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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 7.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Alle Rechte vorbehalten.
Der Weg zum Herzen.
Erzählung von Robert Byr.
1.

Unter dem Porticus des Opernhauses war die Equipage vorgefahren. Der Diener, dessen laut in die Winternacht hinausschallender Ruf: „Baron Lomeda!“ sie herbei beordert, wendete sich rasch wieder um und schlüpfte zwischen den zahlreichen wartenden Gruppen in der Vorhalle und dem strahlend beleuchteten Treppenhause hindurch, um seine Herrschaft wieder aufzusuchen. Vor einem jungen Paare, das, dicht in Pelze gehüllt, eben die Stufen von den Garderoben herabkam, blieb er stehen, indem er den Tressenhut zu seiner stummen Meldung lüftete.

Das vom weißen Capuchon fast ganz verborgene Köpfchen sanft nach dem Tacte wiegend, lauschte die Baronin in träumerischem Nachgenusse den leise aus dem Saale herübertönenden Weisen eines Walzers und stand eben im Begriffe, sich entschlossen von den schmeichelnden Sirenenlockungen loszureißen und am Arme ihres Gatten rascher dem Ausgange zuzuschreiten, als ein junger hübscher Husarenofficier die Haupttreppe herabgeeilt kam. Rasch hatte er zwischen all den tropischen Gewächsen, Kandelabern, Marmorpfeilern und Menschen die Gesuchten ausgeforscht und trat hastigen Schrittes von der Seite her an die Baronin heran. Sie schrak beim Tone seiner Stimme leicht zusammen und wendete ihm ihr Antlitz zu: zwei dunkle, große Augen sahen fast scheu unter den tief über die Stirn fallenden Spitzen des Capuchons hervor, die so weiß waren, wie die plötzlich blutlos gewordenen Wangen.

„Sie haben Ihr Bouquet vergessen, Baronin,“ sagte kurz der junge Officier. Er trat sofort mit einer tiefen, ehrfurchtsvollen Verbeugung wieder zurück, nachdem die Baronin den großen Strauß von veilchenumringten weißen Camelien an sich genommen; es war das mit einem so leisen Worte des Dankes geschehen, daß man es nur von den fast unmerkbar bewegten feinen Lippen ablesen konnte. Nicht das kleinste freundliche Lächeln begleitete es, auch die Augen hatten sich gesenkt, und kühl und vornehm neigte sich das Haupt um eines Daumens Breite. Dennoch zuckte ihre Hand und sie drückte die Blumen fester an die Brust, als sich ihr Gatte erbot, sie ihr zu tragen. Sein schönes tiefernstes Auge glitt über die Gestalt des Ueberbringers und unterzog ihn einer ruhigen, kurzen, aber scharfen Musterung.

„Ich danke, Herr Rittmeister,“ sagte er dann mit gemessener Höflichkeit im Vorüberschreiten. „Mein Schwager tanzt wohl viel zu eifrig und ist ein zu großer Egoist, um die Vergeßlichkeit seiner Schwester selbst gut zu machen, doch waren die halb verwelkten Blumen wirklich kaum werth, daß Sie sich dafür bemühten.“

Ein rascher Aufblick seiner Frau schien sich versichern zu wollen, ob hinter der leichten Rede nicht ein Hintergedanke sich berge, aber die edlen, schön und geistreich geformten Züge ließen davon nichts erkennen; abgesehen von einer leisen Ermüdung verriethen sie durchaus nichts Ungewöhnliches. Artig, wenn auch mit einiger Zurückhaltung, grüßte der Baron den zurückbleibenden Officier und geleitete dann seine Frau bis zum Wagen, in den sie sich rasch und leicht hineinschwang, ohne daß sie mehr als eine scheinbare Hülfe von seiner Hand annahm. Dennoch ordnete er die Pelzdecke sorgsam um sie, ehe er seinen Platz in der anderen Ecke einnahm. Der Schlag flog zu, und so blitzschnell rollte der Wagen davon, daß die Lichter der Laternen an den vom Froste halb undurchsichtig behauchten Fenstern mit jähem Scheine vorüberhuschten.

Bei dem donnernden Geräusche war nicht wohl ein Gespräch zu führen, auch schien den beiden Insassen nicht das Mindeste daran zu liegen. Nur einmal unterbrach Baron Lomeda das Schweigen.

„Ein Bekannter von Dir?“ fragte er kurz nach dem Einsteigen. Die Beziehung auf den jungen Officier verstand sich von selbst.

„Ja!“ antwortete die Baronin, ohne sich zu regen.

„Von früher her?“

Auf diese zweite Frage kam die Erwiderung nicht sofort. Als das kurze Zaudern aber überwunden war, lautete das abermalige „Ja“ vielleicht noch kürzer und kälter als das erste, wie wenn damit jede weitere Erklärung als eine unberechtigte, langweilende Forderung entschieden abgeschnitten werden sollte.

Von da ab blieben Beide in ihre Gedanken versunken.

Der kurze Weg war bald zurückgelegt, und die Equipage hielt vor einem jener palastartigen Gebäude, welche in den letzten Jahrzehnten zwischen der prachtvollen Ringstraße und den bescheideneren alten Stadttheilen zu ganzen Quartieren des Reichthums und der Behaglichkeit aus dem unterminirten Boden der alten Befestigungswerke emporgewachsen sind.

Noch warteten Beide eine Minute, und erst als das Thor aufgeschlossen war, öffnete sich auch der Wagenschlag. Der Baron stieg aus. Seiner kräftigen Gestalt wäre es wohl ein Leichtes gewesen, die in ihren Pelzen zusammengekauerte schlanke Frau auf seinen Armen herauszuheben und über das feuchte Pflaster hinweg durch die Einfahrtshalle die Treppe hinauf zu tragen, er begnügte sich aber damit, ihr, wie beim Einsteigen, nur mit der Hand zu Hülfe zu kommen, die er sacht unter ihren Ellbogen [106] legte, da sie mit dem Zusammenhalten von Fächer, Kleidern, Bouquet viel zu sehr in Anspruch genommen war, um sich auch nur mit den Spitzen zweier Finger der dargebotenen Stütze bedienen zu können.

Auch bot er ihr nicht mehr den Arm, wie vorher beim Verlassen des Opernhauses, sondern folgte nur, durch die lange nachrauschende Schleppe von ihr getrennt, der Voranschreitenden, während der Diener droben bereits die Klingel an der Wohnungsthür des zweiten Stockwerkes zog.

Eine Kammerjungfer mit verschlafenen Augen und nur flüchtig übergeworfenem Kleide, an welchem sie noch nestelte, empfing die Herrschaft im Vorsaale. Der Diener hatte das Gas angezündet. Einen Augenblick blieben die beiden Gatten hier stehen. Mit ritterlicher Höflichkeit, wie vor einer fremden Dame, zog er, um sich zu verabschieden, den Hut, während sie, nur leise über die Schulter nickend, kaum hörbar sein ruhiges „Gute Nacht!“ erwiderte.

Sie reichten sich dabei nicht einmal die Hand; es war nichts von Zärtlichkeit in den beiden Stimmen, auch nicht der herzliche Ton, wie ihn doch selbst Geschwister und Freunde für einander haben. Ihr Auge suchte nicht das seine und sah darum auch nichts von dem tiefen und mit seltsamem Ausdrucke auf ihr ruhenden Blicke, der ihr noch mehrere Secunden folgte, ehe der Baron sich wendete und hinter dem voranleuchtenden Diener den Corridor entlang nach seinen Zimmern schritt.

Auf der entgegengesetzten Seite lag das Gemach, in welchem sich endlich die Baronin all ihrer Hüllen entledigen ließ. Eine Nachtlampe, die von der zeltartigen Decke hing, verbreitete nur ein sanftes rosiges Licht in dem durchwärmten Raume, dessen behaglich elegante Einrichtung zu voller Wirkung kam, nachdem die Kammerjungfer die Kerzen der Armleuchter vor dem Pfeilerspiegel angezündet hatte. Der hellgrau und rosenroth gestreifte Seidenstoff, der die zeltartige Deckenverkleidung, die Thür-, Fenster- und Bettvorhänge, sowie den Ueberzug der wenigen Sitzmöbel in Rococogeschmack geliefert, gab der ganzen Ausstattung einen wohlthuenden Anstrich von Helle und Heiterkeit. Die feine elastische Gestalt der Baronin schälte sich aus den warmen Ueberkleidern und stand jetzt im vollen Ballstaate vor dem deckenhohen Pfeilerspiegel. Die Falten des wasserblauen Atlaskleides, über welches ganze Schleierfälle kostbarer Spitzen hinrieselten, schimmerten gleich Wellen um eine auftauchende Nymphenerscheinung. Einzelne Tropfen blitzten noch in dem goldbraunen Haar, und eine schwere Perlenschnur schlang sich dreimal um den feingeformten Hals.

Nur ein Hauch von Frische röthete die Wangen der jungen Frau, aber die blühenden Lippen bewiesen hinlänglich, daß dieser blasse Teint kein Zeichen eines Leidens war.

„Der Wagen war zwar auf vier Uhr bestellt,“ entschuldigte sich die Kammerjungfer im Hinblick auf ihre mangelhafte Toilette, „aber ich glaubte doch, es werde wieder halb sechs werden, und so habe ich mich mit dem Aufstehen etwas verspätet.“

„Thut nichts. Ich habe ein wenig Kopfschmerz,“ ließ die Herrin beschwichtigend fallen. „Bringen Sie mir nur frisches Wasser, Minna!“

„Aber wollten Frau Baronin nicht lieber einige Tropfen Eau de Cologne? Ich will etwas darunter mischen.“

„Nein, frisches! ...“ unterbrach die Baronin mit einem leisen Nachdruck des Unwillens das Mädchen, welches im Begriffe stand, aus einer auf dem Tische stehenden Karaffe ein Glas mit Wasser zu füllen, doch setzte sie sogleich, wie um den scharfen Ton des Befehls zu verwischen, erläuternd hinzu: „auch für die Blumen ist das Wasser hier zu abgestanden.“

„Ich will sie mitnehmen und draußen einstellen; sie duften zu stark, und wenn Frau Baronin ohnehin schon an Kopfschmerzen leiden ...“

„Thun Sie, wie ich Ihnen gesagt habe!“ lautete diesmal die Entscheidung so bestimmt, daß das Mädchen, welches dienstfertig nach dem Strauße gelangt, den ausgestreckten Arm betroffen sinken ließ und, noch einen Blick der Verwunderung auf ihre Herrin zurückwerfend, mit der Karaffe stumm aus der Thür huschte. Diese hatte sich kaum geschlossen, als die Baronin rasch und mit sehr wenig Achtsamkeit für die eben erst mit solcher Sorgfalt bedachten Blumen über dieselben hinstrich und, mit leichten Fingern in den Camelien suchend, ein zusammengerolltes Blättchen aus dem Verstecke zog.

Wie wenn sie einen Dorn berührt hätte, zuckte sie auf, als sie so ihre Vermuthung bestätigt fand; der Strauß fiel jetzt ganz unbeachtet in den vor ihr stehenden Fauteuil und von da auf den Teppich herab. Einen Moment zögerte sie, und die fein geschwungenen Lippen preßten sich fest auf einander, dann aber lächelte sie bittertrotzig, und unmittelbar darauf hatte sie auch schon das Röllchen geöffnet und die wenigen, in sichtlicher Eile mit Bleistift hingeworfenen Worte überflogen:

„Soll das ein Wiedersehen sein, Elise? Nicht einen Tanz hatten Sie für mich, nicht ein herzliches Wort. Ist alles todt? – Aber nein, ich bin nicht ganz vergessen. Unsere Herzen hat man nicht aus einander gerissen. In Deinen Augen habe ich es gelesen und Deine Lippen sollen mir bestätigen, was mir der eine unbewachte Blick verrieth. Laß Dich vor mir verleugnen und verleugne Dich selbst, wenn Du es vermagst!“

Wie sie jetzt bleich und mit geschlossenen Augen dastand, sah sie in der That so krank und einer Ohnmacht nahe aus, daß die zurückkehrende Kammerjungfer erschrocken das Wasser bei Seite stellte und ihrer Herrin zu Hülfe eilte. An ihrem Arme ließ sich diese in den Fauteuil gleiten; aus ihrer Hand nahm sie fast willenlos das Glas und trank ein wenig. Die Befeuchtung der schönen glatten Stirn und der von feinen blauen Aederchen durchflochtenen Lider mußte denn auch wohlgethan haben, denn klar und ruhig schlug die junge Frau wieder die Augen auf, in deren schwarzen Sternen ein wunderbares Leuchten aufging, und liebkosend beugte sie sich zu dem schlanken braunen Hündchen nieder, das, schon vor der Thür ungeduldig winselnd, mit dem Mädchen hereingekommen war und mit lauten Freudenbezeigungen an seiner geliebte Gebieterin emporsprang.

„Frip wird die Spitzen zerreißen, Frau Baronin,“ erlaubte sich die Kammerjungfer zu erinnern[WS 1].

„Um so besser für Sie. Wenn sie Ihnen gehören, dürfen Sie sich bei ihm bedanken.“

„Ach mein Gott – die wunderbare Garnitur!“

Die Baronin achtete nicht auf den halb bestürzten, halb entzückten Ausruf ihrer Zofe; sie hatte sich erhoben, ließ sich entkleiden und entledigte sich langsam der schweren Goldreife und der fast bis zu den Grübchen der Ellbogen reichenden Handschuhe. Wie geschickt sie dabei das kleine zusammengedrückte Papier zwischen den feinen Fingern mit Taschenspielergewandtheit verbarg, wäre dem mit ihrer Bedienung beschäftigten Mädchen jedenfalls entgangen, wenn Frip in seiner naiven Spiellust dieses sorgsame Verstecken nicht für eine ihm geltende Neckerei genommen und es nun mit besonderer List darauf angelegt hätte, in Besitz der Papierkugel zu gelangen, die sein treues Gemüth für eben so unschuldig und nur dem einen Zweck gewidmet hielt, wie all jene anderen, die er tagsüber zu apportiren hatte. Die Heftigkeit, mit welcher ihm die erhaschte Beute wieder abverlangt, ja schließlich abgejagt wurde, erregte die Aufmerksamkeit der Zofe. Indeß bemerkte die Baronin den eigenthümlich verständnißvollen Blick derselben nicht, welcher das augenscheinlich so kostbare zerknüllte Blättchen mit dem noch immer zerzaust und theilweise entblättert am Boden liegenden Strauße in Zusammenhang brachte. Wie sie mit blitzenden Augen und gerötheten Wangen dem Hündchen wehrte, bot sie auf ein paar Secunden ein reizendes Bild jungfräulicher Mädchenhaftigkeit dar; aber im nächsten Augenblicke war sie wieder die ernste stolze Frau. Frip auf dem Schooße, saß sie im Fauteuil und ließ sich den Schmuck aus dem Haare lösen; die Kammerzofe nahm die prächtigen Strähnen sorgsam aus einander, um sie mit dem Kamme leicht noch einmal zu durchfahren.

Da pochte es leise an die Thür. Frip sprang als kampfbereiter Wächter kläffend von seinem Hochsitze, schwieg aber sofort, als sich die wohlbekannte Stimme seines Herrn von außen vernehmen ließ.

„Auf ein Wort, wenn Du noch auf bist!“ bat die Stimme, und die Wirkung auf die junge Frau hätte keine überwältigendere sein können, wenn ein Feuerruf aus dem nächsten Zimmer zu ihr herübergedrungen wäre.

Sie sprang erschrocken und tieferröthend empor, und mit einer unwillkürlichen Bewegung zog sie schamhaft die gestickte Krause des Pudermantels enger und höher. Im Schrecken vergaß sie selbst die Weisung, welche sie ihrem Mädchen zu ertheilen hatte.

„Ich werde den Herrn Baron fragen, was er wünscht,“ sagte dasselbe, und rath- und fassungslos nickte die junge Frau, [107] die jedoch blitzschnell beiseite huschte, ehe die Portière aus einander geschlagen ward.

An der nur ganz wenig geöffneten Thür stand die Kammerjungfer und parlamentirte mit dem außenstehenden Herrn des Hauses.

„Der Herr Baron hat eine wichtige Mittheilung und läßt fragen, ob Frau Baronin nicht einige Minuten für ihn übrig hätten,“ berichtete sie jetzt, zurück in's Zimmer gewandt. Die junge Frau hatte die leisen Worte ihres Gatten verstanden; dennoch bediente auch sie sich wieder der Vermittlerin an der Thür, als ob schon der directe mündliche Verkehr mit dem vom Zutritt Ausgeschlossenen eine Entweihung dieses Raumes wäre.

„Ich werde sogleich in den Salon kommen,“ sagte sie leise.

Sie hatte sich unterdeß in einen weichwattirten Schlafrock gehüllt, der ihre Gestalt in bauschigen Falten umfloß, und ließ, sobald die Thür wieder geschlossen war, das weit über den Rücken herabwallende Gelock von dem Mädchen aufrollen und in ein Netz thun.

Noch zögerte sie, warf einen Blick in den Spiegel und verlangte ein leichtes Tuch, das sie sich um den Hals schlang, unter dem Vorwande, daß es im Salon wohl kalt sein werde.

„Aber dann wäre es ja besser, hier nebenan im Boudoir, Frau Baronin,“ rieth das Mädchen. „Die Temperatur hat sich da ganz hübsch gehalten.“

„Verwahren Sie unterdeß den Schmuck; ich werde gleich wieder da sein,“ schnitt ihr die Herrin jedes weitere Wort ab.

Als sie durch das kleine trauliche Zwischenzimmer in den Salon trat, hatte ihre Erscheinung wieder all die Kälte und vornehme Ruhe einer Herrscherin in den Kreisen der eleganten Welt, denen sie angehörte. Mit jenem merkbaren Unbehagen, das einem unwillkommenen Besuche keinen Zweifel an der Unzeit seines Erscheinens übrig läßt, durchschritt sie das nur von zwei Kerzen nothdürftig erhellte große Gemach, bis sie ihrem hier mit großen Schritten auf- und abgehenden Gatten gegenüberstand. Den Pelz hatte er abgelegt, doch trug er noch immer den schwarzen Gesellschaftsanzug, und selbst in dieser einförmigen, unmalerischen Tracht machte er durchaus den Eindruck einer bedeutenden Erscheinung. Er war hoch und stattlich gewachsen; das regelmäßige, nur etwas schmal aus dem weichen krausen Vollbarte hervortretende Angesicht mit der breitgewölbten, von dunkelbraunem Haar umlockten Denkerstirn trug das Gepräge kraftvollen Ernstes.

Der erste Blick, den seine Frau zu ihm aufschlug, überzeugte sie, daß kein Grund zu der geheimen Unruhe, welche sie trotz ihrer gleichgültigen Miene mit seltsamem Beben erfüllte, vorhanden war; sonderbarer Weise steigerte das ihre Kälte, daß dieselbe wie ein eisiger Hauch auch auf ihren Gatten überging. Seine Hand, die sich einen Augenblick – einen flüchtigen Augenblick nur – erhoben, um sich ihr entgegenzustrecken, senkte sich in einer begrüßenden Geberde.

„Verzeih'!“ sagte er. „Ich hätte Dich durch Wilhelm bitten lassen, da er aber daran ist, meine Tasche zu packen und meine Kleider zu rüsten, so muß ich Dich selber stören.“

Die Baronin nickte stumm mit dem Kopfe, schritt auf das nächste Sopha zu und ließ sich darauf nieder. Was war ihr doch – warum schauderte sie? Hatte sie in dem auf ihr ruhenden braunen Auge ein wärmeres Gefühl gelesen, als bisher – etwas wie eine Regung von Theilnahme ober mitleidigem Wohlwollen? Es mußte wohl eine Täuschung sein. Was sollte aber diese ganze Veranstaltung?

„Du reisest also ab?“

Wie gleichgültig, apathisch das klang! Aus der Frage ließ sich all das Erstaunen heraushören über das von solch einem unwesentlichen Ereignisse gemachte Aufheben, und in seiner Erwiderung zeigte sich, wie gut er das erfaßt hatte.

„Ja, in einer Stunde geht der Zug. Ich war auch unschlüssig, ob ich Dich noch bemühen sollte; ein paar Zeilen konnte man Dir ja beim Erwachen übermitteln, aber es interessirt Dich vielleicht, mir besondere Aufträge mitzugeben.“

„Ich habe keine für Riefling,“ sagte sie achselzuckend und schob die schlanken Hände fröstelnd in die weiten Aermel ihres Schlafrocks, wie in einen Muff.

„Aber vielleicht für Sternberg?“

„Was hast Du in – ?“ Sie hielt in ihrer verwunderten Frage sofort wieder inne, als verschmähe sie es, irgend Neugierde zu verrathen. Die rasch gehobenen Blicke langsam wieder senkend, sagte sie dann: „So, Du willst zu meinem Bruder?“

„Auf dieses Telegramm hin.“

Er las:

„Unangenehme Ereignisse. Rainach hat sich erschossen. Bitte, komm womöglich! Heinrich.“

Dann reichte er ihr das Blatt über den zwischen ihnen befindlichen Tisch. Sie hatte sich unwillkürlich aufgerichtet; ihr Auge überlief die Zeilen noch einmal; nun wandte sich ihr Blick erschrocken auf den in ernster Ruhe dastehenden Gatten.

„Was soll das bedeuten?“ fragte sie unsicher.

„Es klingt wie ein Hülferuf.“

„Aber Rainach? warum hat er sich – –? Ach, es ist gräßlich. Ein so gesetzter, kräftiger Mann – was kann ihn veranlaßt haben? Er war schon zu Papa's Zeiten Director der Selikauer Mühle und hatte sein ganzes Vertrauen.“

„Um so schlimmer.“

„O, Du meinst doch nicht, daß er es mißbrauchte?“

„Nach diesen Worten Deines Bruders scheint nicht Alles in Ordnung zu sein.“

„Du fürchtest wohl Verluste?“

Das klang so überlegen, beinahe verächtlich, daß die mit einschneidendem Nachdrucke gegebene Erwiderung noch eine ganz andere Bedeutung gewann.

„Ich fürchte sie für die Deinen.“

Befangen wich sie dem unter gerunzelten Brauen scharf hervorblitzenden Auge aus. Doch das Unbehagen, von dem sie sich erfaßt fühlte, gewaltsam mit geringschätzigem Achselzucken abschüttelnd, fand sie auch ihre äußerliche Ruhe wieder.

In einem weniger spöttischen und verletzenden, dafür aber um so gleichgültigeren Tone sagte sie:

„Heinrich wird eben erschrocken sein. Er hat sich immer wenig um die Geschäfte bekümmert; dafür ist ja auch das Personal da. Rainach mußte Alles leiten; das war schon Alles so eingerichtet; nun wird man einigermaßen in Verlegenheit sein, sich ohne das Factotum zurecht zu finden.“

„Ich weiß nicht, ob das eine ausreichende Erklärung ist; daß man mir Mittheilung macht und mich herbeiruft, scheint mir mehr zu bedeuten. Da ich weder den Betrieb von Kunstmühlen verstehe, noch jemals Einblick in die Geschäftsgebahrung gehabt habe, wäre ich wohl der Letzte, den man zu Rathe zu ziehen hätte, wenn es sich um nichts weiter handelte. Schon der Umstand, daß Heinrich die Depesche um Mitternacht an mich abschickte – zwei Stunden hatte der Reitknecht wohl bis zur Station gebraucht und dann mag sie vielleicht noch eine Stunde liegen geblieben sein – schon das allein erscheint mir als ein Zeichen besonderer Aufregung. Ich glaubte mich darum auch nicht besinnen zu dürfen und werde mich in der Kammer entschuldigen lassen, wiewohl ich gerade für heute als Redner eingetragen bin. Der Antrag wird aber wohl auch ohne mich durchdringen, indeß ich draußen vielleicht behülflich sein kann, einen schweren Schlag abzuwenden.“

„Möglich. – Uns betrifft es ja übrigens nicht.“

Der Baron trat einen Schritt zurück, als müsse er einem drohenden Stoße ausweichen. Sprachlos sah er einen Moment lang dieses zierliche Wesen an, unter dessen reizender Hülle sich so viel Kälte und Selbstsucht barg. Dann aber begannen seine Augen zürnend zu funkeln und ein feindseliger Blitz zuckte aus denselben.

„Wenn das die ganze Summe Deiner Empfindungen ist,“ sagte er mit schneidendem Sarkasmus, „so hast Du allerdings ein noch weiteres Verarmen nicht zu befürchten. Ich meinestheils muß mir meine eigene Ansicht vorbehalten, und sie weicht insofern von der Deinigen ab, daß ich nicht gleichgültig hinwegzugehen vermag über das Schicksal jenes Hauses, aus welchem – mir meine Frau gefolgt ist. Es soll und muß aufrecht stehen.“

„Oder – sie kann wohl in dasselbe zurückkehren?“

Einen Augenblick kämpfte er mit sich selbst; er war sehr blaß geworden, doch schoß ihm gleich darauf eine heiße Blutwelle in die Schläfe, und seine kräftige Gestalt richtete sich stolz empor.

„Es ist Dein eigener Zusatz,“ sagte er, „und ich habe darauf nichts zu erwidern – auch wenn er einen Entschluß ausspräche.“

[108] In sich versunken, regungslos saß sie in der Sopha-Ecke; immer noch klang ihr der herbe Ton in den Ohren, dessen erzwungene Gelassenheit ein leises Beben doch nicht ganz zu verbergen vermochte; immer meinte sie noch, es müsse ein weiteres Wort kommen, und doch wußte sie, daß der, von dem sie es erwartete, schon längst gegangen war. Allein, ganz allein saß sie in dem großen dämmerigen Raume; die Kälte jagte sie zuletzt empor; sie ließ die Depesche in die Tasche gleiten; es brauchte sie Niemand von der Dienerschaft zu finden.

Als sie wieder in ihr helles, warmes Schlafzimmer trat, da war ihr, als erwache sie aus einem Traume. Das noch immer auf dem Boden liegende, von Frip zerzauste Bouquet rief ihr wieder eine ganz andere Bilder- und Gedankenreihe zurück. Wo war das Blatt, das sie vorher so ganz und gar vergessen, und das ihr entfallen sein mußte?

Die auf dem Teppich verstreuten Papierflöckchen ließen darüber kaum einen Zweifel. Der Hund hatte sich des Billetdoux bemächtigt und es im Muthwillen zu Atomen zerrissen. Es war gut so. Die im Fauteuil eingenickte Kammerjungfer, welche erst, als die Thür aufging, schlaftrunken emporgefahren war, hatte es also noch nicht gefunden und gelesen.

Und wenn auch? Was lag am Ende daran?




2.

Ja, was lag am Ende daran?

Das fragte sie sich auch bitterlächelnd wieder, als sie mehrere Stunden später in ihrem Boudoir saß und die Kette der Gedanken von Neuem aufnahm, die ein kurzer unruhiger Schlaf, erst nach langem Zaudern einkehrend, mit häßlichen Traumcaricaturen unterbrochen hatte.

Ein Schubfach des mit schillernder Perlmutter kunstvoll ausgelegten Ebenholztisches, welcher kostbares Schreibgeräth, kleine eingerahmte Bilder, Figürchen und sonstiges Spielzeug trug, stand offen. Das in violetten Maroquin gebundene große Buch, mit dem sie sich beschäftigte, war offenbar aus demselben genommen. Ein kleiner vergoldeter Schlüssel steckte noch in dem Schlosse der Klammer. Jetzt war das Buch aufgeschlagen, und zwischen den Seiten lag eine Photographie, die einen jungen Husarenofficier darstellte, denselben, welcher sich mit dem vergessenen Strauße am Fuße der großen Treppe des Opernhauses eingefunden, nur daß der jetzt so volle Schnurrbart auf dem Bilde noch nicht zu solcher Stattlichkeit gediehen war. Auch manche Einzelnheit war verschieden, und das verstärkte noch jenen Eindruck der Fremdheit und Erstarrung, den gerade diese Gattung von Portraits nach einigen Jahren bei dem Betrachter immer hervorruft, besonders wenn sich wieder die Gelegenheit ergiebt, Vergleiche mit dem Originale anzustellen. Dieses lebt, und daneben erscheint das alte Conterfei wie erstorben und verzerrt.

Und dies hatte eben erst auch die schöne Träumerin empfunden, als sie das Blatt enttäuscht auf die beschriebenen Seiten des Buches zurückfallen ließ, zwischen denen es, in feines Goldpapier eingehüllt, aufbewahrt gelegen.

Nicht zufällig hatte es gerade hier seinen Platz gefunden.

Mit bewußter Absicht war es vielmehr an eine bedeutsame Stelle gethan worden; es bildete gleichsam ein Merkzeichen und eine Illustration.

Der Blick glitt unwillkürlich von der Photographie ab auf die feinen Schriftzüge, mit denen eine sicherlich nicht flüchtige, eher capriciöse und einigermaßen eigenartige Damenhand beinahe die Hälfte des Buches gefüllt hatte.

(Fortsetzung folgt.)


Thierbilder von nah und fern.
1. Der Flamingo.
Von Dr. Karl Ruß.

Dem heißen Sommertage ist eine laue, halbdunkle Nacht gefolgt. Wir haben die letzten Stunden am Ufer eines Gewässers in drückender Schwüle und lautloser Stille verträumt, und die allmählich vom Wasserspiegel aus heranziehende Kühle belebt uns wie auch andere Wesen. Allenthalben rings umher wird’s regsam; der laute, mehrmals ausgestoßene Schrei einer Ente, begleitet von schallendem Flügelklatschen, die heiseren Rufe großer Sumpf- und Wasservögel hallen vom jenseitigen Ufer herüber. Dann hören wir in der Ferne die grollende Stimme des Königs der Thiere und, gleichsam wie im Widerhall, das Brüllen mächtiger Wiederkäuer.

Wiederum wird es stille; nur dann und wann vernehmen wir das Huhu einer Eule, den Schrei einer Möve und den Trompetenton eines Kranichs. Nun aber erheben sich Laute, so wunderlich und widerwärtig zugleich, daß wir sie dem schöngefiederten Pfau kaum zutrauen möchten, und wie aufgestört kollert ein Truthahn, läßt eine kleine Taube ihren schrillen Ruf erschallen, und mancherlei grunzende, blökende und brüllende Töne mischen sich darein. Die Hunde werden wach; ihr Gebell und Geheul übertäubt zunächst alle anderen Stimmen, bis auch sie sich beruhigen und mit der zunehmenden Nachtkühle alles wieder still wird. Im Halbdunkel sehen wir lichte Gestalten über den Wasserspiegel hin und her wandern, bis sie stehen bleiben und alles regungs- wie lautlos verharrt.

Mit der nahenden Morgendämmerung erhebt der Pfau von Neuem sein Geschrei, und wie antwortend ertönt das grause Lachen der Hyänen, das Geheul anderer großer und kleiner Raubthiere und das Bellen der Hunde; dann beginnen die Hähne zu krähen, andere Hühnervögel zu rufen und zu gackern; die gellenden Schreie großer Papageien erschallen weithin, und allenthalben um uns her wird es lebendig. In den Gipfeln der Bäume werden die Staare munter, im Gebüsch die Sperlinge und vom unfernen Waldrande her vernehmen wir das Trommeln des Spechts.

Ein Entenschwarm schießt über die noch dunkle Wasserfläche dahin, und mit einem Schlage kommt in die großen weißen Punkte auf derselben Bewegung: Flamingos, Schwäne, Gänse im Wasser und Reiher, Störche, Kraniche am Ufer erwachen, schütteln sich, schreiten oder rudern bedächtig hin und her. Der bis dahin anscheinend öde Wasserspiegel hat sich plötzlich mit unzähligen Gestalten belebt und wir sehen mit einem Male ein Bild vor uns, so fremdartig schön, wie es der Griffel des Künstlers kaum wiederzugeben vermag. –

Das sind Eindrücke, nicht etwa aus den Tropen sondern aus einem zoologischen Garten, wo sie heutzutage Jeder empfangen kann, der Sinn und Verständniß für die Thierwelt hat; und damit stellt sich so recht deutlich der eminente Aufschwung vor die Seele, welchen die Naturbeobachtung in den letzten Jahrzehnten genommen hat.

Wohl lasen wir in unserer Jugend schon mit Entzücken die Schilderungen von Reisenden, welche fremdländische Thiere in deren Heimathgegenden, namentlich in den Tropen, beobachten konnten, und wir erinnern uns des Jubels, mit dem wir einst die guten oder schlechten Abbildungen einer Naturgeschichte durchblättert, des Eifers, mit dem wir dann die Beschreibungen verfolgt haben, um das Leben solcher uns wunderbar dünkenden Geschöpfe kennen zu lernen. Welche Errungenschaften aber sind aus diesem, wie auf so vielen anderen Gebieten der Forschung, seitdem gemacht worden! Zahlreiche tüchtige Männer sind hinausgezogen bis in die fernsten Wildnisse aller Welttheile und haben uns treue Berichte vom Leben und Treiben, von der Entwickelung und allen besonderen Eigenthümlichkeiten der Thiere gebracht; unsere Schul- und Hausnaturgeschichten wimmeln jetzt nicht mehr von Unrichtigkeiten wie früher, und noch mehr: wir finden gegenwärtig vielfach die Gelegenheit, die Mittheilungen der Reisenden gleichsam mit eigenen Augen zu controliren. Die zoologischen Gärten, und unter ihnen hoch obenan stehend der Berliner unter Leitung von Dr. Bodinus, züchten jetzt schon zahlreiche Arten der verschiedensten fremdländischen Thiere, und damit Hand in Hand geht die anderweitige Thierzucht von der Einbürgerung landwirthschaftlich wichtiger Fremdlinge bis zu der außereuropäischen Wildes, von der Bevölkerung der Seen und

[109]

Flamingos auf dem Sammelplatze.
Originalzeichnung von Gustav Mützel.

[110] Flüsse, der Hühnerhöfe und Taubenschläge bis zu der unserer Vogelstuben und Heckkäfige.

Derartige Betrachtungen treten uns unwillkürlich nahe, wenn wir ein Thierbild, wie das diese Zeilen begleitende, vor uns sehen, welches uns das Leben und Treiben der Flamingos auf einem ihrer heimathlichen Sammelplätze in lebendiger Wahrheit malt.

Der Flamingo nimmt unser Interesse zunächst in Hinsicht seiner ornithologischen Bestimmung in Anspruch. Erst in der neuesten Zeit nämlich haben Vogelkundige durch eingehende Untersuchungen nachgewiesen, daß dieser Vogel nicht, wie häufig angenommen und nur von wenigen Forschern, z. B. von Leunis, bestritten, zu den Schwimm-, sondern zu den Sumpfvögeln gehört und den Störchen und Ibisen nahe steht, wenn auch sein Schnabel- und Fußbau, sowie die Ernährung dagegen zu sprechen scheinen.

Dem Laien dünkt der Flamingo auf den ersten Blick überhaupt als ein wunderliches Geschöpf. Der Rumpf und die Schwimmfüße gleichen denen einer Gans, die langen Beine und der Hals denen eines Storches oder Reihers, nur daß der Flamingohals noch länger und gelenkiger ist. Der Schnabel ähnelt dem einer Ente, und gleich letzterer grundelt der Flamingo auch im Schlamm umher, doch mit dem Unterschiede, daß er, den Kopf umwendend, die obere Schnabelhälfte auf den Grund hinablegt und so schnatternd allerlei kleines Wassergethier, Würmer, Mollusken, Krebsthiere, sowie auch Fischfleisch und Pflanzenstoffe frißt. Sein Gefieder ist weiß, mehr oder minder rosenroth überhaucht, mit rothen Oberflügeln und schwarzen Schwingen. So erscheint er als ein stattlicher und zugleich schöner Vogel, und wo, wie am Neptunsteich im zoologischen Garten von Berlin, eine ganze Heerde Flamingos beisammen ist, bilden sie einen gar herrlichen Schmuck. Man kennt ihrer fünf Arten, welche in Afrika, Asien, Amerika und im wärmeren Europa heimisch sind und von denen einige Exemplare sich zuweilen auch bis nach Mitteleuropa, also zu uns nach Deutschland, verfliegen.

Ueber den Aufenthalt und die Lebensweise berichtet der leider zu früh verstorbene Afrikareisende Th. von Heuglin: „Man sieht sie vornehmlich in seichtem Meer- und Brackwasser, auf Sandbänken, flachen Korallenriffen, an Lagunen, verschlammten Flußmündungen und in den Sümpfen der Natron- und Salzseen; wenn irgend möglich, an Stellen, die ihnen eine weite Rundsicht gestatten, welche also entblößt sind von hohem Schilf- und Buschwerk. Trotz ihres schüchternen Wesens findet man sie dort, wo sie sich sicher fühlen, doch oft unweit von den Fischerbarken, in Alexandrien sogar ganz nahe an der eine weite Strecke zwischen den Lagunen hinführenden Eisenbahn. Sobald sie aber Nachstellungen erlitten haben, ziehen sie sich auf unzugängliche Stellen in den Morästen zurück. Sie übernachten auf seichten Stellen inmitten der Gewässer oder Sümpfe, wo sie sich dann zu vielen Hunderten ansammeln und von wo sie früh morgens in reihenweise geordneten Flügen nach den Futterplätzen abstreichen.“

Der Reisende behauptet, daß arabische Fischer sie sehr leicht fangen, denn nach Bestellung könne man auf dem Markt von Damiette in wenigen Tagen eine große Anzahl erhalten.[1] Das Fleisch sei zart, saftig und wohlschmeckend und habe nur zuweilen einen unangenehmen Thrangeruch. Von den Schleckern des Alterthums wurden bekanntlich die Zungen und das Gehirn von manchen Vögeln, vorzugsweise von den kostbarsten, als besondere Leckerbissen erachtet, und so wurde denn von Apicius, Vitellius und Heliogabal auch der Flamingo in dieser Weise benutzt.

Ueber die Fortpflanzung des Flamingo war man bis zur neuesten Zeit noch im Unklaren, und in Betreff desselben ist viel gefabelt worden. Der Reisende Dr. Gundlach, welcher die amerikanischen Arten beobachtet hat, bestätigt, daß das Nest aus Schlamm und Pflanzenresten kegelförmig aufgeschichtet sei und oben eine flache Vertiefung habe, in welcher der Vogel brütend sitze, während seine Beine, denen eines Reiters ähnlich, zu beiden Seiten herunterreichen.

In Amerika werden die Jungen oft in Höfen, Gärten, Parks u. s. w. aufgezogen; früher wurden sie sogar in kleinen Heerden gleich Gänsen zu Markte getrieben, was jetzt nur noch vereinzelt geschieht. In der Gefangenschaft werden sie mit Getreide, namentlich mit geschrotenem Mais, gekochtem Reis, gequelltem Weizen oder Gerste, eingeweichtem Brod, Fleisch, Fischen u. s. w. gefüttert; nur, wenn sie Fleisch als Zugabe bekommen, erhält sich die schöne rothe Farbe, während dieselbe andernfalls immer mehr ausbleicht.

Ueberaus prächtig muß der Anblick und großartig der Eindruck sein, wenn ein Reisender das Glück hat, einen Sammelplatz zu belauschen, auf welchem solche Vögel zu Hunderten, wohl gar zu Tausenden sich einfinden. Das sind natürlich nur Stellen, an denen sie sich vor jeder Verfolgung und Gefahr ganz sicher fühlen und die sie daher auch nur in solchen Gegenden ferner Welttheile finden können, welche der menschlichen Cultur noch durchaus verschlossen sind. Dort herrscht das freie Thierleben noch unbeschränkt, ungefährdet durch des Menschen Waffe. Aber nicht lange, da erscheint der Sohn Albions als gewaltiger Nimrod, dessen Jagdeifer sich über alle Welttheile erstreckt und dessen Waffen selbst bis in die fernsten Einöden reichen – ein erster Repräsentant jener Cultur, welche dem Thierleben scharfe Grenzen vorzeichnet. Da darf man wohl mit einer gewissen Berechtigung annehmen, daß es nicht mehr gar lange dauern werde, bis es gar keine freilebenden Thiere mehr giebt. Wie bei uns Hase, Fuchs, Reh und Wildschwein, streng genommen, nur noch existiren können, wenn der Mensch sich ihrer annimmt, sie schont und hegt, so wird auch in den fernen Tropen über kurz oder lang das Pulver und Blei des Jägers selbst die furchtbarsten, wie die scheuesten Thiere mehr und mehr unter seine Herrschaft zwingen.



Zur Geschichte der Socialdemokratie.[2]
Von Franz Mehring.
4. Friedrich Engels und Karl Marx. – Der internationale Arbeiterbund.

Mit dem Tode Lassalle’s schloß das erste große Capitel in der Geschichte der deutschen Socialdemokratie. Es hat kein Gegenbild in der gesammten modernen Arbeiterbewegung. Erst als jener ebenso geniale wie gefährliche Agitator ruhmlos verblichen war, bildete sich eine europäische Socialdemokratie. Deutsche Hände pflanzten ihre Wurzel in englischen Boden, von wo aus sie nach und nach ihr wucherndes Geflecht um alle Glieder unseres Erdtheils und selbst überseeischer Welten gesponnen hat.

Man hat den großen Arbeiterbund aller Völker, welcher die „internationale Arbeiterassociation“ oder gemeinhin die „Internationale“ genannt wird, wohl als die jüngste und zukunftsreichste Großmacht gekennzeichnet. Und so, wie er gedacht ist, als eine millionen- und aber millionenköpfige Phalanx der Handarbeiter, die, beseelt von einem Herzschlage, mit der erbarmungslosen Unwiderstehlichkeit einer Naturgewalt alle Höhen und Tiefen der modernen Cultur zu einer gleichmäßigen Fläche einebnen soll, würde er allerdings eine furchtbare Kraft darstellen, welcher dauernd keine irdische Gewalt zu widerstehen vermöchte.

Es ist viel gestritten worden, wer diesen unstreitig stärksten aller revolutionären Gedanken des neunzehnten Jahrhunderts [111] zuerst gedacht hat; Manche wollen behaupten, er sei aus einem weiblichen Kopfe entsprungen; die Französin Jeanne Derouin wird als seine Mutter genannt. In Wahrheit und Wirklichkeit ist er niemals, wie Athene aus dem Haupte des Zeus, fertig und klar aus einem menschlichen Gehirn getreten vielmehr erwuchs er, wie alle weltbewegenden Gedanken, allmählich aus den Dingen selbst, bis hochbegabte Demagogen seine Verwendbarkeit erkannten und seinen Gehalt in eine so blendend knappe Form prägten, daß er hinfort wie eine bekannte und vertraute Münze unter den Völkern aller Zungen umlaufen konnte.

Die geheimen politischen Gesellschaften, wie sie während der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts vorzugsweise im europäischen Süden und Westen bestanden, in Rußland noch heute bestehen, waren und sind die Zufluchtsstätten schon freiheitsdürstender, aber noch unfreier Völker. Sie erweisen sich gleichsam als die erste, aber lebensgefährliche Stufe, die zum Tempel der Freiheit emporführt. Jedem Volke, das nicht mit schnellen Schritten über sie hinwegkam, haben sie zu unverwindlichem Schaden gereicht. Das unheimliche Zwielicht, in welchem sie lebten, wandelte alle ihre Bestrebungen zu widerliche Zerrbildern um; wie edel häufig die Absichten ihrer Gründer und Stifter sein mochten, so wurden sie doch unausbleiblich Tummelplätze der lächerlichsten und schlechtesten Leidenschaften. Statt zu erheben und zu läutern, entnervten und entmannten sie; die feurigste Freiheitsliebe verpuffte in einem albern-verächtlichen Wirrwarr von Attentaten und Putschen; Niemandem wurden sie schließlich verächtlicher, als den gewerbsmäßigen Revolutionären selbst, soweit dieselben überhaupt Männer und nicht blos Kinder waren.

Dennoch haben diese Geheimbünde bis zum Jahre 1848 in allen gesitteten Ländern bestanden, wenngleich weit zahlreicher unter den romanischen als unter den germanischen Nationen. Es war natürlich unvermeidlich, daß die socialistischen Umsturzgedanken, als sie in der Arbeiterwelt auszutauchen begannen, zunächst gleichfalls das schützende Dunkel nächtlicher Verschwörungen aufsuchten. Ebenso naturgemäß führte mannigfache Interessengemeinschaft zu gewissen Berührungspunkten unter den Geheimbünden verschiedener Länder und Völker, namentlich als sich die europäischen Regierungen zu gemeinsamem Vorgehen gegen sie verbanden. Allein diese internationalen Zusammenhänge entsprangen doch nur mehr einem unsichern Tasten, als einem bewußten Wollen. Die strenge Grenzbewachung, die Mangelhaftigkeit der Verkehrsmittel erschwerten die Verbindung von Volk zu Volk; auch fehlte jene durchsichtige Klarheit der Ziele, welche allein über die hemmenden Schranken verschiedener Denk- und Sprechweise helfen konnte.

So gediehen die internationalen Beziehungen der Geheimbünde unter verschiedenen Völkern nur da, wo dieselben auf eng begrenztem Raume neben einander wohnten, und unter verschiedenen Ländern nur dann, wenn sie sich aus Genossen desselben Volkes beschränkten. In ersterem Betrachte mag als Beispiel die Schweiz genannt werden, wo ein „Junges Deutschland“, ein „Junges Frankreich“, ein „Junges Italien“ als verschiedene Zweige eines „Jungen Europa“ bestanden; in letzterer Beziehung der „Bund der Communisten“, welcher die deutschen Arbeiter über den ganzen Erdball hin revolutionär zu verbinden suchte und bei der deutschen Wanderlust starke Absenker nach Belgien England, Frankreich, der Schweiz treiben konnte und getrieben hatte. Sonst aber war diese Gesellschaft eben auch nur ein revolutionärer Geheimbund, wie andere ihres Gleichen, ohne ernstere Gedanken und Ziele, bestimmt, viele nützliche Kräfte zwecklos zu verzehren und dann klanglos zum Orkus zu wandeln.

Vor diesem Schicksale wurde sie gerettet durch den Anschluß zweier Gelehrter, die in langwierig mühsamen Arbeiten sich klar geworden waren über die Bedingungen, unter denen allein die von ihnen gewünschte Umwälzung der modernen Welt möglich ist oder möglich werden könnte. Es waren Friedrich Engels und Karl Marx, beide gleich Lassalle jüdischen Blutes, auf deutscher Erde geboren und genährt von deutschem Geiste, in der strengen Zucht deutscher Wissenschaft herangewachsen zu jener geschlossenen Denkkraft, die ihnen einen so großen und verhängnißvollen Einfluß auf die geschichtliche Entwickelung ihres Jahrhunderts zu üben gestattet hat.

Ueber die näheren Lebensumstände von Engels ist nur wenig bekannt. Er ist in Barmen geboren und lebt heute als reicher Fabrikbesitzer in Manchester. Schon 1844 versuchte er in den „Deutsch-französischen Jahrbüchern“ den Nachweis, daß die ganze bisherige Volkswirthschaftslehre nur eine Ableitung unsittlicher Vorstellungen aus einer völlig entsittlichten Wirklichkeit sei; im Jahre darauf bemühte er sich in seinem bekanntesten Werke. „Die Lage der arbeitenden Classen in England“, geschichtlich und statistisch an dem Beispiele der classischen Volkswirthschaft unserer Tage nachzuweisen, daß eben diese Volkswirthschaft mit ihren Fabriken und Maschinen, ihrem Freihandel und Geldverkehr unrettbar zum äußersten Massenelend führe, wenn nicht der – Communismus einen rettenden Ausweg schaffe.

Nach Roscher’s Urtheil ist das leider mehr genannte, als gekannte und augenblicklich auch äußerst selten gewordene Werk ein aus den Schattenseiten der neueren englischen Zustände unter Verschweigung ihrer Lichtseiten geschickt zusammengesetztes Nachtgemälde, das, in sehr vielen Einzelnheiten wahr, im Ganzen doch nur ein allerdings zur Aufreizung und Beunruhigung der Arbeiter höchst wirksames Zerrbild ist. Seitdem hat Engels nur eine längere Reihe kleinerer, meist agitatorischer, wenn auch äußerst geistreicher Schriften verfaßt, bis er in jüngster Zeit wiederum ein größeres Werk veröffentlichte, das äußerlich zwar auch nur als Polemik gegen einen wissenschaftlichen Gegner auftritt, aber in seinen fachlichen Ausführungen eine Fülle werthvoller Beiträge zur Lehre der modernen Socialwissenschaft enthält.

Bedeutender noch und jedenfalls bekannter, als Engels, ist Karl Marx. Auch er stammt aus dem Rheinlande, er ist als Sohn eines höheren preußischen Beamten in Trier geboren. Eben in das siebente Jahrzehnt seines Lebens tretend, vermag er schon aus fast vier Jahrzehnte politischer und publicistischer Arbeit in Deutschland und Frankreich, Belgien und England zurückzublicken Eine seltene Folgerichtigkeit der Weltanschauung zeichnet ihn aus; in vielfacher Beziehung darf er als der größte Revolutionär des neunzehnten Jahrhunderts gelten. Ein genialer, tiefsinniger, ursprünglicher Denker und zugleich ein eitler, niedriger, zänkischer Demagoge – in der Geschichte findet sich keine zweite Gestalt, die so grelle Widersprüche zu einer in sich so vollkommenen Individualität zu verschmelzen gewußt hat, wie Marx.

„Er ist der Erste und Einzige unter uns Allen,“ schreibt ein schwärmerischer Anhänger der revolutionären Partei, „dem ich das Zeug zutraue, zu herrschen, das Zeug, auch unter großen Verhältnissen sich nicht in’s Kleine zu verlieren. Ich bedaure um unseres Zieles willen, daß dieser Mensch nicht neben seinem eminenten Geiste ein edles Herz zur Verfügung zu stellen hat. Aber ich habe die Ueberzeugung, daß der gefährlichste persönliche Ehrgeiz in ihm alles Gute zerfressen hat. Er lacht über die Narren, die ihm seinen Proletarierkatechismus nachbeten, so gut wie über die Bourgeois. Die einzigen, die er achtet, sind ihm die Aristokraten, die reinen, und die es mit Bewußtsein sind. Um sie von der Herrschaft zu verdrängen, braucht er eine Kraft, die er allein in den Proletariern findet. Deshalb hat er sein System auf sie zugeschnitten. Trotz aller seiner Versicherungen vom Gegentheil, habe ich den Eindruck mitgenommen, daß seine persönliche Herrschaft der Zweck all seines Treibens ist.“

So schrieb der preußische Exlieutenant von Techow vor nunmehr dreißig Jahren; seitdem ist seine Schilderung im Guten und Schlimmen so oft von kundigen Urteilen bestätigt worden, daß sie typischen Werth gewonnen hat.

Es würde hier zu weit führen, die lange Reihe der Aufsätze und Schriften aufzuzählen, in denen Marx seine Gedanken entwickelt hat. Je nach den Bedürfnissen der politische Lage hat er sie in deutscher, englischer oder französischer Sprache veröffentlich. Ihr gipfelnder Höhepunkt ist bekanntlich „Das Capital“, jenes große Werk, dessen Namen Millionen und dessen Inhalt kaum Tausende kennen. Bei ihrer streng geschlossenen Logik läßt sich der innerste Kern der Lebens- und Weltauffassung von Marx mit wenigen Sätzen darlegen. Seine geschichtlichen und wirtschaftlichen Forschungen führen ihn zu dem Ergebnisse, daß die jedesmaligen materiellen, d. h. rein grobsinnlichen Bedingungen, unter denen die menschliche Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit ihren Lebensunterhalt erwirbt und austauscht, die bewegenden Kräfte der Weltgeschichte sind. Alle bisherige Geschichte ist für ihn nichts anderes, als die Geschichte von Classenkämpfen. Diese einander bekämpfenden Classen der Gesellschaft sind jedesmal Erzeugnisse der Erwerbs- und Verkehrsverhältnisse, mit einem Worte, der wirtschaftlichen Verhältnisse ihres Zeitalters. Die [112] jedesmalige wirthschaftliche Verfassung der Gesellschaft ist die tatsächliche Grundlage, aus welcher sich der gesammte Ueberbau der politische und rechtliche Einrichtungen, der philosophischen und religiösen Anschauungen eines Volkes und einer Zeit an letzten Grunde ableiten läßt. Dies ist die allgemeine Geschichtsanschauung von Marx, deren grob materialistische Tendenz er durch seinen talmudistischen Scharfsinn und sein unvergleichliches Wissen in allen Einzelnheiten mit zäher Ausdauer zu begründen versucht hat und noch versucht.

Auf unser Jahrhundert angewandt, führt ihn diese Theorie zur Lehre von der gänzlichen Verwerflichkeit der heutigen Gesellschafts- und Staatsordnung. Die wirthschaftliche Grundlage der modernen Culturstaaten ist unstreitig das Sondereigenthum, welches seit 1789 eine noch weit schärfere Ausbildung erlangt hat, als es jemals früher hatte. Dieses Sondereigenthum ist aber nach Marx nichts anderes, als ein dauernder Raub der besitzenden an den arbeitenden Classen. Mit den älteren englischen Volkswirthen erkennt er in der Arbeit die alleinige Quelle aller Werthe; der Unterschied zwischen ihrem Lohne und dem Preise ihres Erzeugnisses ist die Aneignung unbezahlter Arbeit seitens der Unternehmer, die Ausbeutung der Arbeiter, welche allein die in den Händen der besitzenden Classen sich häufende Werthsumme schafft. Darnach ist das Sondereigenthum die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, des socialen Elends, der geistigen Herabwürdigung, der politischen Abhängigkeit. Das einzige Mittel, die gesittete Menschheit noch vor heillosem Verfalle zu erretten, ist seine gänzliche Beseitigung, das will sagen, die Durchführung des Gemeineigentums an allen Arbeitswerkzeugen, großen wie kleinen, von dem Grund und Boden der Erdoberfläche an bis herab zur letzten Schlosserfeile.

Nun aber würde diese Erkenntniß – immer nach Marx selbst – an und für sich äußerst unfruchtbar sein. Ergäbe sie sich rein aus Forderungen der Vernunft, und fände sie noch so lebhaften Anklang, so würde sie doch kein Brett und keinen Stein in der bestehenden Eigenthumsordnung verrücken, denn nicht was nach geistiger Erkenntniß sein soll, sondern was in wirtschaftlichen Dingen ist, entscheidet über die Geschicke der Welt. Soll also das Gemeineigentum jemals die wirthschaftliche Grundform des Völkerlebens werden, so ist das Ziel nur dadurch zu erreichen, daß es sich von selbst aus dem Sondereigenthum entwickelt. Und diesen Nachweis sucht denn auch Marx zu führen, wiederum mit großem Aufwande mühsamen Scharfsinnes. Er stellt die gegenwärtige Wirthschaftsform als Vorschule einer communistische Epoche dar, indem er voraussetzt, daß unter der Herrschaft des freie Wettbewerbes der große allmählich den kleinen Besitz aufsaugen, nach und nach alles Eigenthum sich in den Händen einer verhältnißmäßig geringe Anzahl von Personen sammeln wird. In diesen großen Unternehmungen würden dann aber die Arbeiter so an das Gefühl der Gleichheit, an das Zusammenarbeiten gewöhnt werden, sie würden so viel Geschäftskenntniß erlangen, daß, wenn einmal die Entwickelung des Sondereigenthums dazu geführt hat, daß eine ungeheuere Mehrzahl von Besitzlosen einer winzigen Minderheit von Besitzenden gegenüber steht, alsdann auch kinderleicht die „capitalistische Spitze“ abgestoßen, die „Enteigner enteignet“, kurzum die capitalistischen Unternehmungen in communistische verwandelt werden können.

Für die praktisch-politische Propaganda solcher Anschauungen erblickten Engels und Marx in dem „Bunde der Communisten“ ein Gebilde, das nur einer verbessernden Umgestaltung bedurfte, um ein wirksames Werkzeug zu werden. Es galt, seine communistischen und internationalen Tendenzen klarer und schärfer zu gestalten, sein geheimes Verschwörertreiben durch eine aussichtsvollere Taktik zu ersetzen. Diese Taktik wieder ergab sich ganz von selbst aus einer Theorie, deren Endziel der auf das Gemeineigenthum gegründete Zukunftsstaat ist. Denn, angenommen, die alleinige Quelle alles menschlichen Elends sei das Sondereigenthum. auf dem sich doch gegenwärtig die wirthschaftliche Verfassung aller modernen Culturvölker aufbaut, so kann sie offenbar niemals durch einzelne noch so glückliche Attentate und Putsche in einzelnen noch so mächtigen Staaten beseitigt werden. Vielmehr handelt es sich dann um einen allgemeinen, unterschiedslosen Angriff der Besitzlosen gegen die Besitzenden, um einen Kampf also, der nur durch eine mit allen Mitteln öffentlichen Wirkens betriebene, über alle Länder und Völker sich erstreckende Agitation geführt und nur in der gewaltsamen Enteignung der besitzenden Classen, in der allgemeinen Herstellung des Gemeineigentums ende könnte.

Nach diesen Gesichtspunkten wälzten Engels und Marx den „Bund der Communisten“ allmählich um. Die geheime Verschwörergesellschaft verwandelte sich in eine einfache Organisation der communistischen Propaganda. Sie bestand überall, wo deutsche Arbeitervereine bestanden; fast in allen diese Vereinen Englands, Frankreichs, Belgiens und in sehr vielen Vereinen Deutschlands waren die leitenden Mitglieder Bundesangehörige. Daneben aber suchte der Bund zuerst den internationalen Charakter der gesammte Arbeiterbewegung scharf zu betonen; Engländer, Belgier, Polen, Ungarn marschirten in seinen Reihen; namentlich zu London hielt er internationale Arbeiterversammlungen.

Auf einem dieser Congresse wurde kurz vor der Februarrevolution von 1848 das von Engels und Marx gemeinsam verfaßte „Manifest der communistischen Partei als Bundesprogramm angenommen und in dänischer, deutscher, englischer, vlämischer, französischer und italienischer Sprache über Europa verbreitet. In diesem Actenstücke gewann der moderne Communismus zuerst Form und Gestalt. Es schloß mit dem unzweideutigen Schlachtrufe: „Die Communisten verschmähen es, ihre Absichten und Ansichten zu verheimlichen. Sie erklären offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Classen vor einer communistischen Revolution zittern! Die Proletarier habe nichts in ihr zu verlieren, als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“

Es war nothwendig, wenn auch nur in gedrängter Kürze, das wissenschaftliche System von Marx und seine eigenthümliche Ueberleitung in die praktische Agitation hier darzulegen, denn in ihm beruht der innere Schwerpunkt der modernen Socialdemokratie, deren inneres Wesen sonst unverständlich bleibt. Was seine kritische Würdigung anlangt, so muß jeder ehrliche Gegner anerkennen, daß Marx in seine umfassenden Einzelforschungen außerordentlich viel zur schärferen und tieferen Erfassung der socialwissenschaftlichen Probleme beigetragen hat; in diesem Sinne von seinen „tausendmal widerlegten Irrlehren“ zu sprechen, kann immer nur das Zeichen einer sehr großen Unwissenheit oder einer sehr unzeitigen Selbstüberhebung sein, kann nur das gute Gewissen, mit welchem trotzdem die heutige Gesellschaft den communistischen Sturmläufern sich entgegen stellen darf, in ein schlechtes Licht setzen. Wissenschaftlich überwunden ist dagegen Marx in seinen letzten Schlußfolgerungen, in der haltlosen Anmaßung, den unfehlbaren Stein der Weisen entdeckt zu haben.

In dieser Beziehung mag die Andeutung einiger Punkte genügen. Zunächst ist die Werthlehre, der Eck- und Grundstein des Systems, vollkommen hinfällig und von den klügeren Köpfen, wenigstens der deutschen Socialdemokratie, längst aufgegeben. Der Unternehmergewinn ist kein Raub an den Arbeitern, sondern der Entgelt für die Lösung der höchsten wirthschaftlichen Aufgabe: Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Gesellschaft mit der größten Kostenersparniß. Ferner ist es eine völlig unerwiesene Behauptung, daß unter der Herrschaft der freien Concurrenz das Sondereigenthum zu der schroffen Scheidung der modernen Gesellschaft in wenige unermeßlich reiche und zahllose blutarme Menschen führen müsse. Marx leitet diese Vorstellung aus der unbestreitbaren Thatsache ab, daß die Entwickelung der großen Industrie vielfach Massenelend hervorgerufen hat, aber er übersieht oder will übersehen, daß dieses Massenelend durch friedliche Reformen beseitigt werden kann und theilweise schon beseitigt worden ist. Endlich heben sich Marx der Agitator und der Theoretiker gegenseitig auf. Es ist ein Unding, das Gemeineigenthum, welches nur das Ergebniß einer langen geschichtlichen Entwicklung soll sein können. als unmittelbares Ziel einer die heftigsten Leidenschaften des Tages aufregenden Agitation hinzustellen. Denn von zwei Dingen eins: entweder ist die Theorie richtig und das Gemeineigentum vermag sich nur allmählich aus dem Sondereigenthum zu entwickeln, dann ist eine auf den gewaltsamen Umsturz der gegenwärtigen Ordnung [113] gerichtete Agitation sinnlos und verbrecherisch. Oder aber die Theorie ist falsch, dann fehlt den Vorkämpfern des Zukunftsstaates jedes ernstere, wissenschaftliche Ziel, und die gewaltsamen Umsturzpläne endigen günstigen Falles in einem rohen Pöbelaufruhr, der zwar niemals siegen könnte, aber immer vandalische Verwüstungen anrichten würde.

Mit dem Scheitern der Bewegung von 1848 scheiterte auch der „Bund der Communisten“. Er hatte eine an sich vielleicht beträchtliche, aber im Verhältnisse zu den ungeheueren Grenzen seiner Aufgabe doch nur winzige Ausdehnung erreicht. Aber mit ihm scheiterte nicht der Gedanke, der ihn beseelte. Die zähe Geduld sturm- und wetterfester Revolutionäre, wie Engels und Marx sind, hielt sich unerschütterlich an dem Plane der Gründung eines die fortgeschrittensten Länder und Völker umfassenden Arbeiterbundes, der den internationalen Charakter der socialistischen Bewegung den Arbeitenden selbst wie den Besitzenden und Regierenden sozusagen leiblich vorführen sollte, „dem Proletariate zur Ermuthigung und Stärkung, seinen Feinden zum Schrecken“.

Erst nach anderthalb Jahrzehnten, mit dem Wiederaufleben der Arbeiterbewegung im Anfange der sechsziger Jahre, fand dieser Wunsch die langersehnte Erfüllung. Französische Arbeiter waren vom Kaiser Napoleon zur Londoner Weltausstellung von 1862 gesandt worden, um sich zu unterrichten; sie verbrüderten sich vielfach mit ihren englischen Cameraden, und diese Verbindung hörte auch dann nicht auf, als die Franzosen in ihre Heimath zurückgekehrt waren. Sie gewann vielmehr neue Nahrung durch den polnischen Aufstand, dem sich bekanntlich alle revolutionären Sympathien in beiden Völkern lebhaft zuwandten. Fort und fort gingen proletarische Gesandtschaften von hüben und drüben über den Canal. Zum Empfange einer solchen Deputation französischer Arbeiter wurde am 28. September 1864 eine große Versammlung von Arbeitern aller Nationen nach St. Martin’s Hall in London berufen und auf diesem Meeting lebte der „Bund der Communisten“ wieder auf als „Internationale Arbeiterassociation.“

Engels und Marx hatten von Anfang an ihre Hände in diesen Dingen gehabt; sie gewannen fast augenblicklich die oberste Leitung des neuen Bundes. Ein Versuch italienischer Arbeiter, Mazzini zu seinem Oberhaupte zu küren, scheiterte daran, daß dieser berühmte Agitator alles Andere eher, als ein Socialist war. Marx entwarf Programm und Statuten der Internationalen nach demselben Schema, das er bei dem Communistenbunde angewandt hatte. Das Programm beschränkte sich auf die grundlegenden Sätze des revolutionären Communismus; es verkündete das Sondereigenthum als die Quelle aller geistigen, politischen, socialen Leiden und erklärte die Befreiung der arbeitenden Classen als nur auf internationalem Wege durchführbar und möglich. Die Statuten gaben dem Bunde naturgemäß nur eine lose Organisation; jährlich sollte ein Congreß stattfinden, während der übrigen Zeit ein aus Mitgliedern verschiedener Nationen zusammengesetzter Generalrath als leitender Mittelpunkt der in den einzelnen Ländern und Städten verstreuten Zweige des Bundes dienen.

Zunächst schlug diese oberste Behörde ihren Sitz in London auf. Thatsächlich ist sie niemals etwas anderes gewesen, als ein Deckmantel für die Alleinherrschaft von Marx, der ihr allerdings nur unter dem bescheidenen Titel eines correspondirenden Secretärs für Deutschland angehörte.

Aus seiner Feder floß auch die berufene „Inauguraladresse“, in welcher der Bund aller Welt sein Dasein und seine Pläne kundgab. Ihr großer Knalleffect war eine angebliche Aeußerung Gladstone’s, wonach derselbe, das schnelle Wachsthum der englischen Einkommensteuer erwähnend, gesagt haben sollte: „Diese berauschende Vermehrung von Reichthum und Macht ist ganz und gar auf die besitzenden Classen beschränkt“. In Wirklichkeit hatte Gladstone das gerade Gegentheil gesagt, nämlich ausgeführt, daß er mit großer Besorgniß auf das berauschende Wachsthum des nationalen Vermögens blicken würde, wenn dasselbe sich auf die besitzenden Classen beschränkte und wenn nicht zugleich der Arbeiter eine derartige Vermehrung seiner Mittel zum Leben erhalten hätte, daß dieselbe beinahe für beispiellos in der Geschichte jeglichen Landes und jeglichen Zeitalters gehalten werde könne. Mit dieser literarischen Fälschung begann die agitatorische Wirksamkeit der „Internationalen“.




Nachdruck verboten; Uebersetzung und
Dramatisierung vorbehalten.
Ledige Kinder.
Erzählung aus dem oberbairischen Gebirg.
Von Herman v. Schmid.
(Schluß.)


Lenz war es, der zuerst sich vollständig wiederfand.

„Grüß Gott!“ sagte er, „das trifft sich aber gut, daß wir zwei justament da zusammen kommen.“

„Ja, es trifft sich recht schön,“ war Nannei's halblaute Erwiderung.

„Es ist mir auch recht lieb, daß ich Enk (Euch) so finde, Fräulein Nannei oder wie ich Enk jetzt etwa tituliren muß.“

„Sag' halt: Nannei, wie Du alleweil gesagt hast!“

„Wenn Ihr das erlaubt, Fräulein Nannei,“ begann er wieder, „ist es mir schon recht. Es thät' mich recht hart ankommen, das Ihrzen, und wird mir ohnehin schwer genug, das zu sagen, was ich sagen möchte. Ich möcht' Enk halt Glück wünschen.“

„So? Kommt Dich das hart an?“ erwiderte sie rasch. „Dann kannst Du es gut sein lassen; ich bin nicht versessen darauf.“

„Ihr müßt's nicht so nehmen,“ entgegnete er, indem er den Hut in den Händen drehte und gegen seine sonstige Art wie verwirrt dastand. „Ich weiß diemalen nicht, was ich denke, geschweige denn, was ich rede. Der Glückwunsch kommt mich freilich nicht hart an, aber das Andere, was noch dabei ist.“

„Was wäre denn das?“ fragte Nannei, deren Herz sich bewegte, als sie die Befangenheit und Weichheit des sonst so trotzigen Burschen gewahrte.

„Daß ich gegen Dich, will sagen gegen Enk so keck und übermüthig gewesen bin,“ fuhr er stockend fort, „und daß ich Enk selbigmal den Buschen abgenommen habe, und daß ich Enk bitten möcht', Du solltest mir's nicht nachtragen und nicht harb sein. Ich hab's hart genug büßen müssen – ich glaub', es ist eine Strafe Gottes gewesen, was über mich gekommen ist.“

„Du brauchst mich nicht um Verzeihung zu bitten, Lenz,“ entgegnete Nannei gütig, „Du hast mir nichts angethan; ich weiß ja, daß es nicht so bös gemeint war.“

„Ist's wahr, Nannei?“ erwiderte er freudig. „Ist's wirklich wahr, Fräulein Nannei? Verzeihst mir's wirklich? Nachher wird mir gleich leicht um's Herz; nachher fällt mir das Fortgehen vom Kogelhof doch nicht gar so schwer. Gieb mir die Hand drauf, daß Du mir nichts nachtragst!“

„Da hast Du alle zwei!“ sagte sie und streckte ihm die Hände entgegen, die er eifrig ergriff. „Geh' halt in Gottes Namen, Lenz!“ fuhr sie fort. „Sei rechtschaffen, dann wird unser Herrgott auch schon ein Einsehen haben und Alles noch recht machen mit Dir.“

Lenz nickte stumm; reden konnte er nicht; er stand wie angewurzelt und ließ auch die Hände nicht los, die in den seinigen so warm und traulich lagen. Auch Nannei dachte nicht daran, sie zurückzuziehen – es lag etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen, aber sie fanden die Laute nicht dazu.

Wagengerassel scheuchte die Beiden aus einander. Der Landrichter war angekommen, und die beginnende Inventur rief Lenz in dessen Nähe.

Das langwierige Geschäft nahm mehrere Stunden in Anspruch. Es war keine Kleinigkeit, bis alle Wohnräume des Hauses, alle Scheuen und Ställe durchgegangen, bis sämmtliche Einrichtungsgegenstände, Betten und Kästen mit Inhalt, Pferde und Kühe mit Schiff und Geschirr aufgeschrieben, geschätzt und [114] in's Protokoll eingetragen waren, dessen Abfassung der Schreiber in der Wohnstube an derselben Tischecke besorgte, wo der alte Kogelhofer die Ankunft seines Königs in den Kalender einzutragen gedacht hatte. So eifrig und genau Alles durchsucht wurde, fand sich jedoch nirgends eine Spur von Papieren, in welche der Alte etwa seinen letzten Willen niedergeschrieben oder irgend welche Nachricht oder Andeutung über seine Erlebnisse gemacht hätte.

Der einzige Anhaltspunkt, der darüber zu erlangen war, kam von einem Bauer aus dem Flachlande, aus der Gegend, wo der Kogelhofer zuerst daheim gewesen; derselbe war eigens hereingekommen, um über das Schicksal des alten Freundes und Jugendbekannten genauere Erkundigungen einzuziehen, als in der Ferne möglich war. Der Mann wußte aus den eigenen Erlebnissen ziemlich genau Bescheid zu geben, wie der selige Kogelhofer gegen den Willen seines Vaters eine Liebschaft angefangen hatte mit einem geringen Mädchen, einer Bauernmagd, die nicht blos blutarm, sondern auch die Tochter eines Kleingütlers war, mit dem der Vater seit Jahren in abgesagter Feindschaft lebte. Der Alte hatte daher von einer Heirath durchaus nichts wissen wollen; es hatte viel Verdruß und Zorn darüber abgegeben, aber es half nichts mehr; das Unglück war geschehen, und als Lenz auf die Welt gekommen, war bereits vollends jeder Ausweg mit Brettern verschlagen. Der Vater hatte sich bei Seel' und Seelenheil verschworen, daß er die Heirath nun und nimmer zugeben würde; er war, wie der Kogelhofer, ein jähzorniger Mann gewesen, der denn auch einmal bei einem Disput mit dem Sohne vom Schlag gerührt ward. Als das geschah, war es aber schon zu spät gewesen, dem Mädchen seine Ehre wiederzugeben – sie hatte sich hinunter gehärmt und gekränkt und war vom Kindbett nicht mehr aufgestanden – dem Kogelhofer aber war es unheimlich geworden, und er hatte einen neuen Wohnort aufgesucht.

Endlich waren die meisten Gelasse durchforscht, der Landrichter schritt nur noch zu einer letzten Besichtigung an den Stuben und Kammern vorüber, in welchen die Ehehalten wohnten und ihre Habseligkeiten aufbewahrt hatten. Auch an dem Kämmerchen, das Nannei bewohnt hatte, ging er vorüber; die Thür stand offen; es war nichts Besonderes in demselben zu bemerken. Dennoch war Lenz mit einem Satz über der Schwelle und hob ein am Boden liegendes Blatt auf, das er rasch in die Tasche steckte.

Die Bewegung war wohl dem Landrichter, nicht aber den Geieraugen des Krämers entgangen, der allen Ernstes darauf drang, daß Lenz das Papier vorzeige, welches vielleicht Wichtiges und Geldwerthes enthalten könne. – Lachend, doch erröthend zog Lenz das Blatt hervor.

„Es ist nichts,“ sagte er, „nichts als ein Stück alte Zeitung; ich hab's nur aufgehoben, weil ich so alte Sachen oft gern nachlesen mag.“

Der Landrichter überzeugte sich davon, nahm das Blatt, drückte es zu einem Knäuel zusammen und warf es wieder zu Boden. Der Zug bewegte sich die Stiege herab, Lenz aber wußte es so einzurichten, daß er der Letzte war. Niemand achtete seiner, als er, wie ein Habicht auf seine Beute, nach dem Papier schoß und es in Sicherheit brachte.

In der Stube sollte zum Schluß das Verhandlungsprotokoll und die förmliche Erklärung des Krämers aufgenommen werden, daß er nach dem pfarramtlichen Zeugniß, welches er vorsichtiger Weise beigebracht hatte, den Antrag stelle, den Rücklaß an ihn, als einzigen und nächsten Erben, herauszugehen. Der Beamte war eben im Begriffe, die entsprechenden Sätze zu dictiren, als durch die kleinen Rundscheiben der Fenster die lustigen Töne eines Posthorns schmetterten und ein Dienstbote mit der Meldung in's Zimmer stürzte, ein Staffettenreiter sei angekommen, der für den Landrichter ein Schreiben vom König bringe.

Der Postillon folgte dem Boten auf dem Fuß. Der Glanzhut mit dem mächtigen weiß und blauen Federbusch, die blaue Jacke mit den silberbesetzten schwarzen Sammtaufschlägen, die rothe Weste, die blanke Reithose und die noch blankeren Reitstiefel ließen erkennen, daß der Posthalter die Depesche für sehr wichtig gehalten haben mußte und daher dem Postillon befohlen hatte, sich in große Gala zu werfen.

Kaum eine Secunde verging, und wie auf Commando war, was auf dem Kogelhof anwesend war, in der Stube zusammen gekommen; ein Schweigen tiefster Erwartung lagerte darüber, höchstens unterbrochen durch das gedämpfte Flüstern, von welchem nur einzelne Worte zu verstehen waren. „Ein Schreiben vom König! Wenn das der alte Kogelhofer erlebt hätte! Was mag wohl darin stehen, in dem Schreiben?“

Nur der Krämer theilte die freudig erregte Stimmung der Uebrigen nicht. „Ein Schreiben vom König?“ sagte er lachend und halblaut, doch so, daß der Landrichter, der eben das Schriftstück aufschnitt, es wohl vernehmen konnte. „Was wird darin stehen? Was kann denn darin stehen? Das habe ich lange gemerkt, daß der Kogelhofer, wie ihn der König aufgefordert hat, sich eine Gnade auszubitten, ihn darum angegangen hat, er solle Lenz für ein eheliches Kind erklären.“

„Nun, wenn es so wäre?“ fragte der Landrichter, indem er einen Blick auf das Blatt warf und dann den Krämer fest ansah.

„Dann möcht's dem Lenz auch nichts mehr helfen,“ erwiderte Rab. „So lange der Kogelhofer gelebt hat, hätte das geschehen können; da hat es noch keine Erbschaft gegeben, aber jetzt ist es damit vorbei. Der Kogelhofer ist vor der Legitimation gestorben, damals also war Lenz ein lediges Kind; ich habe geerbt, und was ich geerbt habe, das kann kein Kaiser und kein König mir mehr nehmen.“

Der Landrichter hielt immer noch den Blick auf den Krämer geheftet. „Es ist erstaunlich,“ sagte er dann, „wie gut Sie die Zeit, während der Sie bei Gericht verwendet waren, benutzten, um sich Gesetzkenntnisse zu verschaffen. Sie haben auch ganz recht, mein Herr, und doch haben Sie geirrt. Dieses Blatt – hört Ihr, Leute! – dieses Blatt enthält wirklich die Erklärung Seiner Majestät, worin derselbe kraft allerhöchster königlicher Machtvollkommenheit der Geburt des Bauernsohnes Lorenz Reiter vom Kogelhof jeden Makel nimmt.“

Aus der allgemeinen Stille brach ein nicht minder allgemeines Brausen von Stimmen los: Verwunderung, Freude, Zorn machten sich um die Wette laut, und der Schreiber hatte Mühe, die Ruhe soweit herzustellen daß die weitere Mittheilung des Landrichters vernommen werden konnte.

„Das Schreiben rührt wirklich von dem Cabinetsrath Seiner Majestät her,“ begann der Beamte wieder; „es enthält die Nachricht, daß der König, der gewohnt ist, jeden Abend Alles, was ihm tagüber vorgekommen, zu erledigen, dieser Gewohnheit auch an dem Tage, an welchem er auf dem Kogelhofe gewesen, treu blieb. Spät Abends noch, als er schon ermüdet sich zur Ruhe begeben wollte, hatte er in seinem Taschenbuche die Notiz über das Gesuch des Kogelhofers gefunden; er hatte sofort noch in der Nacht den Cabinetsrath rufen lassen und ihm die Genehmigung des Gesuches in die Feder dictirt: 'Der brave Kogelhofer,' sagte er dabei, 'hat sich auch nicht besonnen, mich über den Abgrund wegzutragen; so will ich mich auch nicht besinnen, seinen Wunsch zu erfüllen.' Das allerhöchste Decret wird in den nächsten Tagen eintreffen, und diese Nachricht kommt nur voraus zur Beruhigung des Alten – leider,“ schloß der Beamte ergriffen, „ist derselbe inzwischen bereits in die ewige Ruhe hinüber gegangen.“

„Das geht nicht an!“ rief der Krämer. „Ich protestire, Gnaden Herr Landrichter.“

„Es ist vergebens,“ antwortete dieser; „die Legitimation des Königs ist noch am 5. September Abends erfolgt; Lorenz Reiter war also bei dem am 6. September erfolgten Tode seines Vaters vollkommen erbfähig und erbberechtigt und ist demnach von Gottes und Rechts wegen rechtmäßiger Besitzer und Bauer auf dem Kogelhofe. Ich schließe daher die heutige Verhandlung, indem ich sie für aufgehoben erkläre bis zum Eintreffen des allerhöchsten Bescheides. Das kann ich aber heut wohl nicht besser thun, als indem ich sage: Hoch lebe unser gnädiger König!“

Der einstimmige Zuruf der Anwesenden war betäubend. Wenn auch im ersten Augenblick die Stimmung vielfach gegen Lenz gewesen war, hatte doch der furchtbare Ernst derselben bald mildernd gewirkt, und jetzt, da der König so recht wie eine Hand der Gnade aus den Wolken eingegriffen hatte, waren alle umgewandelt.

Nur der Krämer konnte nicht einstimmen; er war bereits aus der Stube auf den Hof gerannt und bedurfte diesmal keines Knechtes, um sein Wägelchen aus der Scheune zu schieben und [115] sein Rößlein anzuschirren. Niemand war ihm dabei behülflich, Niemand hinderte ihn; Alle sahen seinem Beginnen aus der Ferne zu. Als er aber Philomena trotz ihrer verweinten Augen einen Puff gegeben, damit sie sich schneller auf dem Sitze zurechtfinden sollte, und dann wegfuhr, konnte er wohl, trotz des Rädergerassels, vernehmen, wie die Burschen ihm mit Spottliedern den Abschied gaben. Sie sangen:

„B'hüt Gott, sagt der Teufel,
Herr Geier und Rab,
Jetzt putz' halt den Schnabel
Und die Krallen fein ab!“

Die Freude des neuen Kogelhofers zu schildern, wäre vergebliche Mühe. Er hatte vom Landrichter das Cabinetsschreiben sich geben lassen und hörte nicht auf, das Glück bringende Blatt und das Siegel desselben an den Mund zu drücken; den ganzen Inhalt seines Lederbeutelchens aber schüttete er in den Hut des Postillons aus und wußte dann nichts Besseres zu thun, als einem der Nachbarn und Umstehenden nach dem andern die Hände zu schütteln oder ihm um den Hals zu fallen. Sogar den Pechler Kaspar, der ihm in den Weg kam, hielt er so fest, als wenn er ihn gar nicht mehr loslassen wollte.

Der Alte stieß ihn zurück; er war in der übelsten Laune, denn die Nachrichten, die er zu bringen hatte, konnten nicht schlechter sein.

Nannei hatte sein Kommen bemerkt und winkte ihm wieder nach der einsamen Tenne, wo sie am ungestörtesten ihn anhören zu können hoffen durfte.

Der Alte hatte seine diplomatische Sendung erfüllt, aber der Erfolg war gewesen, wie Nannei's richtiges Gefühl ihn vorhergesehen hatte. Der alte Baron hatte sich wie ein Unsinniger geberdet.

Er habe schon von der Geschichte gehört, schrie er, und er wolle sehen, ob Jemand sich unterstehen würde, Ansprüche gegen ihn zu erheben. Es sei Alles nicht wahr und eine abgekartete Sache; der Ring und der Trauschein seien nicht echt, und wenn sie es wären, habe das Weib sie offenbar gestohlen. Uebrigens habe er seinen Sohn längst enterbt und verstoßen, und wenn derselbe heute wiederkäme, würde er nichts von ihm zu fordern haben; um so weniger also könne eine angebliche Tochter von ihm etwas beanspruchen.

„'Ich habe selber nichts,' hat er geschrieen,“ erzählte der Pechler; „'ich bin selber ein armer Mann und bin's durch Niemand anderes geworden, als meinen ungerathenen Sohn. Macht, daß Ihr weiter kommt, oder ich lasse den großen Hofhund los.' – Ich glaube,“ schloß der Erzähler, „wenn ich nicht gutwillig gegangen wäre, er hätte wirklich Ernst gemacht und mich durch den Hund hinaushetzen lassen. – Nimm Dir's nicht zu Herzen!“ fuhr er fort, als er gewahrte, daß Nannei, wider Willen von dem Berichte ergriffen, sich eine Thräne abwischte; „wir wollen's ihm schon zeigen, dem Baron. Ich hab' schon mit Einem gesprochen, der was von der Juri versteht; der hat mir gesagt, wie wir's anfangen müssen, daß er doch zu Kreuz kriechen muß. Es wird doch schon noch Alles recht werden.“

„Das wird's, Vater – ganz gewiß wird noch Alles recht werden,“ sagte Nannei, indem sie die Hand des Alten faßte und herzlich drückte. „Ich brauch' keinen andern Vater und will keinen andern, als Dich. Von mir aus sollen die vornehmen Leut' dort thun, was sie wollen; ich will nichts von ihnen.“

„Aber was soll denn mit Dir werden?“ fragte der Alte. „Du wärst doch versorgt gewesen, und so mußt Du Dein Lebtag ein armseliger Dienstbot' bleiben.“

„Wenn's mir so bestimmt ist, muß ich 's auch annehmen,“ entgegnete Nannei, „es ist besser so. Ich hab' mir's wohl überlegt und hab' am Grabe mit meiner Mutter Zwiesprach gehalten – auf dem Land' bin ich geboren; auf dem Land' bei den Bauern bin ich aufgewachsen – ich thät' doch nicht hineintaugen unter die vornehmen Leut'. Eine Bäuerin bin ich gewesen; eine Bäuerin will ich bleiben; es wird auch noch einen Ort für mich geben, wo ich ein Heimath'l finde.“

„Eine Heimath wär' nicht schwer zu finden,“ sagte Lenz, der, von Beiden unbemerkt, hinzugetreten war und Alles mit angehört hatte! „Wie wär's, Nannei, wenn Du wieder auf den Kogelhof kämst?“

„Das ist nit schön von Dir, Lenz,“ erwiderte Nannei mit gesenktem Blick, „daß Du Dein Gespött mit mir treibst. Du weißt doch, daß das nicht angeht.“

„Mach', daß Du weiter kommst!“ fuhr Kaspar unwillig in die Höhe. „Schwimmst erst einen Augenblick oben, und bist schon wieder übermütig?“

„Was hast denn, Alter?“ entgegnete Lenz. „Ich habe nichts Uebermüthiges im Sinn. Gieb mir eine Antwort, Nannei! Du wirst schon davon gehört haben, daß ein neuer Bauer auf dem Kogelhofe ist, welcher eine Bäuerin braucht. Weißt mir keine?“

Nannei erröthete: sie fühlte sich von einem leichten Beben ergriffen, aber sie schwieg.

„Schau, Nannei!“ fuhr er nähertretend fort, „jetzt darf ich reden, und jetzt will ich auch reden und will Alles sagen, was ich schon so lang' auf der Seel' gehabt habe. Ich hab' es selber nie recht gewußt, aber ich hab' Dich gern, für mein Leben gern – geh, nimm mich an und werd' mein Weib!“

Sie schwieg noch immer.

„Bin ich Dir denn zuwider?“ begann er wieder. „Du hast mir doch verziehen! Kannst es denn gar nicht in Dir finden, daß Du mir auch gut bist oder doch mir gut werden könnt'st?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich glaub' Dir's nit,“ sagte Lenz, „und selbst, wenn Du es sagen thät'st – ich könnt's nicht glauben, weil ich's besser weiß. – Du schau her, kennst das?“ fuhr er fort, indem er das in der Kammer gefundene Zeitungsblatt hervorzog, „das da hab' ich in Deiner Kammer gefunden – es ist der Camerad von dem Zettel, in den ein gewisses Geld eingewickelt gewesen ist, das ich an einem gewissen Tage an einem gewissen Platz in meinem Hut gefunden habe – das Geld ist also von Dir gewesen, Nannei; Du bist die Einzige gewesen, die sich um mich gekümmert hat, Du hast Dein Spargeld mit mir getheilt und Du willst mich nicht gern haben? Geh, sei nicht falsch mit Dir selber, sag's, daß Du mich auch gern hast, sag's, daß Du mein Weib, meine Bäuerin sein willst!“

Er trat näher. Wie einst breitete er die Arme gegen sie aus.

„Wenn ich jetzt wieder ein Buß'l von Dir möcht',“ sagte er, „wenn ich's auf diese Weise verlange, Nannei, wirst mir nachher auch einen Renner geben?“

Sie widerstrebt nicht, als er den Arm um ihre Hüfte schlang, sie an sich zog und küßte. In Thränen sank ihr Köpfchen ihm an die Brust.

Dem Pechler Kaspar aber war es in die Beine gefahren, sodaß er sich auf einen Hackestock niedersetzen mußte und verwundert nach alter Gewohnheit mit den Händen auf die Kniee trommelte. –

Der Herbst verging; der Winter kam und verging auch, und als im Auswärts die Schwalben wieder kamen, da wurde auf dem Kogelhofe eine Hochzeit gefeiert, wie sie selten vorkam in den Bergen. Die Einrichtungen auf dem Hofe waren getroffen, und auch die anderen Verhältnisse hatten sich inzwischen geordnet, wie es von Niemand erwartet worden war, nun aber von Allen gut geheißen wurde.

Nannei hatte die Zeit doch im Hause des Barons zugebracht; denn seine dicke bürgerliche Ehehälfte war durchaus nicht mit ihm einverstanden, als sie erfuhr, wie er sich gegen die neugefundene Enkelin benommen hatte, und setzte es durch, daß Nannei in's Haus des Großvaters komme. Die Triebfeder ihres ganzen Wesens war die Eitelkeit – aus Eitelkeit, um des Titels willen hatte sie den dürftigen Baron geheirathet; aus Eitelkeit zeigte sie sich gegen Nannei freundlich und großmüthig: war sie doch gewiß, daß auf dreißig Stunden im Umkreis nur von ihr geredet und ihre Güte gepriesen wurde. War sie auch mehr als sparsam, so war ihr doch bei solcher Veranlassung auch eine ansehnliche Ausgabe nicht zu theuer. Sie verstand, den Widerstand des ohnehin eingeschüchterten Barons gründlich zu brechen – um so leichter, als die Furcht, wie seine strenge Gebieterin die Enkelgeschichte aufnehmen werde, die Haupttriebfeder seiner Ungeberbigkeit gewesen war.

„Ein Heirathsgut,“ hatte die einstige Bräuerswittwe gesagt, „kannst Du dem Mädel nicht geben, weil Du selber nichts hast, [116] aber eine Ausstattung soll sie von mir haben, wie sie sich für mich schickt. Ich will den Leuten zeigen, daß ich nicht umsonst eine Baronin bin und daß ich versteh', was 'noblisch' ist.“

So kam es denn, daß, als am Tage vor der Hochzeit der sogenannte Kammerwagen nach dem Kogelhofe fuhr, in allen Dörfern das zusammenlaufende Volk darüber einig war, eine solche Pracht, ein ähnlicher Reichthum sei seit Menschengedenken nicht gesehen worden. Der Wagen, wie die sechs davor gespannten Pferde waren über und über mit Kränzen und Bändern geschmückt; das große Himmelbett, das zwischen offenen vollen Leinwandkästen die Mitte des Wagens einnahm, war ein wahres Prachtstück an Weiße, Weichheit und Schönheit – über demselben als Giebel erhob sich, dem Brauche gemäß, das Spinnrad, und am Ende schaukelte die bunt bemalte unvermeidliche Wiege.

Im Hochzeitszuge selbst schritt unter den Kranzeljungfern auch Philomena, die Tochter des Krämers – diesmal mit freudig verklärtem Angesicht, denn Nannei's Bemühungen und der Macht der Verhältnisse war es gelungen, den Alten mürbe zu machen – in wenig Wochen sollte sie mit dem geliebten Maxl denselben Freudenweg wandeln. Der Vorsteher hatte sich's nicht nehmen lassen und de- und wehmüthig gebeten, die Braut als Beiständer geleiten zu dürfen, und ihr dadurch seine frühere Grobheit abzubitten, auf der rechten Seite aber ging ihr der Pechler Kaspar, diesmal völlig unkenntlich, denn er war säuberlichst gewaschen und steckte in einem Anzug, wie er im ganzen Leben noch keinen auf dem Leibe getragen. Dennoch war die hervorragendste Erscheinung des Zuges die Ehrenmutter der Braut, die Frau Baronin Steinerling von Stein, weiland die reiche Gabelbräuerswittwe, die, mit Ringen, Ketten, Brochen, Armbändern und Medaillons belastet, wie ein wandelnder Juwelierladen einherschritt, verklärt von dem Bewußtsein ihres wirklich „noblischen“ Aussehens und Benehmens.

Nach der Trauung ging das neue Ehepaar auf den Friedhof zum Besuch der beiden ihnen so theueren und bedeutungsvollen Gräber; über denselben reichten und drückten sie sich nochmals mit stummem Gelöbniß die Hände.

Das Hochzeitsmahl, das nach der Landessitte den Tag beschloß, verlief in ungestörtester Fröhlichkeit, und der Pechler war gewissenhaft genug, sich den schon beim Umgang nach dem Traueramt versprochenen Haarbeutel in bester Form anzubinden.

Im folgenden Herbst sprach der König abermals bei der Vorüberfahrt auf dem Kogelhof ein und nahm den Dank der Glücklichen entgegen; die Nachricht von all den eingetretenen Ereignissen hatte den Fürsten zu einem kleinen Umwege veranlaßt. Er kam gerade an einem Tage, an welchem das „noblische“ Ehepaar sich zum Besuche eingefunden hatte; der Baron genoß die Genugthuung, seinem allerhöchsten Landesherrn wirklich seine „Gemahlin“ vorstellen zu können, welche vor lauter Verbeugungen fast in die Kniee sank, und mit heiterem Lächeln wiederholte der König sein Bedauern, daß er allein sei und also dem Herrn Baron „seine Frau“ nicht hinwider vorstellen könne.

Bei der Abfahrt stand die junge Kogelhoferin oder, wie das Volk sie am liebsten nannte, die „Baronbäurin“ am Schlage des königlichen Wagens und reichte dem König, diesmal ohne Hinderniß, einen „Buschen“ von Blumen, der, wenn auch in Eile gebunden, dem vom vorigen Jahre nicht nachstand.


Der Erzähler hat die „Baronbäurin“ selber gekannt und manchmal auf seinen Gebirgswanderungen bei einer Schüssel Milch sich der rührigen rüstigen Frau, ihres Haushalts und der blühenden Kinder erfreut, die vor dem Hause mit dem alten Pechler Kaspar spielten und tollten, den es allmählich aus seiner Pechhütte hereingezogen hatte und der nun den Posten einer Kinderfrau vortrefflich ausfüllte.

Jetzt ist längst ein Sohn Nannei's auf dem Hofe; sie selbst ist schon heimgegangen, viel früher, als es nach Alter und Art nöthig gewesen wäre – in der Gegend aber lebt die Erinnerung an sie noch fort, und wo noch der alte Brauch in Uebung ist, daß im Winter die Mädchen mit ihren Spinnrädern im „Heimgarten“ zusammenkommen und sich Geschichten erzählen, da ist wohl noch manchmal die Rede von der Baronbäurin und von den sonderbaren Schicksalen der zwei „ledigen Kinder“.




Bilder von der Mosel.[3]
Von Dr. Roderich Irmer.
2. Cochem.

Dumpfe Luft bedeckte den Himmel; einzelne Lichtblitze fielen auf die eine oder andere Partie der Landschaft; wie ein schwarzer abgeschlossener Gebirgssee fluthete die Mosel drunten zwischen furchtbaren Felswänden. So etwa war die Naturscenerie, die uns, nachdem wir Beilstein den Rücken gewendet, auf Cochem, den größten Ort zwischen Trier und Coblenz, vorbereitete. Noch eine Stromwendung – dann schloß den Hintergrund ein ungeheurer Felskopf, darauf ein Kreuz. Von der zur Linken gelegenen Kuppe aber dräuten schier erdrückend die mächtigen Thürme und Zinnen einer Burg, deren Mauern und Vorwerke festungähnlich den ganzen Berg umschlossen. Häuser mit verfallendem Lehm- und Balkenwerk, mit moosbewachsenen altersgrauen Schieferdächern reihten sich den Strom entlang; weiter erschien, zwischen Wasser und Felsen eingeengt, eine Stadt, darüber ein malerisch gelegenes Kloster, und noch weiter drüben, versteckt in einem Seitenthale, erhoben sich die grauen, lichtlosen Reste einer zweiten Burg.

Wir sind in Cochem.

Düster, tief melancholisch ist das Gepräge dieser Gegend; vor uns steht die ganze Oertlichkeit wie ein ernstes, fast finsteres Stück Mittelalter. Und wahrlich, gar gut stimmt dieser Farbenton mit der tragischen Vergangenheit der Stadt, mit der unheimlichen Geschichte des Schlosses, das gleich einem Unheil brütenden Riesen auf dem schroffen Felsen lastet. Wohl kaum giebt es eine Burg im deutschen Lande, die im Laufe der Zeit so viel Furchtbares gesehen, die in den Geschicken ihrer Besitzer ein so ergreifendes Bild des wildbewegten Ritterthums vor uns entrollte, wie die von Cochem. Schon gleich das erste Blatt der Schloßchronik ist mit Blut befleckt.

Vor acht Jahrhunderten, viele Jahre bevor der tapfere Markgraf Albrecht der Bär den Nordosten Deutschlands mit Schwert und Kreuz öffnete, als die Mark noch ein unbekanntes Stück Erde voll unübersehbarer Sandwüsten und undurchdringlicher Moräste war, blühte schon in den Mosellanden reiches Leben. Hier herrschte das weitverzweigte Fürstengeschlecht der rheinischen Pfalzgrafen und unter ihnen, im elften Jahrhundert, ein Mann, den sein tragisches Geschick bekannter gemacht.

Burg Cochem war des Pfalzgrafen Heinrich (Ezzonischen Stammes) Residenz; von hier aus zog er mit Schwert und Schild gegen Anno, den zelotischen Erzbischof von Köln, mit dem er in bittere Fehde geraten. Wohl war der tapfere Mann seinem Gegner im Kampfe der Waffen überlegen; der geistliche Herr, den die Kirche „den Heiligen“ nennt, hatte aber furchtbarere Kampfmittel; „Bann und Interdict“ waren die sengenden Blitzstrahlen, die den Pfalzgrafen trafen und ihn nach langer Gegenwehr zwangen, demüthig um Frieden zu bitten. Der Stolz Heinrich's konnte diese Niederlage nicht verwinden. Gebrochen an Leib und Seele, nahm er Abschied von seinem Weibe, von der Welt, um im Kloster Gorze sein Leben zu beschließen. Hier aber, in der Einsamkeit des Klosterlebens, erwachte auf's Neue der ritterliche Thatendrang in ihm; mächtig hinaus riß ihn das alte Ehrgefühl; er entwich den weihrauchduftenden Klosterwänden und warf auf's Neue dem Kirchenfürsten den Fehdehandschuh hin. Mit seinem Heere zog er vor die Mauern Kölns zu harter Belagerung, aber – noch war die geistliche Macht zu stark, um ihm nicht erfolgreich begegnen zu können. Mit Drohungen ewiger Strafen fuhr der finstere Anno unter die muthlosen Bürger, trieb sie zu den Waffen und auf die Mauern und erzwang nach harten Kämpfen die Aufhebung der Belagerung. Im Jahre 1061 sah

[117]

Cochem an der Mosel.
Nach der Natur aufgenommen von Rudolf Cronau.

[118] Heinrich ein mächtiges Heer unter dem Krummstabe seines Gegners im Moselthale heranziehen. Er rüstete sich zum letzten Entscheidungskampfe und ging dann, Abschied zu nehmen von seinem inniggeliebten Weibe Mathilde.

In diesem Moment muß Alles auf ihn eingestürmt sein, die Erinnerung seiner ersten Niederlage, die Furcht, eine zweite, womöglich noch schmachvollere zu erleiden – es war genug, um den erregten Geist des Mannes außer Fassung zu bringen. Wahnsinn umnachtete ihn; er griff zur Streitaxt und – erschlug sein Weib. Irre lächelnd trat er dann unter seine Krieger. Entsetzen faßte diese, als sie die schauerliche Kunde vernahmen, und traurig führten sie ihren unglücklichen Herrn hinweg in's Kloster Echternach. Anno aber erntete die Früchte aus dem Unglück seines Gegners.

Zwanzig Jahre später finden wir Hermann von Salm, den „Knoblauchskönig“, den Gegner Kaiser Heinrich's des Vierten, auf Cochem. Im Kampfe gegen seinen Herrn schmählich unterlegen, hatte er sich hierher zurückgezogen „mit dem leeren Königsnamen“. In später Abendstunde mit seinem Gefolge von der Jagd zurückkehrend, verabredete sich König Hermann einstens mit seinen Gefährten, um die Wachsamkeit der Wächter zu prüfen, die Burg als Feinde anzugreifen. Mit lautem Kriegsgeschrei stürmten die wilden Gesellen gegen die Zugbrücke. Die Wächter waren wirklich nicht auf dem Posten; von der Zinne aber erblickte ein Weib die Nahenden, und kaum setzte Hermann den Fuß auf die Zugbrücke, da sauste ein Felsstück hinab, und zu Tode getroffen, sank der König am Thore seines Schlosses nieder und starb. Das war am 28. September 1088.

Wieder sind zwanzig Jahre vorüber. Ein anderer Herr saß auf der Burg, Pfalzgraf Siegfried, den die Sage wunderlicher Weise mit Genoveva in Verbindung gebracht hat. Fern von seiner ascanischen Heimath, hatte er hier Macht und Ruhm erlangt und wohnte in Cochem. Als um diese Zeit, vom Papste und dem Glanze der Krone verlockt, der eigene Sohn ruchlos die Hand gegen Kaiser Heinrich den Vierten erhob und die deutschen Fürsten, schmachvoll genug, den alten Mann verließen, war es Siegfried so ziemlich allein, der für die Sache seines Herrn das Schwert zog. Aber das Heer des Kaisers unterlag, und voll Groll ließ später der junge Kaiser Heinrich den Pfalzgrafen ohne Grund verhaften und in's Gefängniß werfen. Dem Entlassenen drückte ein neues Unrecht des Kaisers die Waffen in die Hand, und in dem wilden Kampfe, der nun entbrannte, fiel der Besitzer Cochems, erschlagen durch die Hand des Grafen Hoyer von Mansfeld. Schon nach zwanzig Jahren sank auch sein Sohn ohne Nachkommen in's Grab.

Auch den neu antretenden Bewerbern um die Burg brachte dieselbe Verderben. Da waren es Siegfried Otto von Rheineck und Hermann von Stahleck, die ob des Besitzes der Unglücksburg – denn so kann man sie mit Recht nennen – in heftigen Kampf geriethen. Zwar eroberte unterdeß Kaiser Conrad die Burg, aber der Kampf zwischen den beiden Bewerbern dauerte fort, bis endlich Siegfried von Rheineck durch List in die Hände seines Gegners fiel und von diesem im Burgverließ seines Schlosses erbarmungslos erdrosselt wurde. Ohne Erben wankte der greise Vater desselben dem Grabe zu. Aber auch den Stahlecker ereilte das Geschick. Als Barbarossa den Rhein besuchte, residirte er auch auf der Burg Cochem und verurtheilte den Reichsfürsten ob seiner That zur schmachvollen Strafe des Hundetragens. Dieser öffentliche Schimpf nagte dem Stahlecker am Leben; er ging in's Kloster Eberach und starb gleichfalls ohne Erben.

Später verpfändete König Adolph in seiner Geldnoth die Burg an den Erzbischof von Trier, und so blieb sie das Mittelalter hindurch unter geistlicher Herrschaft. Doch noch einmal sollte sich ihr Ruf in schrecklicher Weise erneuern. Mit dem Jahre 1689 begann für die Pfalz wie für die Moselgegend unsägliches Elend. Auf dem bei Trarbach gelegenen Montroyal hatten die Horden Ludwig's des Vierzehnten, des „allerchristlichsten Königs“, ihr Räubernest gebaut und unternahmen von dort aus Raub- und Streifzüge weit in's Land hinein.

Da verging kein Tag, wo nicht auch Cochem geplagt gewesen wäre mit Einquartierung, Contributionen etc. Gar bitterlich klagt in einem noch erhaltenen Tagebuche ein Cochemer, wie Tag für Tag die „Packahns oben herab kommen vom Montroyal“, wie sie „die Thüren mit Pallisaden uffgelaufen, die Einwohner übel tractirt, den Schorenstein gefegt und den Wein mit großen Bütten aus dem Keller getragen“. Weiter schildert er, wie „den 8. May (1689) gegen den Abendt das Schloß Winnenburg ahn den Himmel gehenkt und jämmerlich verbrannt worden, nachdeme daß die Minen allererst ahngezündtet; dieses spectacul ware grausam in der Nacht ahnzusehen und sollte man vermeint haben, die Hölle stündte offen“.

Den 19. Mai wurde die „Execution“ des Schlosses Cochem vorgenommen, und sind „gesampte Officiere vff daß Schloß Cochem gangen vndt bei hellem Sonnenschein dasselbe dem Vulcano aufgeopfert, wohlerwogen eine so grausambe Fewersbrunst erwecket, daß leider Gottes nicht ohne Wehe thun und Zähren Vergießung die Ruin dieses Hauses anzusehen gewesen“. Drei Tage dauerte das Sprengen und Sengen; dann „ist der Mordtbrenner de Saxis mit seiner Schergen rotte die Mosel nauf marchirt und hat dem Hause Beilstein und andern dergleichen mehr den Rest geben“.

Bis zu dem für die Stadt verhängnißvollen Ludwigstage, Ende August, reicht das Tagebuch des Cochemers nicht; vielleicht ist auch er, wie viele Andere, unterdeß zum stillen Mann gemacht worden. An genanntem Tage aber nahte Marschall Boufleurs mit einer starken französischen Heeresabtheilung der wieder von deutschen Truppen besetzten Stadt. Sturm auf Sturm wurde abgeschlagen; bis zum Nachmittage dauerte das Ringen – da endlich siegte die Uebermacht der Franzosen; die Mauern wurden erstiegen, und nun begann ein Straßenkampf, ein Würgen, das jeder Beschreibung spottet. Noch zeigt man das Kellerfenster, aus dem ein Bürger einen französischen Obersten mit einem silbernen Knopfe in Ermangelung einer Kugel vom Pferde schoß. Erbarmungslos ließen die Franzosen Besatzung und Bürgerschaft über die Klinge springen, und nur wenige angesehene Personen überlebten das traurige Ende des Ortes.

Der Wohlstand Cochems war für lange Zeit dahin; dazu kam die Abgelegenheit, die schließlich den Cochemern, im grellen Gegensatze zur tragischen geschichtlichen Vergangenheit ihrer Vaterstadt, den Ruf der Schöppenstädter und Schildaer einbrachte. An Mosel und Rhein weiß man viel zu berichten von tollen Streichen, welche die ehrsame Bürgerschaft daselbst verübt haben soll, und wenn's wahr ist, was man erzählt, so ist bei ihnen noch heute die Sonnenuhr des Klosters unter dem Dache angebracht. Sonnenlicht ist allerdings niemals aus den Mauern desselben herausgedrungen; berühmt oder berüchtigt vielmehr ist sein Name geworden durch den Pater Cochemius, der in seinen zahlreichen Erbauungsschriften der sündigen Welt die seltsamsten und ungeheuerlichsten Höllenqualen verhieß.

Man muß gestehen, es gehört Gleichmuth dazu, ein Schloß, in dessen Räumen eine so furchtbare geschichtliche Vergangenheit ruht, zum Wohnsitz sich auszuwählen, wie herrlich seine Lage auch sein mag. All die traurigen Ereignisse, all die blutigen Gestalten der unglücklichen Besitzer werfen einen tiefen Schlagschatten auf dasselbe. Und doch entschloß sich vor etwa einem Jahrzehnt ein Mann, dessen Name guten Klang hat bei Künstlern und Gelehrten, der Geheime Commerzienrath Ravené in Berlin, die alte Größe aus den düsteren Ruinen aufzuwecken. Mit fürstlicher Freigebigkeit und einem Kunstsinn wie man ihn so selten bei derartigen Neuschöpfungen findet, leitete er die Ausführung der Arbeiten, und bald erhob sich das neue prachtvolle Schloß aus dem gespensterhaften dunklen Trümmerhaufen. Am 15. Mai 1878 ward im großen Banketsaale der wiedererstandenen Burg zugleich die Vollendung des Baues wie auch die Eröffnung der Moselbahn durch eine erlesene Gesellschaft gefeiert.



[119]
Blätter und Blüthen.


Ein Preßproceß der „Gartenlaube“. In einer Zeit, in welcher der Geheimmittelschwindel zu einer immer bedrohlicher um sich greifenden socialen Gefahr geworden ist, darf keine Gelegenheit unbenutzt bleiben, welche zur Aufdeckung der Quellen dieses modernen Uebels beitragen kann. Die „Gartenlaube“, welche seit Jahren einen erbitterten Kampf gegen die Medicinalpfuscherei kämpft, hat heute einen neuen Sieg über diesen schon so oft niedergeworfenen Feind zu registriren, und der Fall ist so bezeichnend für die Sache, daß wir uns nicht enthalten können, ihn hiermit zur Kenntniß unserer Leser zu bringen.

In dem „Kleinen Briefkasten“ unserer Schlußnummer von 1878 findet sich folgende Notiz:

„A. G. in L. Sie möchten wissen, ob der 'gesetzliche Schutz der Erfindung', welchen das von uns in Nr. 38 erwähnte Flugblatt über die Winter'schen Gichtketten nennt, sich auf ein dem 'Erfinder' ertheiltes Patent bezieht und ob das Zeugniß des Herrn Dr. Heß, der sich 'gerichtlich vereideter Chemiker und wissenschaftlicher Untersucher und Sachverständiger für medicinische, pharmaceutische und Gesundheitspräparate aller Art' unterzeichnet, worauf das L. S. hindeute, ein amtliches sei, etwa vom kaiserlichen Gesundheitsamt ausgestellt? – Der gesetzliche Schutz bezieht sich nur auf die Fabrikationsmarke; es fehlte auch noch, daß solche Dinge bei uns patentirt würden! Das Zeugniß des Dr. Heß ist, wie alle derartigen Zeugnisse, ein reines Privatgutachten; der Aussteller gehört mit den Kollegen (folgen die Namen, darunter Medicinalrath Joh. Müller) zu jenen Persönlichkeiten, die anscheinend die günstige Begutachtung von Geheimmitteln als Geschäft betreiben. Man begegnet ihren stets günstigen Zeugnissen so allgemein bei diesen Mitteln, daß es längst als größte Empfehlung für eine neue Waare dient, wenigstens nicht von diesen Herren empfohlen zu werden.“

Wegen dieser Redactions-Correspondenz stellten die darin genannten Dr. Joh. Müller und Dr. Heß Strafantrag gegen den verantwortlichen Redacteur der „Gartenlaube“, welcher sich im Verlaufe des gegen ihn eingeleiteten Verfahrens bereit erklärte, den Beweis der Wahrheit des in jener Notiz Behaupteten anzutreten, nach Beibringung dieses Beweises erfolgte durch das ehemalige königliche Gerichtsamt I in Leipzig die Freisprechung des Angeklagten.

Durch diese Entscheidung des Gerichts in ihrem Eifer durchaus nicht abgekühlt, legten Dr. Müller und Dr. Heß Einspruch gegen das Urtheil erster Instanz ein, und die Klage kam bei der inzwischen in Thätigkeit getretenen dritten Strafkammer des Leipziger Landgerichts zur zweitinstanzlichen öffentlichen Verhandlung.

Der Gerichtshof fand sich nicht veranlaßt, eine Abänderung des Instanzbescheides auszusprechen, sondern bestätigte denselben und legte den Anklägern die durch ihr Rechtsmittel veranlaßten Kosten auf, sodaß die „Gartenlaube“ auch aus dieser zweiten Instanz und somit aus dem ganzen Handel contra Müller und Heß mit Ehren hervorging.

Wesentlich unterstützt wurde sie indessen hierin durch einen von dem Ortsgesundheitsrath in Karlsruhe im October vorigen Jahres in Scene gesetzten Vorgang, in welchen unsere Ankläger verwickelt waren. Die uns für die weitesten Kreise wichtig erscheinende Mittheilung dieses Karlsruher Vorganges ist die eigentliche Veranlassung, daß wir an dieser Stelle überhaupt auf unsern Preßproceß zu sprechen kommen.

Die Karlsruher Angelegenheit verhält sich aber wie folgt:

Der Ortsgesundheitsrath der badischen Hauptstadt wies in einer öffentlichen Bekanntmachung darauf hin, daß es sich bei Darbietung der durch Dr. Müller und Dr. Heß (und einen uns hier nicht angehenden Dritten) empfohlenen Heilmittel nur um betrügliche Ausbeutung des Publicums handle. Dieser Anschuldigung gegenüber erhob Dr. Müller bei dem Karlsruher Amtsgericht eine Beleidigungsklage gegen den Vorsitzenden des Ortsgesundheitsamts, während Dr. Heß (und mit ihm der dritte Angeschuldigte) den ihm angethanen Schimpf ruhig auf sich sitzen ließ.

„Wenn nun auch,“ heißt es in einer autographirten Mittheilung des genannten Gesundheitsraths, „Material genug vorlag, die Anklage in ihrer Nichtigkeit zurückzuweisen, so schien es doch zweckmäßig, ein kleines Beispiel zu geben, auf welche Weise die besagten wissenschaftlichen Gutachten zu Stande kommen und welcher Werth ihnen beizulegen ist.

Zu diesem Zwecke wurde durch eine der guten Sache geneigte Mittelsperson, die wir Maier nennen wollen, folgender Brief an den ehrenwerthen Medicinalrath abgesendet:

Neckarelz, d. 17. Octbr. 1879.
Geehrter Herr Medicinalrath!

Ich habe ein Hausmittel fabricirt, welches aus ganz unschuldigen Stoffen zusammengesetzt ist und leicht auf den Stuhlgang wirkt, daher bei Congestionen, Verschleimung, Magenkatarrh, Asthma, besonders bei Hämorrhoiden und dergleichen gute Dienste thut. – Das Mittel besteht aus Aepfelwein, in welchem Honig mit etlichen Pfefferminztäfelchen aufgelöst ist und wozu ein paar Tropfen Melissengeist gesetzt sind.

Ich beabsichtige dieses Mittel in den Handel zu bringen und zu diesem Zwecke folgendes Inserat zu veröffentlichen:

Schlechter's Heilsaft. Neu!

Dieses Mittel, täglich 3 Eßlöffel voll genommen, heilt binnen kurzer Zeit auch eingewurzelte Uebel, welche in trägen Functionen des Unterleibs begründet sind, namentlich Hämorrhoiden, Kopfweh, Schwindel, Hypochondrie, Ohrensausen, Melancholie etc.

Zu haben zum Preis von 3 Mark pro Flasche bei pp.

Es wäre mir nun sehr erwünscht, ein Zeugniß zu Gunsten dieses Mittels von Ihnen zu erhalten, welches ich anständig zu honoriren bereit bin, u. z. glaube ich, ein entsprechendes Ansuchen an Sie um so ungescheuter in vertraulicher Weise richten zu dürfen, als ich weiß, daß Sie schon viele Geheimmittel empfohlen haben. – Es würde mir genügen, wenn die Unschädlichkeit des Mittels und dessen allgemeine Nützlichkeit bei Zuständen der angedeuteten Art von Ihnen bescheinigt würde.

Ich bitte Sie nun um gefl. möglichst umgehende Mittheilung, welches Honorar ich einzusenden habe und ob es nöthig ist, daß ich das Mittel beifüge, oder ob Ihnen obige Angaben, für deren Richtigkeit ich garantire, genügen.

Ergebenster Hermann Schlechter.
in Neckarelz, Großh. Baden.

Darauf kam folgende Antwort:

Berlin, den 18. October 1879.

     Euer Wohlgeboren

erwidere ich auf Ihr geehrtes Schreiben ganz ergebenst, daß ich bereit bin, Ihnen ein wissenschaftliches Zeugniß über Ihr Mittel auszustellen, und haben Sie wohl die Güte, mir eine Probe davon zu übersenden, da ja das Porto nur einige Groschen macht, obgleich ich überzeugt bin, daß die angegebenen Bestandtheile sich darin befinden werden.

Das Honorar würde 20 Mark betragen.

Hochachtungsvoll
Dr. Müller, Medicinalrath.

Nach Anleitung des Herrn Ortsgesundheitsrathes, Medicinalraths Dr. Homburger, wurde nun ein Saft durch die Doell'sche Apotheke in Karlsruhe präparirt, der aus 225 Gramm Traubenwein, 50 Gramm Honig, 2 Gramm Pfefferminzzucker und 20 Tropfen Melissengeist zusammengesetzt ist, und dem Herrn Medicinalrath Müller unter Beifügung von 20 Mark und zarter Andeutung weiteren Honorars durch die nämliche Mittelsperson übersendet.

Diese reellen Silberlinge und die Hoffnung auf weitere regten auch, wie nicht anders zu erwarten, die wissenschaftlichen Kräfte des Herrn Dr. Müller zu einer Begutachtung an, welche der erwähnten Mischung zur höchsten Ehre gereicht. Sie lautet:

Wissenschaftliches Gutachten über Schlechter's Heilsaft.

Herr Schlechter hat mich beauftragt, ein wissenschaftliches Gutachten über den von ihm dargestellten Heilsaft abzugeben.

Nachdem ich diesem Auftrag nachgekommen und eine genaue physikalisch-chemische und medicinische Prüfung vorgenommen, habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß dieser Heilsaft durchaus keine dem menschlichen Organismus schädlichen Bestandtheile enthält, vielmehr sehr heilsame und dem Körper zuträgliche. Derselbe ist geeignet, bei den verschiedenen Magen- und Unterleibsleiden, gesunkener Verdauungskraft, Mangel an Appetit, Trägheit und Schwäche des Darmcanals, Magenkrampf, überhaupt gegen alle durch Störungen des Verdauungsprocesses entstehenden Uebel auf's Vorteilhafteste einzugreifen und den regelwidrigen Lebensproceß zum normalen Zustande zurückzuführen. Ganz besonders ist dieser Saft auch als ein schleimlösendes, die Lungen- und Bronchialschleimhaut kräftigendes Mittel bei chronischen Leiden der Respirationsorgane, verschlepptem Katarrh, anzuwenden und wird auch allen Hypochondristen mit habituellen Obstructionen, Hämorrhoidalleiden, ein höchst schätzbares Mittel sein, weil es nicht schwächt, sondern stärkt.

Mit dem Wunsche, daß dieser ausgezeichnete Heilsaft diejenige Anerkennung finden möge, welche er nach seinem Werthe verdient, hat dieses Zeugniß der Wahrheit gemäß ausgestellt

Berlin, im October 1879. (Siegel.)

Dr. Johannes Müller, Medicinalrath.

Dabei war der nachfolgende Brief angeschlossen:

Berlin, den 28. October 1879.

     Sehr geehrter Herr!

Hierbei sende ich Ihnen das gewünschte Attest und bin gerne bereit, für die Verbreitung Ihrer Erfindung zu wirken, wenn Sie etwa hier bei einem renommirten Kaufmann eine Niederlage halten.

Auch kann ich Ihnen noch einige Atteste von anderen Aerzten verschaffen, wenn Sie solche wünschen.

Da Sie geneigt sind, mich noch mit einem Geldbetrage zu beglücken, so würden Sie mich sehr verpflichten, wenn Sie mir umgehend noch 20 Mark senden könnten; ich bin gern bereit, weiter schriftlich und mündlich für Ihre Angelegenheit zu arbeiten.

Hochachtungsvoll
Dr. Müller, Medicinalrath.“
Es liegt auf der Hand, daß diese famose Karlsruher Affaire, die sich für unsere Zwecke gerade zur rechten Zeit zutrug, uns den Sieg leicht machte. Unerwähnt darf hier indessen nicht bleiben, daß es neben jenem thatkräftigen und klugen Vorgehen des Karlsruher Ortsgesundheitsrathes und dem Geschick unseres juristischen Vertreters besonders das gegen die Ankläger gerichtete Zeugniß des Herrn Dr. med. Heintze in Leipzig, Redacteurs des „Aerztlichen Vereinsblattes für Deutschland“, war, was den für uns günstigen Ausgang des Processes herbeiführte. Der Genannte faßte sein Zeugniß in dem Ausspruch zusammen, daß er in der Tagespresse häufig die Namen des Dr. Müller und des Dr. Heß unter Gutachten gefunden habe, in denen werthlose und unbrauchbare Mittel gegen Krankheiten in wahrheitswidriger Weise empfohlen worden seien. Wir hoffen, daß obige Mittheilung dazu beitragen wird, der leider noch immer zahlreiche Gemeinde der Geheimmittel-Gläubigen die Augen darüber zu öffnen, was sie von den durch die Zeitungsreclame gestützten sogenannten wissenschaftlichen Begutachtungen neu auftauchender Medicamente zu halten habe.
D. Red.



[120] Zum Register der aussterbenden Volksgebräuche. Bei dem Durchlesen eines früheren Jahrgangs der „Gartenlaube“ treffe ich auf die Veröffentlichung eines altdeutschen Liederbruchstückes, welches mit den Worten „Hermen slag lermen“ beginnt. Dieses Lied erinnert mich an etwas Aehnliches aus unserer Gegend.

Als ich zu den Kindern meines Heimathsdorfes Langsdorf in der Wetterau zählte, da war es noch – es ist kaum ein Jahrzehnt her – an der Tagesordnung, daß alljährlich vierzehn Tage vor und vierzehn Tage nach Ostern die gesammte Kinderschaar des Dorfes sich auf einer nahe beim Orte belegenen Wiese, die „Au“ genannt, versammelte, um unter Aufführung eines eigenthümlichen Reigens ein seltsames Lied anzustimmen. Schon die ältesten Leute hatten es so gesungen in ihrer Jugend und so den Reigen getanzt wie wir. Das Lied heißt:



So einfach, wie die Melodie, ist auch der nach derselben aufgeführte Tanz. Bei den letzten Worten läßt der Tänzer die Tänzerin stehen und engagirt eine andere.

Der Text des Liedes ist ein völlig räthselhafter.

Sollte in den zum Theil unverständlichen Worten nicht ein tieferer Sinn liegen? Sollte es nicht etwa ein spärlicher Rest uralt-germanischer Poesie sein? fragen wir billig, die wir wissen, daß die „Au“, auf der, so weit die Ueberlieferung zurück reicht, die Tänze alljährlich zu Ostern aufgeführt wurden, früher mit vielen Hünengräbern oder „Ringköppeln“, wie's im Volksmunde heißt, bedeckt war, welche Herr Pfarrvicar Emil Ohly in früheren Jahren (um 1847) mit Erfolg öffnen ließ, und daß man ferner den gegenüberliegenden Hügel noch heutzutage das „Hainholz“ nennt. Und wäre dem so (was außer allem Zweifel steht! D. Red.), sollte sich dann nicht unter Deutschlands Sprachforschern einer finden, der das Lied zu deuten vermöchte?

Unterdessen möge die „Gartenlaube“ das Archiv sein, wo es dem deutschen Volke erhalten bleibt, denn jetzt ist das Lied verklungen. Die Prosa des neunzehnten Jahrhunderts griff auch hier mit rauher Hand ein: nachdem der Tanzplatz im Jahre 1869 von der Verwaltung der Oberhessischen Bahnen angekauft worden, ging allmählich im Laufe des letzten Jahrzehnts auch der Tanz ein, und das Lied verfiel der Vergessenheit. Es daraus zu retten, das war neben dem Wunsche, den wahren Sinn zu erfahren, der Zweck dieser Zeilen.

     Langsdorf in der Wetterau.
Phil. Koehler-Lugge.




Die Genossenschaften im oberschlesischen Nothstand. In den Berichten der Presse über die Unterstützungsspenden für Oberschlesien ist auffälliger Weise bis jetzt die Thätigkeit eines weitverzweigten Instituts nicht hervorgehoben worden, dem als einem frei in unserer Mitte erwachsenem Product zeitgemäßer Volksbestrebungen stets eine aufmerksame Beachtung gewidmet werden sollte. Schon bei dem großen ostpreußischen Nothstande im Jahre 1876 hatten die deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften den Beweis geliefert, daß sie sich als eine vaterländische Vereinigung fühlen. Mit ihrem Hauptzwecke, der Selbsthülfe ihrer Mitglieder, haben sie damals die weitere Aufgabe zu verbinden gewußt, in Fällen großer Landescalamitäten Erhebliches auch zur Bekämpfung einer Armuth beizutragen, die sich selber nicht mehr zu helfen vermag. Als nun im Herbst vorigen Jahres wieder einmal aus verschiedenen Gegenden Deutschlands die Kunde von bereits ausgebrochenen oder herannahenden Nothständen ertönte, sind die deutschen Genossenschaften von dem ehrwürdigen Schulze-Delitzsch, ihrem Gründer und Führer, sofort an ihre bereits früher geübte patriotische Pflicht erinnert und mit Nachdruck zu thatkräftiger Theilnahme und angemessenen Beiträgen aus ihren Reserven aufgefordert worden. Sein warmer Aufruf erschien in den „Deutschen Genossenschaftsblättern“ am 14. November, also zu einer Zeit, wo noch von keiner andern Seite her diesem Elende und seiner Gefährlichkeit gegenüber ein öffentlicher Schritt geschehen war.

Durch Veranlassung Schulze's ist hierauf alsbald ein aus angesehenen Männern bestehendes Central-Comité und fast gleichzeitig ein speciell für Oberschlesien wirkendes genossenschaftliches „Provinzial-Hülfs-Comité“ in Breslau gebildet worden. Auf Grund der in aller Stille eingezogenen zuverlässigen Ermittelungen erließ dasselbe sodann am 1. December einen Aufruf, dessen Wirkung als eine verhältnißmäßig sehr günstige bezeichnet werden muß. Denn schon zum Schluss des Jahres, also in einer Zeit von kaum vier Wochen, waren bei dem Breslauer Comité aus den Kreisen der Genossenschaften nicht weniger als 18,691 Mark und außerdem zahlreiche Bekleidungsgegenstände und Lebensmittel eingelaufen. Von dieser Summe sind im Laufe des December 16,500 Mark zur Vertheilung gelangt, und zwar theils durch die Vermittelung localer Vorschuß- und Sparvereine selber, wie solche in den Nothstandsdistricten bestehen, theils durch die Landrathsämter und andere behördliche Organe. Bedacht wurden dabei übrigens auch die armen Weberdistricte der Grafschaft Glatz, deren Nothstand hinter dem oberschlesischen kaum zurück bleibt. Die dem Comité am Jahresschlusse zur Verfügung gebliebene Summe von 2191 Mark ist durch inzwischen neu eingegangene Beiträge wiederum auf 5000 Mark gestiegen, sodaß bald eine zweite Vertheilung wird stattfinden können.

Alle diese Gaben sind ja an sich nicht bedeutend, aber sie erhalten einen besonderen Werth und geben ein schönes Zeugniß, wenn man an ihren Ursprung denkt. Kommen sie doch aus allen Theilen des deutschen Vaterlandes und aus den Cassen der genossenschaftlichen Vereine oder von einzelnen Mitgliedern derselben, das heißt aus jenem mittleren und kleineren Gewerbestande, der seit Jahren selber schwer unter dem Druck der Zeitverhältnisse zu leiden hat. Andererseits aber wird hier auch eine große Sicherheit wirksamer Verwendung durch den Umstand gewährleistet, daß sich das Comité der musterhaften genossenschaftlichen Organisation und ihrer an verschiedensten Orten bestehenden genossenschaftlichen Vereine bedienen kann. Es wird also, wenn einmal gewissenhaft über das gesammte Unterstützungswerk Rechnung zu legen ist, auch das humanitäre Verdienst und die eingreifende Opferwilligkeit dieses großen volksthümlichen Verbandes um so mehr die gebührende Würdigung finden müssen, als das Comité keine Sonderbestrebung verfolgt, sondern nur in pflichtmäßigem Einverständniß mit den Behörden und der Gesammtleitung des Unterstützungswesens für Oberschlesien gehandelt hat.




Kinder genug – aber wo bleiben die Eltern? Wir wollen nicht undankbar sein: ganz wirkungslos ist unsere „Bitte um liebende Eltern für verwaiste Kinder“ nicht gewesen; aber die Zahl der Kinder ist schon in dieser kurzen Zeit viel stärker angewachsen, als die der um sie werbenden Eltern. Wohl wissen wir, daß es unmöglich ist, alle armen Waisen in die Arme sorgender Familien zu führen, schon aus dem einfachen Grunde, weil es viel mehr elternlose Kinder als kinderlose Eheleute giebt, aber wünschen dürfen wir ja, daß es eine Sitte frommen Pflichtgefühls und nationaler Liebe, daß es eine so echte deutsche Sitte, wie die Pflege des Weihnachtsfestes, werden möge, kinderlose Ehen mit einem Waisenkinde zu schmücken. Wie viel wahres Familienglück könnte dann mehr, wie viel Unglück durch verlorene, weil verwahrloste Menschen weniger in Deutschland sein!

Sollte man hinter diesem Wunsche einen Vorwurf gegen die Waisenhäuser und die jetzige Waisenpflege erblicken, so wollen wir sofort bekennen, daß wir die großen Verbesserungen in denselben und die großartigen hier einschlägigen Stiftungen wohl zu schätzen wissen. Sie liegt ja hinter uns, die „gute alte Zeit“, wo man nicht blos Zucht- und Irrenhäuser, sondern nicht selten auch die Armen- und Waisenhäuser dazu unter einem Dache finden konnte. Der Anblick der vom „Waisenvater“ begleiteten langen Züge von Kindern, die in ihrer gleichen knappen Kleidung, mit den bleichen traurigen Gesichtern paarweise dahinschlichen, dieser Anblick ist heute wohl aus den meisten Städten verschwunden. Wir besitzen sogar Musteranstalten, welche den armen Elternlosen auch die Freuden der Kindheit gewähren und sie einer durch Arbeitsfähigkeit möglichst gesicherten Zukunft entgegenzuführen suchen. So dankbar dieses Eine anzuerkennen ist, so fest steht das Andere: das Leben in guter Familie kann dem Kinde kein Waisenhaus ersetzen. Eben darum müssen wir wünschen, daß das Glück, an kinderfreundliche Herzen gezogen zu werden, möglichst vielen Waisen zu Theil werde.

Allerdings ist es kein leichter Entschluß, durch die Annahme eines Kindes auch sein Schicksal mit in die Hand zu nehmen. Ein Kind macht nicht nur Freuden, es macht auch Sorgen und kann trübe Stunden bereiten. Wer solche dunklen Seiten des Familienlebens scheut, wird freilich besser thun, sich jeder derartigen Verantwortlichkeit zu entschlagen. Daß er damit aber auch einen Himmel voll reinster Freuden sich verschließt, das ist eben die Strafe für die ruheliebende Selbstgenügsamkeit. Nur wem das Herz lacht, wenn die leuchtenden Augen und die klatschenden Händchen eines Kindes ihm zeigen, wie schön es sich freuen kann, nur Der fühlt das wahre Glück des Lebens. Und an Solche richtet sich unsere Bitte: Ihr Kinderlosen, gebt Euer Herz einem Kinde und sucht in seinem Glück das Eure!

Schließlich haben wir noch eine Bitte. Die Erfahrung hat uns gelehrt, daß weit mehr Mädchen als Knaben von den Kinderlosen begehrt werden. Das Zahlenverhältniß ist sogar auffällig. Gewiß schmälert das unsere Dankbarkeit nicht um eine Linie gegen die Adoptiveltern von Waisenmädchen; ist es doch eine hohe Aufgabe, aus einem Mädchen eine Jungfrau zu erziehen, die einst als Frau und Mutter ihre pflichtreiche Stellung im Leben ausfüllen kann. Aber was haben Euch denn unsere armen Jungen getan, daß sie so tief im Preise stehen? Ist es nicht auch eine Ehre, aus einem Waisenknaben dem Vaterlande einen tüchtigen Mann mehr zu erziehen? Die Natur hat es ja so lieb in die Seele der Geschlechter gelegt, daß der Mann sich nach einer Tochter, die Frau sich nach einem Sohne sehnt: so möge diese Doppelsehnsucht auch der Herzensruf der Adoptiveltern werden! Dann sind wir sicher, daß auch unsere Knaben sich nicht mehr so lange mit ihren frischen und doch so traurigen Augen nach liebenden Eltern umsehen werden.
Fr. Hfm.


Kleiner Briefkasten.

A. M. in Z. Die billigste der uns bekannt gewordenen Bezugsquellen für den Samen der Douglas-Fichte ist die Forst- und Landw. Samenhandlung Heinrich Keller Sohn in Darmstadt, welche im vorigen Jahre ihre importirten Vorräthe von Samen der Abies Douglasii mit 26 Mark per Pfund lieferte.

E . . . . . e in F., Ungarn. Nur brieflich können wir Ihnen das Gewünschte mittheilen. Ihre Adresse?



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. In die kaiserl. Thiersammlung zu Schönbrunn waren kürzlich gegen 200 Köpfe zugleich gelangt.
  2. Die wider Erwarten langsam von statten gegangene Genesung unseres geschätzten Mitarbeiters Franz Mehring (vergl. „Zur Beachtung“ in „Blätter und Blüthen“ von Nr. 33, 1879) setzt uns erst heute in den Stand, den Faden der in Nr. 17, 21 und 25 vorigen Jahrgangs begonnenen Artikelreihe „Zur Geschichte der Socialdemokratie“ wieder aufzunehmen. Die unter dieser Ueberschrift gekennzeichneten Bewegungen gehören leider, wie verschiedene neuere Vorgänge zur Genüge herausgestellt haben noch immer in das Gebiet der brennenden tagesgeschichtlichen Fragen, und es bleibt auch ferner dringend geboten, die Augen offen zu halten und angesichts der Gefahr den Feind zu studiren. Es dürfte somit die Fortsetzung der vor einem halben Jahre mit so großem Interesse aufgenommenen Aufsätze auch heute noch unsere Leser lebhaft fesseln.
    D. Red.
  3. Vergl. Jahrg. 1879, Nr. 21.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: errinnern