Die Gartenlaube (1881)/Heft 26
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No. 26. | 1881. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Ungleiche Seelen.
Ja, Erich war ein Anderer geworden; er befand sich seit seinem
Morgenbesuche im „Grand Hôtel“ in einer so außerordentlichen
Stimmung, daß er die übrige Welt vollständig vergessen hatte.
Er fühlte sich wie von einer elementaren Gewalt ergriffen, und es
stand nicht mehr in seiner Macht, ob er so empfinden wollte, wie
er empfand. Zum ersten Mal ging ihm außer der Kunst noch eine
andere berauschende Zukunftshoffnung auf, und er brauchte Zeit,
sich in seinem völlig veränderten Selbst wieder zurechtzufinden.
Heute Morgen, beim ersten Wiedersehen nach kurzer Trennung, war es ihm klar geworden, was es denn eigentlich war, das ihm alle die Tage her ein so freudig erhöhtes Lebensgefühl gegeben hatte. Der erste Wiederanblick der schlanken, wohlbekannten Gestalt, wie sie, ohne seinen Eintritt in den kleinen Salon zu gewahren, regungslos, den Kopf auf die verschlungenen Hände gestützt, an der Balconbrüstung lehnte und auf die menschenwimmelnde Riva hinunterblickte, hatte sein Blut in namenlosem Entzücken zum Herzen gedrängt; er wußte in jenem Moment mit plötzlicher innerer Erleuchtung, daß in dem Blicke dieser Augen für ihn alle Seligkeit der Welt zu finden sei, und es schien ihm fortan undenkbar, fern von Leontine sein Leben hinzubringen.
… Der erste Frühling der Liebe, die entzückende Zeit, wo auf einmal ohne bestimmten Grund das Leben so schön wird und das Herz sich voll wunschloser Seligkeit an einem Blick, einem Lächeln berauscht, lag mit den drei sonnenhellen Tagen am Gardasee und in Verona bereits hinter ihm. Die eine in wachen Träumen hingebrachte Nacht hatte jene verzehrende Sehnsucht in ihm entzündet, die wohl noch eine Zeit lang durch stündliches Beisammensein zu beschwichtigen ist – und dann Alles an Alles setzt.
Hindernisse schüren solche Flammen nur höher; Erich empfand ein Gefühl, wie die sturmfesten Schiffer seiner Heimath, wenn der erste Windstoß über das Meer her fährt, als er die großen Schwierigkeiten ermaß, mit welchen er zu kämpfen haben würde, aber die Gewalt seiner Empfindungen wog alle furchtsamen Bedenken auf, und zudem trug er ja seit heute Morgen die Ahnung im Herzen, ihr nicht gleichgültig zu sein.
Er sah Alles wieder vor sich: ihre freudige Ueberraschung, als sie, ihn gewahrend, vom Balcon in’s Zimmer hinein eilte und ihm beide Hände kameradschaftlich entgegenstreckte. Er wußte gar nicht, daß die ungenirte Sicherheit des Wesens, mit der sie dann, rasch gefaßt, ihm auf einen Fauteuil deutete und sich selbst in den andern sinken ließ, ihm früher nicht an Frauen gefallen hatte; es fiel ihm gar nicht ein, darüber nachzudenken: gehörte es doch Alles zu dem einen, entzückenden Ganzen, und gerade all dieses Neue beherrschte ihn mit unwiderstehlicher Macht.
Während er ihr so gegenüber saß und, ohne recht zu wissen, was er eigentlich sagte, von dem festlichen Treiben in der Stadt erzählte, hingen seine Augen wie gebannt an den graziösen Linien ihrer Gestalt; mit geheimer Wonne genoß er den plötzlich um so viel Grade vertraulicher gewordenen Ton, dessen selbstverständliches Eintreten beim ersten Alleinsein alle Liebenden überrascht. Von der Riva herauf tönten Schifferrufe, und die Laute des lebhaften Menschentreibens drangen durch die offene Balconthür herein.
„Es wimmelt schon gehörig in Venedig,“ sagte Erich, „wenn man auch nicht gerade, wie Freund Bartels meint, überall mit den Köpfen und Gondeln an einander rennt. Der Canal sieht imposant aus in seinem Flaggenschmuck; die alte Größe ragt doch wieder einmal siegreich über die moderne Kleinheit empor. Soeben ist Victor Emanuel herein gefahren; ich sah die einfache Gondel, die ihn und seinen Adjutanten führte.“
„Ja, Papa und Herr Nordstetter sind auch an den Canal gegangen, um ihn zu sehen.“
Herr Nordstetter! Erich hatte bisher mit keinem Gedanken mehr dieses Herrn gedacht; nun berührte ihn plötzlich der Name desselben mit ausnehmend widerwärtigem Klänge.
„Und Sie selbst wollten nicht mit?“ fragte er rasch und sah sie forschend an.
Keine Spur von Verlegenheit in dem klaren Blicke der kühlen blauen Augen! Sie legte den Kopf in die Sessellehne zurück und sagte ruhig: „Nein! Ich liebe das Menschengedränge nicht und fühle mich nicht gern als ein Stück ‚Masse‘. Ich kann bis morgen warten, bis zur Ankunft unseres Kaisers; da kommt wenigstens ein persönliches Interesse hinzu. Gerade vorhin überlegte ich da draußen, ob ich mir eine Gondel nehmen und ganz auf eigene Faust ein Stück in’s einsame Weite hinausfahren sollte.“
„Seltsam,“ sagte Erich betroffen. „Ist das nun der ganze Eindruck, den diese wunderbare Stadt auf Sie macht? Ich fühlte mich heute mit großem Vergnügen als einen Theil der lustigen Menge, gondelte stundenlang drunten herum und genoß dabei den Anblick dieser märchenhaften Renaissancepracht mit dem ausgezeichneten Appetite eines Menschen, der sechs Jahre Hungercur in Deutschland durchgemacht hat. Es waren reizende Stunden.“
„Sie haben überhaupt das Talent, sich glücklich zu fühlen, das ist mir schon öfter aufgefallen,“ sagte Leontine nachdenklich, indem sie ihn wie eine naturhistorische Merkwürdigkeit betrachtete.
[422] „Gehört dazu ein besonderes Talent?“ fragte Erich lachend. „Das scheint nur die natürlichste aller menschlichen Eigenschaften.“
„Und mir die schwierigste. Da haben Sie gleich wieder einen von unseren großen ‚Unterschieden‘. Ich sagte Ihnen ja neulich, wir thäten am besten, uns gar nicht näher kennen zu lernen – wir sprechen zu verschiedene Sprachen!“
„Gar nicht näher – oder sehr nahe,“ sagte der junge Mann, indem er sich dicht neben sie setzte und ihre Hand ergriff, mit dem raschen Impuls unmittelbarer Naturen, der auf kälter Angelegte oft so großen Zauber ausübt und ihre gewohnten Waffen unwirksam macht. Deshalb zog auch Leontine die Hand nicht weg, wie sie es, jedem Anderen gegenüber, wohl gethan haben würde; sie besann sich auf keine ihrer raschen Erwiderungen, als er jetzt, unter dem vollen warmen Blick seiner treuen blauen Augen sagte:
„Wollen Sie mir das Freundesrecht gestatten, offen reden zu dürfen? Was drückt und mißstimmt Sie? Darf ich es nicht wissen?“
Sie sah einen Augenblick vor sich nieder.
„Lassen Sie das ruhen!“ sagte sie dann, „es ist kein guter Unterhaltungsgegenstand. Wir sind ja hier, um uns zu amüsiren; erzählen Sie mir weiter, was es heute noch Alles in Venedig zu sehen geben wird!“
„Nein, nein,“ erwiderte Erich, „so entkommen Sie mir nicht. Ich bin so indiscret, einmal wissen zu wollen, von welch sonderbarer Gleichgültigkeit Sie sind, die mich die ganze Zeit her wie ein ungelöstes Räthsel peinigt. Sie haben den wunderbarsten Blick für Alles, was schön ist; man lebt in Ihrer Nähe Stunden, wie nie zuvor in der Welt – bis plötzlich wieder die lebensmüden Anwandlungen über Sie kommen – woher, weiß kein Mensch.“
„Außer mir!“ sagte sie kurz. „Sie stellen sich übrigens die Sache viel zu tragisch vor, lieber Freund; ich habe keine besondere Ursache, mich unglücklich zu suhlen.“
„Nun, also, warum fühlen Sie sich denn nicht glücklich?“
„Vielleicht, weil ich auch dazu keine besondere Ursache habe; vielleicht, weil mir in Wirklichkeit das Talent dazu abgeht. Ich lebe schon so lange in der Welt; das Leben macht so müde – ich habe so Vieles mit angesehen – aber nie Glück,“ fuhr sie hastiger fort, „nie einen Zustand, wie ihn die Poeten schildern und wie er allein der Mühe werth wäre, gelebt zu werden; ich glaube auch jetzt gar nicht mehr daran. Es mag sein, daß ich eigentlich von einer anderen Art bin, als die Anderen um mich her – ich glaube es selbst, aber das hilft mir jetzt Nichts mehr; es ist nur um so schlimmer. Man kann sich nicht mehr ändern – ich bin nach und nach mit voller Absicht so realistisch oder, wenn Sie wollen, so gleichgültig geworden, daß ich mich über Nichts mehr betrübe; allerdings habe ich auch verlernt, mich sehr an Etwas zu freuen, und wenn ich heute Jemanden dafür schwärmen höre, seinen Idealen nachzuleben, so weiß ich nicht, soll ich ihn beneiden oder belachen. Strengen Sie sich mit keiner Bußpredigt an!“ wehrte sie seine beginnende Rede ab, „die Ideale der Kunst gebe ich Ihnen völlig zu; dort suche ich sie auch noch, aber sonst nirgends mehr.“
Wie eine fremde Sprache tönte das in Erich's Ohren; er hörte, ohne im Geringsten zu begreifen, was seiner warmen Jugendlichkeit nur vorkam, wie die seltsamsten Grillen von der Welt. Aber gerade das Fremde, Unverständliche in ihrem Wesen zog ihn an, wie ein Zauberräthsel, und zudem hatte sie nie so entzückend ausgesehen, als indem sie dies Alles wie gleichgültig vor sich hinsprach, während doch ihre sonst so beherrschten Gesichtszüge die Erregung nicht verbergen konnten und einen ganz ungewohnten Ausdruck hatten. Erich sah eine gefesselte Psyche; sein Herz wallte hoch auf.
„Könnte ich Sie nur einmal fünf Minuten lang durch meine Augen in diese schlimme Welt sehen lassen,“ sagte er, „Sie sollten bald wissen, wie schön sie ist. Ich begreife es nicht, wie man das Leben, dieses alle Tage neue, göttliche, freie, nur einmal zu lebende Dasein, nicht stets von Neuem wunderbar findet. Wer will, ist ja auch heute noch der erste Mensch; er braucht sich nur so zu empfinden. Glauben Sie mir, das war es, was die Existenz dieser Alten hier groß und schön gemacht hat. Das Leben wird damals nicht besser gewesen sein, als heute, ich glaube sogar viel schlechter, aber die Leute waren frei. darum waren sie groß. Nichts auf Erden ist unerreichbar für den Arm, der kühn genug ist, danach zu greifen, und das Ideal verkörpert sich überall – in Kunst und Liebe und in den Gestalten großer Menschen, deren Sie doch wahrhaftig auch gekannt haben.“
„Nein,“ sagte sie trocken, „das habe ich eben nicht. Keinen Einzigen, der es vertragen hätte, daß man seine innersten Triebfedern, die Motive seiner Handlungen kannte. Aber die sah ich stets ganz deutlich; denn ich habe unbarmherzig scharfe Augen und sehe auf den Grund der schönsten Redensarten. Ich bin auch selbst durchaus nicht gut, wie Sie vielleicht denken; es sieht nur so aus, weil ich nicht lüge. Aber den Glauben an menschliche Vollkommenheit brauchte ich mir nie abzugewöhnen – ich habe ihn nie gehabt.“
„Sie verleumden sich,“ rief Erich unmuthig.
„Nein, nein,“ sagte sie mit großoffenem Augenaufschlag; „ich gestehe nur ein, was die Anderen sorgfältig verheimlichen, aber ich bin nicht besser, als sie. Das ist's ja eben, daß wir Alle von kleinen Dingen abhängig sind. Sie sollten einmal in unserer Gesellschaft in W… leben; die Misere macht sich in Allem fühlbar. Jeder weiß so genau, was der Andere im Stillen denkt und auch thut – und wenn man das so Jahre lang mit ansieht und sich mitten drunter fühlt – nun, das Uebrige können Sie sich ja wohl selbst sagen.“
„Mehr noch, als Sie denken,“ erwiderte Erich ein wenig verdrießlich. „Wer das Alles so klar erkennt, der hat die Pflicht, aus solcher Umgebung den Sprung in eine andere, gesündere zu thun, die es, Gott sei Dank, noch giebt.“
Sie sah ihm mit einem ganz leisen, ironischen Lächeln unverwandt in die Augen.
„Sie sind anders, lieber Freund, aber es wäre vermessen, auf viele Solche zu rechnen. Auch unsere Künstler sind nicht so, wie Sie – glauben Sie mir!“ setzte sie rasch hinzu „Ich kenne die Herren gut, das Malen allein veredelt die Menschen nicht. Sie sind der Erste von Ihrer Art, den ich sehe, Ihnen glaube ich auch, daß Ihre Gesinnungen rein sind, und daß Sie stets darnach handeln. Wie es Ihnen bekommen wird, das ist eine große Frage. Sie würden sich wohl nicht bedenken, im Nothfalle Alles dafür einzusetzen?“
„Natürlich nicht!“
„Nun, sehen Sie, das thut Niemand von uns „Sprechen Sie immer wieder von ‚uns‘ sagte Erich mit beginnendem Aerger, „als ob Sie mit der ganzen Welt einer Menschenrasse angehörten und ich der anderen.“
„Es mag sein, daß es in Norwegen noch Mehrere von Ihrer Sorte giebt,“ entgegnete sie lächelnd; „wir in unseren gemäßigten Regionen sind immer für’s Vertragen und Vergleichen, um uns die Bedingungen von Comfort und Genuß zu erhalten, die nun einmal als Grundlagen der Existenz gelten. Wir sind Alle zu verwöhnt. Das Ideal ist bei uns eine unbekannte Größe. Und wenn man also doch stets gewisse Rücksichten vor Augen hat und sich wohl hütet, darüber hinaus zu gehen“ – ihr Ton wurde wieder bitter – „dann ist es auch unnöthig, erhabene Redensarten im Munde zu führen. Ich kenne genug Solche, die es thun, aber es ist nicht meine Sache. – Brechen wir ab davon!“ sie erhob sich und schob den Sessel, der sich in ihre Schleppe verwickelt hatte, bei Seite, „wir kommen wirklich zu tief in den Text, und ich bringe mich ganz unnöthiger Weise um das Bischen Sympathie, das Sie allenfalls noch für mich haben.“
„Einen Augenblick noch und noch eine Frage!“ sagte Erich, dem während ihrer letzten Worte eine Ahnung aufgegangen war. „Würden Sie im Stande sein, Jemanden ohne Neigung, um seiner Stellung willen zu heirathen?“
Leontine zögerte einen Augenblick, dann warf sie mit einem trotzigen Blicke den Kopf in die Höhe.
„Ja! Unter Umständen. Würden Sie mich verachten, wenn ich's thäte?“
„Ja!“ rief er stark und machte ein paar rasche Schritte durch's Zimmer. „Unter allen Umständen!“
Die Worte waren sich gefolgt wie Blitz und Donnerschlag. Dann wurde es ganz still. Plötzlich blieb Erich stehen und sagte mit ganz verwandeltem Tone:
“Wenn Sie es könnten! Aber Sie können es nicht; so lügt die Natur nicht, wie es diese stolzen Züge müßten – Ich biete Ihnen die Wette,“ rief er erregt, als sie sprechen wollte; „ich weiß jetzt Alles, als ob Sie mir es erzählt hätten, ich habe ja wohl auch schon gesehen, wie elend man sein bestes Leben um Geld wegwirft. Aber Sie sollen es nicht, Sie nicht – ich könnte es nicht ertragen – und Sie werden es nicht thun; Sie [423] müßten furchtbar unglücklich werden … Ich will nicht von mir sprechen,“ fuhr er, näher tretend, mit leidenschaftlichem Tone fort, „ich darf es heute noch nicht, und Sie müssen auch ganz frei sein, um diese Erbärmlichkeiten von sich zu stoßen. Sehen Sie hinaus!“ er deutete auf das strahlende Leben draußen „drei Tage nur in dieser Luft voll Freiheit und Schönheit – und Sie sollen den Gedanken unmöglich finden, Ihre Seele der F…er Börse zu verkaufen.“
Leontine, die nicht leicht über Etwas erstaunte, fand doch diese Sprache ihres neuen Freundes höchst wunderbar und noch wunderbarer, daß sie selbst keine Regung des Zornes darüber empfand.
„Verzeihung, daß ich so spreche!“ setzte er rasch hinzu, indem er ihre Hand faßte und an seine Lippen zog, „ich konnte nicht anders. Seien Sie mir nicht böse darum!“
Sie war ihm nicht böse – im Gegenteile sie empfand es als eine Art von Erleichterung, ihm, was auch später kommen mochte, die Wahrheit über sich gesagt zu haben. Sie war nicht immer so scrupulös gewesen, wo sie sich überschätzt fühlte … aber dieser war auch anders, als die Anderen … und daß er trotzdem im Banne ihres Lächelns blieb, wußte sie gut genug.
Deshalb erhob sie mit der kinderhaften Unbefangenheit, welche bei ihrer großen Schönheit gefährlicher wirkte, als alles kokette Schmachten, die Augen und sagte in reizend freimütigem Tone:
„Sie sind gut und mein Freund, deshalb dürfen Sie mir sagen, was Sie wollen. Bessern werden Sie mich schwerlich; ich fürchte, ich bin unheilbar. Aber,“ fuhr sie rasch fort, als er Einsprache thun wollte, „ich will Ihnen versprechen, hier in Venedig sehr artig zu sein und mich von Herzen glücklich zu fühlen. Es sieht auch wahrhaftig jetzt schon Alles ganz anders aus, als heute Morgen, wo ich da draußen saß. – Wollen wir uns heute auf dem Marcus-Platze zum Beginne der Wanderung treffen? Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich noch gar nichts gesehen habe, es war mir – nun einerlei, aber meine erste Fahrt hier möchte ich mit Ihnen thun.“
Dann hatte sich Erich – natürlich mit einem „Ja!“ verabschiedet; dann war er gegangen – – der süße Klang von Leontinens Worten tönte noch immer in ihm nach; er lebte auch jetzt in seinem Herzen, jetzt, während er im „Grand Hotel“ ruhlos, rastlos auf und ab schritt; ja dieser Klang übertönte Alles, was sich sonst von Mißklängen darin regen wollte, und hielt auf seinen Lippen das glückliche Lächeln fest, das Frau Erminia von ihrem Lehnstuhle aus beobachtete. Ninette saß neben ihr auf einem Schemel; die Sonnenlichter spielten durch das Epheudach über ihr gesenktes Köpfchen und die kleinen, fleißig arbeitenden Hände hin; dann und wann unterbrach sie sich, um die Hand der Kranken zu fassen, ihr mit den warmen, liebevollen Augen in’s Gesicht zu sehen und in leisen Schmeicheltönen nach ihrem Befinden zu fragen. Zwischendurch blitzte auch wohl einmal ein halb unwilliger Blick zu dem hartnäckigen Spaziergänger hinüber, der offenbar heute Nachmittag gar keine Augen für seine ehemalige kleine Freundin hatte; früher, wenn er so brütend stillschwieg, war sie freilich stets ohne Umstände zu ihm gelaufen, nur seine Hand zu fassen, und hatte solange mit ihrem unermüdlichen Zünglein fortgeplaudert, bis er Notiz von ihr genommen und sich nun seinerseits in tausend übermütigen Possen ergangen hatte. Aber jetzt war sie ein großes Mädchen, und er - er dachte offenbar mit keinem Gedanken mehr an sie; er sprach ja nur noch so im Vorbeigehen mit ihr. Früher hatte er sie oft genug mit dem Scherz geneckt: sie sei nicht nur eine halbe, sondern eine ganze Deutsche, wodurch er das Kind stets zu so hellen Zornesausbrüchen gereizt hatte, daß sie mit funkelnden Augen ihr Italienerthum verteidigt hatte. Heute wäre diese Neckerei besser am Platze gewesen als damals; denn das leise Herzweh, das sich nur vermehrte, je länger Erich’s ahnungslose Unbefangenheit dauerte, sah sehr germanisch aus den dunkeln, träumerischen Augen Ninette’s hervor.
Es war so still in dem Gärtchen, daß man aus dem Atelierfenster deutlich Bartels’ schallende Stimme hörte; er war eben im besten Zuge, einem jungen Polen „heimzuleuchten“, welcher nicht, wie die Anderen, vor seinen unmenschlichen Grobheiten Reißaus nahm, sondern dieselben jeder Zeit unerschütterlich gelassen anhörte und mit einer unbegreiflichen, wenn auch etwas apathischen Zärtlichkeit vergalt. Im Augenblicke lag der blasse Jüngling mit halbgeschlossenen Augen auf dem alten Sopha und bemühte sich, den herumschießenden dicken Bildhauer von seinen Angriffen gegen einen dünnbeinigen Perseus abzulenken, der auf der Drehscheibe wie am Pranger stand.
„Das afficirt mich Alles nicht,“ sagte er schmachtend, „ich habe heute schon viel schlimmere Dinge erlebt. Wenn Sie wüßten, was ich für eine große Dummheit gemacht habe!“
Bartels blieb stehen. „Bilden Sie sich nichts ein, mein Bester!“ sagte er, aus seinem groben Tone fallend, beinahe zärtlich; „zu einer großen Dummheit muß man gescheidter sein, als Sie, das bringt nicht Jeder fertig.“
„Na, hören Sie nur einmal –“
„Hab’s gehört,“ schrie nun der Alte, „war am Fenster oben, wie Sie unten bei der Kleinen abgefahren sind, mit Ihren einfältigen Redensarten – geschieht Ihnen gerade recht. – ‚Eine große Dummheit‘ – was der Mensch sich nicht Alles einbildet! Beethoven hat Dummheiten gemacht, und Michel Angelo hat sie gemacht, und – andere Leute ebenfalls,“ führ er mit einem selbstzufriedenen Bartstreichen fort, „aber Sie und Ihresgleichen, Ihr bringt es höchstens zu einer rechten Eselei; zu einer großen Dummheit habt Ihr nicht das Zeug.“
„Bartels!“ rief in diesem Augenblicke Erich, der den Zusammenhang rasch begriff, vom Fenster her, um den Frauen die weitere Erzählung zu ersparen „Bartels, komm doch einmal heraus! Man hört ja sein eigenes Wort nicht vor Deinem Gebrülle.“
Und als das rothe Gesicht unter der weißen Mütze auf der Schwelle erschien und mit dem Ausdrucke des tiefsten Seelenfriedens den blauen Frühlingshimmel und die Blütenflocken der Bäume ansah, faßte der junge Mann rasch nach dem Knopfe des staubigen Atelierkittels und sagte, indem er den Alten mit sich in den Lorbeergang zog:
„Höre, Bartels, wie wäre es nur zu machen, morgen im Vorderhause auf der Terrasse einen Platz für den Einzug der Majestäten zu bekommen?“
„Geht nicht, mein Sohn, geht nicht!“ erwiderte Bartels eifrig, „der ganze Piano ist an den Fürsten J. vermietet. Du kennst ja diese Aristokraten – steifes Volk! Man kann da nicht so ohne Weiteres einfallen.“
„Es läge mir viel daran,“ fuhr Erich zögernd fort, „es sind Fremde da –“
„Meine Stube im zweiten Stocke steht Dir zur Verfügung,“ sprach Bartels großmütig. „Etwas eng zwar wird’s werden; es kommen schon ein Stücker zehn, ungerechnet die Padrona und Ninette.“
„Nein, nein,“ wehrte Erich ab, „das ist unmöglich; es ist eine Dame dabei. Wie mache ich das nur?! – Sie wohnen in der Riva, ziemlich weit von der Piazetta; also können sie den Einzug von ihren Fenstern nicht sehen – aber Himmel!“ rief er mit einer plötzlichen Bewegung, „da ist sie ja selbst.“
Er sah im höchsten Erstaunen unter der offenen Gartenthür den wohlbekannten kleinen schwarzen Hut erscheinen und darunter zwei lachende Augen, die sich an seiner sprachlosen Verwirrung weideten. Baron Willek und Herr Nordstetter traten hinter ihr ein; der Erstere fragte mit einem zweifelhaften Blicke auf das winkelige Mauerwerk.
„Sind wir hier wirklich in der Casa Bertucci? Der alte Antonio behauptet, dies sei der Eingang.“
„Er ist es wirklich, Herr Baron,“ erwiderte Erich, indem er sich tief gegen Leontine verbeugte. „Und wohnt hier Fürst J.?“ „Im Vorderhause; hier sind Ateliers und Wohnungen für bescheidener situirte Sterbliche. Darf ich Sie hingeleiten?“
„Bildhauer Bartels, wenn ich nicht irre?“ fragte der Baron, nochmals stehen bleibend.
„Zu dienen, Herr Baron! Ich hatte vor einigen Jahren das Vergnügen, Sie in meiner Werkstatt zu sehen.“
„Wohin Sie mir und meiner Tochter einmal wieder zu kommen erlauben, nicht wahr?“
Herr Bartels verbeugte sich stattlich vor Leontine, welche nach einem flüchtigen Gruß sich rasch zu Erich wandte und im Weiterschreiten flüsterte:
„Hab’ ich’s recht gemacht? Auf dem Marcus-Platz konnte ich Sie nicht halten; da fiel mir dieser Ausweg ein. Aber nun begleiten Sie uns in einer Viertelstunde und bringen den Rest des Tages mit uns zu, nicht wahr?“
Erich’s Herz ging in raschen Schlägen. Was bis jetzt nur [424] Wunsch und Sehnsucht gewesen war, fing an, feste Gestalt zu gewinnen; der Zweifel, ob sie ihn wirklich lieben könne, war der einzige in seiner unverdorbenen Seele gewesen; war dies aber möglich, dann mußte ja alles Andere von selbst kommen. Der Ausdruck dieser glücklichen Zuversicht leuchtete rein aus seinen Augen, als er ihre Frage mit Freuden bejahte, dann schritten die Beiden, scheinbar gleichgültige Reden tauschend, die kurze Strecke nach dem Hause zu – ein so für einander geschaffenes Paar, daß es kein Wunder war, wenn auch Herr Nordstetter auf diese naheliegende Idee verfiel und eine sehr unangenehme Empfindung darüber in sich aufsteigen fühlte.
Der „junge Mensch“ kam ihm heute bedeutend eingebildeter vor, als er ihn von gestern in der Erinnerung hatte. Als er an der Thür nun gar von Leontinens Lippen ein heiteres „Adieu denn, halten Sie sich in einer Viertelstunde bereit!“ vernehmen mußte, und Erich's enthusiastischen Abschiedsblick auffing, da kostete es ihn alle Mühe, mit gewohnter Höflichkeit den Hut zu lüften, und erst drinnen im Salon der Fürstin, wo er sich mit aller möglichen Auszeichnung behandelt fühlte, kamen die aufgeregten Wellen seines Inneren wieder zur Ruhe.
Aber noch zwei anderen Augen war der Anblick der Beiden ein stechender Dorn gewesen. Die arme Nina hatte sich, als die Gesellschaft an ihnen vorüberschritt, fester gegen die Mutter geschmiegt und mit allen Qualen der plötzlich erwachten Eifersucht die vornehme Dame und Erich’s strahlende Mienen betrachtet.
„O, wie schön sie ist!“ flüsterten ihre Lippen leise der Mutter zu, die zärtlich bekümmert mit der Hand über die glänzend braunen Flechten ihres Lieblings strich. Keine von Beiden sprach lange Zeit mehr ein Wort. Bartels aber, der gleichfalls seine Augen bei sich hatte und recht ausgezeichnete Ohren dazu, nahm den zurückkehrenden Erich unter den Arm und sagte ihm, als sie am Ende des Gärtchens angekommen waren.
„Höre, mein Junge, was ich gerade dem Mondkalb da drinnen gesagt habe, das gilt nicht für Dich! Wenn ich mir Deinen verklärten Habitus betrachte und diese herzlose Aristokratenschönheit und den Baron von Habenichts dazu, dann kann ich mir nicht verhehlen, daß Du auf dem besten Wege scheinst, eine große Dummheit zu machen, und das sollte mir um Deinetwillen leid thun.“
„Ich danke Dir für Deine Warnung,“ erwiderte Erich mit verstelltem Ernst, „sie ist aber, wie Du mir glauben kannst, gänzlich überflüssig.“
„Jawohl, o ja! Das kann ich mir denken, es wäre auch das erste Mal, daß Einer darauf hörte. Die Sirenen sind ja sehr angenehme Frauenzimmer, und tiefer als bis auf den Knochen kann man sich nicht verbrennen, und es ist übrigens –“
Er sah sich um und bemerkte, daß Erich sich aus dem Staube gemacht hatte, was ihn veranlaßte, seine Predigt ohne weitere Ceremonie zu beschließen. –
Herrn Nordstetter’s Aerger in dem Gärtchen der Casa Bertucci sollte für jenen Nachmittag nicht sein einziger bleiben. Wohl strahlte die Sonne vom blauen Frühlingshimmel auf die bereits im buntesten Flaggenschmuck prangende Stadt hernieder und schnitt die Prachtornamente der alten Palastfacaden scharf wie mit dem Messer aus tiefen Schatten heraus, wohl war es ein entzückendes Gefühl, in der Gondel auf dem großen Canal dahingleitend, jeden einzelnen dieser Wunderpaläste langsam heranziehen zu sehen und beim Klang ihrer stolzen Namen der großen Vergangenheit zu gedenken, zugleich aber auch den Athemzug seiner eigenen modernsten Gegenwart in dieser wonnevollen Luft als süßen Genuß zu empfinden; aber zu alledem gehört größere Harmlosigkeit, als sie einem Manne beschieden sein kann, der seinen vierten Gondelplatz extra deshalb eingenommen zu haben schien, um sich von seinem glücklichen Rivalen einen unfreiwilligen Cursus in der Eroberungskunst ertheilen zu lassen, und dazu noch in Anbetracht der Umstände bescheidentlich schweigen muß. Denn das seit dem Dogenpalast, wo sie gerade herkamen, zwischen Erich und Leontine geführte lebhafte Gespräch über die Kunst der Renaissance hatte für Herrn Nordstetter der Klippen und Untiefen zu viele, als daß er sich hätte hineinwagen mögen, außerdem waren die Worte gänzlich unverfänglich, aber der Ton! – der Ton, welcher das unbedeutendste Wort zum Liebesgeständniß macht, war in den Reden, und Herr Nordstetter bemerkte sehr wohl den großen Gegensatz zu Leontinens gleichgültigem Accent ihm gegenüber.
Trotz allen Aergers, den ihm dies verursachte, schien sie ihm gerade in dieser bezaubernden Heiterkeit begehrenswerther als je, und der Vorsatz, die Sache rasch und energisch zur Entscheidung zu treiben, wurde mächtig in ihm. Von einer ernsthaften Rivalität dieses Menschen konnte ja doch keine Rede sein, aber es war jedenfalls Zeit, zu enden.
Der morgende Tag mußte ihn um ein großes Stück weiter bringen; noch vor einer Woche hätte der reiche Mann nicht gedacht, daß ihm mit der Einladung dieses unbedeutenden russischen Fürsten ein solcher Gefallen geschehen könne. Dorthin fand der Maler keinen Zutritt, wogegen er selbst Gelegenheit haben würde, sich bei den Einzugsfeierlichkeiten an Leontinens Seite als Berechtigter zu zeigen und den Rest des Tages auf bestmögliche Weise für seine Absicht zu nützen. Abends Feuerwerk auf dem Meere, eine Gondel zu Zweien im richtigen Augenblick genommen, es konnte nicht fehlen; und übermorgen mochte dann der junge Herr sehen, wie er seinen Glückwunsch anbrachte.
So weit war er in seinen Ueberlegungen gekommen, als man eben den Eingang der Akademie überschritt und in die Säle der alten Kunst eintrat; Nordstetter’s Gesicht sah so erheitert aus, daß Erich auf den Gedanken kam, es möge sich am Ende unter der nüchternen Außenseite des Banquiers einer der unbegreiflichen Enthusiasten für die Malerei aus der Zeit vor Rafael verbergen, welche Einem zuweilen unter der weltlichsten Hülle plötzlich aufstoßen. Er richtete eine darauf bezügliche Frage an ihn, welche jener, rasch gefaßt und in Erinnerung der anständigen Langeweile, die er in allen Hauptmuseen des Continents erduldet hatte, mit einem gedehnten „O ja – gewiß!“ beantwortete. Aber Leontine rief lachend dazwischen:
„Nein, nein, machen wir, daß wir aus der Region des Goldgrundes hinaus und zur Assunta kommen! Den Goldgrund kann man hier entbehren, hier in Venedig, wo Alles von Leben und Schönheit strahlt und die wunderbaren Tizian’s von allen Wänden niederschauen.“
„Da haben Sie den wunderbarsten von Allen,“ sagte Erich, ein paar Stufen in den Saal der Assunta heruntertretend.
Lange Minuten verstummte jedes Gespräch vor der überwältigenden Herrlichkeit dieses Eindrucks. Der Baron saß auf einem der bereitgestellten Stühle und genoß mit halbgeschlossenen Augen, voll kennerhafter Gourmandise. Nordstetter, auf einem andern, studirte anscheinend gewissenhaft das rothe Buch und warf von Zeit zu Zeit einen Blick zu der Rampe, die das Bild vom Saale trennt, hinüber, wo Erich und Leontine wortlos neben einander standen. Die Augen hatten Beide auf das leuchtende Farbenwunder vor ihnen geheftet, und sie glaubten auch, sich allein damit zu beschäftigen Aber die neue Wonne des Glückes, welche sie den ganzen Tag über durchdrang und alles Gesehene und Genossene mit einem ganz eigenen Zauber umfloß, sie entsprang nicht aus Tizian’s berauschender Farbenglorie, sondern aus der süßen Gewißheit des noch unausgesprochenen Einverständnisses, welches jeden Blick von einem Auge in’s andere zu einer stummen Liebesbotschaft macht und vielleicht die schönste Tageszeit der Liebe ist.
Leontine hatte die schmale Hand im hellen Handschuh leicht auf die Rampe gestützte Erich konnte der Versuchung nicht widerstehen und berührte ein paar Secunden lang mit seinen Fingern leise und unbemerkt die ihrigen. Sie fühlte es wie einen elektrischen Funken – aber es erfolgte keine Zurückweisung. Im Gegentheil, wie magnetisch gezogen kehrten sich die beiden schönen Augenpaare einander zu, und ein langer stummer Blick voll leidenschaftlicher Bitte und kaum verhüllter Gewährung wurde getauscht, ohne daß die Anderen es bemerken konnten.
So verfloß Beiden der Rest des Tages in dem Genuß der Herrlichkeit dieser einzigen Stadt. Strahlte das ganz ungewohnte selige Wärmegefühl aus Erich's blauen Augen oder wuchs es langsam aus den Denkmälern dieser reichen und freien Lebensschönheit empor – Leontine hätte es nicht zu sagen gewußt, aber sie gab sich ihm rückhaltslos, wie sie es selbst nicht für möglich gehalten hätte, und mit absichtlichem Vergessen alles Anderen hin. Wie die Gondel, welche sie und ihre Liebe trug, über den Wassern, so schwebten die Empfindungen der Beiden hoch über dem alltäglichen Leben. Künstlerisches Entzücken, Wonne des gegenseitigen Anblicks und ein Gefühl, als müßten nun immer noch goldenere Tage folgen bis in's Unabsehbare – alles das zusammen schuf den überwältigenden Rausch, der das Leben plötzlich zu ungeahntem Werthe
[425][426] emporhebt und alle seine Unzulänglichkeiten mit zauberhaftem Glanze deckt.
So fuhr man einzig schöne Stunden bald zwischen den stolzen Palastreihen dahin, bald durch die schmalen Canäle an den hofartigen Plätzchen vorüber, wo sich das eigentliche venetianische Volksleben malerisch um einen der alten Brunnen versammelt. Und wo es gerade sein mochte, in dem phantastischen Dämmerlicht der goldenen Marcus-Kirche oder in den heiter-prächtigen Rathssälen – überall glaubte man in diesem Augenblicke das Schönste zu sehen.
Und dann kam der Abend, und sie saßen zum Schlusse in der lauen Frühlingsnacht auf dem Marcus-Platze, Eis schlürfend im Schein zahlloser Gaslichter, während droben die leuchtende Pracht des Sternenhimmels sich entfaltete und die goldglänzenden Bogen des Domes, die blasse Spitze des Glockenturms in dämmernder Helle schwammen. Erich hob die Augen zu ihnen auf; sein Herz war weit geöffnet für die volle Seligkeit der Welt. Leontinens Blicke hingen mit einer ihr völlig neuen leidenschaftlichen Sehnsucht an seinem jugendschönen, ernsten Gesicht – so wie heute war ihr noch niemals zu Muthe gewesen.
Herr Nordstetter war nicht dabei; er hatte sich am Hôtel aussetzen lassen, um noch „wichtige Briefe“ zu schreiben.
„Seliges Leben!“ sagte Erich, als er sich tief in der Nacht auf sein Lager streckte und das silberne Mondlicht durch die Lorbeerzweige vor dem Fenster hereinfloß. „Ein Tag wie der heutige könnte Jahre der Qual vergessen machen – und dies ist erst der Anfang.“
Die Reichsdruckerei in Berlin.
Unter den Instituten, welche seit der Neugestaltung des deutschen Reiches erstanden und in den Dienst desselben getreten sind, ist die in der Oranienstraße gelegene Reichsdruckerei in Berlin eines der wichtigsten und durch ihre Leistungen bekanntesten; gehen doch, so weit die deutsche Zunge klingt, ihre „Visitenkarten“ in Form von Cassenscheinen und Banknoten täglich und stündlich von Hand zu Hand; sie sendet ihre Grüße durch die von ihr hergestellten Freimarken, Postkarten und andere Werthsachen weit hinaus; über Länder und Meere bringt sie Kunde aus der deutschen Heimath. Die Reichsdruckerei ist 1879 hervorgegangen aus einer Verschmelzung der früher von Decker'schen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei mit der 1851 errichteten königlich preußischen Staatsdruckerei und gehört zu dem Ressort des Chefs der Post- und Telegraphenverwaltung. Ich lade die geehrten Leser zu einem Rundgange durch die großartige, auf mehrere prachtvolle Gebäude vertheilte Anstalt ein; die Besichtigung verspricht um so interessanter und lehrreicher zu werden, als der Director der Reichsdruckerei, Geheime Regierungsrath Busse, in freundlichster Weise selbst die Führung übernimmt, ohne welche uns, dem Reglement gemäß, die wichtigsten Räume verschlossen bleiben müßten.
Wir versammeln uns in dem Arbeitszimmer des Directors; unsere Aufmerksamkeit lenkt sich bald auf ein an der Wand hängendes großes Bild. Einzelne Felder desselben sind geeignet, in dem Beschauer eigenthümliche Regungen hervorzurufen; denn sie enthalten eingerahmte leibhaftige Tausend-, Fünfhundert-, Hundert-, Zwanzig-, Fünfmarkscheine und verschiedene andere Werthpapiere in doppelten Exemplaren, die gewiß einen ebenso seltenen, wie theuren Zimmerschmuck bilden. Beginnen wir unsere Wanderung.
Der Plan der Räumlichkeiten, Kellergeschosse, Säle in vielen Etagen bis unter die Dächer umfassend, ist ein so ausgedehnter, daß wir darauf verzichten, denselben festzuhalten. Sämmtliche Räumlichkeiten, von denen einige erst in diesem Jahre fertig gestellt werden, bieten große, helle und gesunde Räumen alle Fortschritte, welche die Technik in Bezug auf Heizungs-, Lüftungs- und Beleuchtungsanlagen gemacht hat, sind hier auf das Beste verwertet worden, und tritt das Bestreben auf Erzielung größtmöglicher Betriebssicherheit deutlich in die Erscheinung. Gegenwärtig besitzt die Reichsdruckerei 37 Schnellpressen und 198 sonstige Maschinen. Die Dampfmaschinen arbeiten mit zusammen 64 Pferdekräften. Über das Personal erhalten wir von unserem liebenswürdigen Führer folgende Mittheilungen: dasselbe besteht außer dem Director aus 10 etatsmäßigen Beamten, 67 ständigen Werkleuten (Oberfactoren, Factoren, Vorstehern der Ateliers und Werkstätten, Obermaschinenmeistern, Factoren, Aufsehern, Setzern, Correctoren, Revisoren, Schreibern etc.), 615 gegen Tagelohn beschäftigten Arbeitern, Burschen, Lehrlingen und weiblichen Personen, zusammen etwa aus 700 Köpfen.
Der Betrieb erfordert bei einer so großen Zahl Bediensteten und im Hinblick auf die Thätigkeit derselben (Herstellung von Papiergeld etc.) eine außerordentliche Disciplin und erprobte moralische Qualität, ohne welche die Anstalt nicht gedacht werden kann. Durch humane Bestimmungen, entsprechende Besoldungen, Invalidenfonds und sonstige Einrichtungen ist indeß ein Stamm von Angestellten geschaffen, der allen Anforderungen entspricht.
Eine der Hauptaufgabe der Reichsdruckerei ist, wie bereits angedeutet, die Anfertigung von Papiergeld, Marken und Postkarten. Der Stoff zu denselben, das Papier, ist das einzige Material, welches das Institut nicht selbst produciert; es wird vielmehr von auswärtigen gewissenhaft arbeitenden Fabriken bezogen. Bei der eminenten Bedeutung des Papieres für die genannten Werthobjecte wird der Qualität desselben die peinlichste Aufmerksamkeit gewidmet. Die von den Fabriken eingesandten Papierproben werden auf ihre Druck-, Copir- und Schreibfähigkeit für Tinte und Blei eingehend geprüft, und die Ausführung der Aufträge in den Papierfabriken erfolgt unter theilweiser Beaufsichtigung von Beamten der Reichsdruckerei und der „Controlle der Staatspapiere“.
Es wird uns ein wunderbares Album vorgelegt, auf dessen Blättern sämmtliches Papiergeld verschiedener Staaten aufgeklebt ist. Die Entwickelung dieser Werthzeichen steht in engem Zusammenhange mit den Anstrengungen jener Dunkelmänner, welche sich trotz der härtesten Strafen von der Ausübung ihres verbrecherischen Treibens nicht abschrecken lassen – der Fälscher. Zwischen diesen und der Direction der Reichsdruckerei wüthet im Stillen ein merkwürdiger Kampf; was von den gewiegten Köpfen des Instituts auch ersonnen worden ist, im feindlichen Lager gab es stets Verwegene, die es nachzumachen versuchten und mit ihrer Fertigkeit allerdings einen Theil des Publicums, in keinem Falle aber den Kenner oder gar einen Beamten der Reichsdruckerei täuschen konnten. Wir wollen an dieser Stelle mitteilen, daß durch ein in nächster Zeit einzuführendes Papiergeld den Falschmünzern der Weg gründlich verlegt werden wird. Der uns vorgelegte neue Fünfzigmarkschein dessen künstlerische Ausführung von dem Professor W. Sohn-Düsseldorf herrührt, hat an der Seite einen breiten hellen Rand, in welchem sich bläuliche, sehr dünne Faserstreifen befinden; sie gleichen eingefrorenen blauen Krystallen und können mit dem Messer oder einer Nadel herausgehoben werden, welche letztere Möglichkeit nebst der Qualität der Fasern einen Prüfstein der Echtheit bildet, der von Jedermann mit Leichtigkeit angewandt werden kann. Das vom Reiche erworbene Geheimniß dieser Papierpräparation ist die Erfindung eines Amerikaners.
Verfolgen wir nun die Herstellung eines Hundert- oder Tausendmarkscheines! Die Direction hält den Grundsatz fest, bei allen Werthzeichen das künstlerische Moment zur vollen Geltung zu bringen; ist doch vielleicht jenes blaue Zettelchen (Fünf Mark) mit den reizenden, Festons haltenden Knaben das einzige wirkliche Kunstbild, welches durch die Hände des in neuerer Zeit vielgenannten „armen Mannes“ geht - hoffentlich kann er es recht lange „besehen“. In dem Graviersaal sehen wir geübte Stecher jene Zeichnung, deren Entwurf das Resultat einer ausgeschriebenen Concurrenz für die deutschen Künstler ist, auf Kupferplatten übertragen und wahre Meisterstücke dieser Kunst hervorzaubern. Die bedeutsamsten und dem Fälscher unüberwindlichsten Beigaben sind die Zierruthen, namentlich diejenigen in gewundenen Zügen (Guillochis). Sie sind auf der Rückseite eines Fünfmarkscheines ihrem Wesen nach schon mit unbewaffnetem Auge wahrzunehmen; diese gemusterten Flächen, Sterne und Rosetten werden vermittelst eines höchst sinnreichen Apparates konstruiert, welcher durch ein Räderwerk einen Diamantstift in mathematisch genauen Linien und Bogen auf einer mit einer Harzlösung versehenen Kupferblatte bewegt, die durch ein [427] Räderwerk ebenfalls bestimmte Drehung annimmt; dadurch entstehen ebenso reizende wie unmöglich mit der Hand auszuführende Muster der „rocher de bronze“ an welchem alle Nachahmer scheitern. Die fertigestellten Platten, für jeden Schein natürlich doppelt, wandern dann in die galvanoplastische Abtheilung, um dort auf mechanischem Wege vervielfältigt zu werden.
Wir betreten jetzt das Heiligthum der Reichsdruckerei, jenen Saal, wo uns in märchenhafter Weise zwar nicht das Gold, wohl aber das Geld, wenn auch nur das papierne, in mächtigen Ballen und Paketen entgegenlacht; kein Unberufener darf die Schwelle überschreiten – hier ist des Papiergeldes wahrer Himmel. Nachdem die erwähnten, zahlreich vervielfältigten Platten mit Farbestoff versehen und mit dem Papier belegt worden sind, kommen je vier derselben unter eine hydraulische Presse, um einem Druck von vielen tausend Pfund ausgesetzt zu werden – wenige Secunden später, und die Cassenscheine begrüßen das Tageslicht – mit gleichgültiger Miene legen die Drucker Bogen auf Bogen, unbekümmert ob die Zahl 1000 oder nur 5 zu lesen ist.
Welche Werthzeichen hier geboren werden, mögen folgende Zahlen illustrieren. Im Etatsjahre 1879 bis 1880 wurden hergestellt: 1,714,000 Reichsbanknoten im Werthe von rund 171 Millionen Mark, 584,000 Reichscassenscheine gleich 29 Millionen Mark, 325,000 Schuldverschreibungen von Reichs- beziehentlich preußischen Anleihen gleich 466 Millionen Mark, 881,000 sonstige Werthpapiere gleich 295 Millionen Mark. Die Gesammtsumme der überhaupt produzierten Werthzeichen betrug 1879 bis 1880 800 Millionen Stück im Werthe von mehr als 1000 Millionen, oder etwa 2 2/3 Millionen Stück im Werthe von 3 1/3 Millionen Mark täglich. Angesichts dieser fast unheimlichen Summen möchte wohl Mancher fragen: Wie steht es aber um die Ehrlichkeit dieser Leute gegenüber solcher Versuchung?
Abgesehen von der Thatsache, daß die moralische Qualität der dort Angestellten über jeden Zweifel erhaben ist, würde eine eventuelle Veruntreuung eines Werthzeichens absolut unmöglich sein. Vor Beginn der Arbeit wird jedem die Zahl der Bogen gegen Quittung übergeben, durch Controlleure werden die fertigen Scheine in bestimmten Zeitabschnitten, wiederum gegen Unterschrift, abgehoben und am Schluß des Tages summirt und nachgezählt; im Uebrigen ist die Theilung der Arbeit der Art durchgeführt, daß dem Einzelnen nur ein kleiner Bruchtheil der Herstellung zufällt. Zu weiterer Betriebssicherheit darf Niemand (außer den Setzern) während der Arbeitszeit (sieben bis fünf Uhr) das Gebäude verlassen, und muß Jeder die üblichen Erholungspausen innerhalb der genannten Räume verbringen, wie auch mit Rücksicht auf diese Maßregel die Einrichtung einer Speise-Anstalt aus dem Grundstück der Reichsdruckerei beabsichtigt wird, wo das Personal seine Mahlzeiten gegen einen verhältnismäßig billigen Preis einnehmen kann.
Jetzt öffnen sich die Pforten zu einem großen Oberlichtsaal, in welchem nicht weniger als neunzehn Schnellpressen sausen, um jene kleinen weltumfassenden Werthzeichen, Freimarken, beziehentlich Freicouverts und Postkarten herzustellen. Die dazu nötigen Stempel werden in weichen Stahl graviert, gehärtet und dann auf einer lithographischen Presse vervielfältigt. Auch auf dem Freimarkengebiet entwickelt die Direction in Folge vielfacher Mißbräuche eine erhöhte Thätigkeit, um Schädigungen der Post zu verhindern.
Bekanntlich wird vielfach die Entfernung des schwarzen Poststempels vorgenommen, um die Marke von Neuem zu verwerten. Solchen, übrigens recht gefährlichen Manipulationen wurde neuerdings durch die Direction Schach geboten, indem die Farbe der Marke auf einer besonders präparierten Schicht ruht, die im Wasser oder bei mechanischen Eingriffen sofort zum Verräter wird. Die Production der Postwerthzeichen hat einen erstaunlichen Umfang angenommen. Während des letzten Etatsjahres wurden hergestellt 750 Millionen Stück im Werthe von rund 84 Millionen Mark (täglich 2½ Million Stück, darunter 400,000 Stück Postkarten), 30 Millionen Wechselstempelzeichen und 24 Millionen Werthzeichen zur Erhebung der statistischen Gebühr. Um die Freimarken etc. mit dem nötigen (übrigens durchaus unschädlichen) Klebestoffe zu versehen, sind täglich 76 Pfund Gummi Arabicum erforderlich. Mittelst Schneidemaschinen erhalten die Postkarten das Format, und besondere Maschinen durchlöchern die Freimarkenbogen; im nächsten Augenblicke werden sie von Mädchenhänden verpackt, um an die Post abgeschickt zu werden. Zur Versendung dieser Werthzeichen wurden 1879/1880 16,024 Kisten im Gesammtgewichte von 542,613 Kilogramm, täglich also im Durchschnitt 53 Kisten von 1780 Kilogramm Gewicht benutzt.
Unsere Wanderung führt uns weiter in die Schriftgießerei, deren sämmtliches Material die Anstalt aus eigener Kraft stellt und das ein Gewicht von 6662 Centnern repräsentirt. Diese Vorräthe werden jetzt umgeschmolzen, um ein einheitliches System, das metrische, herzustellen, und wir sehen daher zu Tausenden die einzelnen Buchstaben entstehen; allenthalben rauscht und zischt es, und eine drückende Atmosphäre lagert über den Bleikesseln, welche stets bereit sind, jene unheimlich blitzenden Metallströme zu versenden; bei dem Abschleifen und Sortiren der Typen sind nur Frauen thätig. Besondere Pflege erfährt die Stereotypie, und die dazu verwendeten Platten bestehen aus feinen mit Schlemmkreide und Stärkekleister verbundenen Papierschichten, auf denen das flüssige Blei erstarrt, ohne Verbrennung zu hinterlassen.
Jene beiden, mit Wellblech gewölbten Setzersäle zu je 100 Plätzen dürften von manchem in schlechter Luft und fraglicher Beleuchtung arbeitenden Buchdrucker wegen ihrer ungewöhnlichen Dimensionen und fast blendender Lichtfülle mit stillem Neid betrachtet werden. Hier entsteht das amtliche Coursbuch in jährlich acht Ausgaben, wahren Meisterwerken der Setzkunst und Correctur, zu denen die Typen allein einen Werth von 27,000 Mark repräsentiren. Unser Blick bleibt auf einigen Ballen kunstvoll gedruckter Papiere haften, von denen nicht wenige wie Bücher und Menschen ihre bewegten Schicksale haben – es sind Actien nebst Talons und Coupons.
Durch Handschlag ist das Druckerpersonal verpflichtet, über die Herstellung jener Werthpapiere oder anderer Aufträge Schweigen zu bewahren – wir sind selbstverständlich ebenso diskret, betrachten aber sinnend diese Actienstöße, auf welche vielleicht schon jetzt die Börse als auf eine fette Beute lauert. Hunderte fleißiger Hände regen sich unbekümmert um das Schicksal oder die Bedeutung der hergestellten Drucksachen. Es befinden sich darunter Patentschriften, Beschreibungen neuer Erfindungen, die im Auftrage des Patentamtes in den Druck gegeben wurden, ferner die bekannte „Provinzial-Correspondenz“, Amtsblätter, Gesetzsammlungen, Druckarbeiten für den Bundesrath, das Herrenhaus etc. und Formulare für Post und Militär.
Wer je einen Blick in die Verwaltungsmaschine der beiden letzteren Staatsfactoren gethan hat, wird die Bedeutung und Unentbehrlichkeit der Formulare, der Seele des ganzen Organismus, verstehen; denn unter den jährlich von der Reichsdruckerei gelieferten hundert Millionen Bogen bildet sie einen bedeutenden Procentsatz. Von den für Post- und Telegraphenzwecke gelieferten Drucksachen, für die 1879 und 1880 an Herstellungskosten 1,440,900 Mark gezahlt wurden, entfielen auf Druckformulare 14½ Millionen Bogen und 28 Millionen Stück in Heften oder Karten.
Unsere Wanderung führt uns weiter durch Säle für Steindruck zur Herstellung von Karten etc. nach dem fast nur in den Dienst der reproducirenden Kunst gestellten photographischen Atelier. Hier erregt ein in Deutschland früher nicht angewendetes Kupferlichtdruckverfahren (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1878 Nr. 50) unsere ganze Aufmerksamkeit; durch dasselbe werden die Originale von Zeichnungen, Drucken etc. auf photographisch-galvanischem Wege derart auf eine Kupferplatte übertragen, daß das Bild, in ähnlicher Weise wie durch den Grabstichel, sich vertieft in die Platte einprägt und von der letzteren als Kupferstich abgezogen werden kann. Die Originalzeichnung wird dabei in größerer Schärfe und Reinheit, als durch den gewöhnlichen Steinlichtdruck wiedergegeben, ein Verfahren, von dem namentlich auch seitens der Verwaltung der königlichen Museen in Berlin, und zwar für die Herausgabe des Jahrbuches der königlich preußischen Kunstsammlungen, Gebrauch gemacht wird. Nachdem wir auch noch die Buchbindereisäle durchwandert haben, wird uns schließlich gestattet, Einsicht von dem Haushalt des Instituts zu nehmen. Im Etat für 1881 und 1882 ist die Einnahme mit 3,253,500 Mark, die Ausgabe mit 2,191,980 Mark, der Ueberschuß mit 1,061,520 Mark vorgesehen. „Es ist mit Zuversicht zu erwarten“, so schließt ein Actenstück des Archivs für Post und Telegraphie, herausgegeben im Auftrag des Reichspostamtes, „daß das Institut auch ferner sich gedeihlich entwickele.“ Möge dem so sein!
[428]Der Ryswyker Friede.
In der Provinz Südholland, zwischen dem Haag und Delft, liegt das Dorf Ryswyk; seine Häuser schauen so freundlich, so schmuck und sauber aus den grünen Bäumen hervor, wie man dies eben nur in Holland findet. In unmittelbarer Nähe des Ortes, auf dem Wege nach Delft hin, ragt ein hoher Obelisk in die Luft, welcher lange Zeit hindurch gar traurige Erinnerungen in deutschen Herzen weckte: auf dieser Stelle ging Straßburg dem deutschen Reiche verloren, aber nicht ganz zwei Jahrhunderte lang sollte des vierzehnten Ludwig stolzes Wort sich erfüllen, daß „er und seine Nachkommen im unstörbaren Besitz der Stadt bleiben wollten“.
Da, wo jetzt die steinerne Nadel des Obelisks in die Lüfte zeigt, stand einst das Luftschloß Huis te Niewburg, welches unser heutiges Bild wiedergiebt, so genannt, weil ein Herzog, von Niewburg den ersten Stein zu dem Bau gelegt hat. Aber schon 1783 wurde es, wie die Inschrift des sechszig Fuß hohen Obelisken besagt, niedergelassen, weil es eine „Ruinosa Aedes“, ein „baufälliges Haus“ war. 1792 ließ der Erbstatthalter Wilhelm der Fünfte das erwähnte Denkmal auf der Stelle des alten Schlosses errichten.
Auf drei Stufen gelangt man zu der circa fünfzehn Fuß hohen Basis, auf welcher in lateinischer Sprache zu lesen: „Zu Ehren des großen und guten Gottes, der uns den Frieden geschenkt hat, und zum Gedächtniß des Friedens zu Ryswyk hat Wilhelm der Fünfte von Oranien und Nassau auf dem Boden des baufälligen Hauses diese große Nadel errichtet im Jahre des Herrn 1792.“ Ueber dieser Inschrift sieht man das von Laubwerk umgebene und in Stein gehauene Wappen des Prinzen; darüber befindet sich die kaiserliche Krone und noch höher ein Mercur-Stab mit Schlangen, das Symbol des niederländischen Handels; rechts sieht man das Sinnbild der Schifffahrt: ein Ruder, umgeben von Kornähren, als Zeichen des Reichthums, auf der Rückseite des Obelisken ein Bündel Pfeile, links ein Füllhorn.
Als ich das ernste Gedenkzeichen zum ersten Mal sah, rauschte durch die Wipfel der umschattenden Bäume noch nicht die tröstliche Botschaft herüber, daß die alte Schmach gesühnt sei, daß, wie einst Athen die Säule zerschmettert, auf welcher der Friedensvertrag mit Philipp stand, so auch Deutschland jenen Paragraphen sechszehn aus dem Friedensvertrage zu Ryswyk herausgerissen und sich sein Straßburg, seine verlorene Braut, wieder errungen habe im unehrlichen Kampfe. Und da wir erst vor Kurzem, trauernd um die gefallenen Helden und über die wiedergewonnene Einheit triumphirend, den zehnten Gedenktag des Frankfurter Friedens, der uns Elsaß wiedergab, feierlich begingen, so dürfte jetzt der richtige Moment gekommen sein, uns den Ryswhker Frieden durch den wir Elsaß einst verloren, in’s Gedächtniß zurückzurufen.
Kaum war vor zwei Jahrhunderten das Reich im Osten von der Türkennoth befreit, als schon der übermüthige, westliche Nachbar gegen die Reichsritterschaft und die Städte im Elsaß Gewaltthaten verübte und auf andere deutsche Gebiete freche Ansprüche erhob.
Zur Abwehr solcher Uebergriffe traten zu Augsburg am 9. Juli 1686 der Kaiser mit seinem ganzen Hause, Baiern und andere deutsche Stände, Spanien und Schweden in den sogenannten großen Bund zusammen. Jahrelang kämpften die Alliirten in blutigem Ringen und mit wechselndem Kriegsglücke gegen die französischen Heere, bis am 9. Mai 1697 unter Schwedens Vermittlung die Gesandten sämmtlicher kriegführenden Mächte zusammen kamen, um über Europas Ruhe zu entscheiden. Ryswyk ward zum Versammlungsort gewählt, und so tagten die Vertreter der betheiligten Staaten gerade hier, auf der Stelle des Obelisken. Hier rollten vor fast 200 Jahren die Sechsspänner der Gesandten; hier wölbte sich der stolze Bau des Hauses zu Neuburg; vielleicht gerade über uns, hier wo wir eben stehen, schmückten die Gemälde des Malers Plonthorst die Decke des Hauptsaales; hier etwa ist die Stelle, an der sich das Balconzimmer mit dem grünbehangenen Tische befand, an welchem am 30. October 1697, Morgens vier Uhr der Frieden unterzeichnet wurde.
Welch ein merkwürdiges, lautes Leben herrschte damals monatelang in den Räumen dieses Schlosses! Nach unsern heutigen Begriffen ein kleinliches, ja, lächerliches Treiben! Während es sich um Wohl und Wehe großer Völker handelte, stritten und zankten sich die Herren Gesandten vom ersten Tage, ab um recht untergeordnete Fragen einer Zeit und Geld stehlenden Etiquette. Die kaiserlichen Gesandten ließen sich z. B. die Mühe nicht verdrießen, zu jeder Conferenz vor der anberaumten Zeit in Ryswyk zu erscheinen, nachdem der schwedische Friedensvermittler Lillieroot nach langen Streitigkeiten entschieden hatte, daß die zuerst kommenden Wagen den ersten Platz im Schloßhofe einnehmen sollten. Sobald die übrigen Verbündeten dies merkten, ließen sie ihre Wagen gar nicht mehr im Hofe warten, sondern schickten sie in den Park zurück. Es wäre nicht zu verwundern gewesen, wenn Frankreich, der übermüthige Friedensgewährer, übertriebene Ansprüche gemacht hätte, aber die kaiserlichen Gesandten gaben ihm nichts nach: sie verlangten ihre eigene Conferenztafel, abgesondert von derjenigen der Alliirten, ja sogar ihr eigenes Versammlungszimmer; die alte Uneinigkeit und Ueberhebung schwand auch in den Stunden der Entscheidung nicht. Es gemahnt uns wahrlich wie eine Scene aus einem Kotzebue’schen Lustspiel, wenn uns erzählt wird, welche Schwierigkeiten Schweden zu besiegen hatte, um die gegenseitigen Besuche des französischen und kaiserlichen Gesandten zu regeln. Die Thüren zu den Gemächern Beider öffneten sich auf den großen Empfangssaal. Beide Gesandte, so lautete der schwedische Richterspruch, sollten zu gleicher Zeit aus ihren Gemächern heraustreten, damit keiner sagen könne, er habe den ersten Besuch gemacht. Der französische Gesandte drohte, er würde sich sofort zurückziehen, sobald er bemerke, daß die Rosette auf dem Schuh des kaiserlichen Gesandten nicht ebenso weit auf der Schwelle vorgeschritten sei, wie die seine. Glücklicher Weise vermied Schweden die Möglichkeit einer solchen Scene, indem es die gegenseitige Begrüßung der Gesandten so regelte, daß der später Angekommene stets von dem früher Anwesenden besucht wurde.
Am 9. Mai, Nachmittags 3 Uhr begann der feierliche und über alle Maßen pompöse Einzug der Gesandten. Zuerst erschien in sechsspännigem Wagen der Friedensvermittler; obgleich er selbst und die mit ihm im Wagen Sitzenden wegen des Todes Karl’s des Ersten Trauer trugen, waren doch Equipage und Dienerschaft ohne entsprechende Abzeichen, was um so auffälliger war, da Frankreich, das die Trauer um die Königin Wittwe von Spanien längst abgelegt hatte, die Dienerschaft in Trauerkleidern erscheinen ließ. Hierauf folgten die Bevollmächtigten der andern Staaten in Sechsspännern und mit zahlreicher Dienerschaft, während ein Detachement Schweizergarden zur Aufrechterhaltung der Ordnung bei dem überaus großen Andrange von Zuschauern beordert war.
Oben im großen Saal des Schlosses war feierlicher Empfang van Seiten der Hochmögenden der Republik. Die Franzosen hatten ausdrücklich verlangt, daß mit ihrem Empfang eine Persönlichkeit betraut werde, die denselben Rang bekleide wie diejenige, welche die Verbündeten zu begrüßen habe. Die Generalstaaten fügten sich dem Wunsche und ernannten die sich im Range gleichstehenden Herren Roosenboom und Hessel zu diesen Ehrenämtern; jeder Rangstreitigkeit wurde noch dadurch die Spitze abgebrochen, daß die beiden zur Begrüßung Erkorenen loosen mußten, wer die Verbündeten und wer die Franzosen zu empfangen habe. Dem Letzteren, weil er weniger Personen zu begrüßen hatte, fiel noch die Ehre zu, die schwedischen Gesandten, die Friedensvermittler, zu becomplimentiren.
Der erste Gesandte Schwedens eröffnete den Congreß, indem er zuerst in die Gemächer der Verbündeten, gleich darauf in die der Franzosen mit kurzer Ansprache eintrat. In der ersten Sitzung, die bis gegen 7 Uhr währte, wurden alle Beglaubigungsschreiben dem Vermittler überreicht, und dieser legte sie gleich darauf den beiden Parteien zur Einsicht vor. In der zweiten Zusammenkunft setzte man die Sitzungstage auf Mittwoch und Sonnabend fest; Montag und Donnerstag wurden zu Versammlungstagen der Verkündeten im Haag bestimmt, und Dienstag und Freitag waren die Posttage nach Frankreich, Deutschland und Großbritannien.
Während das Herz Europas in fieberhafter Aufregung der Entscheidung entgegenklopfte, die aus Ryswyks stillem Walde Krieg oder Frieden bringen sollte, ergingen sich die Herren Gesandten, allen voran die kaiserlichen, wie sie es von Anfang [429] an gethan, in Erörterungen der nebensächlichsten Art, sodaß man bis zum 1. Juni eigentlich noch keinen Schritt vorwärts gekommen war. Die Kaiserlichen beanspruchten, außer den früher genannten Forderungen, die Schriften der übrigen Verbündeten durch ihre Hände gehen zu sehen; die wachehabenden Soldaten sollten vor ihnen unter die Waffen treten etc. Der Streit über die Rangordnung war geradezu peinlich, und kaum glaublich würden die sich abspielenden Scenen sein, wenn sie nicht geschichtlich verbürgt wären. So fuhren die Gesandten der Hochmögenden vom Plein nach dem Spuy (Plätze im Haag); in der ziemlich engen Zwischenstraße begegneten sie dem leeren Staatswagen des Grafen Kaunitz. Da die zwei Carossen nicht an einander vorbeifahren konnten, ließen die Gesandten dem Kutscher sagen, er möge ausweichen, damit man an einander vorbeifahren könne, aber der wahrscheinlich gut instruirte Kutscher machte Miene, seinen Wagen zuerst vorüberfahren zu lassen, ohne den Hochmögenden Platz zu machen. Die Gesandten beklagten sich unverzüglich, so lange in der engen Straße zwischen den Häusern harrend, bis die Antwort des Herrn von Kaunitz angekommen war. Dieser gebot dann seinem Kutscher, Platz zu machen; da das einmal festgestellte Reglement es so verlange, wolle er nachgeben.
Ein eigenthümliches Bild jener Tage liefert auch die Beschreibung der öffentlichen Audienz des Grafen von Lillieroot bei den Generalstaaten. Politische Bedenklichkeiten hatten früher die officielle Anzeige vom Tode des schwedischen Königs zurückgehalten; jetzt war die Zeit gekommen, die verspätete Meldung zu machen. Der Gesandte wurde in der großen Staatscarosse zur Audienz abgeholt, und ihm folgte in zwanzig Vier- und in elf Zweispännern, eine große Anzahl von niederländischen Adligen. Das Gefolge des Gesandten fuhr in drei mit schwarzem Tuch ausgeschlagenen Carossen, denen wiederum eine ganze Reihe von schwedischen Pagen, Dienern zu Fuß und jungen Edlen folgte. Von den fremden Gesandten hatte keiner, wieder des leidigen Rangstreites wegen, seinen Wagen geschickt, nur die holländischen Gesandten, als Mitglieder der die Trauerbotschaft empfangenden Nation, ließen drei Sechsspänner zugleich hinter dem Staatswagen des Gesandten fahren. An derartigen Schilderungen höfischer Kleinigkeiten und zopfiger Marotten ist das französisch geschriebene Werk unseres Gewährsmannes – A. Moetjen’s „Actes et Memoires des Negociations de la Paix de Ryswyk“ – reich. Viel des Traurigen, Kleinlichen und Lächerlichen berichtet dieses Buch. Aber ein Wort, ein ernstes, erhebendes, kehrt doch immer wieder: in allen Verhandlungen, Protestationen, Antworten erklingt das eine dringende Verlangen der Alliirten, Straßburg zurückzuhaben; ebenso erklärt der kaiserliche Gesandte, Graf von Starhemberg, durch die Vermittelung Schwedens, daß der Congreß nicht beginnen würde, wenn Frankreich nicht vorher die Rückgabe Lothringens verspräche, und Schweden gelobt, Sorge für die Erfüllung dieses gerechten Wunsches zu tragen. Hatten Kaiser und Reich Straßburg früher Unrecht zugefügt, indem sie es dem Feinde überlassen, beim Congreß haben sie Alles aufgeboten, das Schmerzenskind wieder zu erringen. Aber vergebens! Ludwig der Vierzehnte sprach immer drohender. Zuerst sollte der Kaiser das von Frankreich gebotene Aequivalent selbst wählen, dann aber bestimmte es der König allein; er bot Stadt und Schloß Freiburg, die Dörfer de l’Heu, Metzhausen, Kircksand und Breisach, deren Neustadt zerstört werden sollte, damit in Zukunft der Rhein die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich bilde.
Aber die Reichsfürsten bestanden auf der Rückgabe ohne Aequivalent. Da kam schließlich Frankreichs letzter Bescheid: Straßburg blieb sein ohne Aequivalent.
Endlich entschied sich das Loos Europas und des verlassenen Kindes Straßburg. Schweden zog sich gegen Mitternacht des denkwürdigen Tages zurück, ohne die Unterschriften der contrahirenden Mächte abzuwarten, weil der abzuschließende Friede die Bedingungen des westfälischen Friedens schädigte, für welche der schwedische König einst Garantie übernommen hatte, und gleich nach der Unterzeichnung ließ der Friedensvermittler durch seinen Secretär von Friesendorf den kaiserlichen und französischen Gesandten seine Widerspruchsurkunde überreichen.
Der Friede war nun geschlossen – aber um welchen Preis? Paragraph 16 des Friedensvertrages zwischen Deutschland und Frankreich am 30. Oktober 1697 strich Straßburg von der Reichsmatrikel. In Deutschland erscholl bei der Kunde davon, ein lautes Klagen. und der allezeit schlagfertige Volksmund sprach es treffend im Wortspiel aus: „Was uns der Friede von Nimmweg (Nymwegen) nicht weggenommen, hat uns der Friede von Reißweg (Ryswyk) weggerissen.“
Eine glanzvollere Correctur konnte der für Deutschland so schmachvolle Vertrag von 1697 nicht finden, als durch den vor nunmehr zehn Jahren geschlossenen Frieden von Frankfurt: Straßburg ist wieder unser und wird unser bleiben. Im Interesse der Cultur und Gesittung ist es dringend zu wünschen, daß zwischen der deutschen und französischen Nation aus einer wirklichen Versöhnung der Gemüther sich mehr und mehr freundnachbarliche Beziehungen gestalten möchten. Sollte aber dieses innig zu wünschende Band freundschaftlicher Gesinnungen von jenseits des [430] Rheins sich nicht knüpfen, so giebt es ja ein prophetisches Wort Leibnitzen’s, das deutsche Männer stets beherzigen mögen: „Wer den Schlüssel zu seinem Hause seinem Nachbarn, seinem Feinde, seinem formidabeln Feinde, einem Feinde, der eine ewige Ambition und Jalousie gegen das römische Reich unterhält und nimmermehr quittiren wird, überlassen muß, der kann gewiß nicht ruhig schlafen.“
Die Wüstenmetropole am Nigerstrom.
Zu den mächtigen Städten, welche der Muhamedanismus im Laufe der Zeiten am fruchtbaren Südrande der großen Wüste, quer durch Afrika, gründete, gehört auch die seit Jahrhunderten in den Schleier des Geheimnisses gehüllte Wüstenmetropole am Nigerstrom – Timbuctu.[1] Vor etwa achthundert Jahren gegründet, entwickelte sich die interessante Stadt in Folge der gewaltigen Energie der islamitischen Machtentfaltung im Mittelalter zu einem der bedeutendsten Culturcentren Afrikas, aber auch an dem stolzen Timbuctu hat sich das Wort vom Zahn der Zeit erfüllt – die Stadt ist heute nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Vor fünf oder sechs Jahrhunderten wußten trotz der großartigen Hindernisse, welche ihnen die wilde Wüstennatur entgegensetzte, die islamitischen Herrscher zwischen dem Nordrand von Afrika und den mohammedanischen Städten südlich von der Sahara fortdauernde Handelsbeziehungen zu unterhalten. Dieser lebhafte Verkehr erreichte seinen Gipfelpunkt unter dem mächtigen Sultan El Kahal in Marokko, von dem ein arabischer Schriftsteller berichtet, durch sein Machtgebot sei jenes gigantische Werk ausgeführt worden, welches in der Bepflanzung der ganzen ungeheuren Wegstrecke zwischen Marokko und Timbuctu mit hölzernen Pfählen bestand, die den hin und her fluthenden Handelskarawanen als Wegweiser dienten.
Es spricht sehr für die siegende Gewalt des Muhamedanismus, daß er Jahrhunderte hindurch seine Jünger so zu begeistern verstand, daß sie die Schrecknisse der Wüste kaum beachteten und daß die Sonnengluth der erhitzten Sandflächen und Thäler nichts vermochte gegen den glühenden Religionseifer der Anhänger des Propheten. Ungeachtet aller Sandstürme und Einöden wanderten namentlich die Gelehrten des Islam in großen Schaaren nach der „heiligen“ Stadt Timbuctu, um dort in tiefster Versenkung und Hingebung an Allah aufzugehen und die Grundlehren ihrer Religion zu berathen. Selbstverständlich mußte das „Athen der Wüste“ den „Ungläubigen“, gleichviel ob Christen oder Juden, für immer unzugänglich bleiben; als daher mit dem Erwachen des geographischen Forschungsgeistes Versuche gemacht wurden, die märchenhafte Stadt, welche eine Einwohnerschaft von 100,000 Personen in sich bergen sollte, der wissenschaftlichen Untersuchung zu erschließen, wurden alle dahin zielenden Bestrebungen durch den Fanatismus der Bewohner zurückgewiesen. Vergebens bemühte sich in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts der kühne Reisende Mungo Park die Stadt Timbuctu zu erreichen; denn einige Tagereisen von ihr entfernt, mußte er umkehren und arm und elend den Rückweg antreten, während er auf seiner zweiten heldenmüthigen Reise im Jahre 1805 den Hafenort von Timbuctu, nicht aber die Stadt selbst erreichte und bald darauf, stromabwärts fahrend, bei Bussa ein ruhmvolles, doch unfruchtbares Ende fand. Der erste Europäer, welcher Timbuctu erreichte, war der englische Major Alexander Gordon Laing, der sie am 18. August 1826 betrat, dann aber verjagt und einige Tagereisen landeinwärts ermordet wurde. Glücklicher waren später der Franzose Réné Caillié, welcher vierzehn Tage in Timbuctu verweilte, und nach ihm zwei deutsche Forscher, Dr. Heinrich Barth, der den Winter des Jahres 1853 und das Frühjahr 1854 daselbst zubrachte, sowie Dr. Oscar Lenz aus Leipzig, der vom 1. bis 17. Juli 1880 Timbuctu durchforschte. Die Beschreibungen unserer deutschen Landsleute sind das Einzige, was wir über die gegenwärtigen Verhältnisse der interessanten Nigerstadt mit Sicherheit wissen.
Dr. Lenz ist kein Neuling mehr in der Afrikaforschung; denn bereits in der Mitte des vorigen Jahrzehnts bereiste er im Auftrage der Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland eine andere Region Afrikas, und zwar das äquatoriale Stromgebiet des Ogowe, aus dem er manche bemerkenswerthe Entdeckung und vor Allem die echten Eigenschaften eines Afrikareisenden, treue Hingebung an die Idee, zielbewußtes unentwegtes Streben, festes Handeln, sowie Klugheit und Geduld im Verkehre mit den Menschen mitbrachte. Nach seiner Rückkehr vom Ogowegebiet verwaltete er einige Jahre lang die Stelle als Adjunct an der kaiserlich königlich geologischen Reichsanstalt in Wien und rüstete sich, im Alter von noch nicht zweiunddreißig Jahren – Dr. Lenz ist am 13. April 1848 geboren – im Herbst 1879 zu seiner zweiten Reise im Auftrage der Afrikanischen Gesellschaft. Das Ziel derselben war ursprünglich das Atlasgebirge und die geologische Erforschung des Gebietes von Marokko; durch eine Reihe von günstigen Verhältnissen gelang es ihm jedoch, Timbuctu zu erreichen. Die Einzelheiten dieser ruhmvollen Expedition sind durch die Zeitungen überall bekannt geworden, und wir wollen dieselbe hier nur in ihren Hauptzügen verfolgen.
Das große Geheimniß, auf dem auch hier wieder, wie ehemals bei Barth, der Erfolg der Reise beruhte, bestand darin, daß Lenz den besondern Verhältnissen Rechnung trug und nicht nur seine Stellung als Christ verleugnete, sondern direct als Muselmann reiste. Ja, er wählte sogar eine ziemlich exponirte Stellung als Bekenner des Islam, indem er sich für den Leibarzt eines der angesehensten priesterlichen Gelehrten des Islam ausgab. Dieser Gelehrte war ein sogenannter Scherif, das heißt einer der wirklichen direkten Nachkommen des Propheten Mohammed, und genoß als solcher eine ganz außerordentliche Hochachtung bei allen seinen Glaubensgenossen. Den Augen der afrikanischen Welt stellte sich das Verhältniß also folgendermaßen dar: Der hochgelehrte Scherif Hadj Ali, ein naher Verwandter des in Damaskus lebenden berühmten alten Kriegshelden Abd el Kader, hat, den Vorschriften des Islam zufolge, die Wallfahrt nach der heiligen Stadt Mekka vollendet und auf der Weiterreise in Constantinopel, der Hauptstadt des Padischah, einen sehr tüchtigen türkischen Militärarzt „Hakim Omar ben Alian“ (Dr. Oscar Lenz) kennen gelernt und ihn wegen seiner Geschicklichkeit in seine Dienste genommen. Da nun der Scherif begierig ist, den Lehren seiner Religion zufolge, auch die übrigen heiligen Städte des Islam kennen zu lernen und überall mit den Gelehrten zu disputiren, so hat er beschlossen, auch Timbuctu zu besuchen und seinen Leibarzt dorthin in seinem Gefolge mitzunehmen. In Wirklichkeit verhielt es sich aber anders: Dr. Lenz hatte diesen Scherif Hadj Ali, der natürlich eine ebenso käufliche Natur war, wie alle Anderen, um den Preis von dreitausend Franken als Dolmetsch gemiethet, wofür dieser ihn unversehrt von Tanger bis Timbuctu und wieder zurück nach Tanger zu bringen hatte. Falls Jener dies nicht vollständig erfüllte, so erhielt er überhaupt kein Geld. Dr. Lenz verkleidete sich als Muselmann und trat als Leibarzt des Scherif auf. Es glückte ihm besser als Dr. Barth, sein Incognito zu bewahren; denn während Dieser in Timbuctu sofort als Christ erkannt wurde und deshalb während seines langen Aufenthalts endlosen Verfolgungen der fanatischen Einwohnerschaft ausgesetzt war, blieb das Geheimniß des Dr. Lenz, wenigstens äußerlich, bewahrt, und wenn die vornehmen Kreise in Timbuctu es auch zu durchschauen schienen, so ignorirten sie doch vornehm, daß sie darum wußten, und ließen unsern Landsmann unbehelligt. Zudem verstand es der Scherif, sich das Ansehen eines ganz besonderen Heiligen zu geben und den „Gläubigen“ durch ein barsches, selbstbewußtes Auftreten zu imponiren; er spielte seine Rolle mit solcher Ueberzeugung, daß er zuletzt selber daran glaubte.
Als die kleine Karawane des Dr. Lenz von Norden her über [431] Tenduf, Taudeni und Arauan Timbuctu erreichte, kam eine beträchtliche Menschenmenge den Reisenden entgegen und begrüßte sie mit endlosen „Salams“, vornehmlich aber wurde dem Scherif, als der Hauptperson, von den biederen Bekennern des Islam Ehrerbietung gezollt. Der schlaue Hadj Ali, dessen handgreifliche Lüge, daß er der vierundzwanzigsten Generation der directen Nachkommen des Propheten angehöre, von Jedermann geglaubt wurde, obgleich bereits 1250 Jahre seit dem Tode Mohammed's verflossen sind, nahm ohne Weiteres die Gastfreundschaft des Oberhauptes der Stadt, der den Titel Kahia führt, für sich und sein Gefolge in Anspruch. Nur zu gern gewährte der hochgestellte Mann diesen Wunsch; denn es fiel ja dadurch auf sein Haus ein Strahl jener Herrlichkeit, die der Scherif durch sein bloßes Erscheinen verbreitete; auch brannten die einheimischen Gelehrten schon darauf, sich in endlosen Discussionen mit Hadj Ali zu messen.
So kam es denn, daß während des fast dreiwöchentlichen Aufenthaltes der Reisegesellschaft in Timbuctu fast täglich das Haus des Kahia der Sammelpunkt der gelehrtesten Moslemin wurde, die sich über die tiefsten Probleme und äußersten Geheimnisse des Islam in schreiendster Debatte unterhielten. Da sich der Scherif Hadj Ali einer ausnehmend gesunden Lunge erfreute, so gelang es ihm, wie dies auch sein Ansehen vorschrieb, regelmäßig die Anderen in den Discussionen niederzuschreien, und Abends theilte er dann dem Dr. Lenz triumphirend mit, daß er doch ein viel größerer Gelehrter als jene sei, die er im Wortgefechte besiegt habe. Der Scherif nutzte übrigens das große Renommée, dessen er sich erfreute, noch in anderer Weise aus, indem er den Gläubigen in Timbuctu zahlreiche Amulette, bestehend aus niedergeschriebenen Koranversen, die in Lederkapseln am Arm oder um den Hals getragen werden, anfertigte und dafür reiche Geschenke an Kleiderstoffen, Straußenfedern, Goldringen u. dergl. m. einheimste.
Inzwischen benutzte Dr. Lenz die ihm unter seinem hochangesehenen Schutze gewährte Sicherheit nach besten Kräften dazu, um wissenschaftliche Studien über Timbuctu und seine Bewohner anzustellen. Während Dr. Barth gelegentlich seines Aufenthaltes in Timbuctu sich, fast wie ein Gefangener, im Wesentlichen darauf beschränken mußte, von der Terrasse des Hauses seines Wirthes aus das Häusergewirr der Stadt mit den drei darüber hinwegragenden Moscheen zu besichtigen und zu skizziren, und nur hin und wieder sich einer gewissen Sorglosigkeit hingeben durfte, streifte Dr. Lenz frei und ungehindert, theils allein, theils mit seinem Scherif durch die engen Straßen der Stadt; er betrat das Gewühl des Marktes, die Wohnungen der verschiedenfarbigen Einwohner und die Verkaufsläden der Händler. Außerdem eröffneten sich ihm, dem Leibarzt des berühmten heiligen Mannes, noch ganz andere Thüren und Geheimnisse, die ihm sonst natürlich vollständig verschlossen gewesen wären. Zahlreiche Kranke consultirten ihn, und es gelang ihm auch einen Einblick in die sanitären Verhältnisse der Stadt zu gewinnen. Die Mehrzahl der Fälle, die er zu curiren hatte, betrafen das bekannte Uebel der Wüstenbewohner, nämlich Augenkrankheiten.
Die Beschreibung, welche Dr. Barth bereits 1854 von Timbuctu gemacht hatte, ist mit wenigen Modificationen auch heute noch zutreffeud, vielleicht ist der breite Gürtel von Ruinen und Häuserresten, welcher die überall offene, dreieckige Stadt als Ueberbleibsel ehemaliger Größe und Herrlichkeit rings umgiebt, noch ein klein wenig breiter geworden. Wenn man die Stadt von Norden her betritt, trifft man zunächst einen aus niederen flachen Zelten bestehenden Stadttheil, dessen Bewohner nomadisirende Araber sind, dahinter einen anderen Stadttheil, der aus höheren, spitzeren Hütten besteht und in dem die ärmere Bevölkerung ihren Wohnsitz aufgeschlagen hat; dann erst folgt das Häusergewirr der eigentlichen Stadt mit den quadratischen flachen, oft nur ein Stockwerk hohen Gebäuden, deren dicke Lehmmauern trotz der kolossalen Hitze draußen den Räumen im Innern eine angenehme Kühlung verschaffen. Vielfach finden sich an den Häusern Spuren von Ornamentirung; namentlich sind hübsche schwarze hölzerne Fenster nicht selten und in der Mitte zwischen zwei Häuserreihen befinden sich gewöhnlich Rinnen für das von den Dächern herabfließende Regenwasser. Die Straßen selbst sind fast überall so breit, daß sich zwei entgegenkommende Reiter ausweichen können. Die Einwohner von Timbuctu bestehen im Wesentlichen aus Arabern und Souray-Negern, sowie einem bunten Völkergewirr aus allen Theilen Afrikas, und ihre Gesammtzahl beträgt nach Schätzung des Dr. Lenz kaum mehr als zwanzigtausend. Hierzu kommt noch während der Karawanenzeit eine flottante Bevölkerung von mehreren Tausend Personen.
Die Karawanen und der Handel — das ist von Alters her der Hauptgedanke des handeltreibenden Theiles der Bevölkerung von Timbuctu. War es auch für die ehrgeizigen Herrscher früherer Jahrhunderte eine Ehrensache, recht viele Gelehrte in's Land zu ziehen, so vergaßen sie darum doch nicht, die Metropole am Nigerstrom zum Hauptzielpunkt des westlichen Sudan zu machen und es in enge Wechselwirkung mit Marokko zu bringen.
Bei alledem ist Timbuctu durchaus keine Stadt, in welcher eine eigene Industrie sich hervorragend entwickelt hätte. Jedes Gespräch, jede That bezieht sich dort entweder auf den Mohammedanismus, auf Hersagen von Gebeten und religiöse Unterhaltungen oder auf den Handel. Man handelt mit dem Sudan und den Negerreichen im Süden und kauft deren Producte an, um sie gegen die Waaren des Nordens umzutauschen, wobei die große Bedürfnißlosigkeit der Leute es erklärlich macht, daß sie sich mit verhältnißmäßig bescheidenem Gewinne begnügen.
Unter den von Norden herkommenden Karawanen ist diejenige von Tenduf, welche den Namen „Akbar“, das heißt die „Große“, führt, die bedeutendste. Diese wird gewöhnlich nur einmal des Jahres unternommen und zählt selten weniger als 300 bis 400 gut bewaffnete Leute und 1000 bis 2000 Kameele. Die Transportkosten betragen für eine Ladung von 162 Kilo von Timbuctu bis Tenduf 375 Franken, von Tenduf bis Mogador 40 Franken. Als Exportartikel von Timbuctu bilden Negersclaven immer noch einen Hauptartikel; diese Leute kommen aus den Bambarraländern und werden nach Marokko, Tunis und Tripolis geführt; außerdem führen die Karawanen aus Timbuctu Straußenfedern, im ungefähren Werthe von 400,000 Franken, etwas Gummi, Goldwaaren und Goldstaub für 100,000 Franken, Elephantenzähne für 150,000 Franken aus, und der Gesammtwerth aller Exportartikel nach dem Norden beträgt noch nicht eine volle Million Franken. Der Import nach Timbuctu enthält blaue englische Baumwollenstoffe, Korallen, Thee aus London, Zucker aus Marseille und Salzstücke aus Taudeni, welcher letztgenannte Ort etwa fünf geographische Breitengrade nördlich von Timbuctu liegt und einen bedeutenden Theil Centralafrikas mit Salz versorgt.
Dr. Lenz, welcher auf seiner Expedition den Ort berührte, berichtet von den uralten Steinsalzminen, welche hier von den Arabern ausgebeutet werden, Folgendes: Man bricht das Steinsalz in meterlangen Platten, deren vier eine Kameelladung ausmachen; Tausende von Kameelen gehen jährlich, mit diesen Platten beladen, nach Timbuctu. Sehr merkwürdig sind bei Taudeni die Reste einer längst untergegangenen Stadt, deren Mauern aus Erde und Steinsalz bestehen und zwischen deren Trümmern die Karawanenführer und Kameeltreiber nach prähistorischen Steinwerkzeugen suchen, die sie mit nach Timbuctu nehmen, wo die Negerweiber diese Steine sehr gern für den Hausgebrauch benutzen.
Die Nahrungsmittel in Timbuctu sind ganz vorzüglich; man findet dort vortreffliches Weizenbrod, gute Butter und Honig, Fleisch vom Rind, Schaf, Ziege, Wildpret und Hühner; auch giebt es vortreffliche kleine Boutiken an den Straßenecken, in denen außer diesen Lebensmitteln noch getrocknete Fische, Früchte, namentlich Melonen, Milch, Eier, Süßigkeiten etc. verkauft werden. Was die Münzverhältnisse betrifft, so bedient man sich zur Bezahlung des Goldes, und — wie an vielen Stellen der Erde — der Schalen der Kaurischnecken. Als Einheit für das Gold dient ein „Mitkal“, dessen Werth gegenwärtig in Timbuctu 11 bis 12 Franken beträgt; für die Hälfte dieses Preises erhält man etwa 5000 Kauris. Mit der letztern Münze werden alle kleineren Bedürfnisse bezahlt; beispielsweise erhält man für etwa 20 Kauris ein Ei. Man kann sich über den Werth des Muschelgeldes noch eine weitere Anschauung durch die Nachricht Dr. Barth's verschaffen, der mittheilte, daß er für 10,000 Kaurischnecken ein großes Boot zu ausschließlichem Gebrauche miethete, welches ihn während der letzten Woche seiner Fahrt auf dem Niger bis nach dem Hafen von Timbuctu zu fahren hatte. Timbuctu liegt nämlich nicht selbst an diesem Strome, sondern es befindet sich etwa eine Tagereise davon entfernt und hat nur zur nassen Jahreszeit eine Wasserverbindung dorthin. Sehr auffällig war es Dr. Lenz, daß er von der arabischen Bevölkerung in Timbuctu den Niger ausschließlich als „Nil“ bezeichnen hörte, und er erklärte sich dies dadurch, daß sich hier die alten Traditionen der römischen und griechischen Schriftsteller noch erhalten [432] haben. Da der Niger bei Timbuctu östlich fließt und Aegypten, der Nil und Mekka in dieser Richtung liegen, so glaubt man noch heute an die Identität beider großen Ströme. Es giebt in Timbuctu mehrere Schulen und auch Bibliotheken, das heißt Sammlungen von Manuscripten, mit deren Hülfe die Gelehrten ihre endlosen Unterhaltungen über den Koran führen.
Timbuctu hat im Laufe der Jahrhunderte mehrfach seine Herren gewechselt und ist wiederholt im Mittelalter geplündert und zerstört worden; auch neuerdings hat es vielfach als Spielball zwischen den streitenden Parteien, namentlich zwischen den Tuareg im Norden und den Tulani im Süden gedient. Die stete Furcht, in der es als offene Stadt schweben mußte, hat sich der Bewohnerschaft so unauslöschlich eingeprägt, daß das fortwährende Waffentragen der Einwohner geradezu eine typische Erscheiuuug für Timbuctu ist. Nähert sich beispielsweise eine Karawane, so eilen ihr wohl zahlreiche Neugierige entgegen, um die Ankömmlinge herzlich zu begrüßen, aber jeder Einzelne trägt gewohnheitsmäßig einen etwa sieben bis acht Fuß langen Speer in der Hand. Einen König giebt es in Timbuctu gegenwärtig nicht, wohl aber wohnen daselbst sehr einflußreiche Häuptlinge. Neben der Familie der Kahia, der das Stadtoberhaupt angehört, spielt eine alte hochangesehene Scheriffamilie El Bakey eine Hauptrolle; ihr gegenwärtiges Haupt ist Abadin, ein junger, sehr gelehrter Mann, von großem Ehrgeize, welcher in der Entwickelung der politischen Verhältnisse jener Gegend noch eine große Rolle spielen wird; er ist der Sohn jenes Scherifs, welcher dem Dr. Barth eine ausgezeichnete Gastfreundschaft erwiesen hat. Er genießt bei den Tulani so großes Vertrauen, daß diese ihn, als zur Zeit von Dr. Lenz’ Anwesenheit wieder ein Krieg auszubrechen drohte und sie bereits die ganze Communication auf dem Niger abgeschnitten hatten, zu ihrem Anführer wählten. Aber die Tuareg, deren Anführer der große Sultan Fandagumu war, der auch seinen Wohnsitz in Timbuctu hatte, besaßen vorläufig noch das Uebergewicht, sodaß, wenn es zum Kampfe gekommen wäre, im Wesentlichen die Stadt selbst darunter gelitten haben würde.
Diese allerersten Kreise von Timbuctu hielten sich gegenüber dem „Scherif“ und seinem „türkischen Militärarzt“ zuerst in kühler[WS 1] Reserve, namentlich konnte es der stolze Scheich der Tuareg nicht mit seiner Hoheit und Würde vereinbaren, dem „Abkömmling des Propheten“ zuerst seinen Besuch zu machen. Aber auch der Scherif gab nicht nach und hatte, wie sich später herausstellte, ganz richtig gerechnet; denn sein Stolz erfocht über den des Fandagumu einen glänzenden Sieg.
Dies geschah am Tage der Abreise, welcher sich für Dr. Lenz und seine Genossen zu einem großartigen Feste gestaltete, indem nämlich mehrere Tausend Einwohner von Timbuctu die Reisenden begleiteten. Der imposante Auszug aus der Stadt geschah hierbei nach landesüblicher Sitte folgendermaßen: Zuerst kam als die Hauptperson der Scherif, und zwar wurde er von zwei Männern am Arme geführt, nämlich von dem Bürgermeister und dem größten islamitischen Gelehrten Timbuctus; als Zweiter folgte Dr. Lenz, der „Leibarzt“ – dessen Curen meist in der unschuldigen Verabreichung von Englisch Salz bestanden hatten –, geführt von dem Sohne des Kahia und einem anderen großen Gelehrten. So wandelte man langsamen Schrittes zur Stadt hinaus, begleitet von den unzähligen Salam-Rufen der Eingeborenen. Da nahte ein überaus stattlicher Zug mit vielen Reitern zu Pferde und zu Kameel; es war das Gefolge des mächtigen Tuaregsultans Fandagumu, welcher dem Scherif auf diese Weise noch in der letzten Minute des Abschieds seine Huldigung darbrachte. Es war prächtig anzusehen, wie jedes Thier von zwei Männern beritten war, dem Herrn und seinem Diener, welcher Letztere die Waffen, Schild, Lanze und Schwerter, trug.
Nach mehrmonatlicher Reise langte Dr. Lenz mit seinem Scherif wohlbehalten, wenn auch fast ganz ausgeplündert, in St. Louis in Senegambien an und erreichte von dort aus die Heimath. Timbuctu aber geht als Karawanenstadt seinem allmählichen Untergange mehr und mehr entgegen. Wenn es dem wachsenden modernen Handelsverkehr gelingen wird, die reichen Producte des Sudan vom atlantischen Ocean aus an sich zu ziehen, wenn ferner der Export von Negersclaven aufgehört haben wird und das Salz dem Sudan auf andere Weise zugeführt werden kann, als durch tausende von Kameelladungen aus Taudeni, dann wird die märchenhafte Wüstenkönigin sich auch allmählich in den Schleier der Vergessenheit hüllen und die frommen Moslemin auf ihren Trümmern sich fügen in das unvermeidliche Kismet.
[433]
Der Vernichtungskrieg gegen die Laternen-Männer.
Es giebt vermuthlich wenig ehrliche Beschäftigungen, gegen welche in neuerer Zeit so viele Drohungen und meuchelmörderische Angriffe gerichtet worden sind, als gegen die der Laternenmänner. Wir meinen hiermit natürlich nicht die Genossen Rochefort’s, sondern den großen Haufen jener dunklen Ehrenmänner, welche dafür sorgen, daß es am Abende in den großen Städten zur rechten Zeit hell auf den Straßen wird, und wiederum, daß am folgenden Morgen pünktlich der ungeheuren Gasverschwendung durch Auslöschen Einhalt gethan wird. Um dieser lichtfreundlichen und unserer Zeit scheinbar unentbehrlichen Classe städtischer Beamten das Lebenslicht auszublasen, sind im letzten Jahrzehnte schier unzählige Versuche gemacht worden, und die immerwährende Weiterverfolgung derselben läßt in der That das Schlimmste für sie befürchten. Aber wenn man von einem Thurme oder sonst einem erhöhten Standpunkte aus die unendlichen Flammenreihen der großen Städte überschaut oder einen Blick wirft in die Unkostenrechnungen, welche die Unterhaltung dieser Schaaren Lucifer’s, des Lichtbringers, verursacht, dann begreift man die Berserkerwuth, mit welcher die moderne Physik und Technik auf den Ruin dieser Männer ausgeht. In London bezahlt man für die Bedienung (Anzünden, Auslöschen und Reinigen) jeder einzelnen Gaslaterne pro Jahr nahezu ein Pfund Sterling, also für 180,000 Laternen ebenso viel tausend Pfund Sterling.
Man begreift darnach, daß schon bald nach dem Bekanntwerden der in den noch immer beliebten Platinfeuerzeugen verwertheten Erfindung Döbereiner’s die Idee auftauchte, in ähnlicher Weise die Selbstentzündung der Gasflammen durch feinzertheiltes Platin zu bewirken. Der bekannte Professor der „höheren Physik“ Döbler begründete auf die Eigenschaft des Platinmohrs, im Leuchtgase zu erglühen, sein effectvolles Zauberstück, die hundert Flammen eines Kronleuchters auf einen Pistolenschuß zu entzünden. Es wurde nämlich auf jeden Brenner eine Papierhülse mit Schießbaumwolle, in der etwas Platinmohr enthalten war, aufgesetzt, und Döbler gab mit seinem Pistolenschuß nur das Signal zum Oeffnen des Haupthahnes, wobei sich sämmtliche Flammen, jede mit einer kleinen Explosion, entzündeten.
Das Zauberstück verdient hier nur als Vorläufer einer wirklich genialen deutschen Erfindung erwähnt zu werden, sofern der Director der Göttinger Sternwarte, W. Klinkerfues, im Jahre 1871 die Idee, zahlreiche Gasströme durch das freiwillige Heißwerden von Platin in demselben zu entzünden, neu aufnahm. Er hatte nämlich die interessante Beobachtung gemacht, daß ein dünner Platindraht, der durch einen Hindurchgehenden galvanischen Strom erhitzt wird, einen Leuchtgasstrom entzündet, lange bevor er selbst zum Glühen kommt. Da zu dieser Erwärmung ein schwächerer galvanischer Strom, wie ihn ein einfaches Element liefert, hinreicht, so versah er jede Laterne mit einem solchen.
Durch eine einfache hydrostatische Vorrichtung hob der des Abends in den Röhren erhöhte Gasdruck gleichzeitig eine Flüssigkeitssperrung in den Brennerröhren auf und setzte das Element in Thätigkeit, sodaß alle Gasflammen der Stadt sich wie mit einem Zauberschlage entzündeten. Mit der Aufhebung des Gasdruckes erlöschen zwar auch alle Flammen durch Zurücktreten der Sperrflüssigkeit zu gleicher Zeit, doch könnte man durch Anbringung verschieden hoher Flüssigkeitssäulen und Anwendung entsprechender Druckverschiedenheiten auch nach Belieben nur einen bestimmten Theil oder alle Flammen entzünden und auslöschen. In der That fungirte der Apparat in Göttingen längere Zeit zur Zufriedenheit (ob noch heute, vermag der Verfasser nicht zu sagen), ohne sich aber in weiteren Kreisen Vertrauen erwerben zu können.
Man ging auf die ältere Idee zurück, die Lampen auf elektrischem Wege durch überspringende Funken von einer Centralstation aus zu entzünden. Hierbei gerieth man aber in die Nothwendigkeit, zu jeder Laterne eine besondere elektrische Leitung zu führen, ein Verfahren, welches wieder mit unverhältnißmäßigen Kosten verknüpft gewesen wäre. In gewissen Fällen jedoch, wo es hauptsächlich darauf ankommt, die Störungen zu vermeiden, welche in innern Räumlichkeiten das Anzünden von Kron- und Wandleuchtern verursacht, z. B. bei den bis in den Abend fortgesetzten Sitzungen gelehrter oder politischer Körperschaften, ist man auf dieses Princip zurückgekommen. In diesem Falle wird zu jeder Flamme eine besondere Leitung geführt, während die Rückleitung allen Flammen gemeinsam ist. Ueber jeder einzelnen Flamme ist die betreffende Leitung unterbrochen, und der Zündfunke springt zwischen zwei Platinspitzen über. Sämmtliche Leitungen gehen nach einem Centralapparate, woselbst jede einzelne Flamme durch einen besonderen Knopf vertreten ist, dessen Andrücken ihren Zündfunken hervorruft.
Nachdem der deutsche Physiker Ruhmkorff in Paris schon früher einen derartigen Apparat für das Amphitheater der Sorbonne in Thätigkeit gesetzt hatte, construirte Gaiffe 1874 eine ähnliche Einrichtung für den Sitzungssaal der französischen Nationalversammlung in Versailles, durch welchen in Zeit von anderthalb Secunden 365 Flammen, wie durch ebenso viele Blitze, entzündet wurden. Früher hatte man die Gasflammen vom Beginne der Sitzung an niedrig brennen lassen und stark unter der dadurch erzeugten Hitze gelitten. Die Unterhaltungskosten der aus vier Elementen und einem Ruhmkorff’schen Inductionsapparat bestehenden Vorrichtung sind beinahe gleich Null, da die Batterie jedesmal nur einen Augenblick thätig ist, und die Einrichtung bewährte sich ausgezeichnet.
Im Weißen Saale des königlichen Schlosses zu Berlin hat man seit etwa Jahresfrist eine ähnliche Veranstaltung getroffen, hier aber, um die 3200 Flammen der prächtigen Krystallkronleuchter und Candelaber mit einem Schlage zu entzünden. Wenn bei hohen Hoffestlichkeiten zunächst theatralische Aufführungen in dem halbdunklen Prachtsaale stattgefunden haben, wobei alles Licht von der Bühne kommt, so ist das helle Lichtmeer, welches sich plötzlich ergießt, von wahrhaft feenhafter Wirkung.
Während in einem so kleinen und gesicherten Bezirke, wie er in diesen Fällen in Betracht kam, die leitende Verbindung mit den einzelnen Flammen leicht herzustellen war, würde es unverhältnißmäßige Schwierigkeiten und Kosten verursachen, wenn man sämmtliche Laternen eines größern Rayons durch besondere Leitungen mit der Centralstation verbinden wollte. Man mußte deshalb darauf sinnen, mit einer einzigen, von Laterne zu Laterne fortlaufenden elektrischen Leitung auszukommen, ein Problem, welches auch von dem Ingenieur Bean glücklich gelöst wurde. Seine Einrichtung ist so fein ersonnen, daß wir sie, obwohl sie nicht auf weiteren Gebieten zur Anwendung gekommen ist, kurz beschreiben wollen, sei es auch nur, um die Schwierigkeiten, die sich hier der elektrischen Zündung entgegenstellen, dadurch anzudeuten. Die ganze Einrichtung zerfällt in eine pneumatische Veranstaltung, die das Oeffnen und Schließen der Hähne bewirkt, und in die elektrische Zündvorrichtung, welche beide von einer Centralstation, deren es in jeder größeren Stadt natürlich eine gewisse Anzahl geben muß, geleitet werden. Eine zusammenhängende bleierne Röhrenleitung endigt bei jeder Laterne in einer kleinen Metallkapsel mit luftdicht schließendem elastischem Deckel, der sich aufbaucht, wenn in dem Röhrensystem Luftverdichtung erzeugt wird, und einbiegt, wenn man die Luft verdünnt. Außen, in der Mitte dieses elastischen Deckels, ist ein Metallhebel angelöthet, welcher den Gashahn bei der Verdichtung öffnet und bei der Verdünnung schließt. Die Bleiröhren dienen gleichzeitig als die eine Leitung für den galvanischen Strom, der sich dadurch von Flamme zu Flamme verbreitet, daß er sich bei jeder einzelnen durch einen automatisch wirkenden elektromagnetischen Apparat von selbst unterbricht, den zur Entzündung dienenden Funken erzeugt, und nun erst durch Umschaltung der Leitung sich selbst seinen Weg bis zur nächsten Laterne öffnet, wo sich das Spiel wiederholt und so fort ohne Aufenthalt bis zur letzten Laterne. Da auf diese Weise der Strom immer nur auf eine einzige Laterne wirkt, so bedarf es nur eines verhältnißmäßig schwachen Stromes, aber die Complicirtheit des ganzen Systems läßt Betriebsstörungen fast unvermeidlich erscheinen.
Viel einfacher erscheint daher eine Idee, die in den Jahren 1873 bis 1874 gleichzeitig von einer Anzahl amerikanischer, englischer und deutscher Ingenieure, wie H. Bennet in London, Leopold Baumeister, Michael Flürscheim und Franz Korwan in Deutschland zur Ausführung gebracht wurde. Sie besteht darin, daß man das Feuer den Tag über gar nicht ausgehen läßt, dasselbe aber nur mit einem minimalen Gasverbrauche speist, der sehr viel geringer ist, als die Kosten der Laternenanzünder. Ueber jedem Ausflußrohr mündet nämlich ein kleines Rohr, durch welches am Tage nur so viel Gas entweicht, um ein ganz kleines Flämmchen zu unterhalten, dessen gesammter Gasverbrauch im Jahre etwa 1 Mark beträgt. Bei dem niedrigen Tagesdrucke verhindert eine einfache Vorrichtung, z. B. eine Quecksilbersperrung, die am Hauptrohre angebracht ist, die Speisung des Hauptbrenners, dieser erlischt, und nur die kleine Tagesflamme bleibt brennend, um Abends, sobald durch erhöhten Druck Gas aus dem Hauptbrenner heraustritt, dieses anzuzünden.
Insbesondere bewährte sich die dieser Idee von Michael Flürscheim in Gaggenau bei Rastatt gegebene Form, und Heidelberg war der erste größere Ort, an welchem (1879) die Erfindung die Feuerprobe durchmachte und zur Anerkennung in weiteren Kreisen kam. Gemeinderath und Gasdirection bezeugten nach monatelanger Erfahrung dem Erfinder, daß die 34 Laternen der Leopoldstraße sich pünktlich und mit einem Schlage des Abends entzündeten, sobald der Gasdruck auf 14 bis 15 Linien gesteigert wurde, und erloschen, sobald er des Morgens auf 8 bis 9 Linien herabgestellt wurde. Die einzigen Störungen, welche vorkamen, wurden auf böswillige Eingriffe seitens der naturgemäß revoltirenden Zunft der in ihrem Erwerbe bedrohten Laternenmänner zurückgeführt. Zur besseren Verwerthung der Erfindung im Auslande trat der deutsche Erfinder seine Patente an das renommirte Haus Wilhelm Esser in London ab, und auch hier bewiesen mehrjährige Erfahrungen, daß die kleine Tagesflamme hinlänglich geschützt ist, um selbst den großen Stürmen, welche London häufiger als manche andere Stadt heimsuchen, zu widerstehen, während der Hauptbrenner bis zur Neuanzündung hermetisch abgeschlossen bleibt. Der Flürscheim-Effer’sche Apparat ist ganz aus Metall gefertigt und nimmt nicht mehr Raum ein, als ein gewöhnlicher Flammenregulator, sodaß er in jeder Laterne auf das Gasrohr aufgeschraubt und vermöge einer einfachen Verschiebung auf jeden Gasdruck eingestellt werden kann.
Es leidet wohl keinen Zweifel, daß diese Erfindung in der immer mehr vervollkommneten Gestalt, welche ihr in den letzten Jahren gegeben worden ist, sich bald einer allgemeineren Anwendung erfreuen wird. In vielen kleineren Städten ist sie bereits eingeführt, aber in den großen, wo derartige Neueinführungen viel Geld kosten und die Herstellung gleichmäßiger Druckverhältnisse in dem weitverzweigten System besondere Schwierigkeiten haben mag, auch wohl die größte Vervollkommnung des Systems abgewartet werden soll, ist man über das Stadium der Versuche noch nicht hinaus. In der deutschen Reichshauptstadt, wie in anderen Großstädten, sieht man die bedrohte Zunft der Verwalter des öffentlichen Lichtes in den Morgen- und Abendstunden nach wie vor mit dem langen prometheischen Stabe emsig von Laterne zu Laterne eilen. Wenn sie die Gefahren ahnen, welche ihnen drohen, mögen sie sich mit dem Gedanken trösten, daß das Laternenputzen ihnen vermuthlich von keiner mechanischen Vorrichtung abgenommen werden wird, sodaß sie auch ferner der Welt im Dienste der allgemeinen Erleuchtung und Aufklärung weiter nützen können.
[435]
Blätter und Blüthen.
Die Fahrt zur Alm. (Mit Abbildung Seite 433.) Wenn in den Gärten der Niederungen längst der Hollunder blüht und die Bäume im reichsten Schmucke dastehen, wenn draußen auf den Fluren sich schon Blume an Blume drängt und die junge Saat in die Aehren schießt, dann ist’s oben auf den Bergen immer noch winterlich öde. Noch deckt eine harte Schneekruste die Matten und Triften; höchstens auf einzelnen freigewordenen Felsspalten kriecht eine der alpinen Frühblumen hervor: die Laubbäume strecken noch hoffnungsvoll ihre nackten Arme der Sonne entgegen, und nur stellenweise hebt sich das Krautwerk unter den Tannen zum Wachsthum. Nach einer andern Richtung hin äußert sich jedoch das wiedererwachte Leben auf den Höhen in unverkennbarer Weise. Der Waldbach, welcher während des laugen Winterschlafs träge und kaum sichtbar zwischen dem Gestein hingeschlichen ist, hat seine Kraft wieder gefunden; aus tausend Adern strömt ihm das belebende Element zu, rauschend durchzieht er die gewohnte Bahn, eilt durch Schluchten und Höhlen, springt über Felsenabhänge und singt sein berauschendes Lied, daß es weit hinabschallt, bis hinab in die Thäler.
Jetzt schon macht sich der Alpenbewohner auf und wandert zu Berge, um zu sehen, wie der böse Winter mit dem sommerlichen Heim des Menschen gehaust hat. Da liegt ein Zaun von der Wucht der Schneemassen zu Boden gedrückt; der Sturmwind hat da und dort an der kleinen Hütte Schaden gethan; Erdrutsche haben die primitive Wasserleitung verschoben oder verschüttet; Wege sind unfahrbar geworden – es giebt viel zu verbessern, zu richten und herzustellen. Ueber diesen Arbeiten vergeht der schöne Mai und wohl auch ein Stück Juni. Während dessen ist die Sonne nicht unthätig geblieben; ihre steigende Gluth hat den eisigen Panzer von den Halden genommene warme Regengüsse haben die schlafenden Keime erschlossen, und wunderbar schnell grünt und blüht nun Alles dort oben. Um Johanni, zur Zeit der Sonnenwende endlich rüsten sich die Aelpler zur Bergfahrt.
Das Alpenvieh ist lange schon im Stalle ungeduldig geworden; wenn von draußen herein durch den dumpfen Stall die laue, würzige Frühlingsluft streicht, dann heben die Thiere unruhig ihre Köpfe empor und verlangen durch die enge Pforte hinaus, durch welche die luftigen Boten des Sommers sie locken.
Der Tag ist endlich angebrochen, den der Bauer oder Hofbesitzer zur Auffahrt bestimmt hat. Die wenigen Fahrnisse, weiche zur Alpenwirthschaft nöthig sind, befinden sich bereits auf einen Karren verpackt, der, so weit es gehen will, von einem kräftigen Roß gezogen wird; die kleineren Geräthe, Mundvorräthe und Bedürfnisse der Hütteninwohner werden auf „Kraxen“ oder in Rucksäcke verpackt; der Viehbesitzer hält noch eine kleine Zwiesprache mit demjenigen, dem er seine Vierfüßler anvertraut, und empfiehlt ihm Sorgfalt und Achtsamkeit; dann wird gebetet; die Hausfrau giebt wohl noch einen „Weichbrunn“’ mit und empfiehlt das Vieh auch ihrerseits dem kräftigen Schutze St. Leonhards oder Wendelin’s.
Nun beginnt die Toilette; die Glocken und Schellen sind schon bereit, und die schönste und beste Kuh erhält die große Zugschelle; das Jungvieh wird mit kleinem Schellenzeug oder gar nur mit Schlittenrollen behängt; denn es muß sich die höhere Auszeichnung (den Orden erster Classe) erst noch verdienen und zwar nur durch persönliche Leistung. Der Heerdenpatriarch, der grimme Feind der Touristen, der gewaltige Stier allein erhält keine Glocke; dafür befestigt man ihm den Melkstuhl auf seinen kurzen Hörnern.
Nun wird die Stallthür geöffnet und hastig entflieht die vierfüßige Schaar dem dumpfen Winterasyl. Ein Hirte oder Senne geht voran; dann folgt die Rinderheerde in ungestümem Drängen; ihrem Zuge schließen sich noch die vierfüßigen Proletarier des Almenreichs an: der muthwillige Gaisbock und etliche Ziegen, eine kleine Zahl von Schafen und manchmal auch einiges Borstenvieh, das einer erfreulichen Mast mit dem Abfall aus der Käserei entgegensieht. Helles Jauchzen kündet den Nachbarn weit in die Runde den Beginn der Reise, und fröhliches Jodeln tönt als Gegengruß von Feld und Hügel – Alle freuen sich mit den Fortziehenden der anbrechenden schöneren Jahreszeit. Langsam geht der Zug bergan, und jetzt schon beginnt die Thätigkeit der erfahrenen Hirten; denn das Jungvieh ist noch nicht vertraut mit den Fährlichkeiten der Passage; je höher man gestiegen, desto munterer, man möchte sagen glücklicher zeigt sich das Vieh; der natürliche Instinct läßt es die Freiheit, der es entgegenzieht, ahnen. Diesen Moment hat der Zeichner der beigegebenen Illustration glücklich erfaßt. Die Reisegesellschaft befindet sich schon nahe der Alm; ein Theil der Thiere schreitet rüstig vorwärts; andere bleiben zurück, sich an der ungewohnten Umgebung weidend; der Stier hält sich, eingedenk seiner Beschützerrolle, am Schlusse des Zuges, dem in munteren Sprüngen der neugierige, naschhafte Ziegenbock und die Schafe folgen; mehrere Sennen mit dern „Renf“ oder der „Kraxe“ auf dem Rücken schreiten wohlgemuth dahin, und dem Zuge haben sich ferner ein paar Jäger angeschlossen; denn auch sie sind an dem Beginn der Saison hier oben lebhaft interessirt; sie haben die gastlichen Stätten liebgewonnen und gehören sozusagen zur Familie.
Die landschaftlichen Reize, welche diese Scene umrahmen, sprechen deutlich genug aus, was die Natur an majestätischer Schönheit bietet, sodaß man fast etwas wie Sehnsucht im Herzen empfindet und nacheilen möchte in das sommerliche Paradies. Oben angekommen, werden die Thiere, von denen die meisten ihre alten Plätze noch kennen, im Stalle versorgt; die Sennerin packt ihre Habseligkeiten aus, und in der kürzesten Frist ist wieder Alles genau so im Gange, wie dies im Vorsommer der Fall war. Als ob kein monatelanger Winter dazwischen gelegen, steht sie am Herde und schürt das Feuer, um den ersten Imbiß zu bereiten, an dem heute mehrere Gäste theilnehmen; zur offenen Thür hinaus schallt ihr frohes, heiteres Liede dazwischen klingen harmonisch die Glocken im Stalle bald leise, bald stärker; in breiten Wolken dringt der Rauch aus dem Schindeldache, und wie mit einem Zauberschlage ist das volle Leben aus den stillen, einsamen Höhen wieder eingekehrt.
Zwei historische Verse – ein Beitrag zur Biographie eines
deutschen Patrioten. Der unglückliche Ausgang der Schlachten bei Jena
und Auerstädt am 14. October 1806 hatte über das Schicksal unseres
Vaterlandes entschieden.
Mit Bangen sah der Deutsche in die Zukunft, aber nicht ohne Muth. Das zeigten Männer, welche Gut und Blut und Freiheit für die heilige Sache des Vaterlandes wagten. Das zeigte das Volk, als es begeistert zum Kampfe sich erhob, zum Kampfe des Rechtes gegen die Willkür.
Mancher Edle mußte verbluten, mußte schimpflich auf dem Richtplatze sterben, weil sein Edelmuth, seine Opferfreudigkeit, sein kühnes Sprechen und Handeln dem Machthaber Napoleon gefährlich dünkten. Andere mußten in’s Ausland fliehen.
Einen solchen Flüchtling finden wir auf seinem Wege nach Lübeck von wo er sich in einen russischen Hafen begeben will, an einem stürmischen Spätherbsttage auf der Landstraße, welche die beiden Städte Mölln und Ratzeburg verbindet und sich über diese hinaus nach entgegengesetzten Seiten gegen Hamburg und Lübeck zieht. Ein heulender Sturm treibt dem Wanderer den feinen durchdringenden Regen in’s Gesicht. Müde und gedankenvoll blickt er vor sich hin und sein Gang verräth Erschöpfung. Wohl während einer Staude mochte er von Mölln aus den Wald durchwandert haben, als dieser sich lichtete. Am Saume lag ein Gut.
Er schritt auf das entfache Wohnhaus zu, um sich ein Obdach zu erbitten. Der Besitzer – einer meiner Voreltern, aus dessen Ueberlieferungen ich diese kleine Geschichte kenne – prüfte den seltsamen Besuch lange; denn seine Menschenkenntniß mochte ihm sagen, daß der, welcher vor ihm stand, Besonderes erlebt habe und von besonderen Umständen geleitet werde. Ueberdies war bei den unruhigen Zeiten Vorsicht geboten. Sei es nun wegen des vertrauenerweckenden Eindrucks, den der später Gast machte, sei es seines würdigen Auftretens wegen – der Landmann nahm ihn auf.
Nachdem der Erschöpfte sich an der ländlichen Abendmahlzeit gestäkt hatte, unterhielten sich die beiden Männer noch lange über die schweren Zeiten in denen man lebte, und immer aufmerksamer horchte der schlichte Wirth den verständigen und ernsten Reden seines Gastes, der indessen über seine Person, woher er komme und wohin er wolle, Schweigen bewahrte und stets bestrebt war, das Gespräch von sich abzulenken. Spät suchte der Fremde sein Lager auf, und auch die Familie des Landmanns ging zur Ruhe, ohne zu wissen, wem sie Obdach gewährte.
Schon früh am andern Morgen war das ganze Haus wach, und Alles versammele sich zur Frühkost. Auch der Fremde erschien und nahm Theil an der Mahlzeit. Dann aber, als schon der Morgen voll hereingebrochen war, rüstete er sich zum Abschiede mit herzlichen Dankesworten gegen seinen freundlichen Wirth und dessen Familie. – Noch lange gedachte man auf dem Gute des unbekannten Mannes, der so einsichtsvoll über die Zeitverhältnisse gesprochen und voll Hoffnung auf bessere Zeiten vertröstet hatte, doch erfuhr man nicht, wer er war, bis der Zufall es verrieth.
Das Zimmer, in welchem der Fremde während seines Aufenthaltes gewohnt hatte, wurde kurze Zeit nach dem erzählten Vorfall gereinigt. Neben anderen Bildern schmückten die Portraits Napoleon’s des Ersten und des Erzherzogs Karl von Oesterreich die Wände desselben, und als sie gesäubert wurden, entdeckte man auf ihren Rückseiten folgende mit Bleistift geschriebene Strophen.
Hinter Napoleon’s Bildniß stand.
„Als Du geboren wardst,
Der größte aller Geister,
Trat Satanas zurück
Und sprach: ,Du bist mein Meister.’“
Hinter dem Bilde Karl’s von Oesterreich aber las man:
„Auf Dir ruht jedes Deutschen Blick.
Gott sei mit Dir und geb’ Dir Glück
Daß Du die Hunde treibst zurück!“
Unter beiden Strophen stand der Namenszug eines allgefeierten Mannes, eines der größten Staatsmänner und Vaterlandsfreunde jener Tage – des Freiherrn von Stein.
In markigen Worten hatte er die Bedeutung der beiden Männer, die an der Spitze zweier Nationen sich feindlich gegenüberstanden charakterisirt.
Diese an sich unbedeutende kleine Mittheilung aus dem Leben eines deutschen Patrioten dürften wir heute, wo ganz Deutschland die fünfzigste Wiederkehr von dessen Todestage (29. Juni) feiert, nicht zur Unzeit gebracht haben.
Die Bilder, auf denen der Freiherr von Stein sich verewigte, werden noch heute in unserer Familie aufbewahrt.
„Vom Kreml zur Alhambra“ von Max Nordau (Leipzig, Bernhard
Schlicke). Auf die unter diesem Titel erschienenen Culturstunden unseres
allbeliebten Mitarbeiters wollen wir nicht versäumen unsere Leser hinzuweisen.
Es ist eine Gallerie so ziemlich der gesamten civilisirten
Nationen Europas, welcher wir in Nordau’s Sammelwerke, das soeben
in zweiter Auflage die Presse verlassen hat, begegnen. Das gegenwärtig
durch die St. Petersburger Ereignisse in den Vordergrund des Interesses
gerückte Rußland eröffnet den Reigen unter den hier niedergelegten
Völkerstudien; von Rußland führt uns der Verfasser im ersten Bande
[436] seines Werkes über Skandinavien und Belgien nach Island, um uns
im zweiten Bande „Englische Studien“, „Französische Provinzfahrten“
und „Bilder aus Spanien“ zu bieten. Wenn ein so reiches Programm
zur Geschichte von Land und Lenken der Gegenwart schon an und für
sich eine starte Anziehungskraft auf jeden Freund ethnographischer
Lectüre üben muß, so wird sich der Leser bei genauerer Kenntnißnahme von
Nordau’s „Vom Kreml zur Alhambra“ um so mehr gefesselt fühlen, als
dieselben neben den Vorzügen einer überaus farbenreichen und lebhaften
Darstellung sich durch gediegenen sachlichen Inhalt und viel Selbstständigkeit
in der Beurtheilung der einzelnen Völkerindividuen auszeichnen. „Im
intimen Umgänge mit den verschiedenen Völkern Europas,“ sagt Nordau
im Vorworte seines vortrefflichen Buches, „erkannte der Verfasser, daß
jedes derselben neben weniger rühmlichen doch auch treffliche Eigenschaften
besitze, daß selbst die auf den ersten Anblick abstoßenden Züge ihres
Charakters, wenn man ihre geschichtlichen, klimatischen und ethnographischen
Ursachen kennt, in einem viel spmpathischeren Lichte erscheinen und daß
man überhaupt jedes Volk lieben müsse, wenn man in seine Sprache, seine
Literatur, seine Vergangenheit eingedrungen ist.“
Die in diesen Worten angedeutete Idee, eine sympathische und wohlwollende Beurtheilung der Culturnationen unter einander mehr und mehr anzubahnen, findet fast in jedem Abschnitte des Nordau’schen Werkes einen wohlthuenden Ausdruck, und so hilft es in der That eine ebenso wichtige wie menschlich schöne Aufgabe unserer Tage würdig lösen – eine Mission, als deren einsichtsvollen Vertreter und thatkräftigen Träger Max Nordau sich bereits früher in seinem einer ähnlichen menschheitlichen Idee dienenden Buche „Paris unter der dritten Republik“ (Leipzig, Bernhard Schlicke. Dritte Auflage. 1881) auf das Glänzendste legitimirt hat.
Zwei Lieder von Th. Sternberg
Leben ist Nebel
(nebeL = lebeN).
Ja, Leben ist Nebel;
Verstehst du den Sinn?
Und Nebel ist Leben,
Fährt schnell dahin.
Und was wir erworben
Und was wir geliebt,
Wir sollen’s verlieren:
Der Nebel zerstiebt.
Ja, all unser Hoffen
Und all unser Glück
Entrückt uns die Wolke,
Giebt nichts mehr zurück.
Und fragst du, o Seele:
„Was bleibt mir zuletzt?“
Das Leben ist Nebel –
O, weißt du es jetzt?
Nizza.
Im dunklen Kranz der Berge
Seh’ ich ein sonnig Thal:
Auf hohen Felsen wohnet
Die Blum’ im Sonnenstrahl.
In stillen Buchten ruhen
Die Meereswogen aus,
Und weiße Segel gleiten
Wie Vögel still nach Haus.
Die alten Burgen schlummern
In grauer Sagen Nacht,
Und tief im Schluchtendunkel
Der Quell nur plaudernd wacht.
Die Küsten fernhin ziehen,
Verschwimmend wie im Traum -
Man sieht die Brandung steigen
So fern – man hört sie kaum.
In all den reichen Gärten
Schneeweiße Villen drin -
Und auf dies Bild des Friedens
Sinkt leis der Abend hin.
Im Pfarrhof. (S. Abbildung S. 425.) Es ist ein sinniges Bild, in welchem A. van der Benne in drei lebensvollen Gruppen die Contraste der edlen Kunst des Essens uns vor Augen geführt hat: die fahrende Familie, welche sich im Pfarrhofe ihre Kartoffelsuppe bereitet, die beiden Herren Confratres, welche in einer schattigen Laube des Hintergrundes ihr „täglich Brod“ genießen, und zum Dritten die Pfarrköchin, welche in Gemeinschaft mit dem hochgehaltenen gefüllten Truthahn die geschmackvollste Gruppe bildet.
Dem Künstler war es offenbar nur um den Contrast in höherer Potenz zu thun, nicht um einen moralisirenden Fingerzeig: nur vier Augen richten von der Nomadengruppe sich auf den Truthahn, während die Mutter zufrieden ihre Kartoffeln schält und selbst der Esel seine Aufmerksamkeit nur den Disteln schenkt, die wie für ihn da gewachsen sind. Indem schmeckt dem Manne das Pfeifchen; er ist nicht ganz arm. Und wie rücksichtsvoll hat der Maler die beiden schmausenden Herren in eine Ferne gerückt, wo sie weder stören noch gestört werden, während der Köchin frisches, liebliches Gesichtchen verräth, daß sie ein gutes Herz hat und daß sie obendrein nicht nur den Topf der armen Frau auf ihren Herd setzen, sondern auch noch vom Ueberfluß der Pfarrküche etwas hineinfallen lassen wird. – Wenn wir das Bild so betrachten, haben wir es gemacht wie die Biene, die aus den Blumen nur das Süße zieht und das Gift darin läßt.
Kleiner Briefkasten.
K. W. in C. Sie schreiben uns, daß Sie sich für die Wiederherstellung
der Marienburg nicht begeistern können, weil Ihnen
aus unsern beiden Bildern in Nr. 17, welche den Stadt- und den Capellenflügel
des Hohen Hauses darstellen, die architektonische Schönheit des
Baues nicht entgegentrete. Nun wohl, das war auch gar nicht die Absicht
jener Bilder, welche nur den Vandalismus, der an der Burg verübt
wurde, zur Anschauung bringen sollten. Sehen Sie sich gefälligst unsere
Abbildungen der Marienburg im Jahrgang 1859, Nr. 6 an, und Sie werden sich
zu der Ansicht bekehren, daß die Marienburg in ihrer ursprünglichen
Gestalt von außerordentlicher Schönheit ist. Leider ist das
großartige und kunstvolle Bauwerk, wie unser Artikel darthut, in seinen
einzelnen Theilen in unverzeihlicher Weise zerstört worden. Der Zweck,
den wir mit der bildlichen Wiedergabe gerade der am schändlichsten
ruinirten Partien des Hohen Hauses verfolgten, war, unsern Lesern die
dringende Nothwendigkeit der Wiederherstellung eines im Großen und
Ganzen ihnen aus unsern früheren Jahrgängen bekannten Prachtbaues
deutlich vor die Augen zu führen.
D. C. in Hemmingstedt. „Goethe auf dem Todtenbette“ ist von Professor Dr. Friedrich Preller gezeichnet worden. Diese nach der Natur gefertigte Originalzeichnung ist das einzige Todtenportrait des Dichters, welches auf uns gekommen ist. Erst nach sechsundvierzig Jahren, wenige Wochen vor seinem Tode, konnte sich der Künstler entschließen, in die Vervielfältigung der bis dahin sorgsamst gehüteten Zeichnung zu willigen; es geschah nur, um durch den Verkauf der Drucke der Elisabeth-Rosen-Stiftung zu Karlsbad eine Einnahmesteuer zuzuwenden. Der Vertrieb dieses Lichtdrucks (Quartformat, Preis 2 Mark) wurde der Verlagshandlung von Paul Bette in Berlin W, Kronenstraße 37, übertragen.
Studenten-Massenbesuch auf der Wartburg. Ihre Anfrage er reichte uns leider zu spät; denn unsere Pfingstnummer befand sich beim Empfange Ihres Schreibens bereits im Druck. Warum gaben Sie Ihre Adresse zu brieflicher Beantwortung nicht an?
K. E. in L. Wenn Sie unserem Artikel „Der Spargelbau in Braunschweig“ von Ferdinand Sonnenburg (Nr. 21) Unvollständigkeit vorwerfen, weil er in der Aufzählung anderer durch Spargelbau bekannter deutscher Ortschaften „einigermaßen willkürlich“ verfährt, so haben wir darauf zu erwidern, daß eine Vollständigkeit weder in der Absicht noch in der Ausgabe dieser Aufzählung liegen konnte. Sie haben allerdings vollkommen recht, wenn Sie unter anderen Orten Schwetzingen in Baden zu den hervorragendsten Pflanzstätten für den deutschen Spargelbau zählen.
Es werden dort, wie man uns schreibt, in manchen Jahren mehr als 10000 Centner vorzüglicher Spargel gebaut und das Versandgebiet derselben gehört zu den ausgebreitetsten in Deutschland.
A. B. in Trier. Es ist eine Pflicht der Höflichkeit, einer vielbeschäftigten Redaction nur leserliche Manuscripte einzusenden. Das Ihrige hat auf dieses Prädicat keinen Anspruch.
Nicht zu übersehen!
Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal des laufenden Jahrgangs. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahres aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.
Das nächste Quartal gedenken wir mit der feinsinnigen Erzählung „Mutter und Sohn“' von A. Godin
zu eröffnen und neben derselben die in den jüngsten Nummern begonnene Artoria’sche “Novelle „Ungleiche Selen“ zu Ende zu führen.
Ein besonderes Interesse dürften die am Schlusse des vorigen Jahrgangs angekündigten und nunmehr zum Drucke vorbereiteten Schilderungen in Wort und Bild von Rudolf Cronau’s Reise um die Welt in Anspruch nehmen, welche wir im Laufe des kommenden Vierteljahrs unter der Rubrik „Um die Erde" zu veröffentlichen beginnen werden. – Selbstverständlich haben wir außerdem für ein reichhaltiges Programm unterhaltend belehrender Beiträge Sorge getragen, aus deren Reihe wir hier nur die folgenden hervorheben: zunächst zeitgemäße Betrachtungen unter dem Titel: „Nihilismus und russische Dichtung“ von Wilhelm Goldbaum, sodann eine Anzahl instructiver Artikel aus dem Gebiete der Gesundheitspflege, ferner pädagogische Beiträge zur Frage der Arbeitsüberbürdung unserer Jugend in den Schulen von verschiedenen Autoren und endlich literar- und kunsthistorische Aufsätze von Rudolf von Gottschall, Hermann Kretschmar u. A. Auch werden nunmehr unsere Skizzen über die liberalen Parteien des deutschen Reichstags ihren Abschluß finden, indem wir den beiden bisher publicirten Besprechungen der Secessionisten und der nationalliberalen Partei als dritten und letzten Artikel eine historische Würdigung der Fortschrittspartei aus berufener Feder folgen zu lassen gedenken.
- ↑ Wir verweisen bei dieser Gelegenheit auf das vor Kurzem im Verlage von A. Hartleben erschienene Werk „Die Sahara oder von Oase zu Oase“ von Dr. J. Chavanne, welches wegen seiner klaren und allgemein verständlichen Schilderungen aus dem Natur- und Volksleben der großen afrikanischen Wüste die besondere Aufmerksamkeit unserer Leser verdient. Auch entnehmen wir dem mit vielen Illustrationen geschmückten Buche unsere heutige Abbildung. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: ühler