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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[437]

No. 27.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.


1.

Zur Linken von einem massigen Bergkegel beschirmt, der seine dunklen Schatten weit in das Thal wirft, breiten sich auf der langhingedehnten Oberfläche einer felsigen Anhöhe die großartigen Ruinen einer jener Burgen aus, an denen Tirol so reich ist. Lange Jahrzehnte hindurch stand die Moosburg in märchenstiller Verlassenheit, aber in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts hatte ein romantisch gesinnter Ausländer das interessante Felsennest käuflich erworben, und nun „sproßte neues neues Leben aus den Ruinen“, allerdings in modern romantischem Sinne. Noch standen die Grundmauern und Gewölbe, selbst die Eingangshalle des südlichen Flügels unversehrt. Der neue Besitzer ließ auf dieser Grundlage ein festgefügtes Wohnhaus emporwachsen, und schon schmückten Zinnen und Erker den in massigem Viereck aufstrebenden Bau, dessen zahlreiche Fenster gothische Bogen bildeten; ja, ihre in Rautenform bemalten Läden sahen, wenn man sie von fern erblickte, sogar wie alte Glasfenster aus. Das schwere, eisenbeschlagene Thor des Haupteinganges stammte wirklich noch aus vergangenen Jahrhunderten und führte in eine gewölbte Halle, durch deren schmale, schwere Thüren Generationen aus- und eingeschritten waren. Von dieser alterthümlichen Halle aus führte nun freilich eine ganz moderne Holztreppe zu den Wohnräumen des ersten und zweiten Stockwerkes hinauf.

Jener Fremde nun, welcher sich diese Heimstätte in der Bergeinsamkeit aufgebaut hatte, mochte derselben bald müde geworden sein; denn schon wenige Jahre, nachdem der Bau vollendet, bot er die Moosburg zum Kaufe aus, und rascher, als zu erwarten gewesen, fand sich ein Liebhaber dafür.

Herr von Riedegg – so nannte sich der neue Besitzer – zog spät im Herbst mit Frau und Dienerschaft in das eben erworbene Eigenthum ein. Die Wenigen, welche in der Gegend hiervon überhaupt Notiz nahmen, wunderten sich über den Einzug in so vorgerückter Jahreszeit; wer aber Gelegenheit fand, sich im Innern des Neubaues umzuschauen, der mußte zugestehen, daß die Moosburg auch im Winter als behagliches Heim gelten durfte. Den hohen Gemächern fehlten weder solide Kachelöfen, noch gute, zum Theil prächtige Polstermöbel und Teppiche. Für ein junges Paar mochte es sogar eigenthümlichen Reiz haben, die rauhe Jahreszeit in solcher gegen ihre Angriffe wohlgeschützten Abgeschiedenheit zu verleben. Jetzt lohnte jedenfalls das warme Wetter den Entschluß, sich hier häuslich niederzulassen.

Herr und Frau von Riedegg saßen an einem sonnigen Morgen auf der vorspringenden Terrasse, welche vom ersten Stockwerk aus weite Umschau bot. Das Geräth des zierlich servirten Frühstückstisches war bereits zurückgeschoben; der Hausherr hatte seinen Sessel dicht neben den seiner Gefährtin gerückt, und sein Arm umfing ihre Schultern. Die beiden einander so nahen Köpfe waren gleich interessant, wenn auch von ganz verschiedenem Gepräge. Das Gesicht des nicht jungen, aber noch jugendlichen Mannes fesselte, aber jenes der etwa in der Mitte der Zwanzig stehenden Frau überraschte, und zwar nicht allein durch seine große Schönheit, sondern mehr noch durch einen schwer zu bezeichnenden Ausdruck der classisch geschnittenen Züge. Es gab etwas in diesem Gesicht, das der Ruhe bedingenden Harmonie seiner reinen Bildung widersprach und doch dessen Reiz erhöhte, und dieses Etwas schlummerte in den dunkelgrauen Augen. Selbst im gegenwärtigen Moment, wo diese Augen sanft, ja beinahe schelmisch blickten, verrieth ihr Schnitt, die breite Wölbung der Lider unter hochgeschwungenen Brauen, daß ein ganz anderer Ausdruck in ihrem Grunde lag – ein Ausdruck von Gluth und Zauber. Es waren die Augen von Leonardo da Vinci’s „Monalisa“.

Des Mannes blaue Augen hingen mit leidenschaftlicher Bewunderung an ihren Zügen; leise wie ein Kind, das den günstigen Augenblick erhascht, etwas Erwünschtes, halb Verbotenes zu thun, hob er unerwartet die Hand und zog den goldenen Pfeil aus ihrem lose aufgesteckten Haar. Als die blauschwarzen schweren Flechten auf die in ein weißes Negligé gehüllte vollendet schöne Gestalt der Frau von Riedegg niederrollten, faßte er eine derselben und drückte seine Lippen darauf.

„Nicht doch, Meinhard," sagte sie; „heute ist kein Tag für Kindereien."

„Gerade heute!" scherzte er. „Giebt es wohl etwas im Himmel und auf Erden, das Du heute nicht mit Kind und Kinderei im Zusammenhang erblicktest? So laß mir auch die meine, Genoveva!"

Sie lächelte, entzog ihm aber mit leiser Bewegung das Haar und erhob sich, nachdem sie es achtlos wieder aufgenestelt.

Während sie an die Brüstung vortrat, zeigte sich die volle Höhe und königliche Haltung ihrer geschmeidigen Gestalt. Ihr Auge flammte auf, und sie breitete einen Moment die Arme aus, als wollte sie den weiten Himmel fassen. Eben stieg die Sonne glorreich über den Kegel des „Heiteren Lahn“ empor, und mitten im Inn, der sich durch die beiden Thalbuchten schlängelte, floß plötzlich ein zweiter Strom von blendendem Lichte. Glänzende Morgenpracht ergoß sich ringsum.

Genoveva ließ die Arme sinken und wandte lebhaft den Kopf:

„Sieh, welche Glorie den Tauftag unseres Sohnes vergoldet! Ein Omen, ein glückliches Omen!"

[438] Meinhard war neben ihr und nahm ihre Rechte zwischen seine beiden Hände.

„Bedarfst Du himmlischer Zeichen?“ sagte er bewegt. „Ein Kind, so aus Glück und Liebe geboren, bringt goldene Flügel mit auf die Erde, selbst wenn keine Sonne ihm leuchtet.“

Ihr Auge wurde dunkler. Wie in Sinnen verloren, sprach sie die letzten Worte nach: „wenn keine Sonne ihm leuchtet wie düster das klingt!“ Ihre Hand preßte die seine mit starkem Druck, während sie mit vollem Blick in sein Auge fragtet „Ist heute nichts, was Dich schmerzt, Meinhard? nichts, was Du entbehrst, für Dich, für uns?’’

Flüchtiges Roth lief ihm über die Wange.

„Nichts!“ sagte er nach kurzer Pause voll Nachdruck. „Weshalb fragst Du so? “

Ein leichtes Geräusch schnitt die Antwort ab. Als Genoveva aufblickte, trat ihr eine Dienerin entgegen.

„Die Jana hat Vögel gebracht,“ sagte sie, „wenn’s erlaubt wär’, möcht’ sie gern mit der Gnädigen reden. Sie hat sonst noch was, sagt sie.“

„Nun, warum ist sie nicht gleich mit Dir herausgekommen?“

„Sie wollt’ nit; glaub’ sie fürcht’ sich vor unserm Herrn.“

„Ich komme!“ nickte die junge Frau.

Der Hausherr lachte; sein Gesicht verjüngte sich dabei.

„Wer ist Jana, die sich vor mir fürchtet?“ fragte er.

„Wie? ist mein Schützling Dir noch nicht vorgestellt? Von ihr gesagt habe ich Dir schon. Du vergaßest wohl nur den Namen. Das jüngste Töchterlein des Müllers am Wildbach ist’s, Juliana getauft, Jana gerufen – Du weißt ja die Mühle, thaleinwärts, wo der Fall so schäumend niederstürzt und ich so gern raste. Dort trat ich manchmal ein, wenn ich ohne Dich des Weges ging; sie haben solch ein lauschiges Gärtchen, wo sich’s behaglich ausruht. Dann brachte mir Jana ein Glas Milch, und ich ließ mir von ihr erzählen.“

„Ist das nicht die Kränzewinderin, von der Du mir sagtest, daß sie allerlei Kunstwerk von Haargeflecht und Blumengespinnsten zu weben versteht, alle Festtags- und Brautkronen flicht?“

„Dieselbe! ein Mädchen licht und scheu wie Edelweiß und ebenso sammetweich. Sie hängt mir an, ihre Augen sagen mir das und manche Blumenspende auch. Jana’s Schwester ist eine Jägersfrau; daher bekommen wir all unser Wildpret; zuweilen bringt sie es mir, wenn die Schwester nicht vom kleinen Kinde weg kann. Heut war ich schon in Sorge, sie ließe uns im Stich, und nun ist das bestellte Geflügel doch noch rechtzeitig gekommen für den Taufschmaus. Was sie sonst hat, will ich jetzt erfahren.“

Genoveva durchschritt die Glasthür, welche die Terrasse vom luftigen Gemach des Hauses trennte. Das dunkelfarbige Holzgetäfel, womit dessen Wände bis zur Decke bekleidet waren, wurde heute durch Guirlanden von jungem Laub erfrischt, die sich in Bogen um alte ovale Bilder zogen. Dieser Schmuck schien noch vermehrt werden zu sollen; denn ein mitten im Zimmer stehender, von kunstreich geschnitzten Füßen getragener Eichentisch war mit einer Fülle von blühendem Strauchwerk beladen.

Neben diesem Tische stand ein zartgebautes Landmädchen. Der runde Hut mit Goldquasten, welcher ihr helles Gesicht beschattete, machte sie als Oberinnthalerin kenntlich. Ihre Hand umschloß einen Strauß Monatsrosen von so thauiger Frische, daß sie gewiß erst vor Kurzem vom Strauch geschnitten waren.

„Rosen!“ rief Genoveva erfreut, als das Mädchen ihr die Blüthen entgegenbot. „Wie kommst Du zu dieser Pracht?“

„Sie sind von daheim,“ sagte Jana mit wohlklingender, etwas dunkler Stimme. „Das Gärtchen ist vom Haus geschützt, und die Sonne scheint darauf nieder von früh bis Nacht; darum haben wir immer die ersten. Es wär’ mir so viel lieb, wenn die Gnädige sie annehmen möcht’.“

„Schönen Dank, Jana! Deine Rosen sollen auch zu Ehren kommen und auf dem Tauftische prangen.“

„Wird das Herrlein denn nicht drunten in der Kirche getauft?“ fragte das Mädchen verwundert.

„Nicht doch! Der Gang wäre für mich noch zu ermüdend, und ich muß dabei sein. Könntest Du über Mittag da bleiben, Kind? – Ja? – Das ist schön! Dann hilfst Du mir den Kranz winden, der um den Tauftisch soll; hier liegt schon Alles bereit dazu. Du kommst gerade recht. Ich mag das nicht den Dienstleuten überlassen, und es heißt eilig sein. Um zehn Uhr kommt Pater Alois, und schön machen muß ich mich auch noch. Erst sollst Du aber als Lohn für die Rosen das Taufkind sehen.“

Ohne von dem gewöhnlich schweigsamen Mädchen Antwort zu erwarten, ging die junge Frau, anmuthig zurückwinkend, durch das anstoßende Zimmer in das Gemach, das von der Mutterliebe selbst ausgeschmückt erschien. Es war dort so dämmerig und doch zugleich so heimlich helle, wie in einer dichtschattigen Laube, deren schwankendes Zweiggeflecht goldene Sonnenfäden durchziehen. In diesem weiß und grün ausgefütterten Nestchen saß eine frische Bäuerin neben der verhüllten Wiege und schaukelte sie leise, indem sie ein „G’sätzel“ summte.

„Schläft er?“ fragte Genoveva halblaut.

Die Wärterin nickte.

„Geh’ frühstücken! Ich bleibe inzwischen hier.“ Erst nachdem die Amme das Zimmer verlassen hatte, schlug die junge Mutter die seidene Gardine zurück. Alle Majestät ihres Wuchses, ihrer Haltung verwandelte sich in diesem Moment einzig in Grazie. In das zuweilen so unerforschliche Auge trat ein Blick himmlischer Zärtlichkeit, während es sich auf das zarte Geschöpf heftete, das leise athmend zwischen feinen Spitzenhüllen lag. Nun sah sie zu dem Mädchen auf, welches regungslos auf die Wiege starrte. Nicht die vornehme Frau blickte das Landkind an; des Weibes seliger Mutterstolz suchte Theilnahme und Bestätigung bei dem Weibe.

„Erst vierzehn Tage alt und so kräftig schon, nicht wahr?“ fragte sie heiter. „Aber die Amme sorgt auch für sich und ihn. Denke Dir, sie frühstückt jeden Morgen dreimal. Doch davon verstehst Du nichts.“

Jana stand blaß und stumm.

Als Genoveva, durch ihr fortdauerndes Schweigen aufmerksam. gemacht, sie schärfer in’s Auge faßte und nun plötzlich fragte: „Was ist Dir?“ da warf das Mädchen beide Hände vor das Gesicht und brach in so gewaltsames Schluchzen aus, daß jedes der zarten Glieder erbebte und was nun folgte, das war eine gar geheimnißvolle räthselhafte Scene.

„Jana, was ist mit Dir?“

„Ich darf’s nit sagen,“ athmete das Mädchen, glitt aber dabei auf die Kniee und barg ihr verstörtes Gesicht in die Falten von Genoveva’s Kleide. Ein Ahnen erfaßte die junge Frau.

„Du darfst mir Alles sagen, Jana; denn ich bin Dir gut und kann Dir vielleicht beistehen.“

„Das hab’ ich selber gemeint und bin von zu Haus mit dem Willen fortgangen, der Gnädigen Alles zu beichten, aber ich wag’s nit, und wenn’s heraus ist, so hab’ ich kein Anwerth mehr bei Ihnen, und das halt’ ich nit aus – ach, ich seh’ meiner Noth kein End’ und getrau mich für die nächsten Monde nit nach Haus – –“

Genoveva strich ihr über das lockige Stirnhaar.

„Auf, Jana!“ sagte sie kräftig. „Ich bin Dein Richter nicht, aber Dein Helfer will ich sein in Angst und Noth. Sprich getrost!“

Das Mädchen regte sich nicht. Kaum vernehmlich stammelte sie ein langes, banges Geständniß von Liebe und Schuld, vom todten Liebsten und unendlicher Herzensangst, und als nach einer Weile die Amme wieder in das stille Gemach trat, da senkte Jana, wie vor Schmerz und Scham, die langen Wimpern, und zwei große helle Thränen hingen daran.

„Das ist nun Deine Genossin,“ sagte Frau von Riedegg, zu der Amme gewandt, „eine zweite Wärterin für den Kleinen. Sei gut mit ihr!“

Jana’s Augen strömten vor Dank über, Frau von Riedegg aber sagte mit dem stolz heiteren Ausdruck, der ihr gewöhnlich eigen war, hellen Tones:

„An’s Werk jetzt, kleine Kränzewinderin!“




2.

„Auf die Gesundheit des jungen Herrleins!“ rief der alte Servitenpater, und seine schmalen, gutmüthigen Augen zwinkerten vor Wohlbehagen, während er das Glas hob, um mit der Schloßherrschaft anzustoßen. „Möcht’ ihm das heilige Taufwasser, so er empfangen hat, gütlich gedeihen und der christliche Name Sigismund ihm auch Sieg bedeuten über alle Fährlichkeiten an Leib und Seele!“

[439] „Amen!“ erwiderte Genoveva lebhaft, während das Glas ihres Gatten hellen Klanges mit dem des Paters zusammentönte, dessen vergnügte Stimmung sich in jeder Miene kundgab. Das Amt war gebührend verrichtet, nun mochte er auch das Recht üben, sich die seltenen Freuden eines auserlesenen Taufschmauses zu Gute kommen zu lassen.

„Ja,“ hob er wieder an, indem er den goldig funkelnden Tokaier im frischgefüllten Glase mit fast gerührten Blicken betrachtete, „solch köstlich Tröpflein ist wahre Gottesgabe! Kommt so leicht nicht an Unsereinen – nicht einmal zu den heiligen Zeiten!“

„Ihr Kloster ist arm?“ sagte Meinhard; „und es ist doch ein gar stattliches Bauwerk. “

Der Mönch zuckte die Achseln; zwischen dem Vollbarte, dessen graudurchmischte Fülle das Gesicht etwas struppig umrahmte, spielte ein vieldeutiges Lächeln.

„Wohl, wohl,“ sagte er; „Mauern genug; unser Kloster ist richtig halb so groß wie’s ganze Städtle. An Platz thät’s nit fehlen, wär’ nur sonst von Allem g’rad’ so viel da. Wir armen Kutten laufen da drinnen ’rum wie die Kirchenmäuse im Dom. Wohl, wohl – zum Laufen sein wir ja da! Wann’s im Winter Flocken schneit, so groß wie ein Bauernhut, und wann im Juli die Sonne niederbrennt, daß man heil denkt, es bleibt nichts von Einem übrig, als ein Fettfleck, da müssen wir doch alleweil um einand’ laufen, bis in die höchsten Berg’ ’naufzannen, oder aber durch’s Wasser patschen, wo’s halt ’was zu amtiren giebt. Wären unserer zur Aushülf’ nur mehr, dann ging’s schon!“

Die alte Bronzeuhr schlug voll und langsam die dritte Nachmittagsstunde.

„Heilige Mutter Maria,“ sagte der Pater und schaute bestürzt nach der baroken Urne, welche das Zifferblatt trug; „schon so spät! Jetzt muß ich fort, sonst thät’ ich gar die Vesper versäumen.“

„Daraus wird nichts!“ lächelte die junge Frau. „Erst müssen Sie noch Kaffee trinken. Vom Programm der heutigen Festlichkeit wird Ihnen kein Iota erlassen, Pater Alois. Schlimm genug, daß Sie damals den Hochzeitwein nicht mit uns theilen wollten!“

Der Pater war auf seinen Füßen.

„Bscht, bscht!“ mahnte er und sah sich ängstlich rund um.

Ohne seiner weiter zu achtelt, stützte Genoveva ihre schlanke Hand auf die Schulter des Gatten

„Denkst Du den Tag?“ fragte sie halblaut und ließ ihr leuchtendes Auge durch das Fenster über Thal und Strom zum waldigen Brandenberge hinüber schweifen, wo es träumerisch an dem alten Bergkirchlein hängen blieb, das tief einsam zwischen dunkeln Tannen ruhte.

„Ob ich des Tages denke?“ wiederholte Meinhard leise und leidenschaftlich, indem sein Arm das schöne Weib umfaßte. „Allein! wir waren allein! Ueber Moos und Marmor schritten wir zwischen Föhrendunkel und feurigem Herbstlaub. Und als wir vor dem Altar standen, nur vom Priester und Eremiten geschaut, als einzelne Vogeltöne durch die heilige Morgenfrühe klangen, da bewegte der Frühwind das Glöckchen im Thurme und trug dem Walde die Kunde zu, daß Du mein geworden. Ein goldener Sonnenstrahl verklärte das Madonnengesicht über dem Altar

„Die Madonna mit dem Kinde!“ sagte Genoveva. „Sie ist gebenedeit.“

„Hörte ich recht?“ rief der Servitenpater und sein volles, heute etwas weingeröthetes Gesicht strahlte vor Freude. „Sie benedeien die heilige Muttergottes. So hat sich an Ihnen also die Gnade erwiesen, welche ich mit so manchem Vaterunser und englischem Gruße alle Tage vom grundbarmherzigen Himmel heruntergebetet habe? Sie kehren in den Schooß unserer heiligen Kirche zurück, oder sind gar schon –?“

Die junge Frau schüttelte heiter den Kopf.

„Nicht doch, Pater Alois! Was ich gewesen, das bin ich, und was ich bin, werde ich bleiben. Wär’s denn wirklich wahr, was ich einmal von Ihnen selbst meine vernommen zu haben: daß wir armen Lutheraner ewig in der Hölle brennen müssen?“

Der schalkhafte Zug, welcher nur in seltenen blitzartigen Momenten, dann aber als besonderer Reiz dieser vornehmen Erscheinung zu Tage trat, ging an dem guten Pater spurlos verloren.

„Mit nichten, mit nichten!“ sagte er eifrig und wehrte mit der Hand ab, als wären strafende Flammen schon bereit, aufzulodern. Mit seinem Behagen schien es aber vorbei. Unruhig schweifte sein Auge nach seinem breitrandigen Hute umher, und sobald er ihn erfaßt, sagte er etwas hastig. „Empfehl’ mich zu Gnaden – darf wahrhaftig nicht länger dableiben, wenn ich nicht leidige Rüge auf mich laden soll. Gelobt sei Jesus Christus!“ Meinhard hielt ihn auf:

„Der Taufschein, hochwürdiger Pater? Sie haben ihn ausgefertigt, mir aber noch nicht eingehändigt.“

„Wohl, wohl! Das hätt’ ich nun bald vergessen hab’ ihn an mich genommen.“

Er zog das Blatt aus der Brusttasche seines langen Klosterrockes, räusperte sich stark und legte es auf den Tisch, um sich dann eiligst zurückzuziehen.

Als Meinhard, nachdem er ihm Geleit gegeben, das Speisezimmer wieder betrat, fand er seine Frau tief verloren in Betrachtung des Taufzeugnisses. Sie blickte lebhaft zu ihm auf; ein gleich lebhaftes Wort schien auf ihren Lippen zu schweben, doch sprach sie es nicht ans.

Als er die Hand ausstreckte und das Blatt schweigend an sich nahm, senkte sich der heißfragende Blick der jungen Frau. Ein finsterer Zug, der plötzlich den ganzen Eindruck ihrer Physiognomie verwandelte, trat um die schöngeschwungenen Lippen.

„Genoveva!“

Eine Fülle von Liebe klang aus dem weichen Laut, womit er den Namen rief. Sie hob die Augen, blickte ihn einen Moment zögernd an und warf sich dann mit leidenschaftlicher Inbrunst in seine Arme.




3.

Wir Modernen, im Reisen und Schauen Geübten sind durch den Besuch mancher öffentlichen Sammlung mit den Einzelnstücken früherer Einrichtungen ziemlich vertraut geworden. Wer alte Schlösser besucht hat, wird mit Interesse bei jenen eingelegten Möbelstücken, jenen kunstreichen Schlosserarbeiten, Waffen und Geräthen verweilt haben, welche unsere Vorstellung von altdeutscher Häuslichkeit schärfen. Der historische Sinn, welcher zur Zeit unserer Voreltern selbst im schlichten Bürgerhause dem Ererbten Werth beilegte und somit dem Urenkel ein Stück unberührter Vergangenheit übermittelte, ward aber von unserer schnelllebigen Generation längst in alle Winde verstreut.

Deshalb sind wirkliche Heimstätten alter Zeit ebenso selten geworden, wie jene Stammsitze von Geschlechtern, welche Jahrhunderte lang demselben Namen zu eigen geblieben. Wer heute ein solches durch vier oder fünf Jahrhunderte dem gleichen Stamm zugehörendes Schloß betritt, den ergreift ein seltsames Verstehen. Wie groß, wie stark mußten sich die fühlen, die hier wohnten! Die stummen Wände schon predigen dem Kinde, das hier heranwächst, vom Ansehen und Stolz seines Geschlechtes; was die Jahrhunderte im Ausdruck, den sie aufgeprägt, von einander unterscheidet, wird zur Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In der prächtigen Fülle, die sich hier vererbt, der immer neue Fülle hinzugefügt wird, lebt etwas Großartiges, ja sogar etwas Großmütiges; denn nirgends begegnet hier der Gedanke jenem Zuge unseres Jahrhunderts: auf Kosten jeder Freigebigkeit immer gleich wieder sparen zu wollen oder zu müssen. Man kann sich in solche gleichsam zur verkörperten Historie gestaltete Räume nichts Kleinliches hineindenken, weder körperlicher noch geistiger Art.

Das Stammschloß der Grafen Riedegg, seit einer Reihe von Generationen demselben Tiroler Adelsgeschlechte eigen, gehört in diese Kategorie. Es liegt unfern der Grenze des deutschen und italienischen Sprachgebietes, auf steilem, von der Ebene aus scheinbar unzugänglichem Felsenvorsprunge, von dunklen Föhren dicht umstanden. Tief drunten ich Thale braust der gelbe Eisack.

Das Gemach, welches wir zunächst betreten, hat einst eine Königin beherbergt; davon ist ihm der Name Königinzimmer geblieben; trotz der zierlichen Parquettirung und der außerordentlich schönen Schnitzarbeit der Decke zeigt es aber gegenwärtig ein strenges, jener weiblichen Bezeichnung widersprechendes Gepräge. Der gewaltige Eichentisch in der Mitte ist mit Büchern und Mappen beladen; Alles, was der Einrichtung dient, verräth Pracht und Ernst zugleich. Man möchte sich diesen Raum ungern als Wohngemach denken, böte nicht das weit hinausspringende Eirund [440] eines der Eckthürme ein Asyl für Behaglichkeit. In diesem Ausläufer des weiten Gemaches schimmert zwischen zwei hohen Fenstern ein kostbar eingelegter Schrank, dessen halbgeöffnete Thür Schriften und Pergamente im Innern unterscheiden läßt. Auf einem der hochlehnigen Sessel, welche den runden Tisch umstehen, sitzt der Herr des Schlosses im Gespräch mit seiner ihm gegenüberstehenden Enkelin.

„Du siehst nicht froh aus, Großvater. Und doch ist heut ein Freudentag.“

„Es könnte ein Freudenfest sein.“

„Und wäre es kein Fest?“

Der Greis, an welchen sich diese Fragen richteten, sah allerdings nicht aus, als sei er im Begriff einen festlichen Tag zu begehen. Gedankenschweres Sinnen hatte sich in jeden Zug seines ausdrucksvollen Gesichtes eingegraben. Zwar zeigte die hünenhafte Gestalt des Grafen Riedegg nichts von der Last seiner hohen Jahre, diese Jahre mochten ihm aber eine um so schwerere Last von Erfahrungen aufgebürdet haben. Er hatte stets für einen der schönsten Männer seiner Zeit gegolten und war dies in gewissem Sinne noch heute. Das intensive Blau des scharf blickenden Auges hatte nichts von seiner Färbung eingebüßt; Stirn und Schläfen schienen nur durch jene Linien gefurcht, die eine zwar unbeugsame, aber auch nicht ohne Enttäuschung gebliebene Energie zu graben pflegt. Haar und Bart waren gebleicht, aber noch in starker Fülle; Graf Riedegg’s Blick haftete in diesem Momente prüfend auf dem Gesichte seiner Enkelin, deren Stirn und Auge den seinigen wunderbar glichen.

„Fünfzehn Jahre!“ sagte er; „in diesem Alter trägt man sich mit langen Haaren und kurzen Gedanken. Laß’ Dich das aber nicht erzürnen!“ warf er ironisch dazwischen, als das heiß erglühende Kind eine der niederhängenden, vorwärts geglittenen Flechten mit stolzer Geberde über die Schulter zurückwarf. „Wir nehmen an, Du seiest eine Ausnahme, Ottilie, und Du sollst Antwort haben. Nein! es ist mir kein Freudenfest; denn Dein Vater kehrt nicht so zurück, wie er es mir verheißen. Die heutige Generation begreift adelige Pflicht nicht mehr.“

Die Gluth auf Ottiliens Wangen brannte heißer. „Du machst es meinem Vater zum Vorwurfe, daß er mir keine Stiefmutter geben will?" erwiderte sie in dunkelm Tone. „Ich bin ihm dankbar dafür.“

„Du bist doch noch ein Kind von kurzen Gedanken,“ sagte Graf Riedegg achselzuckend. „Stiefmutter – wie aus einem Ammenmärchen! Die Gattin meines Sohnes wird meiner Enkelin den Frauenschutz bieten, welcher für Deine Vorstellung unentbehrlich ist. Im Uebrigen handelt es sich darum, daß der angestammte Besitz dem Namen verbleibe.“

Sie blickte lebhaft auf; das feste Auge traf den Greis mit vollem Strahle, während ihr Kopf sich hob. „Wenn unser Name einst durch mich mit einem andern vertauscht werden sollte, so darfst Du darauf rechnen, Großvater, daß dieser andere von gleich reinem Klange ist.“

Ein kurzes, scharfes Lachen ging der Antwort des Grafen voraus: „Darauf rechne ich um so sicherer,“ sagte er, „als ich selbst dafür sorgen werde. Uebrigens ist Dein Vater noch ein junger Mann; was sich an fremden Höfen nicht gefunden, findet sich vielleicht in der Nähe. In meiner Berechnung dieser europäischen Reise fehlte leider eine Ziffer: Meinhard’s Schwanken jedem Entschlusse gegenüber.“

Das feine Ohr Olliliens empfand die leise Geringschätzung der letzten Worte.

„Du liebst meinen Vater nicht,“ sagte sie mit bedeckter Stimme, „und doch –“

„Und doch ist er der letzte Sohn , welcher mir geblieben, willst Du sagen?“

Ein weicher Zug, der diesem festgezeichneten jungen Gesichte nicht immer eigen war, trat voll Anmuth um des Mädchens Augen und Lippen.

„Und doch ist mein Vater so liebenswerth. Das wollte ich sagen. Onkel Wolf ist seit langen Jahren todt – ihm trauerst Du heute noch nach, Großvater, liebst den todten Sohn mehr als den lebenden. Sonst hättest Du Papa gewiß nicht beredet oder auch nur darein gewilligt, daß er so lange von uns fern blieb. Papa ist gut – ich liebe ihn. Daß er heimkehrt, macht mich froh, daß er allein heimkehrt, macht mich glücklich.“

Der Graf hob die Brauen.

„Worauf wartest Du denn? Kleide Dich geziemend an! Der Wagen wird nach einer Stunde abfahren.“

„Ich darf also?!“ Das Wort brach voll Gluth hervor.

„Wie ich Dir gestern gesagt. Mademoiselle begleitet Dich nach Brixen zur Frau von Lichtwehr. Schüller fährt mit, erwartet auf der Post Deines Vaters Eintreffen und macht Dir Meldung, während der Vorspann besorgt wird.“

Die helle Stirn des Mädchens zog sich zusammen. „So nicht, Großvater,“ sagte sie verstimmt. „Daß ich nicht allein fahren darf, weiß ich ja – also mag Mademoiselle mitkommen. Ist das aber nicht genug? Zu Lichtwehrs? Ach, sie werden mir während der ganzen Wartezeit den Kopf summen lassen vor lauter Gerede, und dann wird der alte Herr am Ende gar mitkommen wollen, um Papa zu begrüßen. Nein, nein! wenn ich ihn nicht mit Mademoiselle im Posthause erwarten und dort allein empfangen darf, bleibe ich lieber zu Hause.“

„So bleibe zu Hause!“ sagte Graf Riedegg sehr ruhig, aber in einem Tone, welchen seine Enkelin gut zu verstehen schien. Sie wechselte die Farbe, strich sich mit stolzer Wendung des Kopfes das kurze Gelock aus der Stirn, machte eine Verbeugung, welche jedem Hoffräulein zur Ehre gereicht haben würde, und verließ das Zimmer ohne ein Wort zu erwidern. Draußen im Bogengange, der diesen Mittelflügel mit jenem verband, welcher die eigentlichen Wohngemächer umschloß, warf sie einen flüchtigen Blick in den Hofraum und wendete sich nun der steinernen Säulentreppe zu, um hinabzusteigen.

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.

Nr. 44. Tölz in Oberbaiern.

Unter den Orten des baierischen Hochlandes, welche in den jüngsten Jahren durch einen Schienenweg dem allgmeinen Verkehre näher gerückt wurden, befindet sich auch der Markt Tölz. Der Glanz sommerlicher Hoflager hat seit Jahrhunderten diese echt bajuwarische Niederlassung nicht mehr überstrahlt, und so ist dieselbe trotz ihres begründeten historischen Anspruches auf besondere Rücksichtnahme bescheiden im Hintergrunde der saisonmäßigen Verkehrsplätze geblieben, bis der Ruf der Krankenheiler Bäder sie in der Erinnerung der Mitwelt wieder aufgefrischt hat.

Doch nicht allein die leidende Menschheit, auch der Tourist wendet sich gern gen Tölz, das Eigenartiges genug bietet. Wenn man vom Bahnhofe aus den Weg zum bedeutend tiefer liegenden Markte einschlägt, so präsentirt sich allerdings nicht viel mehr als eine Reihe jener grauen, steinbeschwerten Dächer, die unsere Gebirgsbauten kennzeichnen, und nur ein paar spitze Kirchtürme lassen auf eine höhere Bedeutung des Platzes schließen.

Die Hauptstraße des Marktes bietet einen originellen Anblick; dicht an einander gedrängt, mit der Giebelseite nach vorwärts, stehen die einfachen im richtigen Gebirgsstil gehaltenen Häuser so traulich beisammen, als wollten sie dem Wanderer von vornherein das patriarchalische Gesellschaftssystem versinnbildlichen, welches gewissermaßen in den Bergen noch immer fortlebt. Kleine und stattliche Gebäude reihen sich ohne besondere Rangordnung an einander; die respectable Breite der Straße verräth eine mehr städtische Anlage; sie führt in so rascher Neigung zum Isarstrande abwärts, daß man beim Hinunterfahren einige ängstliche Bedenken kaum zu unterdrücken vermag, zumal das Pflaster stark an das Gerölle eines Bergabhanges erinnert. Der größere Theil des Marktes liegt auf dem Hügel, der sich rechts von der Isar erhebt, und eine mächtige hölzerne Brücke verbindet denselben mit dem kleineren Theile, der sich auf einem gleichfalls erhöhten Terrain fortsetzt und bis zu den oben erwähnten Bädern ausbreitet.

Die Lage von Tölz ist schon insofern eine besondere, als hier das weitgedehnte obere Isarthal bis zu seinen Anfängen abgeschlossen

[441]

Bilder aus Tölz.
Originalzeichnung von G. Sundblad.

[442] erscheint; die Umrahmung des Thales mit waldigen Hügeln und sehr respectablen Höhen vervollständigt das Bild, und an einer Menge von reizenden Aussichtspunkten, die im steten Wechsel der Formen das Bergland charakterisiren, fehlt es nicht.

Wie fast bei allen größeren Ortschaften des baierischen Hochlandes befindet sich auch bei Tölz eine Calvarienberganlage, die nicht nur das Ziel frommer Wanderungen der Ortsangehörigen bildet, sondern auch als natürliches Belvedere jeden Naturfreund anzieht. Eine wundervolle Aussicht in das Isarthal lohnt den mühelosen Aufstieg bis zum Kreuz und der Quelle; der Markt liegt in seiner ganzen Ausbreitung zu Füßen des Beschauers, und wie ein blinkendes, verschlungenes Band zieht sich die Isar in Schlangenwindungen durch das Thal, in welches nicht allein die freundlichen grünen Hügel mit ihren schimmernden Häuschen und Kirchthürmen, sondern auch die trotzigen, kahlhäuptigen Bergriesen hereinschauen, unter denen der Scharfreiter und die Benediktenwand am meisten bekannt sein dürften.

Reist man mit der Post von Tölz nach Mittenwald, so erreicht man zunächst das große Pfarrdorf Länggries (Lengries). Dieser Ortsname kommt daher, weil in dieser Gegend das breite Thal in seiner Sohle von der Isar versandet, „vergriest“ ist. Die Länggrieser und Tölzer sind durch ihren regen Holzhandel weit und breit berühmt und fahren auf ihren Flößen auf der Donau bis Wien hinunter.

Jeder Spaziergang in der Nähe von Tölz, meist durch herrliche Wälder, führt an einen Punkt, der neue landschaftliche Reize erschließt. Die Tölzer wußten den Naturgenuß mit anderen Genüssen recht praktisch zu verbinden; denn die bedeutendsten dortigen Biergärten, Bürgerbräu und Bruckbräu, können unbedenklich als Belvederes ersten Ranges bezeichnet werden, und daß sich beim frischen Trunk unter schattigen Bäumen die Reize einer schönen Umgebung weniger einnehmend gestalten, wird auch der strengste Aesthetiker nicht behaupten, sofern echt germanisches Blut in seinen Adern fließt. Dabei muß noch erwähnt werden, daß Tölz schon seit Jahrhunderten den Ruhm genießt, ein vorzügliches Bier zu produciren, ja es war lange Zeit hindurch die Metropole der Bierbrauerei; im Jahre 1651 zählte der Markt bereits 21 Brauereien, und gewichtige Ladungen des beliebten Getränkes gingen dortmals auf Flößen weithinein in’s Land. Die allmächtige Concurrenz, namentlich von Seite der Münchner, hat zwar auch das Tölzer Bier nicht verschont, allein in der Heimath wird demselben, wie man sich denken kann, noch mit gleicher Pietät gehuldigt, und wer ein echt baierisches „Bierleben“ schauen will, findet es mit allen seinen Originalitäten in einem der genannten Gärten an sommerlichen Feiertagen voll entwickelt.

Die beigefügte Illustration zeigt ein solches Sonntagsbild. Städter und Landbewohner in buntem Gemisch bevölkern die Tische; Gegensätze ganz besonderer Art stellt das Ungefähr an einander; hier der Stadtherr mit seiner Dame, welche eigentlich mehr des Naturkneipens halber beim schäumenden Krug sitzen und offenbar im Geiste bei jenen Bergriesen weilen, die aus der Ferne hereinsehen; dort der biedere Länggrieser mit dem grünen Hut und der nie fehlenden Pfeife; den guten Mann, sowie das stattlich geputzte Weib an seiner Seite, interessirt es, ob seinem vis-à-vis aus der Residenz der Stoff auch gehörig munde, und mit Ernst und Würde versucht er die bajuwarische Leistungsfähigkeit in’s gehörige Licht zu setzen, wobei ihn sein „Gegentheil“ nachdrücklichst unterstützt. Den Urtypus der Bergbewohner, die kräftigen Flößer, sieht man zahlreich vertreten; es sind derbe Gestalten, welche von Sonnenbrand und Wetterschauern gehärtet und durch Mühen aller Art unempfindlich geworden sind; in der rauhen Schale steckt ein guter Kern, und dem Völkchen ist eine Gemüthstiefe eigen, wie sie eben nur bei wahren Naturkindern gefunden wird. Ein conservativer Zug geht durch das Leben der bäuerlichen Bevölkerung; sie hängen mehr den Gewohnheiten der „alten guten Zeit“ als den Gewohnheiten und Anschauungen der neueren Zeit an, haben sie doch eine historische Vergangenheit hinter sich, wie wenige ihrer Stammesverwandten.

Vor Jahrhunderten war die Floßfahrt auf der Isar das Hauptverkehrsmittel vom Welschland her nach Baiern bis zur Donau und nach Ungarn hinunter. Manche kostbare Fracht schwamm auf dem Rücken des ungestümen Flusses dahin, und hohe Reisende, Kaiser und Fürsten, verschmähten nicht, auf solche Art zu reisen. Daß dieser Verkehr von außerordentlichem Einflusse auf die Wohlhabenheit der Gegend war, versteht sich von selbst und rasch blühte insbesondere der Hauptort Tölz empor; vor der Erbauung Münchens schon war er zu einer gewissen Blüthe gelangt, und von Tölz aus wurde die werdende Stadt mit Holz und Steinen versorgt. Noch heute ist Tölz der Hauptstapelplatz für die Flöße, welche allwöchentlich in stattlicher Zahl der Hauptstadt zuschwimmen; außer Gyps und Kohlen ist es jedoch nur noch das Brennholz, welches die Ladung der Flöße bildet. Die Zeit ist längst vorüber, in welcher man solche Beförderung als Reisemittel gebrauchte, obschon eine Flußfahrt durch das Isarthal bis gegen München eine Fülle von landschaftlichen Reizen bietet, die geradezu überraschen; die steil abfallenden Ufer sind bis dorthin meistentheils mit der üppigsten Waldvegetation bekleidet, und blühende Ortschaften, sowie altehrwürdige Burgen und Klöster unterbrechen da und dort das herrliche Grün der Hügelreihen, die bis an’s Flußbett herandrängen. Die Zusammenstellung der Flöße erfolgt zumeist schon weiter oben, wo die Bergabhänge bis zum Walchensee oder hart an die Jachen reichen, und Tölz bildet dann eine erste Station, die nicht umgangen zu werden pflegt. Die ehemalige culturgeschichtliche Bedeutung des alten Gebirgsplatzes erhellt aus der Wichtigkeit des fortdauernden Verkehrs zu Wasser und zu Land hinlänglich, aber auch die Weltgeschichte hat den Namen Tölz vielfach in ihren Jahrbüchern verzeichnet.

Im zwölften Jahrhundert schon finden wir den Namen des Bischofs Conrad von Tölz auf’s Innigste mit den deutschen Angelegenheiten verbunden; Herr Conrad war nicht nur ein Kirchenfürst, welcher die geistliche Würde zu Ansehen und Macht zu bringen wußte, er war auch ein streitbarer Held, der das Schwert zu führen verstand und dafür sorgte, daß selbiges nicht in der Scheide rostete. Wie er sich zur Curie verhielt, zeigt sein Ausspruch: „Der Papst hat denen Teutschen nichts zu schaffen!“ Wenn auch kein mächtiger Herr, so doch ein hochberühmter Held war ferner der Feldhauptmann Kaspar Winzerer von Tölz, der von Kaiser Max mit den goldenen Sporen geschmückt worden war und bald da, bald dort streiten half. So kämpfte er die Schlacht bei Pavia an der Spitze von drei Fähnlein Landsknechten unter Frundsberg mit; er betheiligte sich am Bauernkrieg als Kriegshauptmann des baierischen Landesaufgebotes, am Türkenkrieg etc. und erwarb sich dauernden Ruhm. Als Greis von siebenundsiebenzig Jahren veranstaltete er mit dem jungen Frundsberg ein Turnier zu Brannenburg; beim Schwertkampf wurde er verwundet, und bald darauf starb der edle Recke. Im Schwedenkriege haben sich die Tölzer vor allen Landsleuten hervorgethan, und das Schwedenmahl in Tölz steht mit Blut im Buch der Geschichte verzeichnet. Nachdem der Markt schon zu verschiedenen Malen von Schwedenhorden gebrandschatzt worden war, beschlossen endlich die Bürger, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben. Man gab den Schweden eine große Gasterei, aber um Mitternacht tönte die Sturmglocke, und nun fiel jeder Hausvater mit seinen Gesellen und Knechten über die im Hause liegenden Feinde her und machte sie unschädlich. Der ganze Isarwinkel erhob sich darauf, und am 26. Mai 1632 wurden die noch im Lande befindlichen Schweden angegriffen und aufs Haupt geschlagen.

Daß die Chronik von Tölz auch von dem schwarzen Tod und von der Pest zu berichten weiß, mag insofern interessiren, als man das Hochgebirge gewöhnlich nicht für geeignet zur weiteren Ausdehnung ansteckender Krankheiten hält; besonders arg hauste die Pest im Jahre 1634. In dem berühmten Bauernaufstande des Jahres 1705, als das Volk an der oberen Isar den Entschluß faßte, die Hauptstadt München, wo Graf Löwenstein die kurfürstlichen Prinzen gefangen hielt, zu befreien, spielte Tölz die Hauptrolle, und der Jägerwirth von Tölz war der Unterhändler, welcher die Verschwörung im Gang hielt und zwischen München und Tölz vermittelte. In der Geschichte existirt wohl kaum ein tragischeres Beispiel von ländlichem Patriotismus, als das des Weihnachtsfestes 1705, an dem sich in nutzlosem Kampfe die Oberländer Bauern opferten. Die Tölzer Schützen hatten insbesondere schrecklich gelitten; ihr Führer, der Jägerwirth, wurde ergriffen und am 17. März 1706 auf dem jetzigen Marienplatze in München enthauptet und geviertheilt. Später statteten die Panduren unter Trenck noch einige Besuche in Tölz ab; als der Adjutant Trenck’s von den erbitterten Bauern erschossen worden war, kam Trenck selbst nach Tölz, dessen Magistrat alle Mittel aufwenden mußte, den Markt vor dem Untergange zu retten. Die Trenck’schen führten dazumal ihren Raub auf zweiundzwanzig Flößen nach München, ein Beweis dafür, [443] daß trotz aller Unglücksfälle doch noch etwas zu holen war. In den Franzosenkriegen verirrten sich zum letzten Mal fremde Kriegsvölker in die Berge, und auch von diesen nahmen die Bauern nicht Alles mit Geduld an, sondern wehrten sich ihrer Haut, so gut sie konnten.

Als wieder Ruhe und Friede im Lande einzog, widmeten sich die Oberländer ihren gewohnten Beschäftigungen, und heute leben sie in derselben Weise wie ehedem; im Munde des Volkes leben noch die Thaten der Ahnen fort und erfüllen die Herzen der jungen Welt mit jenem heimathlichen Stolze, der die Grundlage zur Erhaltung des eigenartigen Charakters der Oberländer bildet.

B. Rauchenegger.     




Karoline Bauer als Gräfin Plater.

Plaudereien über ihre letzten Lebensjahre.

Es ist Thatsache, daß um das Privatleben bedeutender Menschen sich oft ein ganzer Sagenkreis bildet. Namentlich trifft dies bei hervorragenden Schauspielerinnen zu. Je schöner, je berühmter die Dame, um so größer der Mythus! Und die Dienerinnen Melpomene’s haben meistens ein besonderes Wohlgefallen daran, viel von sich reden zu machen; begnügt sich diese Leidenschaft doch oft genug nicht mit den Mitteln der vox viva, des Weges vom Mund zum Ohr, auch Tinte und Feder, Druckerschwärze und eherne Lettern müssen dem süßen Vonsichredenmachen dienstbar sein, und so verdankt die moderne Literatur den geschäftig plaudernden Heldinnen der Bretterwelt ein ganz neues Genre, nämlich das der Künstlermemoiren, Bühnenerinnerungen, Komödiantenfahrten etc.

Das erste Aufsehen erregte mit solchen Schriften Karoline Bauer, die in origineller und geistreicher Weise diese Bahn betrat, auf welcher ihr bald so viele Colleginnen nachfolgten. – Doch that sie es erst in hohem Alter, nachdem ihre Schönheit verschwunden, nachdem die glücklichsten Stunden ihres Lebens verrauscht waren, nachdem sie der Bühne, auf welcher sie als Königin gethront hatte, längst ein wehmüthiges Adieu zugerufen. Damals, als sie aufhörte zu spielen, ahnte sie vielleicht nicht, wie viel Wahrheit in dem Verse liegt:

„Der Vorhang geht auf; der Vorhang geht nieder;
Alle die abgehen, die kommen nicht wieder.“ –

Später aber hat sie es gefühlt – und begann von sich zu schreiben.

So lange der Schauspieler auf der Bühne steht, ist er gekannt und bewundert; tritt er auf immer ab, so erinnert sich seiner wohl noch zuweilen die mit ihm lebende Generation; stirbt diese aus, so steigt der berühmte Name „klanglos zum Orkus hinab“. – Schrecklich mag es für den Ehrgeizigen sein, zu wissen, daß er nichts gethan hat, was seinen Namen der Nachwelt erhalten könnte, und hauptsächlich dies hat wohl Karoline Bauer bewogen, von sich zu schreiben.

George Sand sagt in ihren Memoiren: „Gewöhnen wir uns, von uns selbst zu sprechen, so kommen wir leicht und unwillkürlich dazu, uns selbst zu loben, was eine natürliche Folge der Neigung des Menschen ist, den Gegenstand seiner Betrachtung zu verschönen und zu erheben.“ Karoline Bauer that das, und es läßt sich daher aus ihren Schriften ihr Wesen nicht erkennen – ebenso wenig, wie aus der Charakteristik eines Romans sein Autor. Ihre Schriften wurden förmlich verschlungen. Man erinnerte sich der Halbvergessenen, und brachte nun der Schriftstellerin Huldigungen dar, wie früher der Schauspielerin – sie hat ihren Zweck erreicht. Zur Zeit jener Huldigungen lernte ich sie kennen und will im folgenden über ihre letzten Lebensjahre erzählen. Pikanterien giebt es da freilich nicht, aber was ich hier mittheilen werde, dürfte diejenigen interessiren, welche die große Schauspielerin aus ihrer Bühnen- und Glanzzeit noch kennen, diejenigen, die ihre Bücher gelesen haben, und schließlich noch diejenigen, die neugierig sind zu erfahren, wie sich das Leben einer einstigen Theatergröße in ihren alten Tagen gestalten kann.


*  *  *


Mein Tagebuch enthält folgende Notiz: „Zürich, den 14. Juni 1876. Ich hatte heute die Ehre, der Gräfin Plater vorgestellt zu werden; ich habe sie mir zwar ganz anders gedacht, war aber nicht enttäuscht; sie machte auf mich einen eigenthümlichen, guten Eindruck. Sie ist sehr unterhaltend, weiß vortrefflich zu erzählen und ist fürchterlich zerstreut. Man erkennt, daß sie einmal sehr schön gewesen sein muß. Sie sprach immer von sich und lud mich nach den ersten Worten ein, sie zu besuchen. Eine sehr eigenthümliche Frau.“

Seit diesem Tage gehörte ich zu den Wenigen, die auf Broëlsberg, der Besitzung des Grafen Plater, bei Horgen am Zürichsee, stets willkommen geheißen wurden. Wer die greise Gräfin kannte, wird wissen, wie schwer es war, sich in ihrem Hause Zutritt zu verschaffen. Die Rücksichtslosigkeit, mit der sie Leuten begegnete, die ihr auf den ersten Blick unangenehm waren, schreckte Viele vor jeder Annäherung zurück, und es waren nur sehr wenige Personen, die in ihrer Gunst standen, denen sie dann freilich mit äußerster Liebenswürdigkeit entgegenkam. Trotz dieser anscheinenden Aufrichtigkeit war ihr nie zu trauen; ich hörte sie oft Leute hinter dem Rücken schmähen, denen sie kurz vorher mit beispielloser Gewandtheit den Hof gemacht. In solchen Schmähungen kannte sie dann keine Grenzen und gebrauchte Ausdrücke, die man am allerwenigsten im Munde der Gräfin Plater erwartete. Sie war sich ihrer Fehler wohl bewußt und äußerte sich ohne Scheu darüber. „Trauen Sie nie einer Schauspielerin!“ sagte sie einmal, „sie sind alle falsch. Wohl findet man oft große Schauspieler, die im Leben Ehrenmänner sind, aber während meiner langen Laufbahn habe ich keine Schauspielerin gefunden, der ich hätte vertrauen mögen.“ Sich selbst schloß sie natürlich von dieser Regel aus.

Selbst für den Eingeweihten war es schwer, ein Urtheil über das Glück ihrer Ehe mit dem Grafen Plater zu fällen. Dieser war ein Cavalier von reinstem Wasser und ihr gegenüber von der größten Zuvorkommenheit; oft sah ich, wie er ihr mit den von der Gicht gekrümmten Fingern den Schemel unter die Füße rückte, die Medicin gab und dergleichen, doch bezweifle ich, ob er ihr je eine Minute mehr widmete, als es die Convenienz und die Gesellschaft erforderten. Ganz absorbirt von dem Gedanken, daß Polen wieder frei werden müsse, vernachlässigte er alles Häusliche, um nur diesem seinem politischen Ideal leben zu können. Man sagte ihm sogar nach, daß er sich mit der Hoffnung trage, dereinst seine Tage als König von Polen beschließen zu können. Die Gräfin äußerte sich oft über seine Pläne mit der ihr eigenthümlichen Aergerlichkeit und Schärfe. Sie konnte aber auch manchmal „fuchsteufelswild“ werden, wenn sie sah, wie die Verblendung ihres Gatten auf die gemeinste Art ausgebeutet wurde, natürlich von verkommenen polnischen Emigranten. Ein Brief von ihr enthält folgende charakteristische Stelle:

„Wie Sie wissen, kommt es oft vor, daß mittellose Polen meinen Herrn Gemahl um Unterstützungen ansprechen, und ein paar solcher Herren waren auch kürzlich da. Der Eine ersuchte ihn in schlichten Worten um eine Geldunterstützung, da er nach Paris wolle, um dort die Existenz zu suchen, die er in seinem Vaterlande nicht finden könne; der Andere, au contraire, erging sich in weiten Auseinandersetzungen der jetzigen Zustände in Polen, schimpfte wacker auf die Russen und erzählte, wie man in Warschau nur vom Grafen Plater, le roi et le sauveur de la Pologne, spreche, alle Hoffnungen auf ihn baue und natürlich vor Begierde brenne, ihn als König begrüßen zu können. Schließlich fügte er hinzu, er wolle jetzt in’s liebe Vaterland zurückkehren und mit erneuerter Kraft an’s heilige Werk gehen, glücklich, daß ihm Gott noch die Gnade gewährt, seinen Herrn und König von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Hierauf kniete er, wie verzückt, nieder und küßte den Rocksaum meines freudestrahlenden Königs in spe. Doch wie die Mittel verschieden waren, welche die beiden Polen zu gleichem Zwecke anwendeten, so war auch der Effect verschieden. Der Ruhmredner erhielt 200 Franken, sein bescheidener College nur 20. Wie ich später erfahren habe, ist der eine der Polen wirklich nach Paris gefahren und wirkt thätig in dem dortigen Polenclub, der andere jedoch treibt sich bis jetzt noch in Zürich herum und erhielt kürzlich abermals Geld vom Grafen. Als ich mir hierüber eine Bemerkung [444] erlaubte, meinte Seine Majestät, es wäre eine Sünde, einen solchen Patrioten nicht zu unterstützen – eh bien, chacun à son goût – –“

Der Haushalt in Broëlsberg war, da ihm der Graf nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte, ganz der Sorge der Gräfin überlassen, die mit der ihr angeborenen Lebhaftigkeit Alles regieren wollte, was, da sie sich nicht schonte, ihre sehr schwache Gesundheit untergrub. Dazu kamen noch Geldsorgen. Der Graf hatte in Rapperswyl am Zürichsee ein polnisches Nationalmuseum errichtet, dessen Erhaltung bedeutende Summen verschlang; die dort abgehaltenen Polenversammlungen, die Unterstützungen, die er den sich schaarenweise meldenden armen Landsleuten angedeihen ließ, verbrauchten viel Geld. Es darf daher nicht Wunder nehmen, wenn die Gräfin sich in immerwährender Geldverlegenheit befand. Die Weintrauben des kleinen Weinberges, das Obst des Gartens – Alles war schon verkauft, noch bevor es reif war, doch waren diese Quellen bald erschöpft – sie warf sich mit um so größerem Eifer auf die Schriftstellerei.

Die Idee, Bühnenerinnerungen zu schreiben, war neu und originell; der Erfolg und die vielen Nachahmungen zeigen, daß sie auch gut war. Bei der Ausführung dieser Idee stand ihr Arnold Wellmer getreu, ich möchte sagen: allzu getreu zur Seite. Ich war oft in der Lage die Correcturbogen zu sehen, die ihr Wellmer zusandte, und überzeugte mich, wie energisch er in diesen Bogen den Stift geführt. Sie beklagte sich oft hierüber, wenn Wellmer gar zu viel verändert, und so schrieb sie mir einmal: „Ich weiß gar nicht, was er eigentlich denkt; an den Geschichten, wie er sie mir zurechtlegt, ist kein einziges wahres Wort –". So z. B. hatte Wellmer jede persönliche Anspielung, die noch lebende Personen hätte verletzen können, gestrichen. Die Familie eines bereits verstorbenen deutschen Kunstjüngers, dem Karoline Bauer in einem ihrer Bücher ein ehrendes Denkmal gesetzt, verehrt diese bis auf den heutigen Tag noch als eine Wohlthäterin ihres Vaters und Großvaters, und sandte ihr zu jedem Geburtstage prachtvolle Blumengeschenke. Hätten die guten Leute das Brouillon gesehen, ehe es in die Hände Wellmer’s kam, sie hätten sich diese Mühe wohl schwerlich genommen; denn es enthielt gerade das Gegentheil von dem, was im Buche steht: sie hatte an dem Manne kein gutes Haar gelassen.

Daß Karoline Bauer diesen Irrthum nicht aufklärte, ist begreiflich, wenn ich hinzufüge, daß sie sich gern an die Tage ihrer glänzenden schauspielerischen Laufbahn erinnern ließ und diesen Weihrauch zu den angenehmsten Parfüms zählte. Auch unterdrückte sie jeden Gedanken, der sie erinnerte, daß sie sich mit fremden Federn schmücke; sie konnte dem Ehrgeize nicht widerstehen, der ihr zum zweiten Male im Leben den Weg des Ruhmes zeigte.

Seit dem Erscheinen ihrer Bücher war sie in weiteren Kreisen bekannt geworden, und bedeutende Schriftsteller versäumten es nie, ihr auf der Durchreise einen Besuch abzustatten. Von den in der Nähe wohnenden bedeutenden Männern waren es namentlich Gottfried Kinkel, Ferd. Meyer[WS 1] und Gottfried Keller, welche ich oft auf Broëlsberg traf. Eine derartige Aufmerksamkeit schmeichelte ihr sichtlich, und ihr Geist konnte in dem gebrechlichen Körper, wenn eine illustre Gesellschaft sich um sie versammelt hatte, noch ebenso glänzen wie dazumal, als sie noch jung und schön war. Oft spielte sie mit einer für ihr Alter ganz guten Technik die schwersten Stücke auf dem Clavier vor, auch wohl eigene Compositionen, die von schöner Empfindung zeugten, oder sie las, wenn man sie aufforderte – man brauchte sie dazu nie dringend zu bitten – ehemalige Glanzrollen. Am liebsten aber sprach sie von Begebenheiten vergangener Zeiten, von ihren Triumphen, von ehemaligen Collegen, und mehrmals hörte ich sie Amalie Haitzinger in den liebevollsten Ausdrücken erwähnen. Selten sprach sie von ihrem Aufenthalte am englischen Hofe, wo sie der Liebling der Königin Victoria gewesen, die ihr noch immer Beweise ihrer Gunst zukommen ließ.

Eines Abends, als sie so liebenswürdig plauderte, fragte ein Herr sie ganz unbefangen, wie es ihr am belgischen Hofe ergangen er wußte nicht, daß sie die an linker Hand getraute Gemahlin König Leopold’s des Weisen war. Karoline Bauer wurde todtenbleich, starrte den Frager wie ein Gespenst an und bekam einen solchen Weinkrampf, daß sie vierzehn Tage lang das Bett hüten mußte. Der Herr hatte einen Punkt berührt, den sie stets mit der größten Delicatesse behandelte, und von dem sie selbst ihrer einzigen intimen Freundin niemals sprach. Diese Freundin ist die Wittwe des Züricher Dampfschiffdirectors Jacob Streuli. Auguste Streuli stammt aus dem alten badensischen Adelsgeschlecht Derer von Weinzierl, und ihr Vater war der in seiner Jugend vielgenannte Frankonensenior Gabriel (Maximilian) von Weinzierl.

Karoline Bauer hatte von ihrer Bühnenlaufbahn viele Eigenthümlichkeiten in’s Privatleben mitgebracht. Ihre Ungenirtheit machte sie in Zürich, wohin sie sonst selten kam, zu einer populären Persönlichkeit. So z. B. kam sie einmal in die Stadt, wo ich sie erwartete. Sie hatte einige Einkäufe zu machen und ließ, der Bequemlichkeit halber, obgleich die Straßen sehr unsauber waren, ihren Wagen stehen; sie nahm meinen Arm, hob die Kleider – ich übertreibe nicht – bis zu den Knieen auf und marschirte rüstig drauf los. Nun ist aber Zürich keine Großstadt, wo man dergleichen mehr oder weniger unbeachtet läßt; die Leute blieben stehen und blickten uns nach; es dauerte nicht lange, so hatten wir jene obligate Begleitung von Gassenjungen, wie man sie überall findet. Doch ließ sich die Frau Gräfin dadurch nicht im Geringsten aus der Fassung bringen, ja sie amüsirte sich noch höchlich, als sie meine Verlegenheit bemerkte.

„Jetzt würde ich um keinen Preis der Welt Ihren Arm lassen," sagte sie, „wir Schauspielerinnen sind ein eigenes Volk und Sie werden sich noch an Vieles gewöhnen müssen, wenn Sie mit ihnen wollen gut auskommen; trauen Sie Keiner,“ fügte Sie lachend hinzu, „mag sie auch so harmlos aussehen wie ich!“

Schön war Karoline Bauer in ihren alten Tagen allerdings nicht mehr, aber einen interessanteren und geistvolleren Frauenkopf habe ich noch nicht gesehen. Nebenbei bemerkt, ist die Titelvignette in ihren Büchern von großer Aehnlichkeit. Der Stirnnasenzug war bei der alten Frau ganz genau derselbe, wie auf dem jugendlichen Bilde.

Sie mochte wohl nicht ahnen, als sie nach mehrjähriger Kränklichkeit ernstlich erkrankte, daß ihr Ende rasch herannahe; denn sie hatte nichts geordnet und kein Testament hinterlassen. Karoline Bauer starb einsam; keinen ihrer Freunde hatte sie zu sich gelassen; ihr Hausarzt drückte ihr die Augen zu. Das Begräbniß war von höchster Einfachheit; prachtvolle Blumen waren die alleinige Zierde des Sarges, dem viele Leute folgten, denen sie im Leben nur Gutes und Liebes erwiesen.

Als ich am Tage vor dem Begräbnisse in das Zimmer trat wo, wie es hieß, die Todte „aufgebahrt“ worden, mußte ich alle Kraft zusammennehmen, um meine Fassung zu bewahren. Die todte Künstlerin lag unbewacht, gerade so wie sie gestorben war, auf dem Bette, das in seiner Unordnung nichts zu wünschen übrig ließ und blos mit einem Laken überdeckt war. Im Zimmer herrschte die größte Unordnung; Kleider und Wäsche lagen zerstreut am Fußboden umher; vergebens suchte ich nach Bedienten, die wahrscheinlich damit beschäftigt waren, ihren Raub in Sicherheit zu bringen. Eine polnische Wirthschaft!

Karoline Bauer war nicht glücklich, obgleich sie es selbst oft versicherte – über ihr Schicksal hat sie Niemand klagen gehört.

Ihr Leben liegt nun klar; denn was aus ihren Schriften nicht zu ersehen ist, ist hier mitgetheilt worden. Der einzige bis jetzt noch dunkle Punkt in ihrem Leben, die vier Jahre der morganatischen Ehe mit Leopold dem Weisen von Belgien, wird auch dereinst aufgeklärt werden – die Zeit dazu ist noch nicht gekommen. Ich bin im Besitze einer Anzahl Tagebuchblätter, die aus jener Zeit datiren; und diese geben genügenden Aufschluß und dürften dereinst von höchstem Interesse sein.

Ich glaube nicht die Pietät gegen die Todte verletzt zu haben wenn ich mich vollkommen objectiv über sie ausgesprochen und manche ihrer Fehler an’s Licht gezogen habe; ich mußte unparteiisch sein. Es wird dies ihrem Andenken nicht Schaden bringen; stets werden sich Diejenigen ihrer freundlich erinnern, die sie gekannt haben und die sie ihres Vertrauens und ihrer Freundschaft gewürdigt hat.



[445]

Die Massage.

Eine neue, aber doch uralte Heilmethode.

Wenn die Dämmerung längst eingetreten ist und nun Alles in ihren grauen Schleier eingehüllt hat, dann hört man in den Straßen der japanesischen Städte hin und wieder ein eigenthümliches, melancholisches Pfeifen. Bald ertönt es hier, bald dort; forscht man nach dem Urheber dieser sonderbaren, nächtlichen Musik, so erblickt man einen Mann in japanischer Tracht und mit geschorenem Haupte, der langsam einherschreitet und mit Hülfe eines langen Stockes vorsichtig den einzuschlagenden Weg betastet. Dann und wann führt er eine kleine Rohrpfeife zum Munde und entlockt derselben klagende, wehmüthige Töne. Der Unglückliche hat, wie so viele seiner Mitmenschen in Japan, sein Augenlicht durch die Blattern verloren, und um nicht durch Almosen sein Leben fristen zu müssen, hat er einen Beruf erwählt, den auch ein blinder Mann noch erfüllen kann; er ist „Ammasan“ geworden.

Hat der Ton seiner Pfeife einen Kunden angelockt, so läßt er sich von diesem an die Hand fassen und in dessen Wohnung geleiten, um die wohlerlernte Kunst eines Ammasans auszuüben, die im Massiren, das heißt im Kneten und Streichen leidender Körpertheile, besteht. Wünscht der Patient eine allgemeine Behandlung, so entfaltet der Ammasan die Summe seiner ganzen Geschicklichkeit; er streicht die Haut, klopft, knetet, drückt, hackt und reibt die Muskeln, und da ist kein Theil des Körpers, der sich über eine Vernachlässigung zu beklagen hätte. Alles wird mit großer Sachkenntniß gründlich verarbeitet und zwar in der mannigfaltigsten Weise. Die Kunst des blinden Mannes ist aber keine moderne; denn seit uralter Zeit gab es in Japan Lehrer, die Unterricht in der Massage ertheilten und dieselbe zu einer wirklichen Kunst heranbildeten. Das Volk aber benutzte frühzeitig das vortreffliche Heilmittel gegen Rheumatismus etc., und bis auf den heutigen Tag erfreut sich die Massage bei den Japanesen einer außerordentlichen Beliebtheit; denn nicht allein gegen die verschiedensten Krankheiten wird in Japan die Massage angewandt, sondern auch als ein Erfrischungs- und Stärkungsmittel für die Gesunden.

In Indien ist die Massirmethode mindestens zweitausend Jahre in Gebrauch; denn ein griechischer Historiker, der dort 300 v. Chr. verweilte, erzählt uns, daß zu seiner Zeit unter den Brahminen ein Orden von Aerzten bestanden habe, der sein Heilverfahren besonders auf Diät und Enthaltsamkeit, in Verbindung mi] äußeren Proceduren, gegründet habe. Wahrscheinlich waren die letzteren nichts Anderes als ein System von heilkräftigen Behandlungen; existirt doch gegenwärtig noch in den „Fluren des Ganges“ ein Brahminen-Orden, dessen vornehmste Heilmethode ein hygienisches Frottiren und Massiren (Shampooing) nach dem Bade ist.

Die in Indien ansässigen Engländer haben Verschiedenes über dieses Verfahren mitgetheilt. Der Behandelte liegt ausgestreckt auf einem Lager, während der Brahmine seine Glieder verarbeitet, als ob er einen Teig knete. Dann streicht er den Körper sanft mit der flachen Hand, parfümirt und salbt ihn und beschließt seine heilsame Handlung damit, daß er die Gelenke der Zehen, der Finger und des Genickes beugt und streckt. Nach Vollendung der ganzen Operation bemächtigt sich des Patienten ein Gefühl von Wohlbehagen und Kraft. Die indischen Damen sollen sich zu einem großen Theile täglich durch ihre Sclaven in der angegebenen Weise massiren lassen.

Aehnliche Methoden sind bei anderen Völkern des Orients im Gebrauche, beispielsweise bei den Türken. Den alten Griechen und Römern war der wohlthuende Einfluß des Massirens ebenfalls bekannt; denn sie ließen sich nach dem Bade durch ihre Sclaven reiben, kneten und salben, und der berühmte Hippokrates legte einen Werth darauf, daß der Arzt neben anderen für sein Fach wichtigen Dingen auch die Massage verstehe.

Der bekannte römische Arzt Asclepiades, der hundert Jahre vor Christo lebte, war gleichfalls ein Anhänger dieser Heilmethode, und ich könnte noch manches Andere anführen, das den Beweis liefert, wie schon in alten Zeiten dieses für die Menschen so segensreiche Verfahren ausgeübt worden ist.

Man darf wohl behaupten, daß die instinctiven Anfänge der mechanischen Behandlung von Krankheiten mit dem Auftreten der ersten Menschen auf unserem Planeten zusammenfallen; denn nichts ist natürlicher, als den Versuch anzustellen, irgend einen schmerzhaften Theil des Körpers durch Streichen, Reiben etc. zu beruhigen. Es blieb jedoch unserem Jahrhundert vorbehalten, diesem Heilverfahren eine wissenschaftliche Grundlage zu verleihen und ihm eine allseitige Beachtung in der gelehrten Welt zu verschaffen.

Der Schwede Pehr Henrik Ling war es, der mit der Aufstellung eines gymnastischen Systems auf rein anatomisch-physiologischen Grundsätzen auch die passiven Bewegungen einführte und den letzteren, deren hervorragender Theil die Massage bildet, eine wissenschaftliche Basis verlieh. Dies geschah im zweiten Decennium dieses Jahrhunderts, und die Schüler Ling’s haben die Massirmethode im ausgedehntesten Maße verwendet und sie auf rationelle Weise ausgebildet. Unter denselben ist besonders Herr Professor Branting in Stockholm rühmlichst hervorzuheben. Seit langer Zeit werden in Schweden sämmtliche Arten dieser passiven Bewegungen, wie Streichen, Klatschen, Klopfen, Kneten, Reiben, Hacken, Punktiren etc. mit großem Erfolge angewandt, aber trotzdem wurde das Heilverfahren außerhalb des genannten Landes in den anderen abendländischen Staaten nicht populär.

Neuerdings hat nun ein Holländer, Namens Metzger, der mit Hülfe der Massage glänzende Erfolge erzielte, sowohl die Aufmerksamkeit der Gelehrten, wie auch diejenige des großen Publicums auf sich gezogen, und Viele pilgerten nach Amsterdam, theils um dort Heilung zu suchen, theils um das Verfahren Metzger’s kennen zu lernen. Dieses letztere bringt nun hauptsächlich vier Arten von Manipulationen in Anwendung:

1) Effleurage: sanftes und langsames Streichen mit der flachen Hand.

2) Massage à friction: kräftiges Streichen und kreisförmiges Reiben abwechselnd, entweder mit einer Hand oder mit beiden Händen.

3) Pétrissage: Kneten.

4) Tapotement: Klopfen, Pochen und Schlagen, mit der flachen Hand oder deren Kante und mit der geschlossenen Hand. Auch wird zu diesem Zwecke unter Umständen ein Percussionshammer verwendet.

Die Knetung wird je nach den Verhältnissen zwei- bis viermal täglich zur Anwendung gebracht, und zwar gewöhnlich sechs bis acht Minuten. Das ist die sogenannte forcirte Curmethode, und es ist eins der hervorragendsten Verdienste Metzger’s, dieselbe eingeführt zu haben.

Außer der Massage werden als Hülfsmanipulationen noch andere passive Bewegungen mit den Patienten vorgenommen, wie die letzteren auch active gymnastische Uebungen ausführen müssen. Uebrigens kommen noch häufig Gypsverbände, Bäder nebst Anderem zur Verwendung.

Wir sehen also, daß die Massage nicht ohne Hülfsmittel betrieben wird und daß selbst Metzger, als bedeutender Specialist in diesem Fache, die activen Bewegungen als wesentliche Unterstützung der Cur ansehen dürfte, wenngleich er von diesem Theile der Heilgymnastik nur einen beschränkten Gebrauch macht. Ling legte dagegen einen sehr hohen Werth darauf, den gesammten Organismus durch sinnreich erdachte Uebungen zu kräftigen, und er wandte die Massage, wenn es irgend thunlich war, in Verbindung mit den verschiedenartigsten Körperbewegungen an. So hat er z. B. die höchst originellen Widerstandsbewegungen eingeführt, bei welchen der Gymnast dem Patienten einen gewissen, dem vorhandenen Kraftmaße anzupassenden Widerstand zu leisten hat.

Massage und active Bewegungen stehen übrigens in so naher Beziehung zu einander, und die letzteren gewähren der ersteren einen so außerordentlichen Beistand, daß selbst die Völker des Alterthums diesem wichtigen Umstande Beachtung schenkten und meist beiden die richtige Würdigung zu Theil werden ließen.

Es darf daher nicht Wunder nehmen, daß die gymnastischen Uebungen zum Zwecke der Kräftigung und Heilung des Körpers ebenfalls eine uralte Heilmethode bilden; es sollen z. B. die Chinesen schon 2698 v. Chr. ein besonderes System von Körperbewegungen in gedachter Hinsicht zur Anwendung gebracht haben, und Pater Amiot, ein französischer Missionär, hat uns über die Heilgymnastik der Chinesen, welche den Namen „Kong-Fou“ [446] führt, einen sehr ausführlichen Bericht geliefert. Wir erfahren aus demselben, daß dabei nicht nur auf die verschiedenen Stellungen des Körpers und ihren Wechsel, sondern auch auf die richtige Ausführung der Respiration während dieser Uebungen und Stellungen geachtet würde. Aehnliches finden wir bei anderen Völkern des Alterthums.

Durch die großen Fortschritte des gegenwärtigen ärztlichen Wissens ist die Massage, verbunden mit Gymnastik, aus dem Schutt der Jahrhunderte hervorgegangen, wie der Phönix aus der Asche, und die bedeutendsten Vertreter der Wissenschaft empfehlen jetzt ihre Anwendung gegen die verschiedenartigsten Krankheiten.

In der Anstalt von Metzger in Amsterdam wurden unter Anderem die folgenden Leiden behandelt: Chronischer Rheumatismus, Podagra, Muskelatrophie (eine eigenthümliche Form des Muskelschwunds), Muskellähmungen, Entzündungen der Gelenke, Schleimbeutel und Weichtheile, Nervenleiden verschiedener Art, Hüftweh, Gliedschwamm (am häufigsten am Knie- und Hüftgelenk vorkommend) und Frauenkrankheiten. In Bezug auf die letzteren theilte der schwedische Arzt Nordström aus Stockholm, der jetzt in Paris wohnt, eine große Anzahl von Erfolgen mit, die er vermittelst der Massage bei diesen erzielt hatte. Die wissenschaftliche schwedische Heilgymnastik, verbunden mit Massage, hat sich nach Aussage der Aerzte als vorzügliches Mittel bei chronischen Unterleibsleiden bewährt. Außerdem ist die Anwendung der Gymnastik bei Störungen der Blutcirculation, allgemeiner Nervenschwäche, Schwerathmigkeit, Muskelschwäche etc. empfohlen worden.

Es ist selbstverständlich, daß das vorstehende Verzeichniß der durch die Massirmethode zu heilenden Krankheiten keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann; dasselbe fand hier nur deshalb einen Platz, um damit einen oberflächlichen Einblick zu eröffnen in die ausgedehnte Anwendung, welche das genannte Heilverfahren augenblicklich findet; man muß aber alle Patienten dringend davor warnen, ohne ärztlichen Rath bei Charlatanen, welche Massage ausüben, eine Cur zu versuchen. Dagegen möge hier die Bemerkung noch angereiht werden, daß sich in Deutschland auch Gelegenheit findet, eine derartige Cur durchzumachen. In erster Linie ist hier Professor Esmarch in Kiel zu nennen, der dieses Verfahren in seiner Klinik eingeführt hat. Dann befinden sich noch besondere Anstalten für Massage in Verbindung mit wissenschaftlicher Heilgymnastik in Bremen (Professor Nikander), in Gotha (Augustinsen), in Hamburg (G. A. Unman, früher Docent am königlichen Centralinstitut in Stockholm), in Stuttgart (Dr. med. Roth) etc. Dem Vernehmen nach soll auch in Berlin neuerdings ein Institut für Massage zur Behandlung von Frauenkrankheiten errichtet worden sein.

Aber nicht nur für die Kranken, auch für die Gesunden ist diese Art von Gymnastik unter Umständen ungemein heilsam.

Vor nicht gar langer Zeit hatte ich Gelegenheit eine nach schwedischem Muster eingerichtete Anstalt zu besuchen und war überrascht, dort auch Gesunde anzutreffen, die mit großem Eifer ihre gymnastischen Uebungen ausführten. Als ich einem Manne mit frischer Gesichtsfarbe, kräftigem Körperbau und lebhaftem Wesen mein Erstaunen darüber ausdrückte, ihn in einer Heilanstalt anzutreffen, erzählte er mir, daß er seine kaufmännische Carrière in den Urwäldern Amerikas begonnen habe, und zwar zeitweise unter großer Muskelanstrengung. Er sei selbst genöthigt gewesen, oftmals Holz zu fällen. Später wäre er nach Europa zurückgekehrt, und das unnatürliche Stillleben auf dem Comptoirbocke habe sich für seinen an Arbeit gewöhnten Körper nicht als zuträglich erwiesen. Hierdurch sei er veranlaßt worden, ohne gerade krank gewesen zu sein, das gestörte Gleichgewicht zwischen Geistes- und Muskelarbeit durch tägliche gymnastische Uebungen wieder herzustellen. Der Mann war ganz entzückt über die Wirkung, die er hierdurch erzielt hatte, und konnte nicht genug betonen, wie wichtig es für die Menschen unserer Culturepoche sei, in der Geist und Nerven in übermäßiger Weise angestrengt würden, geregelte Leibesübungen zur Kräftigung der Gesundheit auszuführen. Ich konnte nicht das Gegentheil behaupten; denn es lag eine überzeugende Wahrheit in seinem Ausspruche.

Warum, kann man mit Recht fragen, wird denn von der so sehr beachtenswerthen Einrichtung solcher Institute und überhaupt von der Heilgymnastik im Großen und Ganzen ein so geringer Gebrauch gemacht, zumal die bezüglichen Bewegungen so äußerst einfach und ohne besondere Geschicklichkeit auszuführen sind? Wie viele Tausende von Menschen sind nicht dazu verdammt, tagein tagaus in ihren dumpfen Arbeitszimmern geistig geplagt und körperlich erschlafft in sitzender Stellung zuzubringen! Wie Viele sind nicht unter ihnen, bei denen die Keime eines schlummernden Leidens durch die jedenfalls nicht naturgemäße Beschäftigung ganz allmählich sich zu einem chronischen Uebel entfalten! Würden nicht Manche sich frisch und gesund erhalten können durch zweckmäßige, tägliche Leibesübungen?

Man denke an die oben bezeichnete altherkömmliche Thätigkeit des Ammasans der Japanesen, an das dort ebenfalls angeführte „Shampooing“ der alten Indier, an das nicht unerwähnt gebliebene steinalte System des Kong-Fou bei den Chinesen, an die vielbenutzte, zweckdienliche Gymnastik der alten Griechen und Römer – und man muß zugestehen, daß die Völker des Alterthums, lediglich ihrer Erfahrung folgend, in dieser Beziehung mehr zur Erhaltung der Gesundheit gethan haben, als wir.

Aber zur Heilgymnastik und zu anderen Arten von gesunder Bewegung hat man heutzutage leider wenig Zeit – so lange wenigstens, bis der Körper sich eines schlimmen Tages durch irgend ein störendes Leiden in Erinnerung bringt und dringend um Befreiung von seinen Schmerzen ersucht.

Dann fällt dem Kranken plötzlich ein, daß er einmal etwas über eine neue, aber doch uralte Heilmethode gelesen habe, die sich vielleicht für die Beseitigung seines lästigen Uebels eignen dürfte – über die Massage.

Dr. Julius Erdmann.




George Stephenson, der Vater des Eisenbahnwesens.

Erinnerungen an die Tage des Festes zu Newcastle.

„Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei.“
 Goethe.

Unter niedrigen Dächern in der körper- und geistvernichtenden Atmosphäre des Mangels und Elends, fern von den Quellen des Wahren und Schönen werden oft Diejenigen geboren, die in den Annalen der Geschichte als die Erlöser, Wohlthäter und Richter des Menschengeschlechtes verzeichnet stehen. Und ihre Zahl würde noch größer sein, wenn so Manchem, der mit voller Entfaltung seiner Kräfte nach einem schönen Ideal ringt, der schwere Kampf um das Dasein, um die kärgliche Muße erspart bliebe, wenn so manchem ermüdeten Schwimmer eine Hand gereicht würde, ehe ihn die Fluthen des Lebens überwältigen und niederziehen. Erhebend ist das Schauspiel eines Menschenlebens, das, in den Tiefen der Gesellschaft aufleuchtend, auf ihren Höhen verlöscht, nachdem es nicht nur flammendes Licht über die Mitwelt ausgestrahlt, sondern auch durch die makellose Kraft eines männlichen Charakters eine wohlthätige Wärme in die Gemüther gegossen hat.

Das Alles gilt in vollstem Maße von George Stephenson (vergl. „Gartenlaube“ 1863, Nr. 27), der am 9. Juni 1781 zu Wylam in Northumberland als der Sohn eines armen Maschinenheizers geboren wurde. Er ist ein Mann, dessen Lebensgeschichte mehr als die manches Helden und Staatsmannes von der Jugend gekannt zu werden verdient; denn abgesehen davon, daß der Charakter Stephenson’s in seiner makellosen Reinheit jedes unverdorbene Gemüth anzieht, steht er uns Modernen in vieler Beziehung näher, als die Helden des Schlachtfeldes und der Diplomatie; sind seine Tugenden doch Tugenden für das tägliche Leben; denn täglich brauchen wir sie: sowohl in der Stunde der Ermattung, wie in derjenigen der Versuchung und Ungerechtigkeit gegen uns selbst und unsere Nächsten.

An Stephenson’s Vaterhause führte ein Schienenstrang vorüber, auf dem die Arbeiter die Kohlen aus der Grube förderten. Dies [447] machte einen so tiefen Eindruck auf die Phantasie des Knaben, daß es ihn trieb, die Wagen und den Bahnkörper nachzubilden. Er wuchs ohne jeden Unterricht auf und hütete die Kühe einer Wittwe in seinem Orte. Aelter geworden, wurde er unter seinem Vater Heizergehülfe, schwang sich aber bald zum Maschinisten empor, und in dieser Stellung drängte sich ihm der Nutzen einer gründlichen Schulbildung auf; er besuchte deshalb eine Abendschule, in welcher er trotz der vorangegangenen täglichen ermüdenden Thätigkeit mit erstaunlicher Schnelligkeit zeichnen, schreiben und lesen lernte. Um seinen Verdienst zu erhöhen, besserte er Schuhe, Stiefel und Uhren aus. Er hielt sich nun für einen gemachten Mann und heirathete ein Dienstmädchen, Namens Franzis Henderson, nachdem er vorher seinen Nebenbuhler, einen gefürchteten Raufbold, angesichts des ganzen Dorfes in einem Zweikampfe niedergeboxt hatte. Noch zehn Jahre mußte sich der treffliche Mann ohne nennenswerthen Erfolg durch’s Leben schlagen und hatte den Schmerz, sein gutes Weib schon nach zwei Jahren einer glücklichen Ehe sterben zu sehen. Von Schottland zurückgekehrt, wo er Arbeit gefunden hatte, fand Stephenson seinen Vater erblindet und die ganze Familie in der tiefsten Armuth. Er bezahlte die Schulden seines Vaters, wodurch seine Ersparnisse bedeutend zusammenschmolzen, und nahm seine Angehörigen mit sich nach Killingworth, wo er als Maschinist angestellt wurde. Als er nach Verlauf einiger Jahre wieder in den Besitz einer kleinen Summe gelangt war, wurde er zur Miliz eingezogen. Stephenson mußte froh sein, daß er mit dem ersparten Gelde einen Ersatzmann finden konnte. Zuweilen war er so niedergeschlagen, daß er daran dachte, sein Vaterland zu verlassen, aber er legte seine Hände nicht in den Schooß. Kein Unglück beugte ihn nieder. Mit praktischem Sinne suchte er sich neue Einnahmen zu verschaffen, und so entdeckte der Dreißigjährige zu all seinen Nebenverdiensten noch eine neue Einnahmequelle: er wurde Zuschneider für die Grubenleute. In jeder freien Stunde studirte er Mechanik und wurde allmählich durch verschiedene bedeutende Arbeiten als tüchtiger Ingenieur bekannt.

Wie so viele Köpfe der damaligen Zeit beschäftigte auch ihn das Problem einer leistungsfähigen Locomotive. Schon im Jahre 1784, also wenige Jahre nach Stephenson's Geburt, hatte Marbach eine Locomotive hergestellt. Im Anfange dieses Jahrhunderts erfand Trevethick eine Maschine, mit der er auf der Landstraße von Cornwallis nach London fuhr, und auf dem ganzen Wege mit abergläubischer Furcht vom Landvolke betrachtet wurde, das Seine höllische Majestät in Person zu sehen glaubte. Der Gedanke, den Reibungswiderstand durch Einführung von Geleisen zu vermindern, war ebenfalls nicht neu; denn schon seit dem siebenzehnten Jahrhundert waren in den Bergwerksdistricten hölzerne Geleise im Gebrauche. Aber Niemand hatte bis dahin eine Maschine erfunden, welche große Zugkraft mit bedeutender Schnelligkeit verband und billiger als alle anderen Transportmittel beförderte. Auch schwankten die Erfinder noch zwischen dem Plane, die Maschine auf einem Geleise oder auf einer Landstraße sich bewegen zu lassen, und die Wenigsten ahnten die großen und vollständig neuen Schwierigkeiten, welche der Bau dieses Eisenbahnkörpers mit sich brachte. Es sollte Stephenson’s Verdienst werden, eine allen Anforderungen genügende Maschine zu erfinden, endgültig den Zusammenhang zwischen Locomotive und Geleise zu bestimmen und den Bau von Eisenbahnen in genialer Weise zu beginnen.

Schon im Jahre 1815 baute er eine sehr unvollkommene Locomotive für ein Kohlenwerk, aber es gelang ihm erst, seinen Ideen den vollsten Ausdruck zu verleihen, nachdem er in Newcastle eine Maschinenfabrik gegründet hatte. Eine Belohnung von 1000 Pfund (über 20,000 Mark), welche ihm die „Newcastle Literary and Philosophical Society" für die Erfindung der Sicherheitslampe überreichte, hatte ihm die Mittel zur Begründung seines Unternehmens gewährt. Im Jahre 1822 baute er für eine Grube eine Locomotive, welche vier englische Meilen (sechseinhalb Kilometer) in der Stunde zurücklegen konnte. Um diese Zeit machte er die Bekanntschaft eines Herrn Pease, welcher eine Pferdebahnlinie von Stockton nach Darlington projectirte. Stephenson bewog ihn, den Dampf als bewegende Kraft zu benutzen. Die Eisenbahnlinie wurde am 27. September 1825 eröffnet. Mit mehreren Hundert Passagieren und an 100,000 Kilogramm beladen, legte die Maschine in der Stunde zwischen vier bis sechs englische Meilen zurück, und ihre Schnelligkeit konnte bis auf zwölf Meilen gesteigert werden. Dieser Erfolg war von großer Bedeutung. Die Leichtigkeit des Waarentransportes, der sich in jedem Jahre steigerte, die Thatsache, daß auch der Personenverkehr, der zuerst als etwas Nebensächliches betrachtet wurde, sich immer mehr hob (die „Railway-Coach" wurde im Anfange von einem Pferde getrieben), machten das Unternehmen des kühnen Ingenieurs berühmt. Mit Neid und Bewunderung sahen die nur durch einen Canal verbundenen Städte Manchester und Liverpool, deren Baumwollengeschäft und Baumwollenmanufactur sich seit der Erfindung von Maschinen in kolossalem Maße gesteigert hatte, auf die Stockton-Darlington-Linie. Der Canal konnte der Zufuhr der Rohmaterialien und der Abfuhr der fertigen Stoffe nicht genügen, und war er gefroren, so lagen die Maschinen still, worunter besonders die Arbeiter litten.

Hervorragende Männer beider Städte faßten deshalb den Entschluß, die Städte durch eine Eisenbahn zu verbinden und Stephenson den Bau der Linie anzuvertrauen. Aber zwischen der Anregung und der Ausführung des Planes vergingen beinahe zehn Jahre. Die Landbesitzer, die Pächter, die Bauern, ein großer Theil der Städter, die Fuhrwerksbesitzer, kurz die Majorität der besitzenden Classen agitirten gegen das Unternehmen, welches ihnen höchst verderblich und revolutionär erschien. Die Gelehrten brandmarkten Stephenson's Gedanken als phantastisch, chimärisch, utopisch, und das Parlament behandelte Stephenson mit spöttischer Geringschätzung. Aber Stephenson verlor den Muth nicht, weder dem Parlamente, noch den Angriffen der Gelehrten und den wüthenden Anklagen der besitzenden Classen gegenüber. Als endlich die Schienen unter tausend Schwierigkeiten gelegt waren, hatte er noch seinen härtesten Kampf zu bestehen; denn nun mußte eine Entscheidung über die bewegende Kraft getroffen werden.

Alle Personen von Bedeutung waren gegen die Locomotive eingenommen, und nur durch die Ausdauer, welche er in einem mehr als vierzigjährigen Leben im unermüdlichen Kampfe mit Schwierigkeiten aller Art erlernt hatte, gelang es Stephenson, die leitenden Männer zum Ausschreiben eines Preises von 500 Pfund für eine Locomotive zu bewegen, die unter andern Bedingungen auch der genügte, daß sie zehn Meilen in einer Stunde zurücklegte. Stephenson baute in seiner Maschinenfabrik den „Rocket", welcher am 6. October 1829 und an den folgenden Tagen alle übrigen Maschinen besiegte. Er hatte seine Maschine zu einer solchen Vollkommenheit gebracht, daß sie 29 englische Meilen (etwa 47 Kilometer) in der Stunde zurücklegen konnte. Nun hatte Stephenson sein Ziel erreicht; das Eisenbahnzeitalter begann. Der Bau einer Linie nach der anderen wurde ihm übertrugen, und nachdem sich im Jahre 1840 der nun fast sechszigjährige Greis von all seinen ausgedehnten Unternehmungen zurückgezogen hatte, verlebte er noch acht Jahre schöner Muße auf seinem Landsitze Tapton House bei Chesterfield.

Wir haben schon erwähnt, daß Stephenson's Verdienste nicht in der Erfassung eines vollständig neuen Gedankens liegen, sondern in der genialen Lösung eines lange gestellten Problems. Insoweit läßt sich auf ihn das Wort Goethe's anwenden:

„Sind nun die Elemente nicht
Aus dem Complex zu trennen,
Was ist denn an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?"

Bewundernswerther als das Geschick des Technikers sind seine geduldige Ruhe, seine unverwüstliche Ausdauer und Beharrlichkeit, ohne welche wahrscheinlich alle seine Talente niemals zu voller Entfaltung gelangt wären.

Ihn begleiteten in allen Lagen seines Lebens eine herrliche Bescheidenheit und eine große Selbstentsagung; er hat sich nicht verbittern lassen, obwohl England ihm, einem seiner besten Söhne, nicht die geringe Anerkennung hat zu Theil werden lassen. Das ist in damaliger Zeit leicht erklärlich; denn Stephenson war kein Mann von Geburt, „a man of no birth“ (wie der classische Ausdruck heißt), und er hatte in keinem fashionablen Colleg Cricket gespielt. So haben die unteren Schichten für alle Zeiten den Ruhm, ihn ganz zu besitzen. Angesichts dieser Thatsachen nimmt es sich wahrhaft komisch aus, daß ein englisches Blatt bei Gelegenheit der Eröffnung der ersten elektrischen Eisenbahn mit sittenrichterlicher Strenge und mit ebenso viel Unwissenheit wie Hochmuth sagte: die Deutschen wüßten den Werth der neuen Erfindung gar nicht zu würdigen.

Erst nach seinem Tode hat England dem großen Manne Denkmäler errichtet, und jüngst suchte es seine Schuld dadurch abzutragen, daß es den hundertjährigen Geburtstag Stephenson’s

[448]

Der Nachlaß eines Junggesellen.0 Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von A. Lüben.

[449] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [450] an mehreren Stellen festlich begangen hat. An diesem Tage, dem 6. Juni dieses Jahres, fanden im Krystallpalast und in Chesterfield festliche Ovationen zu Ehren Stephenson’s statt; die bedeutendste Feier aber wurde in dem nur acht Meilen von Wylam entfernten Newcastle, der Hauptstadt von Northumberland abgehalten, wo noch jetzt Stephenson’s Maschinenfabrik fortblüht. Aus allen Theilen Northumberlands, Durhams, Cumberlands, Yorkshires und Südschottlands strömten vom frühen Morgen an zu Fuß und zu Pferde, mit Dampfboot und Eisenbahn ungezählte Schaaren, meistens Arbeiter, in die mit Masten und Kränzen reich geschmückte Stadt. Die meisten Gruben und Fabriken hatten die Arbeit eingestellt, und Stephenson’s Denkmal war mit Pflanzen und Blumen umgeben. Während sich ein fast drei Meilen langer Zug von Pferden und Wagen durch die Straßen bewegte, wurde eine Versammlung in Bathlane abgehalten, in welcher beschlossen wurde, das Andenken Stephenson’s auf eine würdige, in die Zukunft wirkende Weise zu ehren. Es wurde nicht an die Errichtung eines Denkmals, etwa in Wylam, gedacht. Man erkannte richtig, daß es wirksamere Mittel giebt, um der Bedeutung dieses großen Mannes in dankbarer Gesinnung gerecht zu werden. In einer schwungvollen Rede, die den lebhaften Beifall der Versammlung fand, zeichnete der Vorsitzende Herr Cowen ein Bild Stephenson’s und schlug vor, eine Reihe von Stipendien für bedürftige und tüchtige junge Männer zu gründen, welche sich dem Studium der Mechanik widmen wollten, was allseitig genehmigt wurde.

Tausende von Menschen umdrängten um diese Zeit den Centralbahnhof, in dessen Rangirgeleisen eine Reihe von Locomotiven aufgestellt war, die vor fünfzig Jahren, in der Kindheit des Eisenbahnwesens, benutzt worden waren. Kurz nach acht Uhr verließ ein eigenartiger Zug die Station. Er bestand aus sechszehn mit einander verbundenen Locomotiven neuester Construction die von den großen Eisenbahngesellschaften gewissermaßen als Vorsteher des modernen Eisenbahnwesens nach Newcastle geschickt worden waren. Um neun Uhr brachte ein Zug den Bürgermeister und die städtischen Behörden von Newcastle, sowie Ingenieure vermiedener Linien, mehrere Parlamentsmitglieder und fremde Gäste nach Wylam. Hier stiegen die Herren aus und gingen zu Fuß nach dem wohlerhaltenen Häuschen, in welchem Stephenson's Wiege stand. Es ist eine echt englische einstöckige Cottage mit einem breiten Fenster zu beiden Seiten der Hausthür und zwei kräftigen Schornsteinen an den Enden der Dachfirste. Der Bürgermeister pflanzte einige Schritte vom Hause entfernt einen Eichenschößling in den Grund und sagte, er hoffe, daß, wenn das zweihundertjährige Geburtsfest des großen Todten gefeiert werde, das Volk unter dem zu einem weitschattenden Eichenbaume emporgewachsenen Schößling sich der Gefühle der Dankbarkeit und Verwunderung der anwesenden Festversammlung erinnern werde. Wir erlauben uns zu der Rede hinzuzufügen: daß nach hundert Jahren das Volk noch von den nämlichen Gefühlen beseelt sein wird, ist möglich, aber es bleibt doch ein seltsamer Zufall, daß wenige Wochen vor dem 6. Juni 1881 die erste elektrische Eisenbahn eröffnet wurde; hierin liegt vielleicht der Keim zu einer bedeutsamen Concurrenz des Stephenson’schen Werkes, und hundert Jahre sind für die Entwickelung menschlicher Erfindungen eine lange, oft welterschütternde Spanne Zeit. Wird nach hundert Jahren Stephenson der Mann des Tages sein, wie heute? Wer weiß es?

Als die Gesellschaft von Wylam nach Newcastle zurückkehrte, formten sich ungeheure Massen - man schätzt sie auf 50 bis 60,000 Menschen welche sich auf zwei Wegen nach dem „Town-Moor", einer weiten Wiese vor der Stadt, bewegten. Hier waren drei Gerüste errichtet. Um jedes drängte sich eine zahlreiche Menge, je nachdem sie „Brutus oder Mark Anton hören“ wollte; denn von jeder wurden Stephenson’s Leben und seine Verdienste in langer Rede gewürdigt. Nach der Rückkehr der Menge in die Stadt füllten sich die Räume der „Literary and Philosophical Society“ stärker. Hier war eine fast vollständige Sammlung der meisten das Eisenbahnwesen betreibenden Modelle in ihrer historischen Aneinanderfolge seit dem ersten Versuche Murdoch’s bis zur Gegenwart aufgestellt. Am Abend zogen viele Festheilnehmer noch einmal zur Stadt heraus, diesmal nach „Leaze’s Park", welcher an „The Town Moor" angrenzt und ehemals einen Theil desselben bildete. Ein großes Feuerwerk und ein öffentliches Concert nahmen Augen und Ohr gefangen, und während die Menge sich den Genüssen des Schauens und Hörens hingab, versammelten sich etwa 300 Heeren in den „Assembly Rooms“ zu einem Festessen, bei dem noch einmal der angelsächsischen Freude an langen Reden Genüge gethan wurde.

Man kann bei solchen Gelegenheiten manchmal nicht die Ueberzeugung unterdrücken, daß der Festjubel, subjective Begeisterung, sentimentale Weichheit und der gute Wein die Wahrheit fälschen. Hier aber mußte man gestehen, daß kaum einer der Redner die Wirkung von Stephenson’s Werk zu groß darstellte oder darstellen konnte. Die großartige Culturbewegung, zu welcher der Wylamer Kohlenarbeiter den mächtigen Anstoß gegeben hat, ist ja noch im stetigen Wachsen begriffen; noch ist der Eroberungszug des Dampfrosses nicht vollbracht. Weite Ländermassen soll es noch der Cultur unterthänig machen, und es schickt sich soeben an, über die sibirischen Einöden in das volkreiche Herz Asiens und über den glühenden Sand der Sahara in das buntbevölkerte Innere Afrikas einzudringen. Erst wenn die eisernen Schienenstränge mit unzerreißbaren Banden die gesammte Menschheit zu hohen Culturzwecken vereinigt haben, erst dann wird man die volle Tragweite der Erfindung des Helden von Northumberland völlig würdigen, und trotz aller Erfindungen unserer Tage wird wohl noch lange Zeit hindurch das schnell dahinbrausende Dampfroß auf den hohen Rücken der Berge, auf den weiten Steppen der Ebene und in den unterirdischen Gängen einer staunenden Menschheit den Ruhm und die Größe Stephenson’s verkünden.




Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf von Gottschall.
XXVI.


Wenn in Ihr Schloß am Meere, verehrte Freundin, das Echo der literarischen und buchhändlerischen Ereignisse dringt, so werden Sie wohl bereits erfahren haben, daß der letzte Band von Gustav Freytag’s „Ahnen" erschienen ist und wir damit von Ingo und Ingraban die Ahnentafel einer Familie bis zu den Zeitgenossen hinab verfolgt haben. Ich könnte die Gewissensfrage an Sie richten, ob Sie sämmtliche „Ahnen“ kennen gelernt haben, und wenn Sie bei diesem Examen schlecht beständen, so würde es um Ihr Renommée in vielen gesellschaftlichen Salons gethan sein, doch auf Ihrem einsamen Schlosse am baltischen Gestade kümmern Sie sich nicht um den Zwang und das Gesetz der Mode, und wenn Sie auch den Ivo und den Markus König oder irgend einen andern König überschlagen haben sollten: Sie können es vor Ihrem eigenen Gewissen, vor Ihren Freunden und auch vor mir verantworten.

Das aber werden Sie nicht wissen, daß der buchhändlerische Erfolg dieser „Ahnen" einer der seltensten ist, von denen die Annalen des Buchhandels in neuerer Zeit berichten; denn Sie interessiren sich nicht für das, was sich die Leipziger Ostermesse erzählt und was dort am Cantatesonntag neben den Klängen der Musiktribüne und den fünfmalhunderttausend Teufeln der Champagnerflaschen durch die Lüfte schwirrt: in der Plauderei des deutschen Buchhandels spielen die „Ahnen" eine große Rolle, die ihnen nicht einmal von den ägyptischen Prinzessinnen von Ebers streitig gemacht wird. Sie kennen das französische Wort: Rien ne réussit que le succès; dieses Wort ist längst in's Deutsche übersetzt worden und hat sich in der Politik, wie in der Literatur bewährt. Vor dem seltenen Erfolge der „Ahnen" hat ein Theil der Kritik, der früher eine etwas polemische Stellung gegen dieselbe einnahm, die Waffen gestreckt; witzige Recensenten, welche den Freytag'schen Ahnensaal mit sehr modernem Esprit glossirten, haben sich in Genealogen verwandelt, welche darüber lange Abhandlungen mit erläuternden Tabellen schreiben. Immerhin ist es erfreulich, daß dieser Erfolg einem Dichter von Talent zu Theil wird, [451] während im letzten Jahrhundert die Vulpius und nicht die Goethe buchhändlerische Triumphe feierten und auch noch vor wenigen Jahrzehnten die Colportageromane von Retcliffe eine wohl selbst von den „Ahnen“ nicht erreichte Höhe des Absatzes fanden.

Was mein eigenes Urtheil über „Die Ahnen" betrifft, verehrte Freundin, so halte ich das Werk nach wie vor für eine Reihe fein und geschmackvoll ausgeführter Culturbilder. Bei seinen salto mortalis über die Jahrhunderte hinweg kann man ihm den Titel „Roman", den es in Anspruch nimmt, nicht zugestehen; die Verknüpfung der einzelnen Erzählungen wird doch nur durch den lockeren Faden der Familienherkunft bewirkt und außerdem durch die unleugbare Familienähnlichkeit der jugendlichen Helden illustriert. Es sind Hauptepochen. deutscher Entwickelungsgeschichte, in welchen der Autor diese Helden eine Rolle spielen läßt: so in den vier letzten Bänden das Reformationszeitalter, die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die Zopfzeit, unser Jahrhundert bis zur Märzrevolution.

Gustav Freytag ist ein vorzüglicher Genremaler: über den Bereich des Genrebildes gehen alle diese Erzählungen nicht hinaus. Sie werden mich auf die Schlömp'sche Freytag-Gallerie verweisen, auf diese Bilder, in denen ausgezeichnete Künstler in großem Stil auch „Die Ahnen“ illustrirt haben. Gewiß, Ingo und ähnliche Gestalten zeigen hier den Wurf der geschichtlichen Freske, und die geschilderten Ereignisse selbst widersprechen ja solcher Auffassung nicht, doch erst bei der Uebertragung in das Gebiet der malenden Kunst kommt sie zur Geltung, nicht in der Darstellung des Dichters selbst: diese ist durchaus genrebildlich, und nur ganz ausnahmsweise erhebt sie sich mit größerem Zuge und Schwunge über dieses Niveau.

So ist's auch mit den geschichtlichen Persönlichkeiten von Bedeutung, welche in den Rahmen des Cultur- und Genrebildes eintreten; sie müssen den historischen Cothurn draußen lassen. Mit der meisten Vorliebe ist im Grunde der deutsche König Heinrich der Zweite im „Rest der Zaunkönige" geschildert; schon der Hohenstaufenkaiser Friedrich der Zweite tritt nur anfangs als Freigeist der Kirche gegenüber bedeutsam hervor; später verschwindet sein Bild in einem Gewirre culturgeschichtlicher Arabesken In „Markus König" erscheint Luther am Schluß, ohne jede geschichtliche Bedeutung, als Genrebild, aber nicht entfernt von der Lebensfrische des Goethe’schen Bruders Martin: im Grunde als ein langweiliger Nachmittagsprediger. Hier blieb die Erzählung weit hinter dem Essay zurück: denn wie frisch und bedeutend hat Freytag den Luther in seinen culturhistorischen Bildern geschildert! In der Erzählung „Der Freicorporal bei Markgraf Albrecht“ treten sowohl der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm der Erste wie auch der große Friedrich auf, doch nur als episodische Figuren, der letztere in einem bengalisch beleuchteten Schlachttableau am Schluß, und in der letzten Erzählung „Aus einer kleinen Stadt“ fährt Napoleon in einem Schlitten vorüber und der große Kaiser erscheint als der Held einer ganz kleinen Anekdote.

Selbst der Romandichter, geehrte Freundin, darf namhafte geschichtliche Persönlichkeiten nicht in den Mittelpunkt seiner Dichtung stellen, noch weniger der Novellist, und hierzu hat Freytag seinen Tact bewiesen. Nur fehlt ihm die Gabe, mit wenigen Zügen einem Charakter geschichtliche Größe und Bedeutung zu geben; er skizzirt als Genremaler. Hierzu kommt, daß er die Handlung mit Vorliebe in den verlorensten Winkeln der Weltgeschichte spielen läßt; so erläutern uns Begebenheiten und Zustände in Thorn an der Weichsel das Reformationszeitalter, und das vorletzte Jahr des erlöschenden Dreißigjährigen Krieges, das an großen Männern und Ereignissen gleich arm war, soll uns ein Bild dieser Epoche geben.

Die Kupferstichmanier der Freytag’schen Darstellung läßt an Feinheit und Sauberkeit nichts zu wünschen übrig, aber bisweilen wird uns doch dabei kühl bis an’s Herz heran, und die vornehme Kühle geht hier und dort in ertödtende Nüchternheit über. Wenn Freytag’s Muse schalkhaft lächelt, hat sie einen gewinnenden Reiz; einige Blüthen köstlicher Naivetät finden sich zerstreut in diesen Erzählungen, und hier und dort schlägt auch die echte Poesie ihr sanftes Auge auf.

Den Preis unter den einzelnen Erzählungen verdient wohl „Das Rest der Zaunkönige"; die Liebesscenen zwischen Imo und Hildegard sind von besonderer Anmuth: sowohl die Scene in der Halle des Grafen Gerhard, wo die beiden Liebenden ihre lateinischen Studien im Dienste Amor’s verwerthen, wie auch diejenige unter der Sommerlinde auf der Idisburg und die dritte Begegnung der Liebenden im Getümmel des Kampfes. Einzelne Stellen, wie der Streit Imo’s mit seinen Brüdern, haben einen Aufschwung, der sich sonst in dem Cyclus dieser Erzählungen selten wiederfindet. „Ingo“ hat eine gewisse altertümliche markige Färbung; leider aber ist die Erzählung entstellt durch häufige grillenhafte Manierirtheit der Darstellung, durch ein Deutsch, das in Deutschland auch im grauen Alterthum niemals gesprochen worden ist. „Die Brüder vom deutschen Hause“ sind im Ganzen unerquicklich; für die Romantik der Kreuzzüge fehlt der Freytag’schen Muse das rechte Organ, und nirgends mehr als in dieser Erzählung sind die Motive der Hauptbegebenheiten so versteckt unter dem Blätterwerk der genrebildlichen Arabesken wie hier; man muß nachblättern, um den Zusammenhang aufzufinden, und jeder Antheil in der Handlung, jede Spannung ist ein Ding der Unmöglichkeit. „Markus König“ enthält einzelne lebendige Schilderungen, einige drollige Genrebilder, auch ein paar anmuthige Liebescenen. Doch die Handlung verläuft gegen den Schluß hin in’s Breite und fesselt die Theilnahme nicht mehr. Die beiden Erzählungen: „Die Geschwister", sind wohl am flüchtigsten gearbeitet; sie erinnern, trotz der vornehmen Feinheit des Freytag’schen Talentes, an Tromlitz und Blumenhagen. Das Colorit für den Mysticismus und seine Anhängerinnen, für die Hexenprocesse und ähnliche Vorgänge ist lange nicht tiefdunkel genug; es sind trockene „Geschichtsklitterungen“, die keine Stimmung hervorrufen. In die zweite Erzählung ist zwar manche erheiternde Anekdote aus der Zopfzeit verwebt, doch ist auch hier die Mischung des Hochtragischen mit dem Possirlichen einem einheitlichen Gesammteindruck hinderlich.

Der Schlußband der „Ahnen" enthält die Erzählung. „Aus einer kleinen Stadt“, die eigentlich wiederum aus zwei Erzählungen besteht: aus den Lebensläufen des Vaters und dem des Sohnes, welche natürlich beide der Familie König angehören. Der Vater, ein Arzt in einer kleinen schlesischen Stadt, ist ein wackerer Patriot zur Zeit der Franzosenherrschaft; er betheiligt sich an den Kämpfen gegen dieselben sowohl bei den Glätzer Freicorps, wie auch später in den Freiheitskriegen, und erlebt mancherlei Fährnisse und Abenteuer, bis er das geliebte Mädchen heimführt, das aus Dankbarkeit sich einem französischen Office verlobt hatte, durch den sie vor seinen wilden Banden beschützt worden war. Die Schilderungen des Kleinlebens in dem schlesischen Städtchen in Friedens- und Kriegszeiten, der einzelnen Charaktere, wie des jeanpaulisirenden Einnehmers und des munteren Edelfräuleins, sind durchaus ansprechend und bestechen durch ihre ungezwungene Natürlichkeit, und von wahrhaft poetischer Schönheit ist die Beschreibung der nächtlichen Wanderung Henriettens, die ihren Geliebten vor einem Ueberfall durch die Franzosen warnen will.

Der Sohn dieses Doctor König, Victor, führt ein flottes Studentenleben, geräth in Theaterkreise, verliebt sich in eine Schauspielerin, duellirt sich mit einem Nebenbuhler, stürzt sich in den Trubel der Märzrevolution, heirathet ein adeliges Fräulein und wird Journalist von reinem Blut wie Bolz, der Lieblingsheld Freytag's. Man dachte anfangs daran, die Ururenkel Ingo's auf deutschen Thronen zu suchen, und war nicht wenig überrascht, den letzten Sprößling des bärenhäutigen Thüringers auf einem Redactionsbureau zu finden; ja man wollte sogar in seinen Zügen eine gewisse Aehnlichkeit mit der Physiognomie des Redacteurs der „Grenzboten" entdecken und in dem schlesischen Städtchen die gute Stadt Kreuzburg, die Geburtsstadt des Dichters, obschon diese in der Wasserpolakei gelegene Ortschaft von der Aussicht auf das Riesengebirge, die das Städtchen der Erzählung genießt, fast durch die ganze Breite der Provinz Schlesien abgesperrt ist.

Dieser Schlußband hat jedenfalls einen frischeren und wärmeren Ton, als die letzten vorangehenden Bände; auch hat die Handlung eine gewisse novellistische Spannung, wenn sich diese auch auf zwei Novellen vertheilt. Es werden Knoten geschürzt und gelöst, und das ist in vielen früheren Erzählungen nicht der Fall. Auf den „Ahnen", wie auf allen Schöpfungen Freytag's liegt eine sonnenhelle Beleuchtung, das Licht des Optimismus: ein culturgeschichtlicher Novellencyklus muß uns zwar durch manche düstere Epochen führen, und es giebt ja keine Epoche, in welcher Jammer und Noth der Menschen sich nicht sichtbar und vernehmbar gemacht hätten; auch Freytag's Muse schildert uns bei ihrer Wanderung durch die Jahrhunderte viel Peinliches und Schreckliches, aber sie erzählt es nur wie die Theoretik; sie verweilt nicht dabei mit einer sich in diese Schrecknisse [452] vertiefenden Darstellung; sie verschmäht die Rembrandt’sche Beleuchtung: alles Dämonische liegt ihr fern. Die Hexenprocesse, die Hinrichtungen in Thorn und ähnliche tragische oder an das Grauenhafte streifende Vorgänge werden von ihr mit einer Flüchtigkeit geschildert, der man es anmerkt, daß sie mit diesen Nachtseiten der menschlichen Natur und der menschlichen Geschichte so wenig wie möglich zu thun haben will. Gegen dies Alles ist der Freytag’sche Pegasus gleichsam mit einem Scheuleder gewappnet; er gehört nicht zu den Feuerossen eines Aeschylos und Shakespeare, nicht zu den wilden Rappen eines Victor Hugo und Eugene Sue; er geht gelassen und ruhig vor dem culturgeschichtlichen Pfluge einher, mit dem die heimathlichen Gefilde aufgeackert werden.

In der That, es ruht eine taghelle Beleuchtung, ein klarer Sonnenschein auf diesen Freytag’schen cultur-poetischen Schöpfungen. Seine Anhänger werden sagen: es ist die Sonne Homer’s, und Homeride zu sein, auch nur als Letzter, ist schön. Die unbefangene Kritik wird aber in diesem fortwährend nur mit leichten Sommerwölkchen bedeckten Himmel, der sich über den Freytag’schen Schöpfungen ausbreitet, nicht das Empyreum erblicken, in welchem die Feuermusen der großen Dichter wohnen, wie sie auch in dieser Reliefbildnerei der Darstellung den großen Wurf der Plastik vermißt.

Auch in der Charakterzeichnung ist lauter Licht und Sonnenschein; nur einige Frauencharaktere haben einen leisen dämonischen Zug, so die Gisela in „Ingo“, die trotz ihres altdeutschen Costüms und ihrer manierirten Ausdrucksweise als eine sich unbefriedigt fühlende Gattin an die Heldinnen neufranzösischer Romane erinnert, vor Allem aber an Georgine im „Grafen Waldemar“. Auch Hedwig in den „Brüdern vom deutschen Hause“ gemahnt uns wie eine skizzirte Nachzeichnung dieses Vorbildes; denn gerade bei derartigen Gestalten geht Freytag’s Darstellung nicht über die Skizze hinaus. In der Haltung sehr delicat, haben die Freytag’schen Frauen doch in ihrem Wesen immer etwas leidlich Emancipirtes, wie ja auch jene Adelheid in den „Journalisten“. Natürlich ist alles Makart’sche Colorit der keuschen Muse Freytag’s ein Gräuel, aber sie versteht sich doch zu Andeutungen, welche die Phantasie zu selbstthätiger Ausmalung erotischer Situationen anregen: wir erinnern nur an Hedwig, welche den Wappenmantel, dieses aus den Trophäen zahlreicher Turnierzüge zusammengesetzte Palladium der Liebe, vor dem Geliebten ausbreitet; wir erinnern an Anna, welche die Himmelsleiter zum Geliebten herabsteigt. Und diese Anna gehört nicht zu den Varietäten der Georginensorte, sondern zu den normalen deutschen Mädchen und Frauen, wie Irmgard, Hildegard, Friderun, Henriette, die oft mit frischer Naivetät geschildert, oft aber auch mit einer etwas süßlichen Glorie im Stil des Carlo Dolce oder noch älterer Goldgrundbilder verziert sind. Diese deutschen Jungfrauen sind zart, sittig, keusch, naiv, holdselig, von inniger Empfindung und gelegentlich zu heldenhaftem Entschlusse fähig, aber sie sehen sich überaus ähnlich. Der Dichter hat im Grunde nur eine Probirmamsell, der die verschiedensten culturhistorischen Garderoben umgeworfen oder übergehangen werden. Junge Mädchen haben indeß niemals eine sehr ausgeprägte Physiognomie, die ingénues der neueren französischen Komödie und ihrer deutschen Nachahmer sehen sich zum Verwechseln ähnlich, und so darf uns auch diese Aehnlichkeit bei den deutschen Jungfrauen verschiedener Jahrhunderte nicht Wunder nehmen.

Doch auch die Jünglinge haben den gleichen Schnitt der Physiognomie und der Charaktere: sowohl die ritterlichen Ingo, Ingraban, Imo, Ivo, wie die bürgerlichen Könige von Markus und Georg bis zu Ernst und Victor, sie sind alle wacker und tapfer, frisch und edel und – wenn man von kleinen Irrthümern des Herzens und einigen kleinen Excessen eines zu hitzigen Temperaments absieht – tadellos in ihrem Benehmen; es giebt keine ungerathenen, keine verlorenen Söhne unter ihnen; sie sind alle, um mit dem Dichter zu sprechen, behende Knaben, die auf dem Turnplatz der deutschen Geschichte an Reck und Barren, im Voltigiren und Freispringen ihre Tapferkeit und Muskelkraft bewähren.

Sie werden, verehrte Freundin, wenn Sie gelegentlich einen „Ahnen“ zur Hand nehmen, sich an der vornehmen Feinheit und Knappheit des Freytag’schen Stils, an der classischen Ciselirung des Details, an dem poetischen Hauch, der über einzelnen Situationen schwebt, gewiß erfreuen und dem Dichter gern einräumen, was ihm zukommt: die Meisterschaft der Genremalerei. Freytag wird nie Ihr Lieblingsdichter werden, ich weiß es; Sie lieben das Feurige und Leidenschaftliche, das Tiefsinnige und Bedeutende, den großen Stil der Darstellung, die Schärfe der Charakteristik, die einheitliche und spannende Composition, doch wenn Sie auch die Vorliebe unseres Publicums für das Genrehafte nicht theilen, so wissen Sie doch auch einen ansprechenden Bildersaal zur Culturgeschichte unseres Volkes zu würdigen.




Ungleiche Seelen.

Novelle von R. Artoria.
(Fortsetzung.)
3.

Am folgenden Morgen saß Baron Willek mit seiner Tochter beim Frühstück auf dem Balcon. Der frische Ostwind trug den Meerduft herüber und spielte in den flatternden Zacken des blaugestreiften Sonnendachs – es war ein wundervoller Morgen.

Drunten auf der Riva wogten schon Massen festlich gekleideter Menschen durch einander, mit dem unbeschreiblichen Anstand, der die Italiener bei solchen Gelegenheiten auszeichnet; man hörte nur Lachen und fröhliche Begrüßungen und vernahm beides auf dem Balcon oben um so besser, als dort schon seit geraumer Zeit völlige Stille herrschte. Der Baron hatte sich in ein englisches Journal vertieft, während Leontine, im eleganten himmelblauen Cachemireschlafrock nachlässig im Schaukelstuhl ruhend, mechanisch mit einem Theelöffelchen spielte und durch die Lücken der Balconbrüstung das Treiben auf der Straße beobachtete oder wenigstens zu beobachten schien. Sie war noch nicht frisirt; ihre reichgelockten Haare mit dem bläulichen Glanze beschatteten die blasse Stirn, und die langen Wimpern hatten sich tief nach den Wangen zu gesenkt.

Ob die Bilder, welche vor ihrem innern Auge vorbeizogen, beglückender Natur waren? Die leise zusammengezogenen Brauen und der wie nach innen gewandte Blick verriethen Nichts davon.

Jetzt legte der Papa das Blatt weg; dann wandte er sich plötzlich in seiner gewohnten leisen und deutlichen Sprechweise an seine Tochter:

„Und nun, liebes Kind, würdest Du mich verbinden durch eine Andeutung, wie denn das Alles noch werden soll. Ich muß gestehen, Du fängst an, mir unbegreiflich zu werden.“

Die junge Dame veränderte ihre Stellung nicht und schlug die Augen nicht auf, als sie gleichgültig fragte:

„Weshalb denn, Papa?“

„Weshalb?!“ Baron Willek konnte doch nicht umhin, in einen angeregteren Ton zu verfallen. „Weil Du Dich gestern Nachmittag in einer Weise benommen hast, die ich mir mit Deinen gesunden fünf Sinnen nicht mehr zusammen reimen kann.“

„Erlaube, Papa –“ sagte sie, sich rasch emporrichtend.

„Erlaube Du mir, mein Kind,“ unterbrach er sie, mit sehr bestimmter Bewegung ihren erhobenen Arm niederdrückend, „und laß mich völlig ausreden. … Ich will nicht gegen Deinen Willen zu einer Verbindung drängen, die so sehr meinen Wünschen entspricht, wie kaum je eine andere; Du weißt es, ich habe in Riva keinerlei Zwang auf Dich geübt, obgleich es mir höchst fatal war, daß die Sache damals so aus einander ging. Es ist die beste Partie, welche Du je machen konntest, und keine ähnliche wird sich Dir wieder bieten. Du selbst – gestehe es nur! – warst damals bei seiner plötzlichen Abreise einigermaßen deprimirt.“

Leontine betrachtete die Spitzen ihrer Morgenschuhe und antwortete nicht.

„Nun geschieht das Unerhörte,“ fuhr ihr Vater fort, „die versäumte Gelegenheit bietet sich Dir nochmals gerade so dar, und Du – statt rasch entschlossen zuzugreifen – amusirst Dich damit, vor den Augen dieses geldstolzen Mannes eine so unsinnige und zwecklose Liebelei anzuspinnen, daß mir der Verstand still stehen möchte und ich meine Tochter nicht wieder erkenne. Noch ein solches Beisammensein wie gestern, und Nordstetter zieht sich

[453]

Ein Capitalhirsch.
Originalzeichnung von H. Leutemann.

[454] definitiv zurück, das sage ich Dir; ich gab mir gestern Mühe genug, ihn auf andere Gedanken zu bringen.“

„Mag er!“ sagte achselzuckend Leontine. „Er ist mir total gleichgültig; man kann doch nicht heirathen ohne – –“

„Darüber warst Du vor acht Tagen anderer Ansicht und wirst es wieder sein, wenn die Tollheit verflogen ist, die Dir jetzt den Kopf einnimmt. Nur ist dann die Gelegenheit auch vorüber und zwar auf immer. Komme zu Dir, Leontine – ich bitte Dich. Was soll es denn werden mit diesem jungen Künstler ohne Namen und Verdienst?“

„Und wenn ich nun dächte, ihn zu heirathen – Vater?“

„Heirathen?! … ah!“ kam dieser nach einer momentanen Sprachlosigkeit wieder zu Worte, „Du! … diesen jungen Menschen, der höchstens eben so alt ist, wie Du! … Aber mit wem rede ich denn – mit Leontine von Willek , der bisher keine Partie groß und glänzend genug war, oder mit einem sentimentalen Bürgermädchen – nein, sogar die wissen heutzutage etwas Gescheidteres zu thun, als arme Künstler zu heiraten.“

Der Baron war. nahe daran, zornig zu werden, doch ging dies gegen seine Grundsätze, er faßte sich also wieder, schritt ein paar Mal aus und ab und fuhr dann in ruhigerem Tolle fort:

„Kind, Kind, Dir ist Venedig zu Kopfe gestiegen; ich kenne das, man fühlt plötzlich den Abstand zu seinem nackten modernen Leben und sehnt sich nach einer poetischen Existenz. Ich gebe Dir auch zu, daß ein Dasein voll Glanz und Sorglosigkeit mit einem Gatten wie dieser Erich Björnson beneidenswert sein könnte, aber leider fügen sich die Dinge uns dieser Erde nicht so – und ein Leben in Sorge und Mangel ist abscheulich, an wessen Seite man es auch führt.“

„Es müßte ja nicht Mangel sein,“ beharrte Leontine. „Björnson wird in kurzer Zeit seinen Weg machen; ich habe viele Künstlerfrauen gesehen, die ein reizendes Leben führten.“

„In Renaissancezimmern für zehntausend Gulden mit Marmorkaminen – Frau P. und Frau von W., nichtwahr? Die eine reich von Hause aus, die andere Frau eines Glückspilzes, der seinen Pinsel dem Geschmack der Gründer anzubequemen versteht. Wird das Erich Björnson, kann er es, was meinst Du?“

Leontine schwieg. Die beiden Köpfe dachten ein paar Augenblicke dieselben Gedanken. Dann sagte sie plötzlich:

„Woher kommt es den, daß ich seit gestern, wo mir diese Idee zum ersten Mal ernstlich kam, wie in ein neues Leben hineinsehe? Wenn wir nun bisher nur im Irrthum gelebt hätten, Papa? Es kommt mir auf einmal vor, als wüßten wir gar nicht, wo der Kern des Lebens eigentlich liegt, und gäben uns jahraus jahrein die größte Mühe – um taube Schalen.“

Baron Willek wies sarkastisch lächelnd auf das luxuriöse Frühstücksgeräth:

„Sie sind doch ganz hübsch versilbert, diese Schalen, und für die jenseitigen Kerne muß man besondere Zähne haben. Dein Herr Björnson hat sie, wie jeder Parvenü, Du aber hast sie nicht und würdest das bei ruhigem Blute auch sehr wohl einsehen.“

„Das käme auf die Probe an,“ erwiderte sie hartnäckig.

„Nein,“ sagte ihr Vater scharf und bestimmt, „die Probe wird nicht gemacht – das sage ich Dir. Ich sehe nun ein Leben lang dem Spiele zu; am Ende lernt man die Regeln. Factische Verhältnisse und vorübergehende Empfindungen mit einander vermengen, das heißt die Partie ruiniren, wie es alle unbedeutenden Köpfe täglich thun. Hinterher jammern sie dann über das Schicksal. – Jeder Mensch sieht ein Ziel vor Augen, nach dem er streben muß. Für Dich heißt das Losungswort Reichtum. Vergiß es keinen Augenblick! Nur unter dieser Bedingung kannst Du für alle Zeit bleiben, wie Du heute bist.“

„Ich kann auch als Künstlerin meinen Weg machen.“

Baron Willek zuckte ungeduldig die Achseln.

„Wir sind unter uns, ich denke, wir lassen die Redensarten bei Seite. Bist Du eine Künstlernatur? Kannst Du mir im Ernste von diesem faute de mieux sprechen? Ich möchte Dich wohl sehen, in zehn Jahren, hinter der Staffelei. Ja, ja, es klingt Alles sehr prosaisch, was ich sage, aber Du selbst weißt am besten, wie sehr. ich recht habe. Du bist zu klug, um nicht einzusehen, daß ich die Wahrheit rede.“

Sie antwortete nicht; sie dachte an Erich’s Worte von gestern, an seine überzeugte Sicherheit von dem idealen Inhalte des Lebens. Auch er wollte die Wahrheit haben; wer hatte sie denn nun wirklich?

In ihre zweifelnden Gedanken hinein tönte wieder die gedämpfte, gleichmütige Stimme.

„Ich lege Dir einfach die Verhältnisse vor, urtheile selbst! Meine Finanzen haben durch die Börsenkrisis einen solchen Stoß erhalten, daß ich vom nächsten Herbste an energisch reduciren muß. Reich waren wir nie, wie Du weißt; ich habe Deiner Ausbildung manches Opfer gebracht, aber fernerhin kann ich es nicht mehr; es handelt sich jetzt um die Existenz. Von einer Wintersaison in unseren gewohnten Kreisen in Wien kann keine Rede mehr sein; wir müssen eine Mittelstadt wählen und dort sehr zurückgezogen leben, um auszukommen. Male Dir das Alles aus! Die widerwärtige Beschränkung, welche nur untergeordnete Menschen als dauernden Zustand ertragen – streiche Alles, was Du Luxus nennen mußt, aus Deinem Leben, nimm dazu, daß ja auch die mögliche künftige Verbindung mit diesem jungen Manne vielleicht nichts mehr als eine Seifenblase ist – ich halte sie sogar entschieden dafür. Die Jahre, die er sicher noch braucht, um sich empor zu arbeiten, sind Deine letzten Jugendjahre ... muß ich es Dir noch ausmalen, was dann Deine Situation ist, wenn Ihr Euch nach Jahren wieder seht, Du älter geworden und er von tausend neuen Eindrücken bewegt ...?“

„Das kannst Du Dir erspare,“ fuhr Leontine empört auf, „ich würde mich nie aus Gnade heiraten lassen.“

Sie wandte dem Vater den Rücken zu und sah mit zusammengepreßten Lippen über die Balconbrüstung hinaus.

„Ich nehme das auch nicht an,“ erwiderte Jener sehr gelassen, „aber Du wirst mir zugeben, daß Dein Leben dann vollständig ruiniert wäre. Und um was? Um das Vergnügen – einmal in Venedig fünf Tage lang sehr verliebt gewesen zu sein.“

Seines Effectes sicher, ließ sich Baron Willek am Tisch nieder und begann ziemlich umständlich sich ein Glas Sodawasser Zurecht zu machen.

Leontine stand unbeweglich abgekehrt. Die Arme hatte sie über der Brust verschränkt, und ihre Augen starrten hinüber auf die lachende Morgenherrlichkeit da draußen in der Welt. Dort glänzte Maria della Salute rötlich in den Strahlen der Morgensonne aus feinblauem Duft heraus; die Gondeln glitten so sanft über den Wasserspiegel – was ging das Alles sie noch an? Gestern, ja gestern, da hatte sie mit ihm hier gestanden, und die ganze Schönheit der Welt schien sein persönliches Eigenthum zu sein; eine Spur seines Wesens war an Allem haften geblieben. Heute stand sie wieder als Fremde davor; der kurze Enthusiasmus eines Tages welkte unter der kalten Hand, die sich darauf legte; einer jener plötzlichen Stimmungswechsel, die entscheidender in das Menschenleben eingreifen, als äußere Ereignisse, schloß die Pforte zu, durch welche ihre Seele sich halt der Freiheit zuwenden wollen. Es war ihr nüchtern, kalt und schlimm zu Muthe.

Der Baron stand auf und sagte, als erriete er ihre Gedanken, indem er ihr sanft die Hand aus den Arm legte:

„Ich bin kein bornirter Komödienvater, liebe Leontine, welcher poltert: Die Liebe ist nichts als eine Illusion. Im Gegentheil, ich sage Dir: Liebe ist etwas, ist sehr viel sogar, für kurze Zeit die zauberhafteste Verklärung des gewöhnlichen Lebens, und wenn man sie haben kann ohne Skandal und ohne seine Verhältnisse zu brouilliren, soll man beide Hände darnach ausstrecke. Das ist Euch Frauen freilich nur sehr selten möglich – wir haben es darin besser. Für die Einen wie die Andern aber gilt als unumstößliche Gewißheit: sie geht vorbei, und die guten oder elenden Verhältnisse bleiben zurück. Man befindet sich auf die Dauer nur in dem wohl, was der eigenen Persönlichkeit entspricht. Die Deinige verlangt, mehr als hundert andere, ein Leben im großen Stil, und wo wirst Du zum zweite Male das finden, was Dir hier geboten wird?“

„An der Seite eines solchen Mannes!“ warf das Fräulein mit bitterer Geringschätzung ein.

„Erlaube mir, mein Kind;“ entgegnete der Baron sehr lebhaft, „Du befindest Dich hier in einem großen Irrthum. Der Mann ist durchaus salonfähig, aus keiner schlechten Familie, ein sehr tüchtiger. Charakter. und in seinem Fache eine Autorität. Du kannst sicher sein, um diese Partie beneidet zu werden; vor sehr großen Verhältnissen haben alle Menschen Hochachtung, und wenn die Herren Idealisten sie verachten, so ist es nur, weil sie als arme Teufel gar keine Ahnung von dem Machtgefühl haben, das der Besitz verleiht. Geld ist nicht Glück, aber das beste Surrogat [455] dafür und das Mittel, sich jeden schönsten Lebensgenuß, Kunst, Reisen und Gesellschaft hervorragender Menschen zu verschaffen, also doch alles Hauptsächliche in der Welt. Warum werden denn die Heeren Poeten und Künstler doch gerade immer voll der aristokratischen Luxus-Atmosphäre der grande dame bezaubert und berauscht? Man küßt voll Entzücken schmale weiße duftende Hände – um ihnen dann aus Liebe für ihr künftiges Leben die Arbeit einer Haushälterin zuzumuthen.“

Baron Willek warf nach diesem Wagniß einen raschen Blick auf seine Tochter; sie sah stumm, mit zusammengepreßten Lippen vor sich nieder. Ein paar Mal war es, als wollte sie reden; dann wandte sie sich wieder ab. Er schöpfte aus diesen Symptomen große Hoffnung und sagte also nur noch:

„Bedenke Alles, Leontine! Es giebt kein Schicksal; man bereitet sich alles Ungemach selbst. Leichtere Fehler lassen sich einige Male wieder ausmerzen – der Hauptfehler ist definitiv und nicht zu repariren; ob Du diesen machen willst oder nicht, darüber mußt Du Dich noch heute entscheiden.“

Er goß sich den Rest der Flasche in’s Glas; dann brannte er eine Cigarre an und sah mit einem Seitenblick, wie die blaue Schleppe langsam über die Schwelle des Salons hineingezogen wurde. Drinnen warf sich Leontine mit abgewandtem Gesichte in denselben Lehnstuhl, in welchem sie gestern Erich Björnson gegenüber gesessen. Es war. ihr, als sei inzwischen ein Jahrhundert vergangen.

Einige Minuten wartete ihr Vater noch, dann sagte er hereinkommend:

„Die Zeit drängt, mein liebes Kind; ich kann Dir keine halbe Stunde Träumerei mehr gestatten; sie wäre auch unter diesen Umständen nur vom Uebel. Ich bin sicher, Du wirst mit dem überlegenen Verstande, den ich stets an Dir respectirt habe, heute wieder gut machen, was Du gestern verdorben hast.“

„Das heißt?“ fragte sie in müdem Tone.

„Das heißt,“ erwiderte er und zog die Uhr, froh, aus dem ungewohnten Pathos wieder zur Alltagsstimmung zurückzukehren, „daß wir um dreiviertel auf Zehn mit Nordstetter beim Fürsten J. erwartet werden, um den Einzug zu sehen. Mache eine schöne Toilette und sei pünktlich bereit!“

Er berührte mit den Lippen ihren duftenden Scheitel; dann fiel die Zimmerthür. hinter ihm in’s Schloß.

Wie von einer Feder emporgeschnellt, fuhr Leontine auf; sie hatte eine ganz deutliche Vorstellung davon, was jetzt eine edlere Natur an ihrer Stelle thun würde, ungefähr so, als läse sie es in einem Buche; sie schätzte sich auch aufrichtig gering in diesem Augenblicke gegen die Menschen, welche mit dem Stolze der Armuth voll „inneren Unmöglichkeiten“ reden dürfen. Aber sie rief den Vater nicht zurück. – Nur als sie vor dem Spiegel saß und ihre langen Flechten in das graziöse, tiefgesteckte Oval ordnete, das vom ersten Augenblicke an Erich’s Entzücken gewesen war, da dachte sie plötzlich wieder an ihn, an den schönen warmherzigen Mann mit den leuchtenden Augen, und es überkam sie eine stürmische Sehnsucht – –

Sie bog sich im Sessel zurück, und ihre halbgeschlossenen Augen starrten träumerisch das schöne blasse Spiegelbild an – da weckte sie ein Klopfen an der Thür – – es war der Papa, der mahnte, daß sie doch ja zur rechten Zeit bereit sein möge.

Sie war bereit, und als sie unten auf der Terrasse im eleganten schwarzseidenen Schleppkleide erschien, stand Nordstetter im tadellosen Gesellschaftsanzuge bereit, ihr in die Gondel zu helfen; er grüßte freundlich; sie nahm seine Hand an – da fühlte Nordstetter plötzlich eine ganz bedeutende Zuversicht und sagte zu sich selbst: „Heute Abend muß es in’s Reine kommen!“

Die sonnenhelle Pracht, in welche sie hineinfuhren, war wohl dazu angethan, eine heitere Stimmung hervorzurufen. Vom Meere her donnerten die Kanonen; von den großen Ostindienfahrern wehten unzählige bunte Flaggen, und ein Gewimmel von kleineren Dampfern und Gondeln schoß darum her. Vor den ernsten alten Palastfacaden flatterten Teppiche und Fahnen.

Einige Minuten später standen Leontine und ihre beiden Begleiter plaudernd in einem aristokratischen Kreis auf der vorderen Terrasse der Casa Bertucci; es waren viele und zum Theil schöne Damen da, aber Leontine bewegte sich wie eine Fürstin unter ihnen; das sagte sich der Banquier, der sie am Arm die Stufen vom Wasser herauf geleitet hatte und stets in ihrer Nähe blieb, mit der angenehmsten Steigerung seines Selbstgesprächs. Auch noch ein Anderer sagte es sich, welcher auf dem hochgelegenen Fenster seines Freundes Bartels herunter sah. Er hatte ein so wahnsinniges Verlangen nach ihrer Nähe, nach dem Laut ihrer Stimme; jede Minute, die er ohne sie verleben mußte, schien ihm völlig verloren – und nun stand sie da unter all den fremden Leuten, sprach mit dem langweiligen Geschäftsmenschen, dem Erich gerne für sein unverschämt glückliches Gesicht einen Ziegel an den Kopf geworfen hätte – und zu ihm wandte sie keinen Blick herauf, zu ihm, der nach dem Gruß ihrer Augen verschmachtete.

Jetzt hörte man den Kanonenschuß vom Bahnhof her noch ein paar Minuten und es wurde lebendig unter dem hohen öden Rialtobogen. Ein halb Dutzend Boote schossen in rasendem Tempo hervor; ihnen nach drängte sich eine Fluth von andern. Es flog und schimmerte, wie ein dichter Schwarm goldener, bunter, silberner Schmetterlinge.

„Die Prachtbarken der Republik!“ rief einer der Herren, und in der That, man sah sie nun in pfeilschnellem Laufe herankommen, phantastisch decorirte goldene Schiffe, jede von zwölf in bunte Seide und Sammet gekleideten Ruderern vorwärts gejagt. Am Bug wehten riesige Federbüschel in goldenen Emblemen; vom hinteren Baldachin schleiften die langen bunten Seidenwimpel im Wasser nach – es war ein Anblick von imposanter Pracht und Herrlichkeit. Mitten in dieser strahlenden Geleitschaft bewegten sich die einfachen Gondeln, welche die Monarchen und ihre Gondoliere trugen. Die Luft erzitterte voll tausendstimmigen Evvivarufen; Franz Joseph, blaß und ernsthaft, dankte nach allen Seiten. Leontine hatte ihr Tuch gezogen und winkte lebhaft über die Brüstung hinaus – noch ein Moment und der ganze bunte Schwarm war vorübergeflogen.

In die Gruppen auf der Terrasse kam wieder Leben und Bewegung; ein Diener mit Erfrischungen erschien; Fürst J. und seine Gemahlin machten mit großer Liebenswürdigkeit die Wirthe, und bald war das Gespräch allgemein im Gange.

Leontine stand noch vorn an der Balustrade, und jetzt trat Nordstetter von ihrem Vater zu ihr hinüber.

„Gnädiges Fräulein,“ sagte er, sich verbeugend, „der Heer Baron hat mir erlaubt, Sie zu fragen, ob ich heute so glücklich sein werde, Sie Beide zu Mittag als meine Gäste im Restaurant F… am Marcus-Platze zu begrüßen?“

Leontine sah einen scharfen Blick ihres Vaters auf sich gerichtet – sie neigte zustimmend das Haupt, und als er sich nach längerer Weile gemeinsam mit ihr und dem Vater von ihren Wirthen verabschiedete, indem er dieselben gleichfalls bat, die Sechsuhrstunde nicht zu vergessen, machte sie keine Anstalt, sich Nordstetter’s Begleitung zu entziehen.

Erich war oben regungslos am Fenster stehen geblieben; jetzt sah Leontine aufwärts und erwiderte seinen Gruß mit kurzem Kopfneigen. Ninette, welche ebenfalls gezögert hatte, das Zimmer zu verlassen sah, wie blaß er wurde, wie seine Augen sprühten und bog sich gleichfalls zum Fenster hinaus. Da stieg gerade unten die schöne fremde Dame in die Gondel; der magere Heer mit den gelben Handschuhen half ihr hinein, legte eine weiche Plüschdecke über ihre Kniee und nahm dann mit dem Grauhaarigen gegenüber Platz. So vornehm lehnte sie sich in die Kissen zurück, so graziös neigte sie lächelnd und grüßend noch einmal den hellen Sonnenschirm gegen die Terrasse – „come una principessa!“ Das junge Mädchen sprach es halblaut vor sich hin.

Sie hatte nicht mehr herauf gesehen Erich wandte sich um; seine Blicke fielen so kalt auf das liebenswürdige Gesicht mit den großen dunklen Augen ihm gegenüber, als wenn es ein Stück Tapete gewesen wäre; es wurden Worte zwischen ihnen gewechselt, deren Sinn nicht in seinem Gedächtniß haftete; nur das schoß ihm flüchtig durch die Erinnerung, als er fünf Minuten später in seinem Atelier stand und die große aufgespannte Farbenskizze anstarrte, daß Ninette gesagt hatte, es stehe heute nicht gut mit der Mutter.

Aber nur einen Augenblick dachte er daran; dann stürmten wieder die leidenschaftlichen Empfindungen über alles Andere hin. Was ihn gestern in unendlicher Seligkeit an Leontinens Seite bewegt hatte, es war kühl gewesen gegen die Gluthen, welche er heute im Herzen fühlte. Eine übermächtige Vorstellung der Königreiche, welche dieses Weib mit ihrer Liebe zu vergeben haben mußte, die Unmöglichkeit, daß sie einem Andern als ihm angehören dürfe, setzte sein Hirn in Flammen und trieb ihn rastlos hin und [456] wieder. Was alles gegen ihn stand, wußte er, aber auch, daß er Gewalt über sie besaß, und daß er siegen wollte und siegen mußte. Aber wie heute in ihre Nähe kommen?! Es war gestern keine bestimmte Verabredung getroffen worden; erst jetzt fiel ihm ein, daß der Baron eine darauf bezügliche Frage von ihm ausweichend beantwortet hatte.

Hinfahren in’s Hotel?! Nein, unter solchen Umständen nicht! Aber sehen und sprechen mußte er sie um jeden Preis. Ein Zusammensein mit ihr allein … seine Gedanken arbeiteten heftig; er plante Möglichkeiten und verwarf sie wieder; plötzlich blieb er willen im Zimmer stehen und sagte laut: „Antonio!“

„Johann Casimir,“ corrigirte eine wohlbekannte Stimme hinter der großen Staffelei hervor, „der malerische Name Antonio hat mit meiner geringen Person nichts zu schaffen.“

„Bartels!“ rief Erich unmuthig, „was zum Teufel treibst Du da?“

Der dicke Bildhauer legte die ergriffene Kohle wieder vor die große Leinwand hin.

„Ich war im Begriff, mich Dir schriftlich bemerkbar zu machen, mein Theurer, weil das Anreden nichts hilft. Bist Du wieder soweit bei Besinnung, ja? Schön, dann wollen wir überlegen, wo wir heut zu Mittag essen werden – dies dürfte in diesem Augenblick in Venedig ein ebenso schwieriges wie zeitraubendes Unternehmen sein.“

„Ich hatte ohnedies vor, zu gehen,“ sagte Erich zerstreut; dann blieb er wieder in völliger Gedankenlosigkeit vor der Staffelei stehen und drehte die Kohle zwischen den Fingern.

Kopfschüttelnd sah ihn der Alte an; kopfschüttelnd suchte er dann durch das ganze Atelier Erich’s Hut, bis er den achtlos in einen Winkel geworfenen endlich ausfindig machte, und brummte vor sich hin, während er ihm einige freundschaftliche Hiebe mit dem Taschentuch versetzte:

„Da sollen doch gleich drei Millionen siedende Donnerwetter drein schlagen – der Junge ist ja rein wie ausgewechselt. Das ist nicht mehr in der Natur; so stellt man sich aus bloßer Verliebtheit nicht an – der hat Heirathsgedanken und weiß nicht, wo aus und ein. Natürlich! Es braucht Einem auf dieser Welt nur einmal vierzehn Tage erträglich zu gehen, so sieht man sich geschwind um, wie man sein Schicksal am besten verpfuschen kann – damit man doch ja nichts vor seinen Nebenmenschen voraus hat. Und allemal in solche blasse Meerweiber mit kalten Nixenaugen muß sich der richtige Künstler verlieben – das ist schon so herkömmlich von Alters. Nun, ich wünsche ihm einen gesegneten Korb und bald, recht bald, damit er gründlich von den vornehmen Passionen geheilt wird. Könnte ich nur etwas dazu beitragen, ich thäte es mit dem größten Vergnügen.“

Mit diesen liebevollen Empfindungen überreichte er dem „verwünschten Jungen“ seinen Hut, und Beide verließen das Atelier als nahe Freunde, von denen Keiner im Geringsten weiß, was der Andere denkt.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Der Nachlaß eines Junggesellen. (Illustration S. 448 und 449.) Unser Künstler führt uns in eine ziemlich bunt zusammengewürfelte Gesellschaft, die offenbar zum größten Theil den mittleren und unteren Ständen angehört, wie wir sie in Auctionen vorzugsweise vertreten finden. Es ist einerlei, oh wir uns in den verehrten Anwesenden die Erben des seligen Junggesellen vorstellen oder die landesüblichen Auctionsbesucher, welche diesmal eine ganz besonders berechtigte Neugierde, vielleicht auch eine erhöhete Kauflust hier zusammengetrieben hat.

Nur eine einzige Gruppe, scheint es, ist von einem andern Gefühl als dem der Neugierde oder der Kunst beseelt; in ihr bildet augenscheinlich der Erblasser den Gegenstand der Unterhaltung: wir meinen die Gruppe linker Hand; denn dort, wo die alte Haushälterin des Dahingeschiedenen den zwei jüngeren Damen ihr bekümmertes Herz ausschüttet, sehen wir die einzigen Gesichter, aus welchen eine sehr leise Spur von Theilnahme sich bemerklich macht. Die Damen sind wohl zwei Schwestern; die eine blickt voll Gläubigkeit zur Erzählerin auf, während unter den Brauen der anderen doch der Zweifel hervorlauert, indeß ihre Linke den wahrscheinlich ebenfalls nachgelassenen Pudel vertraulich hinterm Ohre krabbelt.

Als die zur Leitung der Erbtheilung oder Besorgung der Auction berufenen Personen erscheinen der alte Herr am Tisch vor seinem Schreibmaterial und der dienende Mann, der, auf dem Stuhle stehend, soeben ein Ding wie einen stark mitgenommenen Schlafrock zur Schau ausbietet, ohne jedoch mehr als etwa drei oder vier Augenpaare auf sich zu lenken. Dagegen gebührt der Gruppe am Tische des alten Schreibers unsere besondere Aufmerksamkeit; denn hier ist dem Künstler ein Cabinetsstückchen von Darstellung prüfender Neugierde gelungen. Wahrscheinlich ist’s ein Schmuckgegenstand, ein Juwel, das als etwas Geheimnisvolles so grossen Untersuchungseifer anregt und mit der Loupe geschäftseifrigst betrachtet wird. Diese Gruppe bildet den Mittelgrund des Bildes. Die übrige Gesellschaft bedarf keines Commentars. Werfen wir daher lieber auf die todten Gegenstände des Gemäldes, auf den Nachlaß, einen Blick! Wir erkennen sofort, daß in diesen Räumen ein Mann gehaust hat, der als Naturforscher und Reisender gelebt hat und schwerlich an langer Weile gestorben ist. Hier spricht jeder einzelne Gegenstand, am deutlichsten der vielgewanderte Reisekoffer rechter Hand, der zugleich die Zeugen der gemächlichen Stunden daheim trägt: die Studirlampe, die Thee- und Kaffeemaschine, das Bierseidel und die sich an ihm anlehnenden Tabakspfeifen. Der hohe Haufen von Matratzen, Decken und Teppichen verräth uns ebenso wie die Spiegel und die Bilder, daß der Besitzer in nichts weniger als in Armuth lebte, und die orientalischen Waffen, die Gefäße, die ebenfalls von weither zu sein scheinen, beweisen, daß der Mann die Welt gesehen. Und was nun so wild durch einander am Boden liegt, die Bücher und die Gläser mit allerlei Gethier und die ausgestopften Vögel nebst dem stattlichen Globus – wie war wohl dies Alles einst dem Einsamen an das Herz gewachsen, und – da Junggesellen meistens Menschen von peinlichster Ordnungsliebe zu sein pflegen – wie hat gewiß jedes Stück einst seinen bestimmten Platz gehabt, die Bücherbretter und Simse gefüllt, die Möbeln und die Wände geziert! Im Grabe drehte er sich um, sähe er jetzt das abscheuliche Durcheinander seiner sonst so ängstlich gepflegten Herrlichkeiten.

So ergeht es den Hagestolzen nach ihrem Ende. Hätte der Mann Weib und Kinder hinterlassen, so lebten Trauernde, die seinen Nachlaß ehrten und die auch sein Grab mit Blumen schmückten, noch lange, lange. Das hast du nun davon, du alter Junggeselle: weil du für dich allein gelebt hast, so bist du nun auch für dich allein gestorben.




Heißes Eis. Man erzählt von einem russischen Baron von Münchhausen, daß er fabelhafte Dinge zu berichten wußte, wenn man ihn auf den harten Winter von Anno so und soviel brachte. Da hatte man nämlich in Moskau mächtige Kanonen aus Eis gegossen und schoß mit glühenden Stückkugeln aus Eis daraus, und in einem ganz aus Eisquadern ausgebauten Hause stand ein eisener (nicht eiserner) Kachelofen, der nicht schmolz, obgleich man ihn bis zur dunklen Rothgluth heizte. So kalt war es damals. An diese Geschichte wird man unwillkürlich erinnert, wenn man erfährt, daß der englische Physiker Thomas Carnelley vor Kurzem Eis auf 100, ja auf 180 Grad erhitzt hat, ohne daß es geschmolzen ist; es verdampfte nur sichtbarlich und schwand, ohne zu schmelzen, dahin. Wie der geneigte Leser weiß, beziehen sich die bekannten Siedepunkte des Wassers (100 Grad), des Alkohols (78 Grad), des Aethers (40 Grad) und der anderen Flüssigkeiten immer auf den mittleren Luftdruck von 760 Millimeter Quecksilbersäule, und auf hohen Bergen kochen Wasser und alle Flüssigkeiten um mehrere Grade früher, ja in stark luftverdünnten Behältern genügt schon die Handwärme, um das Wasser zum lebhaftesten Kochen zu bringen. Aehnlich wie mit dem Sieden verhält ’es sich nun aber auch mit dem Schmelzen der Körper, und manche Stoffe, wie z. B. Arsenmetall, kann man überhaupt nur bei verstärktem Luftdruck schmelzen, weil sie bei gewöhnlichem Luftdruck sich in der Hitze verflüchtigen, ohne zu schmelzen. Aus hiermit in Verbindung stehenden Betrachtungen schloß nun Carnelley, daß, wenn man Eis in einem Raum erhitzte, dessen Druck stets unterhalb der Spannung des Wasserdampfs bei 0 Grad, das heißt unterhalb 4,6 Millimeter Quecksilberdruck erhalten würde, das Eis bei Temperaturen, die den Schmelzpunkt weit übersteigen, nur verdampfen, nicht aber schmelzen würde. Er hat diesen Versuch auch mit bestem Erfolge in einem Apparate ausgeführt, dessen Eigentümlichkeit darin besteht, daß die Wassrdämpfe, die sich von dem in dem Apparate befindlichen Eise entwickeln, beständig in einem mit einer energischen Kältemischung umgebenen Recipienten verdichtet und so aus dem luftverdünnten Raume beständig entfernt werden. Der Versuch bewies seine Voraussetzungen; denn obgleich eine Anzahl voll Gasflammen auf die weite Glasröhre, welche das Eis umschloß, gerichtet wurden, und obwohl ein darin befindliches Thermometer auf 120, ja 180 Grad stieg, schmolz das Eis nicht, sondern verdampfte nur langsam.




Unser heutiges Hirschbild (S. 453) ist die letzte „Gartenlauben“-Gabe Heinrich Leutemann’s, des langjährigen und allbeliebten Mitarbeiters der „Gartenlaube“, der fast seit ihrer Begründung treu in den Reihen der Unsrigen steht und in dieser langen Zeit rüstig und unermüdlich unseren Lesern seine oft lebhaft bewegten, oft ruhig-schönen, immer aber interessanten und lebenswahren Thierbilder in bunter Reihe vorgeführt hat. In Folge eines schweren und unheilbaren Augenleidens vor mehr als Jahresfrist leider gezwungen, seiner Kunst dauernd zu entsagen, nimmt Heinrich Leutemann mit diesem bereits vor vier Jahren gezeichneten Hirschbilde von den Lesern Abschied. Mit dem wackeren Künstler scheidet aus den Reihen unserer Zeichner eine langbewährte und um die „Gartenlaube“ mannigfach verdiente Kraft, der unser fortdauernder Dank gesichert bleibt.

Das Leutemann’sche Bild ist ein Stimmungsbild und bedarf als solches wohl kaum eines erläuternden Textes; spricht es doch genügend für sich selbst: Abend im Walde, Stille ringsum – der König des Forstes, das stolze, geweihgekrönte Haupt erhoben, durchschreitet mit weit geöffneten Nüstern spähend das Revier; aus den Schatten des Waldes tritt er hinaus auf das abendlich ruhige Feld, mit klugen Augen forschend, ob der Weg offen, ob Gefahr im Anzuge – das etwa ist der Moment, den der Künstler uns mit so vielem Geschick vor’s Auge stellt.




Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ferd. Mayer