen? Wollen Sie die Papiere? Hier sind sie. Geben Sie mir eine Art an, wie der Rest in Ihre Hände gelangen kann, und Sie werden ihn erhalten, aber nehmen Sie selbst Ihre Drohungen zurück, und geben Sie meinen Bruder frei!“

„Nichts da! Ich wäre ein Narr. Alles oder nichts! Bis heute Abend sieben Uhr!“

„Das System der Daumschrauben,“ spottete Wilhelm.

„Ja, allerdings die Daumschrauben! Ich bin nun einmal dafür. Ist das Sicherste, mein Lieber.“

Hilda drückte die Hände an die Stirn; sie sann und sann – vergeblich!

„Es ist unmöglich in so kurzer Zeit,“ erklärte sie dann. „Es ist Niemand zu Hause, und selbst wenn Franz heimkehrt und einwilligt, was doch noch zweifelhaft ist, so kann er nicht im Handumwenden das Geld schaffen; solche Summen hat man nicht baar im Hause. Er muß also erst zur Stadt. Wenn Sie wenigstens bis morgen Frist gäben – –“

„Ich kann nicht warten. Habe dringende Geschäfte,“ versetzte Schöpf, dessen Mißtrauen sich noch nicht ganz gelegt hatte und sich in seiner wie zum Sprunge geduckten Raubthierhaltung verrieth, barsch und abweisend. „In der Nacht ist es auch schwer, die Augen offen zu halten, jetzt, wo unser Patient wieder auf den Füßen steht. Ich will sagen – heute Abend neun Uhr. Aber keine Minute länger. Bis dahin werde ich schon auf der Hut sein.“

Seufzend ging Hilda auf den ihr gestellten äußersten Termin ein und schenkte dann der Anleitung, die der Taschenspieler ihr zu Theil werden ließ, die vollste Aufmerksamkeit.

„O, er ist ein gewandter Schulmeister in dergleichen Dingen, Du kannst Dich auf seine Geschäftskenntniß verlassen,“ äußerte Wilhelm, der sich mittlerweile wieder erhoben hatte, und in fieberhafter Unruhe im Zimmer auf- und abging. „Es thut mir leid, daß ich Euch so theuer zu stehen komme. Aber ich will es abbezahlen, bei meinem – nein, mein Ehrenwort ist ja Plunder geworden. Diese Münze ist falsch, aber ich versichere Dir heilig und theuer, Schwester, daß es mir ernst ist mit meinem Versprechen, sehr ernst. Weißt Du, Hilda, wenn ich sterben sollte –“

„Denke doch nicht an etwas so Trübes, Wilhelm!“ suchte sie den plötzlich muthlos Gewordenen aufzurichten. „Morgen bist Du außer aller Gefahr, und dann beginnst Du mit frischen Kräften ein neues Leben.“

„Wir machen uns noch heute Nacht aus dem Staube,“ erklärte nun auch Schöpf. „Halder kann unterdeß nach Großdorf hinüber gehen und uns ein Bauernwägelchen bestellen. Die Stadt ist nicht geheuer, und wir thun klüger, nach der nächsten Bahnstation zu fahren.“

„Daß wir doch schon fort wären!“ seufzte Wilhelm. „Mir ist’s, als hätte ich Feuer unter den Sohlen. Ich werde die Minuten bis zu Deiner Rückkehr zählen, Schwester. O, wie will ich arbeiten! Mit den Händen, wie ein Tagelöhner, wenn es sein muß. Aber ich habe das Vorgefühl, daß es gelingt – ich habe es. Du wirst sehen, daß es geht, wenn Du erst meinen Plan erfährst. Und Franz sage – nein, sag’ ihm nichts! Er wird toben und doch alles nur für Geflunker halten – der Ehrenmann, wie er im Buche steht. Er würde mir doch seine Hand nicht geben – das könnte einen Fleck hinterlassen. Einer von denen, die beten: ‚Führe uns nicht in Versuchung‘, und dabei hochmüthig denken: ‚Ein Mann wie ich würde ihr doch widerstehen‘. Ja, so meinen sie, weil sie eben noch nicht erfahren haben, was die Versuchung ist. Aber sei’s darum! Vielleicht denkt er besser von mir, wenn er sieht, wie ich mich zum Leben stelle. Will mal sehen, ob ich es nicht noch mal zum Lächeln zwinge. – Arme Kleine! Arme, kleine, süße Any! Daß sie es nicht auch noch lächeln sehen kann. Das wäre mein höchstes Glück gewesen. Das süße Kind! – Doch jetzt geh, geh, Du Gute, und bringe uns die Befreiung, die Erlösung! Engel haben ja Flügel. Adieu, Hilda! Komm’ bald wieder!“

„Ja, ich gehe gleich!“ sagte Hilda, der es bei diesem hastigen, sprunghaften Gehaben ihres Bruders fast bange wurde. „Aber [172] sprich heute Abend nicht mehr dem Weine zu! Ich bitte Dich darum.“

„Er hat keine drei Gläser getrunken,“ warf Schöpf ein. „Es ist nichts als die pure Freude. Also längstens um Neun!“

„Um Neun!“ sagte sie, lehnte Halder’s Begleitung ab und eilte durch den Wald zurück.

Wohl war ihr alles klar, was geschehen mußte, aber eine Frage blieb doch, ob sich auch alles Andere günstig zu fügen schien. Dem Sturm bei Franz sah sie jetzt ruhigen Auges entgegen; es war ja viel Schwereres über sie hinweggezogen. Dem Unmuth des erzürnten Bruders Stand zu halten, schien dagegen ein Leichtes – aber wenn nun Franz heute nicht heimkam? Es war ja leicht möglich, daß er, wie es schon zuweilen vorgekommen, die Gastfreundschaft bei Saaldorf’s in Anspruch nahm und über Nacht dort blieb. Was dann – dann?

Da plötzlich tauchte wie eine erleuchtende Antwort auf ihre Frage Edwin vor ihr auf, und es war nicht nur sein Bild, sondern er selbst in voller Körperlichkeit, der ihr vom Ende des Hohlwegs entgegenkam.

Er winkte schon von Weitem und schwenkte seinen Hut.

Erstaunt aber hielt sie den Schritt an, als er sie mit einem Vorwurf begrüßte.

„Um des Himmels willen, wo stecken Sie denn? Wo waren Sie so lange? Wir sitzen schon längst bei Tische, und Sie entziehen sich uns und streifen im Walde umher, während wir Sie vergeblich zum Essen erwarten?“

„Mein Gott, ist es schon so spät? Verzeihen Sie!“ sagte sie und bot ihm mit freundlichem Lächeln die Hand. „Mir verging die Zeit so rasch.“

„Ja, in interessanter Gesellschaft zählt man die Stunden nicht. Während ich voll Sehnsucht der Zeit Flügel verleihen möchte und in steten Gedanken an Sie nach einem Symbol suche, würdig genug, meinen Gefühlen als äußerliches Zeichen zu dienen, während ich meine Seufzer als geflügelte Boten zu Ihnen sende, vergessen Sie meiner im Verkehr – im Verkehr mit anderen Männern, Hilda.“

„Es war kein heiteres Geplauder, das mich zurückhielt, Edwin – o, das können Sie mir glauben,“ erwiderte sie tief verletzt und seinen Worten den für sie einzig denkbaren Sinn unterlegend. „Meinhard war bei uns; er kam, um Abschied zu nehmen. Sie wissen doch: er ist versetzt worden.“

„Sie empfangen aber nicht blos Besuche, sondern statten auch solche ab.“

Woher wußte er –? Betroffen blickte sie zu ihm auf.

„Ich statte Besuche ab? Was bringt Sie auf diese Vermuthung?“

„Glauben Sie denn nicht an die Divinationsgabe der Liebe? Sie sieht in die Ferne. Sie hört das Lachen, mit dem sie verhöhnt wird in heimlichen Zusammenkünften.“

„Dann hört sie in diesem Falle falsch,“ fiel Hilda erschrocken ein. Dieses Pathos ging für eine Neckerei denn doch zu weit. „Aber wenn Sie es denn durchaus wissen wollen,“ sagte sie mit dem stolzen Selbstbewußtsein eines reinen Herzens, „so hören Sie: ja, ich hatte allerdings eine Zusammenkunft.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Gedenkblatt an Goethe.

(Zur fünfzigsten Wiederkehr seines Todestages.)

Fünfzig Jahre sind seit dem Tode des großen Dichters verflossen: an seinem Gedenktage gehen die Bilder seines Lebens zugleich mit den Gestalten, die er geschaffen, an unserer Seele vorüber, und wir fragen uns, was aus dem Erbe geworden ist, das er der Nation hinterlassen hat.

Vom Hause am Frankfurter Hirschgraben, wo des Patriciersohnes Wiege stand, bis zur Fürstengruft in Weimar, welch ein schöner, reicher Lebenslauf! Nach einer feurigen Jugend, hingebracht im Glück und auch in den Verwüstungen der Leidenschaft, ein rasches Einlenken in die Bahn eines geordneten Lebens, ein rasches Emporsteigen zu ersten Staatsämtern, eine durch die Freundschaft eines begabten Fürsten wie im Flug errungene hohe gesellschaftliche Stellung! Nie berührte Goethe die Noth des Lebens, die an Schiller’s Genius zehrte, und so wurde in den friedlichen Schatten der hohen Bäume an der Ilm der Apollo, der in Jugendschönheit die goldene Harfe geschlagen, zum Jupiter, der mit seinen Brauen den literarischen Olymp erschütterte. Als er zuerst in Weimar erschien, war er der Liebling der Musen und Grazien, der Frauen und Jungfrauen; selbst die Männer begeisterten sich für ihn, und Wieland, den er kurz vorher angegriffen, war, wie er selbst bekennt, so voll von Goethe, wie ein Thautropfen von der Sonne. Er war ein Kind des Glückes, schon weil er die Stimmung hatte, das Glück zu genießen, das ihm entgegenkam.

Jene Zeit der „wüthigen“ Ausgelassenheit und wilden Naturfreude ging vorüber, doch die Herzensneigungen, die sein Leben erhellten, bisweilen auch „umdüsterten“, begleiteten dasselbe in spätere Jahre. Dank dem Eifer unserer Goetheforscher sind ja sehr viele Blüthen gesammelt, welche zur Liebeschronik unseres Dichters gehören; denn diese Herren, welche eine oft recht indiscrete Laterne führen, haben sich viel Mühe gegeben, alle diese leichtgeflügelten Amoretten für das Nationalmuseum auszustopfen. Mag man vom Standpunkt der Moral aus über Goethe’s Liebesabenteuer denken wie man will, so viel steht fest: wenn es zu einem glücklichen Naturell gehört, Schönheit und Liebe, die freundlich am Lebenswege stehen, nicht auf Erwiderung warten zu lassen, dem Vergangenen und Entschwundenen aber keine unheimliche Herrschaft über das Gemüth einzuräumen, sondern ihm nur das Recht einer freundlichen Erinnerung zu gönnen, so war Goethe auch hierin ein Kind des Glückes; seine verlassenen Geliebten, wie das Pfarrerstöchterlein von Sessenheim, folgten ihm nicht als drohende Schatten nach, sondern sie wandelten verklärt auf den Asphodeloswiesen seiner Träume; stets hatte er die Elfen zur Hand, die ihm mit „Lethe’s Thau“ die Vergangenheit aus der Seele badeten oder „mindestens des Herzens grimmen Strauß besänftigten“, und wenn die Romantiker das immerhin bedenkliche Vorrecht des Genies verkündeten, daß es über die bürgerliche Moral erhaben sei, so mochten sie in dieser Beziehung mit Recht auf Goethe verweisen – wie viel sich auch vom Gesichtspunkt der Gesellschaft und der Sitte gegen diese Unbefangenheit des großen Mannes sagen läßt.

Und welch ein Glück gewährte dem gealterten Dichter die wachsende Anerkennung der Mitwelt, wie stand er in der Mitte der Weltliteratur, deren begeisterter Herold er geworden war! Die Andacht einer verzückten Gemeinde, die Bewunderung der Menge, die Huldigungen, die ihm die großen Geister und hervorragenden Köpfe der andern Völker zollten – hat jemals eine Dichterstirn ein reicherer Lorbeer geschmückt?

Doch es war nicht immer so, und das Leben, dessen Gesammtbild so sonnenhell erscheint, hatte auch seine düsteren Stunden. Da mochte auch der lebensfreudige Dichter am Leben verzweifeln und jene wehmüthige Todessehnsucht über ihn kommen, wie er sie ausgesprochen in den Versen der Waldhütte des Kickelhahns:

„Die Vögel schweigen im Walde;
Warte nur, balde
Ruhest du auch!“

Auch jener Sonnenschein des Ruhmes, von dem wir sprachen, hat nicht immer sein Leben erhellt, und in solchen Verdunkelungen mochte er an seinem Stern verzweifeln.

Das Wachsen und Werden der Classicität ist ein dunkles Geheimniß; es gab Epochen, Epochen von jahrelanger Dauer, in denen die Nation an ihre großen Dichter nicht glaubte. Goethe hatte mit seinem „Götz“ und „Werther“ einen Erfolg gehabt, der ihn zum Modedichter machte. Doch die Mode ist vergänglich und haftet an einem bestimmten Genre. Als der Dichter andere Bahnen einschlug, wollte ihm die Nation nicht folgen.

Fast alle seine Meisterwerke, welche das Piedestal seines Weltruhmes bilden, waren in der Gesammtausgabe seiner Werke enthalten, welche in den Jahren 1786 bis 1790 bei Göschen in Leipzig erschien, und diese Gesammtausgabe lag wie Blei in den Fächern des Buchhandels; er selbst schreibt darüber:

„Die Auflage meiner gesammelten Schriften fiel in eine Zeit, wo Deutschland nichts mehr von mir wußte, noch wissen wollte,

[173]

Goethe-Denkmal zu Berlin.  Goethe auf dem Todtenbette   Die Fürstengruft in Weimar.
Goethe’s Gartenhaus in Weimar.  (nach F. Preller).       Das Goethe-Häuschen auf dem Kickelhahn.
Goethe’s Geburtshaus in Frankfurt a. M.  Goethe’s Sterbehaus in Weimar.  

Zur Erinnerung an den 22. März 1832.0 Originalzeichnung von E. Hilpert.

[174] und ich glaubte zu bemerken, mein Verleger finde den Absatz nicht nach seinen Wünschen.“

Jene dunkle Epoche wird überfluthet von dem vollen Lichte, das jetzt über Goethe’s Leben ausgebreitet ist, doch man versetze sich zurück in jene Zeit; man höre den Buchhändler klagen über den Mangel an Absatz, über die unwillkommene Häufung der unverkauften Exemplare, über welche einige zierliche Lobreden der Literaturblätter nicht zu trösten vermochten. Vielleicht beneidete er den Erfolg der Cramer’schen Romane, welche im großen Publicum eine rasche Verbreitung fanden, und ein wie gebildeter Buchhändler Herr Göschen auch war, mußte er nicht irre werden an der Unsterblichkeit seines berühmten Goethe, von dem die Mitwelt so wenig wissen wollte? Konnte er damals die hunderttausend Exemplare Goethe’scher Werke ahnen, mit denen einst die Cotta’sche Buchhandlung alle Bibliotheken der Erde bevölkern würde? Und dem mißvergnügten Buchhändler trat der durch seine ersten Erfolge verwöhnte Dichter gewiß sehr zaghaft gegenüber: waren es nicht dunkle Tage und Jahre in seinem Leben, in denen er erkannte, daß der Kranz des Ruhmes, wie Tasso sagt, auch für ihn hoch und höher und unerreichbar schwebe? Mußte sich da der Dichter nicht unglücklich fühlen?

Zu jener Einsicht, die er im Jahre 1828 im Vollgenuß seines Ruhmes zu Eckermann aussprach, war er wohl in jener Epoche der Werdelust noch nicht gelangt:

„Meine Sachen können nie populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrthum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern für einzelne Menschen, die etwas Aehnliches wollen und suchen und in ähnlichen Richtungen begriffen sind.“

Doch auch sonst finden sich bei näherem Hinblick Schatten genug in Goethe’s sonnenhellem Glücke: schwere Erkrankungen, Aerger über die kleinen Nadelstiche, mit denen die Weimarische Gesellschaft ihn Jahre lang verfolgte, besonders wegen seines Verhältnisses zu Fräulein Vulpius, der kleinen munteren, runden Schwester des Rinaldini-Dichters, Aerger über die Intriguen seiner Feinde, wie sie besonders Kotzebue in nächster aufdringlicher Nähe gegen ihn anzettelte. Diese Summe des erregten Mißmuthes warf ihre Schlagschatten gewiß auf tausend sonst sonnige Tage im Leben des Dichters, dem überhaupt die wechselnden Stimmungen und Launen seines „Tasso“ nicht fremd waren. Hierzu kam ein schwerer Unglücksfall, der sein höheres Alter trübte, der Tod seines einzigen Sohnes, sicherlich einer jener Schicksalsschläge, die sich am schwersten verwinden lassen. So mochte er selbst, der Vielbeneidete, ausrufen, daß unser Leben nur eitel Müh’ und Arbeit sei.

Doch des Dichters Freude ist die Dichtung; er lebt in seinen Gestalten und lebt fort in ihnen:

„Es sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte;
Ich weiß es, sie sind ewig; denn sie sind.“

Hier freilich eröffnete sich dem großen Dichter ein Quell der edelsten Freuden, die unvergänglich auch seinem Volke zugute kommen sollten.

Goethe als Denker und Dichter war der Natur zugewendet; das Geheimniß des Pflanzenlebens erkannte er mit tiefsinnigem Blick; was das eigentliche Wesen der Farbe sei, suchte er aus einer Fülle eigener Erfahrungen zu erkennen, im Widerspruch mit den herrschenden Anschauungen, die freilich seine Polemik überlebten; auch für Steine und Sterne, für den Knochenbau und die Anatomie der Thiere hatte er ein wissenschaftliches Interesse, aber er trat an die Natur heran mit großem Minne, nicht mit der Genügsamkeit der Spezialisten, mit glühendem, unbefriedigtem Wissensdrang, dem er in seinem „Faust“ ein unsterbliches Denkmal gesetzt hat.

Ein inniges Naturempfinden athmet in seinen „Liedern“. Kein Dichter hat so wie er das Weiche, Zarte, Wonnige und Wohlige der elementarischen Gewalten und den Zauber stimmungsvoller Beleuchtungen in seinen Versen wiedergegeben: wir brauchen blos an die Ballade „Der Fischer“ und die Lieder „An den Mond“ und „Auf dem See“ zu erinnern. Mit seinem Faust durfte der Dichter sagen, daß ihm die herrliche Natur zum Königreich gegeben sei und die Kraft, sie zu fühlen, zu genießen.

So war auch die echte, unverfälschte Natur im Menschenleben seiner Muse vor allem erschlossen, und da das ewig Weibliche der Natur am nächsten steht, so wußte er ihren unvergänglichen Zauber seinen Frauen einzuhauchen. Sein Gretchen, sein Clärchen und im höheren Stil seine Iphigenie, seine Leonore nebst zahlreichen weiblichen Gestalten aus seinen Romanen gehören in der Bildergallerie der Weltliteratur zu den unerreichten dichterischen Schöpfungen. Was seine Männer betrifft, so hat er dem Leben zu oft schwächliche und schwankende Charaktere nachgezeichnet, wie sein Clavigo, Werther, Weislingen, oder er hat sie zu Trägern jener wechselnden Stimmungen gemacht, die seine eigene Brust bewegten, wie Tasso und Faust.

Und wie haben die folgenden Geschlechter dieses Naturevangelium, das Vermächtniß Goethe’s fortgebildet? Nur unsere Lyrik athmet in Naturempfindung und Stimmung oft den Goethe’schen Hauch und auf seinem westöstlichen Divan ruhten viele Sänger nach ihm; doch der moderne Realismus, der an Goethe anzuknüpfen scheint, besonders in Erzählung und Roman, verleugnet sein großes Muster wieder dadurch, daß er die nackte Trivialität und Prosa des Lebens hervorkehrt und daß über seinen Alltagsbildern nichts von dem feinen geistigen Duft schwebt, der alle Werke Goethe’s verklärt. Gegen diese Natürlichkeit hat sich der Dichter selbst in seinen „Musen und Grazien in der Mark“ mit berechtigtem Spotte gewendet, und doch ist sie später Jahrzehnte hindurch in unserer Literatur zur herrschenden Mode geworden. Was aber würde der Weimarische Dichterfürst zu dem brüsken Naturalismus der Neufranzosen gesagt haben, dessen wüster Hereinbruch in unsere deutsche Dichtung eine von Tag zu Tag wachsende Drohung ist?

Die Tendenz Goethe’s ging auf die Schönheit, und der Adel dieser Schönheit beseelte bei ihm das dichterische Wort. Niemals ist die deutsche Sprache zu solcher entzückenden Grazie aufgeblüht wie in „Tasso“ und „Iphigenie“, und nur in Schiller’s Werken findet sich gleiche unnachahmliche Prägnanz wie im „Faust“. Es kam eine Zeit, wo man es für ein Zeichen des wahren Genius ausgab, von solchen Schönheiten gering zu denken; arm an ihnen zu sein, sollte für wahren Reichthum gelten. Verschuldet hatten solche Einseitigkeit die schwächlichen Nachahmer der großen Dichter; die schöne Sprache war eine beliebte Floskel des Lobes bei den geistig Armen geworden; deshalb wandten sich dagegen die Stürmer und Dränger, die das Mark titanischer Kraft in sich zu fühlen glaubten. Die schöne Sprache gerieth in Verruf, und noch heute erregt sie in dramatischen Dichtungen das Achselzucken der Bühnenlenker und den Spott der sich so überlegen dünkenden Feuilletonkritik. Das heißt aber das Kind mit dem Bade ausschütten. Man darf die wahrhaft schöne Sprache, in welcher sich des Dichters Schwung, Eigenart und Bedeutung zeigt, nicht gering schätzen, weil matte Copien durch einen oberflächlichen Firniß von Schönrednerei zu glänzen suchen. Was wären Schiller’s und Goethe’s Dichtungen ohne ihre „schöne Sprache“? Ihre Unvergänglichkeit beruht auf dem „einmal Gesagten“, auf dem Zauber des von Geschlecht zu Geschlecht fortwirkenden Wortes, das mit dem Gedanken unlöslich verschmolzen ist. Wer freilich für den feinen Aether der Begeisterung, der über echten Dichtwerken und jedem echten Dichterwort zittert, keinen Instinct hat, der wird niemals in der Literatur Gold von Messing unterscheiden lernen.

An Goethe’s Vorbild lehnen sich aber auch die Dichter an, welche alles Gewicht legen auf die bloße Schönheit der Form und denen der geistige Inhalt ein gleichgültiger ist. Das sind die akademischen Modellzeichner, die ihre poetische Studienmappe zur Schau stellen; das sind die kleinen Goethe’s, die mit falscher Vornehmheit von ihrem Miniaturolymp herab auf die rastlos Strebenden sehen, auf diejenigen, die im Kampfe der Geister ringen und das Siegel des geistig Bedeutenden ihren Werken aufzuprägen suchen. Mit Unrecht berufen sich diese Pygmäen auf Goethe, der, wie sein „Faust“ beweist, die Löwenhaut besaß, um ganze Heere derselben wie Hercules darin einzuwickeln. Goethe’s Dichtungen wie sein Leben zeigen uns das gleiche Ideal, die Harmonie der Existenz, das resolute Leben im Wahren, Guten und Schönen. Dies Ideal sollte weder unserer Poesie, noch unserer Nation je verloren gehen. Hat sie mit der Energie sittlicher Thatkraft, welche Schiller’s Erbtheil ist, sich in großen Kämpfen ein eigenes Reich begründet, so sollte sie es ausbauen im Goethe’schen Geiste, mit Ruhe und Klarheit, mit edler Harmonie, frei von allen Verzerrungen des [175] geistigen und sittlichen Lebens, hingegeben an den Cultus des Schönen.

Mit solchem Wunsch und Streben ehren wir am besten den großen Dichter an seinem Gedenktage, der uns an die Fülle des Herrlichen mahnt, das wir seinem Genius verdanken.

„Mehr Licht!“ rief der sterbende Dichter. Das sei und bleibe die Losung unseres Volkes! Mehr Licht der Wahrheit und Schönheit und nimmer die Nacht der Barbarei! Das walte Goethe’s schützender Genius!

Rudolf von Gottschall.     




Der Aufstand in der Crivoscie und der Herzegowina.

Als im Jahre 1814 die politische Karte von Europa nach dem Gutdünken der Diplomaten wieder einmal „für ewige Zeiten“ umgestaltet wurde, gelangte Oesterreich in den dauernden Besitz der Lande, welche heute den südlichen Theil Dalmatiens bilden und deren Bevölkerung sich im Laufe dieses Jahrhunderts jetzt bereits zum dritten Male gegen die österreichische Regierung auflehnt. Einst waren die Städte dieses Küstenstriches nicht unbedeutende Handelsplätze und Pflegestätten der Künste und Wissenschaften, welche sowohl der Uebermacht Venedigs zu trotzen wie auch den Einfällen der türkischen Horden bald mit Waffen, bald mit Goldmünzen erfolgreich zu begegnen wußten. Im Anfange dieses Jahrhunderts aber war ihr Wohlstand bereits untergraben, und selbst der Freistaat Ragusa hat in den Napoleonischen Kriegen seine Macht vollständig eingebüßt, da von den 360 Schiffen, über welche diese Handelsrepublik verfügte, 300 theils von den Engländern und Russen gekapert wurden, theils im Hafen verfaulten.

Auch unter Oesterreichs Herrschaft hat sich die Bedeutung dieses Küstenlandes nicht merklich gehoben, und man schrieb die geringe Entwickelungsfähigkeit des dortigen Handels und Wandels der ungünstigen politischen Lage Dalmatiens zu, welches, einen schmalen Streifen bildend, durch die Nachbarschaft der in volle Anarchie zerfallenden Türkei stark beeinträchtigt war. Darum wurde unter den Gründen, die Oesterreich zur Occupation von Bosnien und der Herzegowina veranlaßten, auch der Umstand angeführt, man müsse für Dalmatien ein Hinterland schaffen. Und in der That wird die Neubelebung des dalmatinischen Handels einen nicht zu unterschätzenden Erfolg des Vordringens von Oesterreich-Ungarn auf der Balkanhalbinsel bilden – vorausgesetzt, daß es der österreichischen Regierung gelingt, die verwilderten Stämme der occupirten Provinzen für die culturelle Arbeit zu gewinnen. Bis jetzt ist freilich von derartigen Erfolgen noch nichts zu spüren; Bosnien und die Herzegowina haben vielmehr Oesterreich gegen 300 Millionen Gulden gekostet, und die von dem Türkenjoche befreiten Südslaven danken Oesterreich für den ihnen gewährten Schutz mit Meuterei und Aufruhr.

Während wir diese Zeilen niederschreiben, soll von den österreichischen Regimentern auf den unwirthlichen Höhenzügen der Crivoscie und der Herzegowina ein Hauptschlag gegen die Insurgenten geführt werden, und mit pochenden Herzen sehen Tausende von deutschen Familien dem Ausgange des Kampfes entgegen; denn Tausende aus dem deutschen Volke setzen dort ihr Leben ein, auf gefahrvollen Gebirgspfaden von wildtobenden Schneestürmen nicht minder bedroht als von feindlichen Kugeln.

Eine kurze Beschreibung des Kriegsschauplatzes wird daher vielerorts den Lesern der „Gartenlaube“ ohne Zweifel willkommen sein, ebenso wie die beigefügte Karte, auf welcher die Betheiligten den gefahrvollen Wegen ihrer Söhne und Väter unschwer zu folgen vermögen, welche für Oesterreichs Ansehen und den Frieden Europas tapfer einstehen.

Am südlichen Ende der dalmatinischen Küste bildet das Meer eine vielzackige, von hohen Bergen umrahmte Bucht, die Bocche di Cattaro, welche den Schiffern als ein vortrefflicher Hafen wohlbekannt ist und den Touristen durch seltene Naturschönheit entzückt. Bald fallen hier steil und kahl die Felsenwände gegen den dunklen Wogengrund ab; bald prangt das Gestade im reichen Schmucke der Vegetation, der das Auge des Fremden um so mehr fesselt, als hier, neben den nordischen Bäumen, die Orangen und Citronen, die Dattelpalmen und die Cypressen, sowie Aloe und Granatbüsche gedeihen. In dem nordwestlichen Winkel dieser Bucht liegt der kleine Handelsplatz Risano, von dem aus man am leichtesten in das Insurrectionsgebiet gelangt. Fast unmittelbar hinter Risano verändert sich der Charakter von Land und Leuten wie mit einem Schlage. Die Weingärten und Obstpflanzungen werden, je mehr man gegen das Gebirge vordringt, immer seltener, und auch der Baumwuchs verschwindet bald, bis die Gegend ein karstartiges Hochplateau, die Crivoscie, bildet, welches, mit spärlichem Grase bedeckt, nur als Weideplatz benutzt werden kann.

Nach dieser Ebene, auf welcher im Jahre 1836 das Fort Dragali erbaut wurde, führt von der Küste nur ein elender Saumweg, der sich durch zahlreiche Engpässe und an gefährlichen Schluchten vorbei schlangenartig hinaufwindet. Von Straßen im europäischen Sinne des Wortes findet man in der Crivoscie nicht die geringste Spur. Dabei zeigt hier das Gebirge all die öden und trostlosen Eigenschaften des Karstes in so hohem Maße, daß eine wildere und rauhere Gebirgsgegend schwerlich irgendwo in Europa nachzuweisen wäre.

Während man ferner an der Küste auf Ueberreste alter Cultur stößt und einem lebhaften Handel und Wandel begegnet, findet man auf der Hochebene der Crivoscie einen Hirtenstamm, der, noch in halbwildem Zustande lebend, kein geschriebenes Gesetz anerkennt und an seinen alten überlieferten Vorrechten mit Zähigkeit festhält. Als die Türken die Völker der Balkanhalbinsel unter ihr Joch beugten, wußten die Crivoscianer, gleich ihren Brüdern in den Schwarzen Bergen, sich einen gewissen Grad von Unabhängigkeit zu sichern, da ihr Widerstand in der unwirthlichen Natur ihrer Heimath einen nicht zu unterschätzenden Bundesgenossen fand. Aber gerade durch diese unaufhörlichen Kämpfe mit ihren Grenznachbarn verwildert, haben diese Hirten bis auf den heutigen Tag die barbarischen Kriegsgebräuche ihrer Vorfahren beibehalten und pflegen, wie man erzählt, den gefallenen Feinden die Nasen abzuschneiden, um nach der Art der scalpirenden Indianer Siegestrophäen zu sammeln. Wie die Montenegriner es für eine Schande halten, ohne Waffen zu erscheinen, so betrachten auch die Crivoscianer Handschar und Flinte als unentbehrliche Costümstücke, und man sieht diese Söhne der Berge wohl darum verhältnißmäßig so selten in den nahen Küstenstädten Dalmatiens, weil sie vor dem Eintritt in dieselben ihre Waffen ablegen müssen. Ein erfahrener Kenner dieses Volksstammes beschließt eine Charakteristik desselben mit folgenden vielsagenden Worten:

„Wenn ein Schriftsteller die Crivoscie den ‚österreichischen Kaukasus‘ genannt hat, so können wir ihm bedingungsweise beipflichten, wenn aber Andere die Bewohner jenes Districtes mit den Rothhäuten des amerikanischen Westens verglichen haben, so müssen wir ihnen ohne allen Vorbehalt beistimmen.“

Auf sich allein angewiesen, würden die Crivoscianer schwerlich in der Lage sein, der österreichischen Regierung ernstere Verwickelungen zu bereiten; denn alle ihre Gemeinden zusammen zählen höchstens viertausend Seelen. Sobald aber in ihren Bergen die Schüsse knallen, werden durch ihr Echo die Stammesbrüder aus Montenegro und der Herzegowina aus dem dolce far niente aufgerüttelt, und sie erscheinen sofort schaarenweise, um an dem „Kriege“ theilzunehmen. Werden die Crivoscianer dagegen von den österreichischen Truppen zersprengt, so können sie ihrerseits sicher sein, daß sie in den benachbarten Schwarzen Bergen, in dem souverainen Fürstenthum Montenegro, allezeit die gastlichste Aufnahme und den Schutz vor „fremden Bajonetten“ finden.

Die Crivoscie bildete jedoch nur den Ausgangspunkt des gegenwärtigen Aufstandes, welcher sich in kurzer Zeit auch auf den südlichen Theil der im Jahre 1878 occupirten Länder, auf die Herzegowina, erstreckte.

Im Großen und Ganzen herrscht auch hier der Karstcharakter in der Bildung des Gebirges vor; auch in der Herzegowina finden wir überall Armuth an Wasser und Lebensmitteln, sowie zerklüfteten, unwegsamen Felsboden. Das ganze Land besitzt nur eine einzige leidliche Straße, die in dem Narentathale von Mostar nach Serajewo führt, während sonst nur elende Saumwege die Communication zwischen den einzelnen Ortschaften vermitteln. Unter

[176]

Karte des österreichischen Aufstandsgebiets.

[177] den herzegowinischen Festungen gilt Stolatz (vergl. unsere Abbildung) als die bedeutendste, da sie über der gleichnamigen Stadt auf einem hohen, schwer zugänglichen Felsen erbaut ist.

Die Gesammtbevölkerung der Herzegowina betrug nach der am 15. Juni 1879 vorgenommenen Volkszählung nur 187,710 Einwohner, wiewohl das Land Oberösterreich an Flächenumfang übertrifft. Allerdings finden wir in den Städten dieses Bezirkes nicht unbedeutende Anfänge eines industriellen Wirkens. So ist z. B. die wegen ihrer Marmorbrücke einst weiterhin bekannte Hauptstadt Mostar durch ihre Gerbereien in der Umgegend zur Berühmtheit gelangt, während Fotscha, ein an der montenegrinischen Grenze gelegener Ort, seit alten Zeiten den Sitz tüchtiger Waffenschmiede bildet, welche vortreffliche Damascenische Klingen, Handschars und Messer herstellen. Im Großen und Ganzen aber ist die Bevölkerung des Landes nicht gerade arbeitslustig und betreibt die Landwirthschaft in höchst primitiver Weise, indem sie z. B. den Boden mit einem hölzernen Pfluge aus Olims Zeiten beackert.

Festung Stolatz in der Herzegowina.
Nach einer Skizze von F. Weibel auf Holz gezeichnet von H. Heubner.

Wir brauchen wohl nicht besonders hervorzuheben, daß die Kriegsführung in einem solchen Lande mit den größten Schwierigkeiten verbunden ist; stehen doch, wie schon angedeutet, den vorrückenden Truppen nicht einmal fahrbare Straßen, geschweige denn Eisenbahnen, zur Verfügung, und so sieht sich der Soldat gezwungen, bei weiteren Expeditionen seinen Proviant im Tornister zu tragen. Aber dieser Kriegsschauplatz ist dem österreichischen Generalstab nicht unbekannt, und man darf hoffen, daß er die Erfahrung der Feldzüge von 1849 und 1869 in der Crivoscie und der Herzegowina benutzen und den Aufstand in verhältnißmäßig kurzer Zeit niederwerfen wird. Für die Beurtheilung der heutigen Kämpfe ist vor Allem die Geschichte der Insurrection in den Jahren 1869 und 1870 maßgebend.

Damals sollte die im Jahre 1868 in Oesterreich angenommene allgemeine Wehrpflicht auch in den süddalmatinischen Bezirken durchgeführt werden. Wiewohl die Regierung erklärte, daß die dortigen Wehrpflichtigen nur in einer zur Vertheidigung ihrer engeren Heimath bestimmten Landwehr dienen sollten, so weigerten sich die Cattareser dennoch, dem neuen Gesetze Folge zu leisten, und beriefen sich auf ein altes Privileg, auf Grund dessen sie nur zum Seedienst herangezogen werden dürften. Als trotz dieser Proteste und einer an den Kaiser gerichteten Petition die Regierung sich anschickte, die Rekrutirung durchzuführen, griffen die Crivoscianer zu den Waffen und überfielen am 7. October 1869 ein Truppendetachement, welches der Uebermacht weichen mußte.

Die in Folge dessen gegen Mitte October von dem österreichischen Heere vorgenommene Expedition gegen die Crivoscie scheiterte vollständig, und die Truppen mußten den Rückzug antreten, ohne ernstlich auf den Feind gestoßen zu sein, da auf der Hochebene eine furchtbare Bora das weitere Vordringen derselben unmöglich machte.

Hierdurch ermuthigt, rückten nun die Insurgenten vor, verstümmelten und tödteten alle österreichischen Marodeure, die ihnen in die Hände fielen, und erschienen am 23. October vor Cattaro, welches sie sogar auf kurze Zeit eingeschlossen hatten. Nachdem es schließlich den Truppen gelungen war, die Insurgenten von der Küste in das Gebirge zurückzudrängen und das Fort Dragali zu verproviantiren, wurden Winterquartiere bezogen, und General Graf Auersperg begann mit den Crivoscianern zu unterhandeln.

Mostar in der Herzegowina.
Nach einer Skizze von F. Weibel auf Holz gezeichnet von H. Heubner.

Am 17. December wurde inzwischen General von Rodich mit [178] geheimer Instruction nach Süddalmatien entsandt, und ihm gelang es schließlich, das Land zu beruhigen. Die Form aber, in welcher der sogenannte „Friede von Knezlaz“ geschlossen wurde, war für die österreichisch-ungarische Monarchie nichts weniger als rühmlich. General Rodich bewilligte den Insurgenten vollständige Amnestie und Beibehaltung ihrer Waffen, unter der Bedingung, daß sie dieselben auf kurze Zeit niederlegen und dem Kaiser sich formell ergeben sollten. Dieser Schlußact des blutigen Dramas, welcher am 11. Januar 1870 sich abspielte, war ein lächerliches Possenspiel. Einige Hundert Crivoscianer erschienen vor dem österreichischen General, übergaben ihm ihre Gewehre und erklärten, daß sie sich dem österreichischen Kaiser unterwürfen. In väterlichem Tone hielt hierauf der General eine Strafpredigt an die Ungehorsamen und gestattete ihnen, nachdem er sie mit Geld beschenkt hatte, die Büchsen zur eigenen Sicherheit wieder mitzunehmen.

Nun knallen diese Büchsen wieder gegen die kaiserlichen Truppen, und der Grund der Auflehnung ist dieselbe Einführung der Wehrpflicht. Die Wiener Regierung hat nämlich beschlossen, die Bevölkerung von Bosnien und der Herzegowina, die bis jetzt vom Militärdienst befreit war, zu diesem Dienste heranzuziehen und zunächst die Landwehrorganisation in dem Bezirke von Cattaro durchzuführen. In den Augen der Gebirgssöhne war diese Heranziehung zu den Pflichten, die sonst jeder Staatsbürger erfüllen muß, wiederum ein schmählicher Privilegienbruch, und die Nachricht empörte sie umsomehr, als die Verheißungen, welche Oesterreich bei der Besitzergreifung des Landes gemacht hatte, noch immer auf ihre Erfüllung warten lassen. Die mohammedanische Bevölkerung weigerte sich außerdem, einem christlichen Souverain den Eid der Treue zu Wasser und zu Lande zu leisten, und schloß sich der Insurrection an. Dazu kommt es noch, daß fremde Agenten schon seit längerer Zeit das Land gegen Oesterreich aufwühlen und die Bevölkerung für panslavistische Ziele zu gewinnen suchen, um wiederum das „Bischen Herzegowina“ zum Ausgangspunkte großer kriegerischer Verwickelung zu machen.

Die Crivoscianer und ihre Brüder aus der Herzegowina ließen sich vielleicht mit Guldennoten zum zweiten Male beschwichtigen; ein südslavischer Politiker hat wenigstens an die ungarische Regierung die naive Frage gerichtet, warum man denn die Bevölkerung der Herzegowina für seine Zwecke nicht kaufen wolle. Die Rüstungen, welche Oesterreich gemacht, deuten jedoch darauf hin, daß man diesmal in Wien nicht geneigt ist, die Komödie von Knezlaz zu wiederholen, sondern beschlossen hat, den Knoten mit dem Schwerte zu lösen, wie es das Ansehen und die Würde Oesterreichs erheischt.

Auf die Andrassy’sche Occupationspolitik, vor welcher einst die deutsche liberale Partei in Oesterreich die Lenker des Staates so nachdrücklich gewarnt hat, wirft freilich der gegenwärtige Aufstand ein grelles und unheimliches Licht.




Römische Straßenjugend.

Mit Abbildungen nach Skizzen von R. Eifert auf Holz gezeichnet von A. Langhammer.


„Römische Straßenjugend!“ denkt der kritische Leser, „sonderbares Thema! Die Straßenjungen werden in Rom sein wie überall: neugierig, naseweis, lärmend, meist schlecht gewaschen, stets unartig etc.“

Allerdings lassen sich diese Eigenschaften den römischen Gassenjungen nicht ganz absprechen. Auch kann ich nicht behaupten, daß sie alle so schön sind, wie die vielen sogenannten „Knaben aus Rom“, die – mit träumerischen Augen, langen (natürlich kohlschwarzen) Locken und zugehörigem Spitzhut – bei uns in allen Kunstläden und Schaufenstern in Oel, Aquarell, Kupferstich, Holzschnitt, Stahlstich etc. ausgestellt sind.

Und doch zeichnen sie sich vor der Jugend aller andern Städte aus durch etwas Eigenartiges, das sie bald zu Lieblingen dessen machen muß, der sie auch nur eine kurze Zeit lang mit Interesse beobachtet.

Das mag zunächst seinen Grund darin haben, daß Roms classischer Hintergrund die an sich oft unbedeutendsten Dinge dem Fremden bedeutsam erscheinen läßt – also auch den Straßenjungen. Diesem Zauber des Antiken unterliegt besonders der normale Deutsche, der als Mann von classischer Schulbildung mit dem historischen „frommen Schauder“ den antiken Boden betritt; er wird leicht geneigt sein, auch die zum Theil etwas minder würdigen modernen Römer mit einigermaßen romantischen Augen anzusehen. Natürlich –! Wer in seiner Jugend Jahre lang antike Geschichte und Sprachen studirt hat, wer als Lateinschüler mit saurem Schweiß die Geographie von Rom, die sieben Hügel und die Thore der ewigen Stadt auswendig gelernt hat, der betrachtet wohl unwillkürlich mit einigem Neid die ungewaschenen Jungen, die unter diesen Hügeln aufgewachsen sind und keine Schläge und kein „Nachsitzen“ bekommen haben, um zu lernen, wo man den Triumphbogen des Constantin und den tarpejischen Felsen zu suchen hat, und wer seiner Zeit, bedroht vom pädagogischen Stab des Rectors, „aqua – das Wasser“ decliniren lernen mußte, den berührt es eigenthümlich, wenn nun hier ein barfüßiger Bengel, der gewiß nie declinirt oder conjugirt hat, mit einem Glas Eiswasser auf ihn losstürzt: „acqua, Signore, acqua fresca, acqua!“ schreiend, – als ob es nicht Zumpt’s Grammatik bedürfte, um die Sprache Cicero’s zu lernen! Ganz charakteristisch für dieses Ueberraschungsgefühl war es, wenn ein deutscher Philologe und eingefleischter Grammatikal-Pädagoge bei dieser Gelegenheit mechanisch zu antworten pflegte: „Ja, aqua, Nominativ Singularis, das Wasser – aquae, Genitiv Singularis, des Wassers!“

Allein ich kann nicht zugeben, daß alles auf Illusion beruht, was die römischen Straßentypen, insbesondere die Jugend, auszeichnet. Nein, es ist thatsächlich etwas Besonderes in ihrem Wesen: eine Verkörperung jenes eigenthümlichen Contrastes von anmuthiger Grandezza und ruheloser Lebhaftigkeit, eine komische Mischung von edler Vornehmheit und unedler Gewinnsucht, von träumerischer Sinnigkeit und ausgelassenster Fröhlichkeit, welche ja allen Südländern der niederen Stände eigen ist, aber gerade bei der römischen Straßenjugend am allerfrappantesten zu Tage tritt. Wer nur irgend ein Auge hat für den sogenannten Straßenhumor, dem springen gerade bei ihr die heitersten Scenen auf Schritt und Tritt in’s Auge, der genießt Lustspiele, wie sie in keinem Theater der Welt dramatisch lebhafter und psychologisch feiner dargestellt werden können – alles nur für einen Soldo oder eine Cigarre!

Sehen wir uns diese Schauspieler ein wenig näher an! Wir können versichert sein, sie sind nie „unpäßlich“ und stets in Action.

Wir treten Morgens aus dem Hause, im Kopf den Schlachtplan für die heute zu besichtigenden Sehenswürdigkeiten. Auf der Straße herrscht schon reges Treiben; denn die kühlere Jahreszeit will ausgenützt sein. Aber unbekümmert um den geschäftigen Menschenknäuel, der die Straße auf- und abwogt, lagern auf dem Trottoir die langhaarigen Ziegen, die der Hirt aus der Campagna früh Morgens zur Stadt treibt, um die Milch zum Frühstück zu verkaufen. Der struppige Hirt hat soeben eines der Thiere gemolken und tritt in ein Café, seine Waare auszubieten.

Jetzt fährt hinter dem nächsten Eckstein hervor – wie der Falk auf die Tauben – ein brauner, halbnackter, kleiner Kerl auf einen der nachdenklichen Wiederkäuer los, stürzt sich nieder und – saugt aus Leibeskräften am vollen Euter, daß ihm die Milch über die Wangen trieft.

Ehe der brave Campagnole herausstürzt und den langen Prügel gegen den Milchdieb schwingt, entweicht dieser mit ein paar Sprüngen – sein Frühstück hat ihn gestärkt. Hinter dem Eckstein holt er seine Zeitungen hervor, und nun nimmt er seine unterbrochene Handelsthätigkeit wieder auf, mit entsetztich unmelodischem Tonfalle sein: „ecco giornali, ecco notizie nuovissime – Fanfulla – Popolo romano – ecco gazetta!“ hinausbrüllend. Ja, „brüllend“; denn es gilt, die anderen Zeitungsverkäufer zu überschreien und die übrigen Dutzende von Verkäufern anderer Artikel zu übertäuben, die ihrerseits mit geradezu polizeiwidrigem Geschrei ihre Fächer, Zündhölzer, Zahnstocher, Stadtpläne, Heiligenbilder, Lotterieloose, Hosenträger, Pantoffeln etc. etc. anpreisen. Einzelne mit besonders schrillem Organ ausgerüstete Kerle haben ihre Waaren in Reime gebracht und singen sie nach der Melodie irgend einer bekannten Oper, deren Componist sich [179] wohl nicht hat träumen lassen, daß sein musikalisches Meisterwerk noch zu einem Text über Zündhölzer und Zahnstocher werde gemißbraucht werden – ein wahrer Höllenlärm, der den ganzen Tag über tobt.

Daß wir Fremde sind, sieht natürlich jeder der Bengel auf den ersten Blick, daß wir Deutsche sind, ebenso. Folgerichtig stürzt der erste, der uns sieht, auf uns los: „Signori, prendete questo giornale; l’imperatore di Germania è ammalato.“ (Nehmen Sie diese Zeitung – der deutsche Kaiser ist krank.) Als patriotische Deutsche, die an ihrem Kaiserhaus liebevoll hängen, kaufen wir das Blatt, um zu erfahren, worin die Krankheit Seiner Majestät besteht. Natürlich ist die Krankheit reiner Schwindel; denn dem deutschen Kaiser geht es besser als je; das Blatt erzählt sogar von einer Reise desselben, aber der Verkäufer hat seinen Zweck erreicht und ist schon längst im Gewühl verschwunden, um andere anzuschwindeln, ehe wir uns nach ihm umsehen.

Wir sind am ersten Ziel unserer Wanderung angelangt und treten in eine der unzähligen Kirchen, um irgend ein berühmtes Deckengemälde oder eine Madonna zu bewundern. Dicht gedrängt voll von Andächtigen ist der Raum; elegante Damen und Herren, Bauern aus der Campagna, Arbeiter, alles holt sich im Heiligthum den Morgensegen für das beginnende Tagewerk. Am Weihwasserbecken aber entwickelt sich eine sonderbare Scene. Zwei kleine, barfüßige Gassenjungen mit braunen Waden und Armen lechzen förmlich nach dem heiligen Wasser, allein sie sind viel zu klein, um die Hand in das Marmorbecken tauchen zu können. Was thun? Ohne jedes Besinnen biegt sich der eine vornüber: „monta, monta! (steig’ hinauf!); der andere klettert ihm auf die Schultern, taucht den Finger, nein, die ganze Hand in das Weihwasser, bekreuzt sich und springt herunter. Das geht alles wie der Blitz.

Nachdem wir die Kirche verlassen, sehen wir uns nach einem Wagen um und fahren zur zweiten Nummer unseres heutigen Programms, nach Sanct Peter. Da wir aussteigen, ist der Kutscher, wie immer, natürlich nicht zufrieden mit dem Lohn und verlangt durchaus noch eine buona mancia (Trinkgeld). Während wir mit ihm streiten, kommt ungerufen ein kleiner Kerl von sechs oder sieben Jahren herzu und sagt uns in väterlich protegirendem Gönnerton. „O nein, meine Herren, zahlen Sie ihm nicht mehr als 80 Centesimi! Das ist genug – basta questo.“ In demselben Athem bittet er sogleich um einen Soldo für seine Intervention; wir lachen, geben ihm ein Geldstück, das er mit gnädigem: „grazie, Signore! a rivederla“ (Danke, auf Wiedersehen!) annimmt, dann aber entweicht er flüchtig; denn der Kutscher greift ingrimmig nach der Peitsche, um ihm die Vermittelung seinerseits zu belohnen.

Kaum haben wir zwanzig Schritte gemacht, als bereits ein anderer Junge herbeieilt mit geschäftigem:

„Si, Signori, Sie haben ganz Recht, hier geht’s nach S. Pietro in Vaticano – also einen Soldo!“

Welch logische Begründung! Natürlich jagen wir ihn fort, aber nach ein paar Augenblicken kommt ein Dritter herbeigestürzt:

„Mein Herr, mein Herr, Sie verlieren Ihr Taschentuch. Also einen Soldo!“

Vom Verlieren des Taschentuches ist natürlich keine Rede; das Taschentuch sieht nur vorschriftsmäßig etwas aus der Brusttasche hervor. Auch dieser Versucher wird abgewiesen – allein wir kommen vom Regen in die Traufe. Schnurstracks steuert ein kaum fünfjähriger Stiefelputzer mit hochgeschwungenen Bürsten auf uns zu:

„Die Stiefel, meine Herren!“

Da wir nicht so eitel sind wie die römischen Herren, die mindestens jede Stunde ihre Stiefeln putzen lassen, ignoriren wir diese Mahnung. Doch er zieht andere Saiten auf:

„Aber, meine Herren, solche Stiefel!“ ruft er vorwurfsvoll und läuft neben uns her. „O Dio mio! welch schmutzige Stiefel! O santa madre di Dio! welche Stiefel! O, meine Herren – nein, wie schmutzig! O, meine Herren – nein, es thut mir leid, meine Herren – in der That – aber nein, solche Stiefel – es thut mir leid um Sie, in fatto! es thut mir sehr leid, sehr!“

Das Alles im wärmsten Tone tiefinnigster moralischer Ueberzeugung! Das reine, uneigennützige, mitleidsvolle Bedauern mit einem Freunde, den man auf schlechten Wegen sieht – es kann nicht überzeugender und eindringlicher gegeben werden, als es dieser kleine Teufel thut, da er unsere Stiefeln putzen möchte „per due soldi“ (um zwei Soldi). Aber Alles hilft nichts; wir wollen unsere Stiefel durchaus nicht putzen lassen. Da, endlich, ergreift er sein letztes Mittel: mit lautem Gejohle verfolgt er uns:

„Oho, seht diese Deutschen! Dieses sind Deutsche. – Man erkennt alle Deutschen daran, daß ihre Stiefel nie geputzt sind.“

Nun, das geht uns denn doch zu nahe an unsern Nationalstolz: wir sind geschlagen und erlauben ihm lachend, unsere Stiefel zu putzen. Er putzt und erhält zwei Soldi; unsere Ehre ist gerettet, und wir können das Vaterland wieder würdig repräsentiren – was die Stiefel betrifft.

Man könnte hieraus schließen, diese kleinen menschlichen Blutegel, die nie um Mittel der Reclame verlegen sind und nie um einen Grund, einen Soldo zu erbitten, sie seien in der That mehr niederträchtige Krämer als liebenswürdige Schauspieler. Allein dieser Schluß wäre zu hart; man bedenke, daß sie meist aus directer Noth handeln; sie sind fast sämmtlich auf sich angewiesen und haben keine Eltern, die ihnen gegenüber eine Verpflichtung fühlen. Und andererseits ist es sicher, daß sie in das liebenswürdigste Gegentheil umgewandelt werden, sodald man einen wirklichen Dienst von ihnen verlangt. Ein paar Soldi oder eine Cigarre machen Jeden zum diensteifrigsten Gehülfen, zum besten Führer und zuverlässigsten Geschäftsträger. Mit angelegentlichster Sorgfalt bezüglich des kürzesten Weges führt uns Jeder, dem wir zuvor eine Cigarette anbieten, durch die Straßen, und mit komischer Grandezza entläßt er uns am Ziele mit einem pathetischen „Auf Wiedersehen, meine Herren!“ als ob er uns an die Pforten der Unterwelt hätte führen müssen und sich im Trennungsschmerze nur auf ein Wiedersehen im besseren Jenseits vertröste.

Wir führen unser Pragramm durch, und nachdem wir, vom überwältigenden ersten Eindrucke des gewaltigen Baues von S. Pietro ganz erfüllt, uns wieder in’s Freie gerettet haben, wandern wir zurück durch die volkreichen Straßen, froh, den riesengroßen, saharagleichen Platz vor St. Peter in der schattigen Colonnade Bernini’s umgangen zu haben, und froh, durch das lebhafte Treiben in den Straßen dem allzu imponirenden Eindrucke des architektonischen Weltwunders entzogen und der Alltäglichkeit näher gerückt zu werden. Mit besonderem Geschicke arbeiten an unserer Ernüchterung natürlich wiederum – die Straßenjungen, dieses verkörperte Gegengewicht gegen allzu gesteigerten Kunstenthusiasmus! Und was treiben jene Kobolde dort? Hat man je so etwas gesehen? Lieber Himmel, seit wann wird das Trottoirpflaster denn gewichst wie ein Paar Stiefel!? Ein dichter Menschenknäuel umgiebt in weitem Bogen zwei Stiefelputzerjungen, welche, etwa zehn Schritte von einander entfernt, auf dem Boden knieen und, in wahrhaft grimmiger Hast, das Trottoir mit Glanzwichse beschmieren.

Jauchzender Zuruf aus der Menge feuert jeden der beiden Wetteifernden zu erneuter Arbeitswuth an; mit vor Aufregung feuerrothen Köpfen schmieren die zwei Bengel darauf los, als gälte es, durch Wichseconsum einen Ehrenpreis im Schmier-Wettstreit zu erringen.

Was denn los sei, fragen wir einen der Umstehenden. Kaum hat er vor Interesse an dem Wettkampfe Zeit, uns zu erklären, daß dies zwei Stiefelputzer sind, von denen jeder den andern, seinen Concurrenten und Todfeind, „ruiniren“ will. – Und wodurch? Dadurch, daß jeder dem andern sein Bürsten- und Wichsekästchen entrissen hat und nun den Vorrath des Gegners auf’s Pflaster verschmiert. Welch abenteuerlicher Zweikampf! Welch aufregendes Schauspiel! Kaum ist ein Schächtelchen verschmiert, so wird wüthend in den Kasten gegriffen, ein Ruck – eine neue Dose aufgerissen, hinein mit der Bürste – und den Inhalt auf die Steine gerieben. Keuchend, schweißtriefend, in teuflischer Wuth wird gearbeitet – wieder eine Büchse leer! – „un’ altra scatola, avanti! presto!“ (noch eine Dose! vorwärts, schnell!) jauchzt die Menge umher. Auf’s neue gereizt reißt jeder eine neue Büchse heraus – den Deckel weg und losgeschmiert, daß die Patentglanzwichse umherspritzt wie die Sprengstücke einer krepirenden Granate – „bene, bene, avanti, presto!“ (bravo, bravo, drauf, drauf!) schreien die Umstehenden in ausgelassener Lust. Wieder eine Dose leer – ein blitzschneller, prüfender Blick herüber und hinüber, wie weit der Gegner voran ist mit dem Zerstörungswerk – und wieder und wieder wird geschmiert, gerieben, gebürstet, daß die Haare fliegen!

Aber jetzt ist der Wichsevorrath zu Ende; jetzt geht’s an die [180] Bürsten selbst. Die Borsten werden mit rasender Hast herausgezerrt, zerstäubt, zertreten, zerstampft – jetzt kommen die Kästen d’ran; die Bretter werden aus einander gerissen, die Nägel am Pflaster zerstoßen. Jetzt – jetzt ist alles, alles vernichtet; jetzt richten sie sich auf, ein Wuthgeschrei, ein Sprung da und dort, auf einander los, und man sieht nur noch eine unförmliche Masse am Boden sich wälzen, aus der je und je ein Kopf, eine Faust, die nach dem feindlichen Ohr faßt, ein Arm, ein Fuß herausschnellt – alles das kollert nur so über einander; die Höschen fliegen in Fetzen; die Haare stieben umher; die Kämpfer verbeißen sich in einander wie zwei Hunde. Jetzt endlich wird der Zuschauermenge die Sache zu kritisch. Einige Polizeisoldaten reißen die Kämpfenden aus einander. Mit blutigen Gesichtern, keinen ganzen Faden mehr am Leibe, stehen sie jetzt da, keuchend, in Schweiß gebadet und – fangen an zu heulen? – O nein! „un’ soldo, Signori o, un’ soldo!“Eingesammelt wird jetzt bei den Zuschauern als Lohn für die – „Vorstellung“!

Zeitungsjunge.

„Einen Soldo, meine Herren, ein Trinkgeld für den armen Stiefelputzer!“

„O, mein Herr, einen Soldo; ich habe keine Bürsten mehr; o, ich bin so arm und habe noch drei kleine Brüder zu Hause, o, und mein Vater ist todt, o, und meine Mutter ist krank – also einen Soldo!“

Und alles lacht; da und dort klirrt ein Geldstück in die kleine Hand, die soeben noch des Feindes Kopf bearbeitet hat und nun so unschuldig bittend ausgestreckt wird; reich ist der Lohn, den sie einsammeln – noch einen drohenden Blick auf den Gegner, einen selbstbewußten auf das schwarzglänzende Trottoir – und dann: „Danke, adieu, auf Wiedersehen, meine Herren!“ und beide trotteln ab nach verschiedenen Seiten, und die Menge zerstreut sich lachend.

Ja, wer solche Scenen nicht selbst mit angesehen hat, macht sich keinen Begriff von der überwältigenden Komik derselben. Es sind Scenen, die einen Hendschel förmlich begeistern müßten, ganze Skizzenbücher mit ihnen zu füllen.

Vor dem Weihwasserkessel.

Und wie bezeichnend ist die Gefechtsmethode der Combattanten für ihr ganzes Wesen! Wenn unsere Buben auf einander eifersüchtig sind, so prügeln sie sich eben einfach. Der Italiener aber, speciell der Römer, ist Geschäftsmann vom Mutterleibe an – zuerst wird des Gegners Waarenvorrath vernichtet, seine Concurrenz zerstört; dann erst wird man handgemein: eine diabolische Taktik!

Und weiter geht unser Weg. Wir schlendern hin und her, über die Engelsbrücke, durch dichtbevölkerte, enge Straßen, über die Piazza del Popolo und die prächtige Marmortreppe zum Monte Pincio, wo Abends die elegante Welt Corso fährt, derweil die Sonne rücksichtsvoll hinter St. Peter’s Kuppel sich zurückzieht und die Cypressen im leichten Abendwinde ihre Zweige regen, die Fontainen kühlend plätschern und rauschende Musik durch den Park schmettert.

Orangen-Verkäufer.

Fast wären wir geneigt, sentimental zu werden, aber so lange die satanischen Gassenjungen mit ihren Orangen- und Kirschenkörben uns nicht in Ruhe lassen, wird das wohl nicht gelingen. Unter jedem Baum, auf jeder freien Platte der Balustrade, bei jeder Bank haben sie ihre Niederlage, und wehe dem, der so unvorsichtig ist, einen der Früchteverkäufer eines Blickes zu würdigen – es ist ganz unmöglich, ihn wieder los zu werden, ehe man ihm eine Orange abgekauft hat.

Mit Hast ordnet hier ein vielleicht sechsjähriger Händler seine Früchte zu gefälligerem Ensemble in dem schlechten Korbe; ein wohlgenährter Reisender kommt ihm unkluger Weise zu nahe; nun stürzt der Junge auf ihn zu, setzt den Korb ihm dicht vor die Füße, tritt theatralisch einen Schritt zurück und haucht in augenverdrehender Verzückung:

[181] „O dio mio, che belle orange!“ (Ach mein Gott, was für schöne Orangen!)

Dabei eine Haltung, die, in Schiller’sches Deutsch übersetzt, ungefähr sagt: „Sieh her und bleibe deiner Sinne Meister!“ Der verliebte Prinz, dem die schöne, arrogante Turandot sich entschleiert – er kann nicht geblendeter vom Glanz ihrer Herrlichkeit sein, als der pockennarbige Bursche hier vom Anblick seiner schmierigen Orangen es zu sein scheint. Freilich erscheint er plötzlich wieder sehr gefaßt; die Verzückung hat ihm den Verstand nicht ganz geraubt; denn da der Fremde lächelnd weiter schreitet, hat er doch noch die Geistesgegenwart, ihn um eine Cigarre anzubetteln. Ob mit Erfolg, vermögen wir nicht abzuwarten; denn schon sind wir selber umlagert von einer Anzahl gleicher Kobolde – wir waren ja so unvorsichtig zu lachen, das kostet nothwendig einen Soldo oder eine Cigarette.

Siesta.

Und wie wird sich wohl jener Herr dort von ihnen loskaufen, der an der Skizzenmappe unter dem Arm schon von weitem als Zeichner oder Maler kenntlich ist? Der Arme! Er weiß noch nicht, wie sehr er in Rom als „Pittore“ mit Modellanerbietungen geplagt sein wird. Schon ist er von einem Bengel attakirt, der ihm mit lautem: „Hier bin ich ja, mein Herr!“ selbstbewußt entgegeneilt.

Der Herr mit der Mappe scheint sich zwar nicht zu erinnern, ihn bestellt zu haben, besieht sich vielmehr den schwarzen Burschen mit Befremden. Der aber läßt sich nicht beirren:

Stiefelputzer.

„Ja, ja, mein Herr, Sie suchen mich; gewiß, mein Herr! Ja, Sie wollen mich malen. Vabbene! Wie wollen Sie mich malen? So – oder so?“

Dabei nimmt er, weiß Gott welche, malerische Stellung an, wie er sie den Statuen oder den Gemälden in den Fenstern der Kunsthandlungen abgelauscht hat. Aber keine dieser „Posen“ will dem Maler imponiren; ungeduldig sagt der Kleine, der fortwährend neben ihm her eilt: „Aber so werden Sie mich doch malen?!“

So anmuthig wie möglich beugt er seinen kurzhaarigen Kopf vorwärts; die eine Hand wird stramm vorgestreckt, die andere legt sich mit gekrümmtem Zeigefinger an die Wange; tänzelnd hüpft er in die Höhe, die Beine graziös balancirend – o ja, man sieht klar, was er als Trumpf vorführt: es ist Amor, der auf den Wolken leichtbeschwingt einherschwebt und eben den sichertreffenden Pfeil auf sein Opfer entsendet hat! Daß Amor in diesem Falle nicht allzu sauber gewaschen dem Olymp entronnen zu sein scheint, stört ja die Illusion in keiner Weise.

Allein der Herr Maler ist ganz unempfindlich gegen die Gliederverrenkungen Amor’s – er hat offenbar gar keinen „Blick“ für Schönheit. Verzweifelt giebt Amor sein Spiel auf.

„Dann geben Sie mir wenigstens einen Soldo oder eine Cigarre.“

Ein Amor-Modell.

Unser Tag geht zu Ende. Aber noch ehe das Tageslicht ganz verschwunden ist, erleuchten Tausende von Laternen die Plätze und Straßen, auf deren Trottoiren sich Stuhl an Stuhl, Bank an Bank in endloser Kette an einander reihen; Kaffeetrinker und Sorbettoschlürfer haben sich in dichten Gruppen plaudernd und lachend darauf niedergelassen: sie freuen sich der nächtlichen Kühle, froh, daß wieder ein heißer Junitag überstanden ist. Aber unter den eleganten Kaffeetischchen, zwischen dem Gewimmel der Menschen- und Stuhlbeine hindurch winden sich in schlangenartiger Geräuschlosigkeit die unvermeidlichen Gassenjungen, die geschmeidig von einer Gruppe zur andern krabbeln, um nach Cigarrenstummeln zu fahnden. Kaum wirft einer der rauchenden Kaffeeschlürfer einen Cigarettenrest weg, so fahren blitzschnell zwei, drei nackte braune Arme unter jedem Tisch und Stuhl hervor – eine kurze Balgerei, ein leidenschaftliches „va via!“ („weg da!“), [182] einige „maledettos“ („verflucht!“) – und der Sieger, der den schmutzigen Cigarrenstummel errungen hat, erhebt sich mit virtuoser Grandezza, lehnt sich großartig faul an die nächste Wand oder Laterne, den zerfetzten Stummel im Mundwinkel und mit überlegener Blasirtheit das Menschengewühl überschauend –: Guter Gott! wie so nichtig verschwinden doch all die Sorgen des Lebens, wie eitel und kleinlich erscheinen all die Leidenschaften der Welt, wenn man so Abends behaglich seine Cigarre raucht – und sei’s auch nur „kalt“!

Aber wo übernachtet denn diese Bande? O, Nachtlager giebt es in der heiligen Stadt genug! Daran hat ja Rom einen wahren Luxus! Wozu wären denn sonst überhaupt alle die Säulenhallen, die Kirchenportale, die Nischen an jeder Capellenmauer? Hinter den marmornen Beinen der Heiligenbilder, die in jeder Nische paradiren, schläft sich’s trefflich, und besonders bequem hat man’s auf der rundlich gefalteten Schleppe der unzähligen Madonnenstatuen; des heiligen Petrus opulenter Mantel deckt brillant vor dem widerwärtigen Mondschein, und der heilige Sebastian ladet förmlich ein, hinter ihm sich zu Schlaf zu legen. Wozu auch wäre denn die Basilika des Constantin mit ihren vortheilhaften Tonnengewölben über jedem der kolossalen drei Bogen, wozu die schön gerundeten Thore und gar die Triumphbogen, wenn nicht die Straßenjungen des modernen Rom darunter ihr Nachtquartier suchten? Auch das Colosseum mit seinen achtzig Portalbogen wäre eine schätzenswerthe Nachtherberge. Allein hier ist der Umstand etwas störend, daß in einem der Portale die Polizei ein Sicherheitswachlocal eingerichtet hat, und vor der Polizei hat der hoffnungsvolle Gassenbengel stets eine gewisse unbestimmte Scheu; auch ist es unangenehm, daß häufig von sentimentalen Reisegesellschaften im Colosseum Nachts bengalische Beleuchtungen arrangirt oder gar beim Mondschein Concerte gegeben werden: nein, solche Abgeschmacktheiten und Schlafstörungen liebt der junge Römer nicht. Lieber noch legt er sich auf das bloße Pflaster oder auf eine breite Hausschwelle, und wenn wir endlich gegen Mitternacht, müde vom vielen Sehen, nach Hause schlendern, stolpern wir wohl noch unter der Hausthür über ein Paar kurzer, nackter Beinchen, deren schlaftrunkener Eigenthümer, ohne sich aufzurichten, nur noch mechanisch die Hand ausstreckt: „un’ soldo, Signore!“

Und so lebt Tag für Tag die römische Straßenjugend, jedes Einzelexemplar ein drolliges Gemisch von Gutmüthigkeit und Teufelei, Naivetät und Gaunerei. Im beständigen Kampfe um’s Dasein wachsen sie auf und werden groß auf der Straße; sie ist ihre Heimath und ihre Schule zugleich. Geradezu neiderweckend ist die grenzenlose Leichtlebigkeit, mit der so ein römischer Gassenjunge durch’s Leben schlendert; er kennt keine Sorge als die um das unmittelbar Nöthige, keinen Kummer als den, daß augenblicklich keine Cigarre zu haben ist. So wächst er allmählich zum jungen Manne heran, ausgestattet mit aller Lebensklugheit und Gewandtheit. Geradezu zu Allem ist er brauchbar, nur nicht zum Stillsitzen. Vorzügliche Diener, die findigsten Soldaten, die anspruchslosesten Arbeiter erwachsen aus diesen Straßenjungen Roms – freilich auch – Taugenichtse und Verbrecher.

Jedenfalls sind diese kleinen Teufel eine interessante, lebensvolle Staffage des ewigen Rom – wenn nicht um ihrer selbst willen interessant, so doch gewiß als Contrast, gegenüber der Würde und Größe, welche sie rings umgiebt, gegenüber dem classischen Boden, auf dem sie wandeln.
R. Eifert.     




Ketten und Verkettungen.

Novellette von B. Oulet.
(Fortsetzung.)


Nicht wahr, der Stoff, den ich zu behandeln habe, ist gigantisch? – Urtheilen Sie selbst: die Kette aller Ereignisse, also Geschichte; die Kette der Berge, Länder und Meere, also Erdbeschreibung; dazu noch die Kette der Sterne und Sonnen, nämlich Astronomie! – Endlich: die Verkettung der Herzen, also – Liebe!

Ich werde das Werk in Bände eintheilen müssen, die Bände in Bücher, die Bücher in Abschnitte, die Abschnitte in Capitel und die Capitel in Paragraphen. – Nur planmäßig vorgehen! Und nur immer die erste Idee festhalten, sodaß die folgenden eine aus der anderen hervorgehen und jeder Satz sich an den vorigen zu lehnen scheint! Es wäre doch traurig, wenn ein Werk, welches von der Verkettung aller Dinge handelt, nicht selbst eine ununterbrochene Folge von Gedankengliedern aufwiese.

Sie ist vielleicht verheirathet – und unglücklich verheirathet? Oder ist sie eine von Bartolo bewachte Rosine? – Wie werde ich ihr schreiben? Ungefähr so:

„Sie haben mir die Aufgabe, Ihnen zu antworten, sehr erschwert, meine interessante Correspondentin; denn Sie wollen aus meinem Briefe ersehen, ob ich eine Seele habe.

Du lieber Gott! Dieses unfaßbare Ding, über dessen wirkliches Bestehen seit Plato bis heute so viel disputirt und argumentirt wurde, ohne daß dafür ein endgültiger Beweis aufgestellt worden, Sie wollen dieses unfaßbare Ding zwischen den Zeilen eines poste-restante-Briefes flattern sehen? –

Uebrigens weiß ich ganz gut, was Sie meinen. Ich kann mir denken, wie man Ihrem in dichte Schleier gehüllten, feinen Seelchen mit aller möglichen Zartheit nahen muß, wenn es nicht gleich davon fliegen soll.

Schade, daß ich kein Dichter bin! Vielleicht würde es mir dann gelingen, das leise Zittern in Worte zu kleiden, in welches meine Seele durch den Hauch des Geistes versetzt wurde, der aus Ihren Zeilen weht – und damit wäre auch die Thatsache meines Seelenbesitzes festgestellt. Aber ich bin kein Poet – und so müssen Sie meiner einfachen Versicherung Glauben schenken, daß ich Ihr Vertrauen verdiene, holde Unbekannte. Mein Wort als Gentleman darauf!

Vor allem – Ihre Maske ehrend – liegt mir daran, mich Ihnen mit aller Offenheit vorzustellen: mein Name ist Emil Baron Ritterglas, und ich lebe auf dem Gütchen Steineck, meinem Eigenthum. Damit ist Ihnen freigegeben, über meine Person, meinen Charakter und meine Verhältnisse alle näheren Details, die Sie etwa interessiren könnten, zu erforschen.

Ich weiß nicht – und Sie wissen es wahrscheinlich selbst nicht genau – was Sie auf den brieflichen Ausflug zu erleben wünschen. Sie folgen eben nur der Spur des Unbekannten und warten – auf das Unerwartete. Mein Fräulein, ich bin Ihnen die Erklärung schuldig, daß der Ausgangspunkt dieses brieflichen Abenteuers, meine Annonce, nicht in einer überlegten Absicht begründet ist, sondern als Ergebniß einer Ideenverbindung entstand und auf Eingebung des Moments in die Welt hinausgeschickt wurde. Das schließt nicht aus, daß ich, wie jeder andere Junggeselle an meiner Stelle, ein junges, schönes, geistvolles – und allenfalls auch reiches Mädchen mit größtem Vergnügen zu meiner Hausfrau machen würde. Das wird Ihnen sehr begreiflich erscheinen.

So viel zur Beleuchtung meines Inserats. Doch können wir, wenn Sie wollen, dasselbe ganz bei Seite lassen und als Ausgangspunkt unserer Correspondenz Ihr Schreiben betrachten, welches einen Weg betritt, der zu keinem bestimmten Ziele führt.

Sie sind nicht glücklich und nicht frei, sagen Sie. Ich weiß also nicht, welche Rolle mir zufallen wird: werde ich Sie glücklich machen und befreien – oder nur ein wenig trösten und zerstreuen sollen?

Ich meinerseits bin frei – soweit man es eben sein kann; denn ich bin der Ansicht, daß wir alle mehr oder minder Fesseln tragen, aber mich bindet keine Familie, kein Staatsdienst, kein Liebesband und ich kann somit, verehrte Correspondentin, meine Zeit, mein Herz oder – wenn es sein muß – mein Leben Ihrem Dienste weihen.

Mich nimmt zwar ein Gedanke ganz hin, nämlich die Composition eines umfangreichen Werkes –“

Da fällt mir ein, daß ich mich in meiner Arbeit unterbrochen habe. Ich verfüge aber jetzt nicht über die zur Wiederaufnahme derselben erforderliche Sammlung. Ich werde das obige Brief-Brouillon abschreiben und expediren, dann aber etwas spazieren reiten. O, ich habe einstweilen genug an der Schreiberei.

*  *  *

[183] Drittes Blatt! – Acht Wochen ohne zu arbeiten!! Wenn ich so fortfahre, wird mein Werk in zehn Jahren nicht fertig werden. Aber wie soll ich auch meinen Geist mit metaphysischen Studien beschäftigen, wenn er so ganz eingenommen ist von dieser köstlichen Correspondenz mit meiner herrlichen Diane. So unterschreibt sie nämlich nun ihre Briefe.

Mit fieberhafter Spannung sehe ich jeder Post entgegen; mehrere Stunden täglich bringe ich mit Antwortschreiben zu – ich glaube, ich habe in dieser Zeit mindestens dreihundert Druckseiten an jene poste restante-Adresse geschickt – ganze Memoiren! Auch ihre Briefe werden immer häufiger und länger. Ich glaube, sie hat mir in den fünfundzwanzig Octavbogen, die ich Glücklicher nun von ihrer Hand besitze, Alles mitgetheilt, was sie im Leben gedacht und empfunden hat, ohne jedoch ihre äußeren Verhältnisse zu verrathen. – Welch ein funkelnder Geist, welch eine glühende Phantasie, welch ein tiefes Gefühl! Ich bin verliebt. Ja – einfach rasend verliebt.

Es thut mir wohl, daß ich die stürmischen, sehnsüchtigen und leidenschaftlichen Regungen, die sich meiner bemächtigt haben, in eine kleine bündige Formel zu fassen wußte, in die Formel: rasend verliebt.

Beneidet mich Alle, Ihr armen Nichtverliebten! – Nicht um eine Million tausche ich mit Euch. – Diane! Diane!

Sie hat mir auch ihre Photographie geschickt. Dennoch weiß ich nicht, ob sie schön ist; denn das Bild zeigt mir nicht ihre Züge, aber die Composition des Bildes selbst ist ein kleines kokettes Gedicht: die Decoration derselben zeigt nicht die traditionelle Säule, auf welcher einige Albums liegen, auch nicht die bekannte Landschaft als Hintergrund.

Nein, wir sehen eine breite Treppe, von welcher eine anmuthige Frauengestalt in reicher Balltoilette herabsteigt. Die Dame stützt sich mit einer Hand an das Geländer; mit der andern hält sie ein großes Rosenbouquet, in welches sie – scheinbar dessen Duft einathmend – ihr Gesicht vergräbt. Man sieht von demselben nur die löckchenbedeckte Stirn, fein gezeichnete Brauen und gesenkte Augenlider. Von dem Blumenstrauße hängt eine Bandschleife herab, auf deren einem Ende mit kleinen Lettern die Worte stehen: „Cela n’engage à rien“. Auf der Stufe hinter der Schreitenden breitet sich die Schleppe des Kleides aus, während man auf der vordersten das zum Herabsteigen hervorgesetzte feine Füßchen sieht.

Wenn sie auch ihr Gesicht verhüllt, so ist es doch eine bestrickende Schönheit der Formen, welche diese herrliche Frau schmückt. Diese herabfallenden Linien des Nackens, dieser entblößte volle Arm, diese reizende Taille, diese zarte, grübchengeschmückte Hand und endlich dieser liebliche Bau des Fußes – all dies gewährt ein Bild des vollendeten Reizes.

Außerdem ist die Haltung von so ungezwungener Grazie, von so vornehmer Eleganz, daß das Original dieses Bildes – wenn auch die verborgenen Züge unbedeutend wären – eine bezaubernde Erscheinung sein muß.

Ich habe noch keine Ahnung, wer meine Correspondentin eigentlich ist. Ich habe auch keinerlei Spionirsystem angewendet, um das Geheimniß zu ergründen, und weder bei der Post, wo sie die Briefe holen läßt, noch bei den Photographen der Residenz Nachforschungen angestellt. O nein, ich will nicht spioniren. Der Name des Photographen ist zwar von der Rückseite des Bildes wegradirt, doch könnte man vielleicht durch vorsichtige Nachfragen in den ersten Ateliers auf die gewünschte Spur gelangen. Aber sonderbar – bis jetzt empfand ich nicht einmal die Neugierde, Name und Stand meiner Briefstellerin zu erfahren.

Gerade das Geheimnißvolle erhöht den Reiz. Dabei hegte ich bisher die stille Hoffnung, daß sie einst selbst das maskirende Bouquet vom Antlitz entfernen würde – um mir eine Rose daraus zu schenken. ... Aber jetzt fängt die Ungewißheit an, mich zu quälen. Soll ich ihr schreiben, daß ich sie liebe? Ach, warum frage ich nur noch? Ich kann ja doch nicht anders. Also ich schreibe ihr!

 „Diane!

Auf die Gefahr hin, das Traumbild zu verscheuchen, das mich seit Ihrem ersten Briefe umgaukelt, wage ich eine Sprache, die uns aus der Welt der Phantasie in die der Wirklichkeit zurückversetzt.

Vor allem das Geständniß, daß ich Sie liebe, Diane! Sie wissen recht gut, daß es nicht anders kommen konnte. In fünfundzwanzig Bogen enger Schrift haben Sie alle Reize des Geistes entfaltet, alle, sage ich, die nur fähig sind, einen empfänglichen Sinn zu bestricken: Sie haben den Schleier ein wenig gelüftet, der Ihr Herz verhüllt, Ihr schönes, liebes Herz; Sie haben mir in dessen Tiefen kürze Einblicke gewährt; Ihr halbverhülltes Bild hat mich Ihre Schönheit errathen lassen – und ich sollte nun nicht flehen: Diane, Holde, Herrliche, werde die Meine!?

Wenn Sie nicht frei sind, – nun, es giebt ja doch Ketten, die man sprengen kann, aber sollte dies nicht angehen, sollten Sie durchaus nicht mir angehören können, oder etwa gar nicht existiren und – o schrecklicher Gedanke! Briefe und Bild nur Fiction sein, o, dann lassen Sie mich nicht länger in meiner Täuschung schmachten!

Ich bin entschlossen, Ihnen nachzuforschen, Diane. Entweder soll die mich bis zum Wahnsinn berückende Traumgestalt in Nichts zerfließen, oder ich werde den Schleier zerreißen, der mir die Geliebte verbirgt; ich werde ihr mit eigener Stimme sagen, was meines heutigen Briefes einziger Inhalt ist: Diane, ich liebe Dich.“

Ja, diesen Brief will ich noch heute absenden und in drei Tagen kann die Antwort in meinen Händen sein. Wie werde ich die lange Zeit tödten? An das Ausarbeiten meiner philosophischen Notizen kann ich leider nicht mehr denken. Ein Verliebter, der über allgemein menschliche Gefühlserscheinungen philosophiren wollte, wäre er nicht wie ein galvanisirter Frosch, der Betrachtungen über Muskelzuckungen anstellt? Vorüber ist es einstweilen mit meiner subjectiven Weltanschauung – vorläufig bin ich ein Object.

Diane! Diane! Wie wird Deine Antwort lauten?!

*  *  *

Da ich in diesen Blättern obige Frage niederschrieb, so will ich nun auch deren Beantwortung hier eintragen. Gewährt es mir doch auch eine erneute Freude, den unzähligemal gelesenen Brief abzuschreiben:

„Ihre ungestüme Sprache, Ritter Emil, hat mich erschreckt, aber wenn ich gleich ein wenig zittere, so ist es mir doch nicht unlieb, dieses Zittern. Das ist es wohl, was man ‚süße Schauer‘ zu nennen pflegt. Ja, sehen Sie, ich habe so vieles nennen hören, was die Glücksgeschichte des Weibes ausmachen soll: Allgewalt der Schönheit, Gluth der Leidenschaft – und wie alle diese Flügelschläge des Herzens heißen, welchen man bei Dichtern und Romanschreibern begegnet – ich habe sie nennen hören, aber selbst empfunden habe ich einen Hauch dieser Gefühle noch niemals.

Erst jetzt, Ritter Emil, in diesem eigenthümlichen Briefwechsel, tritt jene ganze Traumwelt der Wirklichkeit ahnungsvoll an mich heran – und ich zittere – und lächle dabei.

Verehrter Herr Correspondent, forschen Sie mir nicht nach! Ich bin entschlossen, die Maske selbst fallen zu lassen, sobald es an der Zeit ist – und fürchten Sie nicht, daß mein Wesen in ‚nichts‘ zerfließe! Die Photographie ist mein Bild; die Briefe sind mir aus der Seele geschrieben, und jedes Wort darin ist der Spiegel meines innersten Seins.

Ich zweifle meinerseits nicht an Ihrer Aufrichtigkeit. Sie haben sich mir im ersten Briefe schon zu erkennen gegeben, sodaß mir über Ihre gesellschaftliche Ehrenhaftigkeit kein Zweifel aufkommen konnte, und was den Werth Ihres Geistes- und Gefühlslebens betrifft, so haben mir Ihre Folianten denselben genügend dargethan.

Der kleine Wahn, mein Theurer, in dem Sie befangen sind, ein Philosoph zu sein, ist eine harmlose Marotte, aber Sie sind ein gemüthsreicher, wissensdürstender, heiterer, edeldenkender Mensch, der es wohl verdienen würde, recht herzlich glücklich zu werden.

Wissen Sie, bei Ihrem Gutsnachbarn, dem Grafen Saalfeld, finden in den nächsten Tagen die großen Herbstjagden statt, zu welchen er seine ganze Nachbarschaft und auch viele Freunde aus Wien zu laden pflegt. Und nun hören Sie: auch ich werde diesmal zu der im Schlosse versammelten Gesellschaft zählen. Emil, werden Sie Ihre Diane erkennen? Ich gebe Ihnen kein Losungswort; ich werde kein Erkennungszeichen tragen; ich freue mich darauf, zu sehen, wie Ihre forschenden Blicke von einer Dame zur anderen wandern werden.

Ich fordere Sie bei Ihrer Ehre auf, nicht frühere Nachforschungen anzustellen; denn ich werde mich Ihnen selbst zu erkennen geben. Dieses ist mein letzter Brief, der letzte nämlich aus der Serie von ‚cela n’engage à rien‘.

[184]

Würde ich Ihnen nach unserem Zusammentreffen noch einmal schreiben wollen, dann würde es freilich heißen „cela engagerait à tout“. Werde ich aber wohl finden, daß Sie das verdienen, Ritter Emil?
Diane“ 

Was ich beim Lesen dieses Briefes empfunden, was mich nun beim Gedanken an das bevorstehende Zusammentreffen mit Diane bewegt, das vertraue ich diesen Blättern nicht an. – Ich vermag’s nicht. Aber Eines muß ich doch sagen: Diesmal tausche ich um zwei Millionen mit keinem Menschen.

Gestern, als ich Saalfeld’s Einladungskarte zur Jagd erhielt, schob ich dieselbe gleichgültig bei Seite und dachte: „Nun, das wird eine kleine Zerstreuung werden, da ich ja doch nicht recht aufgelegt bin an meinem Werke zu arbeiten“ – aber ich ahnte nicht, zu welch einem Zauberfeste mich die unscheinbare Karte ruft. Sie liegt jetzt hier neben Dianens „letztem Briefe“ auf dem Schreibtische, und ich betrachte sie zärtlich. Es sind ein paar Rehe, Jagdtaschen und Flinten darauf gezeichnet. Statt dessen sollten es allegorische Figuren: Engel, Spitzenmasken und Paradiesschlüssel sein.

Die Spannung, die Erwartung einer sicheren Ueberraschung gehört doch zu den höchsten menschlichen Freude-Empfindungen. Man frage das Kind, welches des Glockenzeichens harrt, das es zur Christbescheerung ruft, oder den Theaterliebhaber, der, auf das Erscheinen einer Kunstgröße gespannt, den aufrollenden Vorhang fixirt, oder den Jüngling, der zum ersten Stelldichein die beflügelten Schritte lenkt – und ich, der ich zugleich neugierig, kindisch und verliebt bin, empfinde diese Erwartungswonnen im Quadrat.

O, wenn ich denke, daß auf den losen weißen Blättern, die hier in meiner Mappe liegen, nächstens die Entwickelung des ganzen kleinen Romans stehen wird! Denn ich verspreche mir heilig, die Ereignisse der Saalfelder denkwürdigen Jagd hier einzutragen.

Ich nehme Sie, Geehrtester, welchem ich zuerst an dieser Stelle meine schönen Theorien in das gütig willige Ohr träufelte, zum Zeugen, daß ich mich verpflichtete, die begonnene Kette von Gedanken- und Ereignißmittheilungen nicht plötzlich abzubrechen, sondern alles, was nun mit Bezug auf diese Geschichten vorfallen wird – und wenn es die ärgste Enttäuschung wäre – hier gewissenhaft und haarklein niederzuschreiben.

„Nur planmäßig vorgehen,“ wie ich schon einmal betont habe. –

Wenn Sie mich auslachen wollen, so ist mir das ganz angenehm. Ich bin so intensiv vergnügt, daß ich mich wirklich über gar nichts zu ärgern vermag, und ihn ganz willig Ihrem Spotte überlasse, den famosen, jetzt so beneidenswerthen, armen Kettenphilosophen.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Goethe’s Adelswappen. Ersucht, über Goethe’s Wappen einiges Nähere mitzutheilen, geben wir anläßlich der fünfzigsten Wiederkehr vom Todestage des Dichters folgenden Angaben darüber hier Platz. Bekanntlich wurde Goethe im Jahre 1782 auf Ersuchen des Herzogs Karl August durch ein Diplom des Kaisers Joseph’s des Zweiten in den Adelstand erhoben. Die Herzogin-Mutter Anna Amalie hatte dem Dichter und Minister schon einige Zeit vorher mitgetheilt, daß ihr Sohn ihn wegen seiner nahen Stellung zum Hofe adeln müsse und wolle, und Goethe hatte hierüber an Frau von Stein berichtet, „er habe sehr einfach seine Meinung gesagt und einiges nicht verhehlt“.

Als er das Adelsdiplom empfangen hatte, schickte er es im Juni 1782 seiner eben genannten Freundin mit dem Bemerken, daß er sich bei demselben gar nichts denken könne, und that die charakteristische Aeußerung: „wie viel wohler wäre mir’s, wenn ich, von dem Streit der politischen Elemente abgewandt, in Deiner Nähe, meine Liebste, den Wissenschaften und Künsten, wozu ich geboren bin, meinen Geist zuwenden könnte!“

Das dem Dichter verliehene Wappen zeigte nicht drei Leiern, wie das an Goethe’s Vaterhause zu Frankfurt, sondern einen sechseckigen Stern; ein gleicher, kleinerer Stern war über dem auf dem Schilde stehenden Helme angebracht. Wie Goethe’s Vater das Wappen seines Hauses auch als Petschaft führte, so ließ sich auch der Sohn nach dem empfangenen Adelswappen ein Siegel stechen. Er hat mit demselben manche Briefe, z. B. an seinen Freund Zelter, gesiegelt; gleichen Siegels bediente sich nach seinem Tode Goethe’s Schwiegertochter Ottilie von Goethe, und dasselbe führen noch jetzt die Enkel des Dichters.

R. K.     


Ein Prophet.

Ihr könnt mir glauben, er hat’s geseh’n,
Ganz wie es kommt und ist und wird.

Im Hornungsspätroth ist’s gescheh’n:
Vom Zweig’ ein Fink’ ist abgeschwirrt;

5
Der spürt’ ein Saften zuerst im Baum,

Spürte, spürte und nickte kaum,
Schwirrt ab und sagt: Auf Ehrenwort,
Schon rieselt’s innen im Ast und kriecht
Wie Füße herauf an einer Wand;

10
Mir war’s, wie wenn man Thauwind riecht,

Daß mir das Haar zu Berge stand.
Ich hab’s gespürt, es rückt so fort
Und muß noch stärker und muß uns bald
Herüberlauten vom hohen Wald:

15
Es treibt und steigt und ist im Lauf,

Und unser keiner hält es auf;
Es kommt,
Es kommt!

So sagt er, und wie Lebensduft

20
Ging heimliches Schüttern durch die Luft.


  J. G. Fischer.



Kleiner Briefkasten.

Leseverein Wiederhof. Unverlangt Ihnen zugesandte Bücher und Zeitschriften, welche Sie nicht zu behalten beabsichtigen, dürfen Sie allerdings nicht aufschneiden.

A. D. in Wien. Den Artikel über die Ahn’sche Lehrmethode finden Sie in Nr. 32 der „Gartenlaube“ von 1879.

D. R. in M. List u. Francke, K. F. Köhler, T. O. Weigel in Leipzig, Calvary u. Comp. in Berlin.



Unsern Lesern.

welche ihren Familien-Bibliotheken die „Gartenlaube“ als belehrendes und unterhaltendes Hausbuch Jahrgang an Jahrgang zur fortgesetzten Benutzung einverleibt haben, zeigen wir hiermit an, daß das so lange schon erwartete

vollständige Generalregisters der „Gartenlaube“
vom ersten bis achtundzwanzigsten Jahrgang (1853 bis 1880)
Systematisch zusammengestellt von
Dr. Friedrich Hofmann,
seit 1861 ständigem Mitarbeiter der „Gartenlaube“.
Elegant broschirt, 20 Bogen im Format der „Gartenlaube“. 0 Preis 4 Mark.

soeben erschienen ist. – Dasselbe bietet eine bis in’s Detail nach Stichwörtern geordnete Uebersicht über den reichhaltigen und werthvollen Inhalt der ersten Jahrgänge der „Gartenlaube“, welche zugleich die ereignißreichste Periode unseres Zeitalters umfassen, und im Anschluß daran in einem besonderen zweiten Theile ein vollständiges Register der Illustrationen der besagten Jahrgänge.

Zur Benutzung der „Gartenlaube“ als „Quelle der Belehrung in allen Zweigen der Wissenschaft und Kunst, des industriellen Schaffens, des Verkehrs und des öffentlichen und häuslichen Lebens“ sei das Generalregister hiermit angelegentlich empfohlen.

Leipzig, im März 1882. Die Verlagshandlung von Ernst Keil. 



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.