Die Gartenlaube (1878)/Heft 43
Die alte Baronin schritt hastig in ihrem Zimmer auf und ab. Ihr stolzes Gesicht war von einer feinen Röthe überhaucht, und die dunklen Augen richteten sich ungeduldig auf den rothen Vorhang der Thür, durch den der Enkelsohn eintreten mußte. Ihre Hand hielt einen offenen Brief, und von Zeit zu Zeit blieb sie stehen und warf einen Blick auf das Papier.
„Es ist unglaublich,“ sagte sie dann leise, „diese Königsburger Derenbergs! Sich so festzusetzen, Dio mio! Was giebt mir die Stontheim für Pillen in diesem kurzen Briefe! Und doch muß man noch Gott danken, daß die Sache sich so arrangirt; wie froh bin ich, daß ich trotz der Kühle, die zwischen uns herrscht, darauf bestand, daß Army sich ihr vorstellen mußte!“ Sie warf wieder einen Blick in den Brief.
„Ich habe in Armand,“ las sie, „einen netten, lieben Menschen kennen gelernt, einen jungen Cavalier ganz vom Charakter der Derenberg’s, und trotz der eigentlich nur kurzen Zeit unserer Bekanntschaft habe ich ihn herzlich lieb gewonnen.“
Um die Lippen der alten Dame kräuselte es sich verächtlich.
„Ich bin, wie Sie von früher her wissen werden,“ las sie weiter, „eine Natur, die durchweg gerade und ehrlich ihre Meinung heraussagt – daß wir Beide uns nie verstanden haben, lag wohl in der allzu großen Verschiedenheit unserer Anschauungen; heute sind wir Beide alte Frauen geworden, liebste Derenberg, und es wäre wohl an der Zeit, Frieden zu machen für die kurze Spanne Leben, die uns noch gehört. Ich biete Ihnen die Hand dazu, lassen Sie das Frühere vergessen sein! Die Schuld lag vielleicht auf beiden Seiten. Und nun möchte ich Sie zur Vertrauten eines Lieblingswunsches machen, der auch Armand betrifft. Durch ihn werden Sie bereits wissen, daß in meinem Hause eine junge Verwandte lebt, die, mutterlos, jetzt die Stelle einer Tochter in meinem einsamen Leben ausfüllt, und die ich liebe, als wäre sie es wirklich. Wenn mich nicht Alles täuscht, sieht Armand seine Cousine nicht mit gleichgültigen Blicken an, – ich würde mich aufrichtig freuen, liebste Derenberg, lernten sich die Beiden lieben, und um hierzu die Gelegenheit zu bieten, schicke ich Blanka unter dem Vorwande, ihre Gesundheit zu kräftigen, in Eure waldumrauschte Heimath. Möchten sich dort die beiden jungen Herzen finden, damit ich in Armand noch einmal einen Sohn begrüßen kann! Sie sind eine kluge Frau, liebste Derenberg, und ich brauche Sie nicht erst zu bitten, den jungen Leuten keinerlei Andeutungen von meinen Wünschen zu machen; ich hoffe, daß sie sich aus wirklicher Neigung einander nähern; es ist möglich, daß Blanka in ihrem klugen Köpfchen meine Absicht ahnt; mitgetheilt habe ich ihr dieselbe nicht. Und nun möge der Herr für das Weitere sorgen und es zu unserer Freude ausführen! Indem ich Ihnen im Geiste noch einmal versöhnend die Hand reiche, bin ich in der Hoffnung baldiger Antwort, liebste Derenberg, Ihre Ernestine Gräfin Stontheim geborene Derenberg.“
„Es ist wirklich grandiös,“ setzte die alte Dame hinzu, „und man muß wahrhaftig noch gute Miene zum bösen Spiel machen; es ist raffinirt von der Stontheim, aber so war sie immer. Blanka ist ihre Erbin – das ist klar, und nun, da sie den Jungen kennen gelernt hat, möchte sie die Sache auf gute Weise arrangiren; ich muß mit süßer Miene in diesen sauren Apfel beißen und Gott danken, daß es noch so kommt; sie ist ein boshafter Charakter, diese Stontheim. Aber eine Andeutung muß ich ihm doch machen; es scheint, daß ihm diese Blanka nicht gleichgültig ist, und –“
In diesem Moment trat Army in’s Zimmer. Die Großmutter sah freundlich zu ihm hinüber.
„Ich habe einen Brief von der Stontheim,“ sagte sie, stehen bleibend und ihm die Hand entgegenstreckend, „sie meldet Blanka an, und nun, mein Herz, vergiß, daß ich gestern so unfreundlich Deinen Plänen gegenüberstand! Ich hatte einen leichten Anflug von meiner Migräne, und das verstimmte mich; ich freue mich wirklich auf den Besuch der jungen Dame.“
Army, der eben den lockigen Kopf von ihrer Hand erhob, sah aufleuchtend in das Gesicht der Großmutter: „Wirklich, Großmama? Ich danke Dir; Du nimmst eine Centnerlast von meiner Seele; es war mir sehr unangenehm, daß Dir eine Bürde auferlegt werden sollte, die Dir nicht convenirte. Darf ich wissen, was die Tante sonst noch schreibt?“
Die alte Dame lächelte. „Nein, mein Herz,“ sagte sie, „es thut nicht gut, wenn man zuviel Schmeichelhaftes über seine Person hört.“
„Tante hat mich gern?“ fragte er ganz aufgeregt und drehte das kecke Schnurrbärtchen.
„Tante meint, Du seist ein guter vernünftiger Junge und würdest gewiß dereinst ein richtiger alter Derenberg werden.“
Army’s Miene verfinsterte sich. „Ist das Alles?“
„Besonders wenn,“ kam es schalkhaft von den feinen Lippen der Großmutter, „wenn Dir eine schöne geliebte Frau zur Seite steht.“
„Hat sie das geschrieben?“ rief er hastig und erröthend,
[706] indem er stürmisch ihre Hände ergriff. Einzige Großmama, sei gut! Sage mir, erwähnte sie etwas von ihr, von Blanka? Denkt sie, daß mich Blanka auch liebt?“
Army! Mein Gott, wie unfein! Mäßige Dich! Wer spricht von Blanka? Ich habe gar nichts gesagt – verstehst Du? Gar nichts; wer denkt daran? Du bist ja erst einundzwanzig Jahre.
Aber Army hatte die Arme um den Hals der Großmutter geschlungen und drückte trotz ihres Widerstrebens ein paar herzhafte Küsse auf ihren Mund, und dann stürmte er höchst unceremoniell aus dem Zimmer.
„Orribile!“ sagte die alte Dame, ihr Spitzenhäubchen zurecht rückend, „er muß sie bereits ganz schrecklich lieben; wenn ihn die Stontheim jetzt gesehen hätte, würde sie kaum noch an den Derenberg’schen Charakter glauben.“ Sie blieb sinnend stehen und schien in der Vergangenheit nach etwas zu suchen das sie an das eben Erlebte gemahnte. Plötzlich tauchte eine Erinnerung aus besseren Tagen in ihr auf; sie sah sich als junges schönes Mädchen, wie sie im glücklichen Rausch der halbblinden Duenna um den Hals fiel und sie stürmisch küßte. Und warum? Weil draußen auf dem Balcon unter dem blühenden Oleander in der weichen Abendluft ein schlanker blonder Mann in fremdklingendem Italienisch ihr so viel erzählt hatte von einem alten deutschen Schlosse inmitten grüner Eichenwälder, und von einer alten deutschen Frau mit treuen blauen Augen ... Ein milder Zug legte sich um ihren Mund, als sie an den Jubel ihres jungen Herzens dachte. „Er hat doch mein Blut in den Adern“ sagte sie dann, „gebe Gott, daß ihm das Leben seine Wünsche treuer erfüllt, als mir!“ Dann setzte sie sich in den Sessel vor ihren Schreibtisch und malte sich die Zukunft aus, die eben in rosigem Schimmer zu dämmern begann, und vor den Augen der sinnenden Frau stand wieder das alte Schloß in all dem Zauber, der es einst umwob.
Unterdessen trieb es Army in stürmischer Unruhe im Park umher. Er hatte vorhin seine Schwester beinahe erdrückt und ihr etwas Unverständliches erzählt von einem neuen Kleide, einem blauen, wie Blanka es tragen er hatte der Mutter, die des Sohnes aufgeregtes Wesen gar nicht begreifen konnte, von der Nothwendigkeit gesprochen, ihre leidende Gesundheit durch den Besuch eines Bades zu unterstützen, und sei es nicht in diesem, so doch bestimmt im nächsten Jahre. Er war dann mit Nelly und dem alten Heinrich in den Zimmern gewesen, die er für Blanka ausersehen, und hatte hier angeordnet und dort befohlen; die Schwester hatte ihm ihr Nähtischchen versprechen müssen und die Blumenetagère der Mutter; dann hatte er die Vorhänge und die Bilder getadelt, hatte letztere herausgenommen und andere dafür aufgehangen und Nelly mehrmals erklärt, er werde Teppiche und Vorhänge aus seiner Garnison besorgen statt des alten verschossenen Zeugs und auch eine neue Livrée für Heinrich. Zuletzt hatte er die Schwester umfaßt und gefragt, ob sie wohl glaube, daß es Blanka hier ein wenig gefallen könnte, und ob sie nicht auch finde, daß von diesem Zimmer die schönste Aussicht sei? Und ohne ihre Antwort abzuwarten, hatte er hinzugefügt: „Nein, Schwesterchen, was Du Dich wundern wirst, wenn Du sie siehst, was Du Dich wundern wirst!“ Darauf war er hinausgegangen in den alten Park und wanderte nun mit hastigen Schritten durch die verwachsenen Gänge; er sehnte die Stunde der Abreise herbei, um ihr bald sagen zu können, wie man sich zu Hause freue auf ihren Besuch – und endlich wurde es Abend, und er schritt nach kurzem Abschiede mit einem aus vollstem Herzen gesprochenen „Auf frohes Wiedersehen!“ in der duftenden Frühlingsnacht dem Dörfchen zu, um die Post zu benutzen. Am Parkgitter pflückte er noch einen vollen lila Fliederzweig, einen Gruß aus seiner Heimath für Blanka. Und endlich, endlich blies der Postillon und er fuhr hinaus in das stille Land mit tausend glückseligen Gedanken.
Dort drüben aber in der Mühle, da öffnete sich leise ein Fenster und ein brauner Mädchenkopf bog sich heraus und sah mit feuchten sehnsüchtigen Augen zu der Landstraße hinüber. Sie wußte, daß er heute Abend wieder abreisen werde; er hatte es ihr ja selbst gesagt, und sie hatte auf ihn gewartet und gewartet den ganzen Tag, aber er war nicht gekommen; und horch! da schallte das Posthorn herüber durch die stille Nacht. Wie traurig das klang! Vom Walde tönte leise ein Echo zurück, und sacht, ganz sacht schloß sich das Fenster wieder.
Am andern Tage war schlechtes Wetter. Der Himmel hatte sich mit einförmigem trübem Grau bezogen, und ein leiser Regen fiel in die Apfelblüthenpracht und in den Flieder. Lieschen stand am Nachmittage oben in ihrem Stübchen und schaute mit trauriger Miene über den nassen Garten hinweg nach dem Schlosse, dessen Thürme wie in graue Schleier gehüllt erschienen.
Das war so ein recht verkehrter Tag heute – alle Welt machte ein böses Gesicht; der Vater hatte etwas Unangenehmes im Geschäft gehabt; die Muhme war ärgerlich, weil Dörte die Stallthür nicht geschlossen, hinter welcher die Pute mit ihren sieben Kücken wohnte, die nun im Regen spazieren ging, was gegen alle Vorschriften verstieß: die kleinen Dinger würden nun alle crepiren, prophezeite sie, und säßen schon da und verdrehten die Augen; die Dörte hatte tüchtig Schelte bekommen und ging ganz betrübt und mit rothgeweinten Augen im Hause umher; und zu alledem war heute gar noch der junge Herr Selldorf eingetroffen, der bei dem Vater in’s Geschäft treten wollte, und hatte am Familientische mit gespeist. Sonst aßen die Herren vom Geschäft drüben in dem Hause, das sie bewohnten, denn Herr Erving ließ sich nicht gern im Kreise der Seinen stören; allein heute machte er eine Ausnahme, weil er mit dem Vater des jungen Mannes eng befreundet war. So hatte denn nun der blondgelockte Herr mit der große blauen Cravatte der Liesel gegenüber gesessen und sie mitunter angeschaut, was doch ganz gewiß gar nicht nöthig war, und dabei hatte sich das Gespräch um den Herrn Vater, um den Stand des Geschäftes und das Befinden der Frau Mutter gedreht, und das war Alles so erschrecklich langweilig gewesen. Dazu kam noch, daß Lieschen vergessen hatte, ihre Taube zu füttern, zum ersten Male, so lange ihr dieses Amt oblag, und nun mußte sie sich auch noch über sich selbst ärgern – was mochte ihr nur sein? Und dann fiel ihr der gestrige Tag ein, wo sie mit ihrer Arbeit unter der Linde vor der Hausthür gesessen, bis es dunkel wurde, und allemal wenn dort drüben zwischen den Bäumen eine Gestalt auftauchte, dann war sie erschrocken, und das Herz hatte ganz gewaltig gepocht, und dann war es stets ein ganz gleichgültiger Mensch gewesen, der des Weges kam, zuletzt gar das alte Weidner Mariechen, die immer betteln ging, und endlich – da war sie hinaufgegangen und hatte geweint.
Sie schüttelte fast unwillig den Kopf, als sie es sich eingestehen mußte, und erröthete über und über, als sie nun auch daran dachte, daß sie gestern Abend noch einmal aufgestanden sei, nur weil ihre Gedanken sie gar nicht schlafen lassen wollten, um das Fester zu öffnen und dem Posthorn zu lauschen, das der Schwager vom Bocke des Wagens blies, in dem der Army – ja der Army, so bald wieder davon fuhr. –
„Daß es auch so häßliches Wetter ist!“ sagte sie plötzlich halblaut, indem sie Geibel’s Gedichte vom Bücherbrette herunternahm, „sonst käme doch am Ende die Nelly her.“ Sie setzte sich auf das kleine Sopha, stützte den Kopf in der Hand und blätterte in dem Buche, ohne gerade mehr als einen flüchtigen Blick für die anmuthige Lieder zu haben, die sie sonst so gern las. Dann hob sie rasch den Kopf und wandte ihn horchend nach der Thür, und richtig, da kam der wohlbekannte Tritt der Muhme über den Saal entlang, und gleich darauf blickte das gute Gesicht unter der schneeweißen Haube zur Thür herein.
„Nun sag nur um Gotteswillen Liesel, wo steckst Du denn?“ fragte sie mühsam Athem holend, „hast den ganzen Tag ein Gesicht gemacht, wie der pure Essig, und jetzt sitzst Du hier und liest, anstatt der alten Muhme da unten ein Bissel zu helfen. Du weißt doch, es ist heut Donnerstag, wo Pastors kommen; die Dörte ist rein verbost wegen der Schelte, die sie gekriegt hat, und die Mine muckscht zur Gesellschaft mit; hättest wohl mal helfen können die Tauben zurechtmachen, oder die Spargel schälen – das ist gar nicht leicht, und Du brauchst’s für den künftigen Hausstand, denn wo die Frau wirthschaftet, da wächst der Speck am Balken. Aber es ist doch eine Freude, wie Du es hübsch hier hast,“ unterbrach sie sich, indem sie den anmuthigen Raum musterte, der mit seinen weiß lackirten, von blau und weiß gestreiftem Kattun überzogenen Möbeln und den duftigen Fenstervorhängen sich so recht wie ein Mädchenstübchen ausnahm. „Und schau, wie das Myrthenstöckchen jetzt treibt! Ja, dabei fällt mir auch ein, was ich hier oben wollte. Da hat Dir die Nelly was Geschriebenes geschickt; der Heinrich brachte es mit.“ Sie nahm [707] ein Briefchen aus der leinenen Tasche, die sie unter der Schürze trug, und reichte es der Liese, die es rasch öffnete und las.
„Denk Dir, Muhme,“ rief sie überrascht, „auf dem Schlosse bekommen sie Besuch! Nelly freut sich schrecklich: eine Cousine ist es, Blanka von Derenberg, und Army kommt auch auf Urlaub, und ich soll sie dann recht oft besuchen.“
„So?“ fragte die alte Frau.
„Ja, die Nelly schreibt, sie hätte es mir selbst erzählt, sie habe aber keine Zeit heut zu kommen, denn sie müsse helfen die Zimmer in Stand setzen.“
„Sie haben’s gewiß eben erst erfahren?“ meinte die alte Frau.
„Ach nein,“ sagte Liesel, „der Army ist ja deswegen hier gewesen, schreibt die Nelly.“
„Der Army ist hier gewesen?“ fragte die Muhme und sah erstaunt zu dem jungen Mädchen hinüber, das plötzlich dunkelroth geworden war; „wann denn?“
„An Nelly’s Geburtstage,“ klang es leise zurück.
„Ei sieh einmal! Und davon hast Du kein Wort erzählt, Liesel? Du sagst mir doch sonst Alles!“ Es klang etwas wie Angst aus der Stimme der Alten. „Sag einmal, Liesel, warum hast’s verschwiegen?“ fragte sie dann rasch noch einmal.
„Weil ich es nicht wieder hören mochte, wenn Du sagst, er sei stolz und hoffährtig geworden –“
„Und warum willst Du das nicht hören, Liesel?“
„Weil es nicht wahr ist, weil er nur nicht Zeit gehabt hat – sonst wäre er gekommen.“
Sie brach plötzlich in Weinen aus; die ganze getäuschte Erwartung von gestern floß mit diesen bittern Thränen aus dem Herzen des jungen Mädchens.
„Aber Liesel, meine Güte, was soll denn das heißen? Bist gar nicht gescheidt, daß Du um so etwas weinst! Was um Alles in der Welt geht Dich der Army an?“ Die alte Frau sprach ärgerlich, aber man merkte es ihr an, es war auf einmal eine Centnerlast auf ihr Herz gefallen. „Ich meinte, es könnte Dir ganz gleichgültig sein,“ fuhr sie fort, „was ich vom Army rede. Deine Wege und seine Wege laufen nicht mehr neben einander wie in Eurer Kindheit; er ist jetzt ein großer Herr und Du bist ein erwachsenes Mädchen – was soll man davon denken, daß Du so anfängst zu weinen?“
Lieschen aber warf sich der alten Frau um den Hals. „Ach, Muhme, sei nicht böse!“ schluchzte sie, „es ist recht kindisch von mir, aber ich kann’s nun einmal nicht hören, wenn Du über die im Schlosse redest; sieh, wir haben immer so hübsch zusammen gespielt, und es kommt mir immer vor, als wischtest Du unbarmherzig die schönen Erinnerungen aus, wenn Du auf Nelly und Army böse bist.“
Die Muhme schüttelte den Kopf. „Kind,“ sagte sie dann, „wenn Du wüßtest, was für bitteres Leid von da droben über unser Haus gekommen ist!“
„Können denn aber Army und Nelly etwas dafür?“
„Nein – aber –“
„Du sagst doch selbst immer, man soll seinen Feinden vergeben.“
„Es ist richtig, aber es vergißt sich ein Unrecht zu schwer, wenn’s einem so nahe ging, wie –“
„Ach, laß doch gut sein, Muhme!“ bat Lieschen schmeichelnd und sah unter Thränen lächelnd in ihr Gesicht; „ich will nicht wieder so dumm weinen, aber gelt, Du schiltst auch nicht mehr? Ich komme jetzt auch mit hinunter und helf Dir die Tauben schön braun und knusprig braten, wie sie der Vater gern ißt. Ja? Und hast Du schon Radieschen aus dem Garten geholt oder soll ich es thun?“ Sie bat und schmeichelte so lange, bis die Alte ihr einen Kuß auf den Mund drückte, und als sie dann über den dämmrigen Vorsaal des obern Stockes schritten, auf welchem mächtige alte Wäsch- und Kleiderschränke standen, schaute die Muhme unwillkürlich zu einer der Thüren hinüber, und ein banger Seufzer begleitete den Blick.
„Das ist der Lisett ihr Stübel gewesen,“ sagte sie mit einen gewissen Nachdruck im Tone.
Das junge Mädchen nickte und sprang eilig die Treppe hinunter. Sie hatte zwar schon öfter etwas von Lisett gehört; sie wußte, daß es ihre Großtante gewesen, und die Muhme sprach den Namen immer mit einer gewissen Feierlichkeit aus, aber da man ihr nie Näheres mittheilte, so interessirte es sie auch nicht, daß sie dort oben gewohnt. Sie schämte sich aber jetzt, daß sie so kindlich geweint vor der Muhme; was sollte diese nur eigentlich glauben? Am Ende gar, daß sie den Army – –? Sie wurde dunkelroth und dachte es nicht aus, sondern fing an zu singen, während sie in die Wohnstube lief, um Onkel und Tante Pastor zu begrüßen.
Die Muhme aber folgte ihr mit bangen Blicken. „Herr des Himmels,“ murmelte sie, „verschone uns in Gnaden mit solch einem zweiten Unglück! Denn ein Unglück wird’s; es ist noch nichts Gutes von da droben gekommen, seit die Alte auf dem Schlosse Athem holt. Herr Gott, behüte die Gedanken des Mädchens! Sie weiß es selbst noch nicht, aber es ist wahr, was ich da gehört – sie hat ihn gern, den Army. O du lieber Gott, wie soll man da schon helfen?“
Und die Muhme grübelte und grübelte, während sie das Abendbrod in der blitzblanken Küche rüstete, und wenn Lieschens helle Stimme einmal aus der Wohnstube her in ihr Ohr drang, dann schüttelte sie mit dem Kopfe, und beim Abendessen betrachtete sie verstohlen das lachende Gesichtchen, von dem die letzten Thränenspuren verschwunden waren.
Das war aber auch eine vergnügte Tafelrunde, die in dem kühlen Eßzimmer um den mit schneeweißem Damast gedeckten großen runden Tisch saß. Der Hausherr oben an mit seinem wohlwollenden, von einem großen Vollbarte umrahmten hübschen Gesichte, der Herr Pastor, dem man das Behagen ansah, mit welchem er bei dem Jugendfreunde zu Gaste saß, und Rosine, seine kleine runde Frau, die immer vergnügt war, obgleich sie zu Hause eine ganze Reihe Kinderchen hatte, die wie die Orgelpfeifen auf einander folgten, und für die sie oft nicht wußte, wo sie die neuen Röckchen und Jäckchen hernehmen sollte. Selbst an den Donnerstagabenden auf der Mühle, wo sie sich von den Strapazen der Woche erholen wollte, vermochte sie kaum auf dem Sopha neben der Hausfrau zu sitzen, ohne ein Kinderstrümpfchen in der Hand, an dem sie eifrig strickte, und nicht selten legte dann Frau Erving ihr lächelnd ein ganzes Paket fertiger Strümpfe in den Schooß: „So, liebe Pastorin, da habe ich ein Bischen geholfen; nun lassen Sie es heute Abend aber auch einmal gut sein mit dem Stricken und singen uns ein Lied!“ Und dann sang die Frau Pastorin mit ihrer leisen hohen Stimme irgend ein einfaches Liedchen. Nachher aber griff sie doch mechanisch wieder zum Strickzeuge und sagte, selbst darüber lächelnd: „Laßt es gut sein, Minnachen! Ich kann einmal nicht anders.“ Die Hausfrau befand sich heute Abend ganz besonders wohl und erzählte sich mit Rosine lange Haushalts- und Wirthschaftsgeschichten, und Lieschen neckte sich mit dem Vater und dem Herrn Pastor herum; nur die Muhme war still und hatte heute nicht einmal ein Lächeln für die Lobsprüche, die ihrer Kochkunst galten; sie nahm kein Schlückchen von dem duftenden Moselwein, der in dem grünen Römer so verlockend vor ihr stand.
„Weißt Du auch, Pastor,“ fragte der Hausherr, „daß ich jetzt einen Sohn von unserem alten Schulfreunde Selldorf hier habe?“
„Von Selldorf einen Jungen? Ei, was Du sagst! Wie ist es dem denn eigentlich ergangen?“
„Der hat eine große chemische Fabrik in Thüringen.“
„Ei, was Tausend, und der Junge soll –?“
„Der Junge soll einmal seine Nase in mein Geschäft stecken, weil der Alte beabsichtigt, eine Papierfabrik, vulgo Lumpenmühle anzulegen – hat übrigens Glück gehabt; er kam als Buchhalter in das Geschäft, das er jetzt selbst besitzt, heirathete das einzige Töchterchen seines Principals und war ein gemachter Mann; ist ein gescheidter Kopf und ein durch und durch reeller Charakter. Mußt Dir übrigens den Jungen einmal ansehen, frappant wie der Alte damals aussah, dieselbe blonde Lockenperrücke, dieselben Augen. Ich dachte, ich wäre wieder jung geworden, als er so vor mir stand.“
„Wo hast Du ihn denn?“
„Drüben im Geschäftshause. Ich halte ihn nicht um ein Haar anders wie die übrigen jungen Leute; heut Mittag hat er hier gespeist, aber damit ist’s gut – Du weißt, ich lasse mich nicht gern stören im Kreise meiner Familie.“
Der Pastor nickte: „Muß ihn mir wirklich einmal ansehen. Was sagt denn aber Lieschen dazu?“ fragte er scherzend das junge Mädchen.
„Gar nichts, Onkel,“ erwiderte sie.
„Das ist wenig,“ lachte dieser. „Aber apropos, da fällt [708] mir ein, Lieschen, der Army war ja hier. Ich sah ihn von der Post kommen , als er gerade angelangt war, à la bonheur, ist das ein hübscher Junge geworden! Hast ihn gesehen, Kleine?“
Lieschen nickte, aber sie war dunkelroth geworden; die Muhme sah auch gar zu scharf herüber.
„Es kränkt mich aber doch,“ fuhr der Pastor fort, „daß er es nicht der Mühe werth hält, einmal mit zu uns heran zu kommen; es ist doch nicht hübsch, daß er seinen alten Lehrer nicht mehr kennt – das ist so ein Zug von der alten Baronin.“
„Sie können sich nicht allein beklagen,“ sagte die Hausfrau. „Hier ist er auch nicht gewesen. Aber Nelly kommt zu uns.“
„Ein allerliebstes Mädchen,“ meinte die Frau Pastorin.
„So recht dem Großvater ähnlich,“ tönte jetzt die Stimme der Muhme, „das war ein Mann. Na, aber: Wen unser Herrgott liebt, dem giebt er ein großes Leid.“
„Er hat ja wohl sehr unglücklich mit seiner Frau gelebt?“ fragte die Frau Pastorin, zu der Alten gewandt.
„O, Frau Pastorin, wo die hintritt, da kommt’s Unglück hinterdrein; sie hat nicht blos die eigene Familie zu Grunde gerichtet, auch über andere Häuser hat sie Kummer und Sorge genug gebracht.“
„Ja, sie muß toll gewirthschaftet haben,“ nickte der geistliche Herr, „man hört so mitunter etwas von den Dorfleuten.“
„Meine Familie könnte auch ein Lied davon singen, nicht wahr, Muhme?“ fragte der Hausherr.
„Das weiß der Allmächtige!“ rief die alte Frau „was sind für Thränen geflossen um dieses Weibes willen! Aber Gott hat sie alle gezählt,“ nickte sie rasch aufstehend und schritt aus dem Zimmer.
„Es thät’ gar nichts schaden,“ murmelte sie, als sie dann in ihr Stübchen trat und noch einmal Alles überdachte, was sie so bekümmerte, „es thät’ gar nichts schaden, wenn ich der Liesel die Geschichte erzählte; es könnte ihr doch ein Lichtel aufgehen, wie sie sind da droben.“
Dann stand sie auf, suchte einen Schlüssel hervor, ging leise aus dem Zimmer die Treppe hinan und schloß die Thür zu Lisett’s Stübchen auf.
Es war ein kleiner Raum, den sie betrat, und in dem Dämmerlicht, das bereits herrschte, konnte man kaum die einfache Ausstattung erkennen. Zwischen den Fenstern eine Kommode mit blitzenden Messingbeschlägen, darüber ein Spiegel in geschnitztem Holzrahmen, der oben seltsam geschnörkelt war, eine schmale Bettstelle, grün gestrichen und mit einer plumpen Rosenguirlande bemalt, davor ein winziges Tischchen mit drei Beinen und einem eingelegten Stern auf seiner Platte, und an der gegenüberliegenden Wand ein hochlehniges, dünnbeiniges Sopha, das ordentlich aufseufzte, als jetzt die Muhme sich hineinsetzte; über dem Bett hing ein kleines schwarzes Crucifix unter einem bunten Bilde, das ein Mädchen mit einer Taube in der Hand vorstellte, zwischen Bett und Fenster aber hatte ein Kleiderschrank mit aus dunklem Holze eingelegten Figuren Platz gefunden, während am andern Fenster ein kleiner Nähtisch mit einem hochlehnigen Stuhle davor stand. Unter dem Spiegel hing ein verwelkter Kranz mit verblaßter blauer Schleife, der seltsam contrastirte mit dem duftigen frischen Fliederstrauß in dem alten geschliffenen Glase auf der Kommode. Letzteres Liebeszeichen stellte die Muhme alljährlich hin, wenn der Flieder blühte; die einstige Bewohnerin hatte die blauen Blüthen so sehr geliebt, und diese Zeit rief immer ein schmerzlich süßes Gedenken in dem Herzen der Alten wach.
So saß sie nun heute Abend wieder in dem Stübchen der schönen Lisett, und in ihrer Seele mischten sich Vergangenheit und Gegenwart: es war ihr, als sei sie wieder das frische junge Mädchen, und die schlanke Gestalt der Freundin stehe dort drüben am Fenster und blicke mit den schönen Augen so sehnsuchtsvoll zu dem südlichen Thurme des Schlosses hinüber. „Er kommt, Mariechen; er kommt – ich habe das Licht gesehen,“ hatte sie einst oft gerufen und dabei in seliger Freude die Hände zusammengeschlagen, und dann waren sie hinunter gegangen in den Garten, und da, in der dunklen Jasminlaube, da hatte dann ein schönes glückliches Liebespaar gesessen in aller Zucht und Ehrbarkeit – –
Und dann?
Dann lag sie auf jenem Bett, die schöne Gestalt, gebrochen unter der Last des Schmerzes, die Wangen schneeweiß und die blauen Augen voll heißer Fiebergluth.
War es nicht genug, einmal solche Qual ansehen zu müssen? „Herr Gott, behüt’ meinen Liebling, mein Liesel!“ betete sie und legte den Kopf auf die Lehne des Sophas. Die Hände sanken ihr eng gefaltet in den Schooß, während sich Thränen in die alten Augen drängten.
Da faßten ein Paar kleine Hände die ihren; eine weiche Wange schmiegte sich an die ihre, und als sie aufblickte, da schauten sie ein Paar tiefe blaue Augen an und eine leise Stimme fragte: „Was weinst Du denn, Muhme? Bist Du immer noch bös auf mich?“
Die alte Frau antwortete nicht sogleich; ihr war es, als sähe sie eine holde Erscheinung in diesem Augenblicke, dann aber fragte sie: „Wie kommst Du hierher, Liesel?“
„Verzeih, Muhme! Ich suchte Dich drunten in Deiner Stube; sie sprechen soviel von einem Baron Fritz und der Großtante Lisett, und da wollt ich Dich bitten, mir Etwas von ihnen zu erzählen, und bin Dir nun hierher nachgekommen.“
„Dann bist Du zur guten Stunde gekommen, Liesel! Laß sie unten immerhin sprechen. Es weiß es Keiner so gut wie ich, denn ich hab’ es mit erlebt; zwar wollt’ ich, Du solltest noch lange nicht wissen, wie bunt es manchmal im Leben hergeht, aber es ist besser für Dich – komm, setz Dich –!“
Das junge Mädchen gehorchte, nachdem sie sich scheu in dem Zimmer, in das sie nur einmal als kleines Mädchen einen Blick geworfen, umgesehen, und die alte Frau strich sich die Schürze glatt, und indem sie die Hände wieder faltete, schickte sie sich zum Sprechen an. Aber sie blieb doch stumm und blickte wie verlegen um sich. Sollte sie dem jungen Kinde die traurige Geschichte erzählen und Haß und Groll und verwirrendes Mißtrauen in die reine Seele streuen? Das Mädchen, das in stummer Erwartung da neben ihr saß, es war ja noch ein Kind; der Army flog ihr sicher bald aus dem Sinn – nein, sie durfte diese thränenvolle Geschichte nicht erzählen. Und doch – wenn sich’s noch einmal wiederholen sollte, und sie hätte ihren Liebling nicht gewarnt! „O, Du allgütiger Gott!“ murmelte sie leise, „was kann ich da schon thun?“
„Mach’ erst das Fenster auf, Liesel!“ bat sie; „die Luft ist hier so eingeschlossen.“
Das junge Mädchen öffnete beide Flügel; der Regen hatte aufgehört; nur so ein leises Tröpfeln von Blatt zu Blatt ging noch durch die alten Bäume, und jener frische Erdgeruch zog in das kleine Stübchen, der immer nach einem Regen die Luft erfüllt.
„Liesel,“ sagte sie dann halblaut.
„Muhme?“ fragte das junge Mädchen, und streichelte über das alte Gesicht.
„Liesel, Du – ich glaube, es wäre besser, Du gehst nicht mehr so oft zur Nelly, – – nachher, mein’ ich, später, wenn der Army wieder da ist, und die Cousine,“ begütigte sie, als Lieschen den Kopf mit dem Ausdruck der Ueberraschung zu ihr wandte. „Sieh, es ist nicht – ich denke – ich –“ sie stotterte und schwieg.
„Laß das, erzähle lieber von der Lisett!“ schmeichelte das junge Mädchen in der Angst, die Muhme könnte wieder auf das gefürchtete Thema von vorhin kommen.
„Was ich von der Lisett erzählen wollte?“ rief die alte Frau hastig, „das sag ich, daß sie das liebste Geschöpf auf Gottes weitem Erdboden war, und daß sie hat sterben müssen, nur weil – weil – – höre, Liesel, wenn jemals Einer was auf Deine Großtante sagt, dann widerstreit es, denn es hat nie ein reiner Herz gegeben, aber auch keines, das auf so schändliche Art gebrochen worden –“
Sie schwieg eine Weile.
„Geh’ nicht mehr auf’s Schloß, Liesel!“ fuhr sie fort, indem sie die Hand des Mädchens ergriff und heftig drückte; „sieh, ich kann Dir nicht Alles sagen, wie es war; es will mir nicht über die Lippen; später sollst Du es erfahren, aber glaub’ mir, es thut nicht gut, die alte Baronin, – die – –“
„Hängt das mit der Geschichte von Tante Lisett zusammen?“ fragte das junge Mädchen. „Sag’ es, Muhme, bitte, bitte!“
„Ich sag’ weder Ja noch Nein, Liesel,“ erwiderte diese, „aber das sag’ ich,“ rief sie feierlich, „es ist noch nicht aller Tage Abend, und wenn es ihr noch schlechter ginge auf Erden und sie käme als Bettlerin hier vor’s Haus, ich stieße sie fort und ließe sie weiter ziehn, denn wo die hintritt, da ist’s verflucht in alle Ewigkeit, und einmal im Leben, da werd’ ich ihr’s doch noch in’s Gesicht sagen, daß sie ein – –“
[709]
„Muhme!“ rief Lieschen mit einer abwehrenden Bewegung, so bang und laut, daß die alte Frau erschreckt innehielt.
„Es ist gut,“ murmelte diese. „Ich will nichts weiter sagen. Aber Du darfst nicht auch so unglücklich werden wie die Lisett. Ich könnt’s ja nicht noch einmal durchleben, wenn – – Ach Du mein Gott, Kind, ich wollt’ Dir ja nicht weh thun. Ich wollt’ Dich nur warnen, Lieschen,“ fuhr sie fort, als sie das schluchzende Mädchen an ihre Brust gezogen, „Du sollst ja Deine Freundin nicht missen, um Alles in der Welt nicht, aber sieh, wenn Eins jung ist, da kommen mitunter gar thörichte Gedanken in’s Herz [710] – – Lieschen, Kind,“ flüsterte sie ängstlich, „gelt, Du thust es fühlen, daß ich es gut meine?“
Lieschen nickte: „Ja, ich weiß; daß Du es gut meinst, Muhme, aber – –.“ Sie schwieg; es war ihr so weh zu Muthe, so weh wie noch nie im Leben. – –
Drunten in der Wohnstube saßen sie auch noch und schwatzten mit einander von alten Zeiten, von der schönen Lisett und dem Baron Fritz, und nun stand die kleine Frau Pastorin auf, setzte sich an’s Clavier und sang mit ihrer innigen Stimme ein kleines Lied:
Auf ihrem Grab, da steht eine Linde;
Drin pfeifen die Vögel und Abendwinde,
Und drunten sitzt auf dem grünen Platz
Der Müllerbursch mit seinem Schatz.
Die Winde, die wehen so kalt und so schaurig;
Die Vögel, die singen so süß und so traurig,
Die schwatzenden Buhlen, die werden stumm,
Sie weinen und wissen selbst nicht warum.
„Wo ist denn unser Lieschen?“ fragte sie dann, „sie muß doch auch einmal singen.“
Und Lieschen saß noch immer oben neben der Muhme, und als sie den Gesang von dort unten hörte, da weinte sie auch, – und wußte selbst nicht warum. Es war, als sinke ein Nebel vor ihren Augen herab, die goldne Jugendzeit verhüllend mit all den fröhlichen Spielen, mit Sonnenschein und Blüthenschnee, und zwei lachende Kindergesichter verschwanden immer mehr und mehr, und der Nebel ward dichter und dichter und baute sich auf zu einer hohen Wand, und davor stand die stolze schöne Schloßherrin aus dem Ahnensaal dort oben, mit den wunderbar schwarzen Augen und dem blauen Sammetkleide, und sie streckte ihr wie abwehrend die Hände entgegen: „Was willst Du hier? Hier ist’s gefeit, und Du gehörst nicht zu Uns. Du bist Lumpenmüllers Lieschen, kehre um, sonst wird’s Dein Tod. Denk an Lisett, die schöne Lisett und – –.“ Da sprang sie hastig auf und flüchtete aus dem kleinen Stübchen in ihr Zimmer, und da warf sie sich auf’s Bett und weinte im heißen Schmerz um ein Etwas, das sie selbst noch kaum recht erfaßt, recht begriffen, und das nun mit seinem Schwinden ihr das Leben so leer, so traurig erscheinen ließ.
Die Muhme aber stand an ihrer Thür und horchte auf das bange Schluchzen da drinnen. „Herr Gott,“ sagte sie leise, „ich hatt’ schon richtig gesehen; sie ist ihm gut, dem Army, wär’s doch noch zur rechten Zeit gekommen, daß ich sie gewarnt; es ist besser jetzt geweint, als dann. Du armes Ding, ja – so eine erste Lieb’, sie ist ja gar zu süß –.“
Und drunten, da gingen eben die Gäste fort, und die Muhme hörte deutlich die Worte die zum „Gute Nacht!“ gesprochen wurden. „Ja, ja, Bernhard, so ist das Leben,“ sagte der Herr Pastor im Anschluß an ein vorhergegangenes Gespräch, „’s hat Leid und Freud, – na, wenn wir hier erst einmal als alte Leute sitzen und uns etwas erzählen von ferner Zeit, da ist’s hoffentlich nicht so traurig wie die Geschichte heut’ Abend, und wir können dann zu den Enkeln sagen: Guckt, Kinder, uns ist’s besser ergangen, als wir es verdient haben; na Bernhard, ich seh’ Dich wirklich schon als Großpapa, und das Lieschen neben so einem netten Mann hier aus der Mühle; ’s kommt Alles, wie der heutige Tag. Nun, Gott behüt’ Euch, auf Wiedersehn zu Pfingsten, den zweiten Festtag, – den dritten kommt Ihr dann zu uns, nicht Rosina?“
„Gute Nacht, gute Nacht! Grüßt das Lieschen und die Muhme!“
Und es wurde still im Hause, nur in Lieschen’s Stübchen verstummte das bange Schluchzen noch nicht, und erst spät stieg die alte Frau die Treppe hinunter und ging in ihr kleines Zimmer. „Jetzt schläft sie,“ murmelte sie. „Gott schenk’ ihr ein fröhliches Erwachen und Lebenslust, und dereinst viel Lieb’ und Segen! Sie ist ja noch so jung, so jung, und das Leben ist so schwer und lang, ja für die Meisten – die Allermeisten.“
Sobald das Kind die Wände beschrieen hatte, wie der Ausdruck der deutschen Rechtssprache lautet, war es damit auch rechtlich in’s Dasein getreten. Der Vater nahm es auf die Arme, begoß es mit Wasser und gab ihm einen Namen. In vornehmen Kreisen wurden zu diesem Acte Zeugen herangezogen, und es war wohl statt des Vaters der Vornehmste in der Familie, der diese Namengebung verrichtete und sie mit einem Geschenke begleitete. So fand das einziehende Christenthum die Taufe in ihrer äußerlichen Form bereits vor. Es brauchte dieselbe nur der profanen Hand des Laien zu entziehen und ihr die geistliche Folie zu leihen.
Das fröhliche Ereigniß des Hauses versammelte die Frauen der Sippe und Nachbarschaft zu „Kindbetthöfen“, das heißt zu Gastereien, bei denen neben dem schmeckenden Gaumen auch der geschwätzigen Zunge ihr volles Recht verblieb.
Frei und lose, in Thierfelle oder linnene Tücher gewickelt, lag der kleine Germane auf dem Teppich des Estrichs, bis ihn in späterer Zeit, fest und gut geschnürt, die schaukelnde Wiege aufnahm, wie Bilder des vierzehnten Jahrhunderts uns vor Augen stellen. Schon Tacitus erzählt uns, wie es der Stolz der deutschen Mutter gewesen sei, ihr Kind selbst zu stillen. Der Brauch erhielt sich auch lange („Parcival“ II, 16). Im fünfzehnten Jahrhundert aber war in vornehmen Kreisen das Halten von Ammen schon zur Regel geworden. Die übergeschäftige Liebe der weiblichen Umgebung, das Zumarktetragen der Weisheit von Muhmen und Basen fehlte dem Kinde schon damals nicht. Davon liefert der wandernde Sittenprediger Bruder Berthold von Regensburg (dreizehntes Jahrhundert) in seinen uns theilweise noch überlieferten Predigten eine ergötzliche Schilderung: „Da macht ihm, dem Kinde.,“ sagt er, „seine Schwester ein Müslein und streicht es ihm ein. So ist sein Magen klein und schier voll geworden. Da kommt dann die Muhme, die thut ihm dasselbe. So kommt dann die Amme und spricht: ‚O weh, mein Kind. Du aßest heute noch nichts.‘ Und sie streicht ihm ein, wie die erste und zweite, daß das Kind greint und zabbelt.“
Auch der spielende Verkehr mit Puppen („Docken“), welche römische Kinder schon kannten, war dem deutschen Kinde bereits früh vertraut. Urkundlich verbrieft ist derselbe im neunten und zehnten Jahrhundert. Selbst die größten Meister der Dichtkunst verschmähen es nicht, die Freude zu verherrlichen, welche die Kinder über diese stummen Miniaturbilder des wirklichen Menschen empfanden, denen ihre kindliche Phantasie Bewegung und Leben verlieh. Naiv rührend ist die Klage der kleinen Burggrafentochter in Wolfram’s „Parcival“, welche dem einkehrenden Gaste, der sich scherzend zu ihrem Ritter erklärt, Gaben verehren möchte, und doch nichts weiter besitzt als ihre Docken, die, wenn er sie nähme, sie gern würde geben, ob sie auch viel schöner sind, als die der Nachbarskinder.
Im Germanischen Museum in Nürnberg befindet sich eine Anzahl kleiner, kaum einen Daumen langer Figuren aus weißem Thon, die bei Umlegung des Nürnberger Straßenpflasters gefunden wurden. Sie stellen Frauengestalten in der Tracht des vierzehnten Jahrhunderts dar. Es sind Kinderpuppen, bei denen die in dem Brusttheile der Figuren befindliche Vertiefung zur Einlegung des Pathenpfennigs diente; daneben stellen einige der Figuren auch Reiter, Wickelkinder, Heiligenbildchen dar. Ferner finden wir ein zinnenes Schwert, eine bewegliche Ente, irdene Näpfchen und Tellerchen. Bleisoldaten gehören einer späteren Zeit an. Auch Puppenhäuser, Puppenstuben, Kaufläden und Küchen bescheerte man im Mittelalter schon den Kindern. Das genannte Museum hat eine Anzahl davon, welche durch die Reichhaltigkeit der Ausstattung fast frappiren. Eins davon scheint nach der Art der Ausrüstung noch in das späte Mittelalter zu fallen, wenn auch die anderen mehr der Rococozeit angehören. Die Puppen sind aus Wachs geformt und vollständig bekleidet;
[711] eine bewegt sich in einem Laufstuhle; dabei finden wir ein Bett, Kronleuchter, Vogelbauer mit Vogel, Kleiderhalter, Spinnrocken mit Gestell, einen Kachelofen und allerlei Hausrath. Auch hölzerne Nußknacker sind ein sehr altes Spielzeug.
Sicher sind auch die heutigen Kinderspiele, denen vielfach eine tiefere Deutung innewohnt und welche darum auch das Auge des modernen Forschers wieder lebhaft auf sich gezogen haben, noch die gleichen, wie in den ersten Zeiten germanischen Lebens, denn die im Sinn und Empfinden engbegrenzte Welt des Kindes unterliegt nicht dem ewigen Wechsel der Geschichte. Zur Erheiterung des kindlichen Gemüths dienten auch die in den Frauengemächern gehaltenen Singvögel, die sprechenden Staare und Papageien, deren wir bereits gedachten.
Da in jenen Tagen noch nicht das Geizen mit Platz und Raum bestand, wie es die Noth der Gegenwart in großen Städten gebieterisch heischt, so waren die Kinder nicht eingeengt in dumpfe Stuben und schmale Gänge. Weite, hohe Gemächer, breite Corridore und lichte Treppen, der geräumige Burghof, dem nicht das schirmende Dach einer Linde fehlte, der breite menschenleere Marktplatz, das grasige Ried, und vor den Thoren draußen Wallgraben, Anger und Trift wurden zur Basis der freiesten Entfaltung ihrer jugendlichen Kraft, die noch nicht gebändigt war durch den herben Zwang der Schule. Den Kindern der Edeln gesellte man Gespielen zu, meist aus den Kreisen niederer Geschlechter. „Hoher Herren Kinder,“ sagt Pater Berthold, „erhalten Zuchtmeister, die Jungfrauen Zuchtmeisterinnen, die allezeit bei ihnen sind und sie Zucht und Tugend lehren. Ihr armen Leute,“ fährt er dann predigend fort, „könnt sie Euern Kindern nicht halten. Da Ihr aber und Eure Kinder das Himmelreich ebenso nöthig habt, sollt Ihr sie selber erziehen.“ Und nun giebt er ihnen dazu Rath und Anschlag. „In der Zeit, da das Kind zu sprechen anfängt, sollt Ihr ein kleines Rüthelein bei Euch haben, das jederzeit in der Diele oder in der Wand steckt, und wenn das Kindlein ein unzüchtig oder böses Wort spricht, so sollt Ihr ihm ein Schmitzlein geben auf die bloße Haut. Ihr sollt es aber nicht auf das bloße Haupt schlagen, wenn Ihr es nicht wollt zu einem Thoren machen. Thut Ihr nicht also, so werdet Ihr Kummer an dem Kinde erleben.“
Man brachte die jungen Mädchen auch wohl in Frauenklöstern unter. Dort lernten sie von den Nonnen feine weibliche Arbeit und die Kenntniß alter Legenden, Gebete und biblische Geschichte. In literarischen Besitzstande der Frau fehlte nie das Psalterbuch. Als ausschließliches Fraueneigen (Gerade) erbte es auch weiter von Frau zu Frau.
Indeß blieb auch die weltliche Literatur der Frau keineswegs fern. Dicht neben Psalter und Gebetbuch lagen auf ihrem Putztische, hie und da wohl heimlich versteckt, Liederbüchlein, in denen sie mit zierlichem Stift die Lieder der Minnesänger eingezeichnet hatte, auch wohl größere Bände mit den lustigen und traurigen Geschichten der schönen Magellone, der Pfalzgräfin Genoveva, des Ritters Galmy und manch Anderer, denn während die streitbaren Männer jede gelehrte Beschäftigung als pfäffisch und unmännlich verachteten, sodaß selbst der große Dichter Wolfram von Eschenbach nach seinem eigenen Geständniß nicht lesen konnte, fand sie in dem mehr auf’s Innere gerichteten Gemüthe der Frau einen weit zugängigeren Boden. Mönche und Klostergeistliche, die damaligen Träger der Bildung, gaben den Frauen Unterricht im Lesen und Schreiben und sogar im Latein. Als dann im Laufe der Zeit das welsche Wesen immer größeren Einfluß gewann, drang auch, schon im vierzehnten Jahrhundert, die französische Sprache in’s deutsche Frauengemach. War sie doch vielfach die Dolmetscherin des höfisch feinen Anstands. Auch fahrende Sänger und Spielleute nahmen oft eine längere Einkehr im Hause und Schlosse, um den Frauen ihre Lieder und das Spiel der Harfe, der wälschen Fiedel und sechssaitigen Laute (Rotte) zu lehren. Die „Meisterin“ der Zucht aber unterwies das sittige Fräulein in den Regeln der „Moralität“, der Kunst der schönen Sitten, oder wie wir heute sagen würden der Anstandslehre. Ihr, der Mutter und den Mägden fiel daneben der hauptsächlichste Theil der Frauenweisheit zu, der Unterricht in der Führung des Hauswesens, im Spinnen, Nähen, Weben, Sticken und Schneidern, wovon wir später des Weitern berichten wollen.
Dagegen hielt sich die Frau trotz ihrer vielfach den Mann überragenden Kenntnisse fast ganz fern vom eigenen literarischen Schaffen. Unter all den zahlreichen Sängern der Minne befindet sich keine einzige Frau. Die Gandersheimer Nonne Roswitha, welche im neunten Jahrhundert lateinische Komödien schrieb, und eine Oesterreicherin, die unter Beihülfe ihrer Brüder das Leben Jesu in sehr trockener Weise bearbeitete, bestätigen in ihrer Vereinzelung nur die allgemeine, tief in der Sitte der Zeit und dem ganzen Wesen der Frau, das vor aller öffentlichen Schautragung scheu zurückbebte, begründete Regel. Um so größer und bestimmender war ihre Einwirkung auf das ganze dichterische Schaffen der Zeit. „Niemals,“ sagt Vilmar, „hat sich die Männerwelt inniger und tiefer in die Gedanken- und Gefühlswelt der Frauen eingelebt, niemals sich für alle poetischen Motive stärker von ihr inspiriren lassen, als in der Zeit des Minnesangs.“ Die Poesie trug ganz den Charakter des Frauenhaften an sich und in sich.
„O Frau, Du selten reicher Hort,
Daß ich zu Dir hie sprech’ aus meinem Munde!
Ich lob’ sie in des Himmels Pfort,
Ihr Lob zu End’ ich nimmer bringen kunnte.
Deß lob’ ich hier die Frauen zart mit Rechten,
Und wo im Land ich immer fahr’,
Muß stets mein Herz für holde Frauen fechten.“
So klingt die Weise Heinrich’s von Meißen, genannt „Frauenlob“.
Das Mittelalter, das idealenreiche, schuf sich auch ein Schönheitsideal der Frau. Zu ihm gehört zunächst blondes Haar, mit goldenem Schmelz und Schimmer um schneeweiße, feingeäderte Schläfen sich ringelnd. Die blonde Farbe des Haares nahm im Mittelalter ein so ausschließliches Schönheitsrecht in Anspruch, daß dunkelhaarige Frauen sich das Haar golden färbten. Gleicher Vorzug genoß die Bläue der Augen, aber noch mehr galt jener unbestimmte unklare Farbenwechsel, wie er „im Auge der Vögel sich zeigt“. Von der schönen Blankflos rühmt ihr Sänger, Conrad von Flecke, daß über ihre Augen, deren Gewalt keiner sich erwehren könne, mit aller Kunst gerade Brauen sich hinzögen, scharf und schmal wie Pinselstriche. Die Weiße der Haut verglich sich dem Schwan und der Schlehenblüthe. Durch dasselbe hindurch muß das Roth schimmern wie glühende Rosen. Aus dem schwellenden festgeschlossenen Munde blicken, wenn er sich zu Rede oder Lächeln öffnet, die weißen Zähne wie „Hermelin aus Scharlach“. Weiß wie Elfenbein, mit gerundetem Grübchen, glänzt das Kinn und „wie eine Ameise“, zierlich schlank ist die Taille. „Finger lang, gerad und glatt, Arme weiß gerundet fein –“ lautet weiter der allgemeine Schönheitsspruch. Die Füße aber sind schön, wenn sie neben ihrer Kleinheit und Schmalheit so gewölbt sind, daß „sich ein Vöglein drunter bergen kann“.
In der Blüthe des Mittelalters erweiterte sich die ideale Verehrung der Frau zu einem förmlichen geregelten Cultus, zu einer Art Frauendienst, der dem Verhältnisse des Lehnsherrn zum Vasallen entsprach. Seine besondere Ausbildung erlangte er in der Provence, dem Lande der Troubadoure; er wurde hier zum gefährlichen Spielzeuge für die südliche Gluth der Sinne. Nach Deutschland trug sich nur seine ideale Grundstimmung hinüber. In der That war es dort zumeist nur das Ideal der Frau, nicht eine lebendige Person, die der begeisterte Ritter und Sänger im Herzen trug und mit allen Wundern der Phantasie umgab. War die gefeierte Geliebte auch wirklich ein lebendes Wesen, so hatte der blöde Sänger sie doch nicht mit Augen geschaut. Er hatte nur gehört, daß auf einsamer Burg in ferner Grenzmark eine Frau lebe, reich an Schönheit und an Tugend – und aller Welt wie ihr selbst unbewußt, erkor er sie zu den bereits traumhaft in ihm schlummernden Ideale seines Herzens. Nie hat der deutsche Idealismus, von dem so viel die Rede geht, mächtigere Blüthen getrieben, als in jener Zeit der ritterlichen Minne.
Wurde die phantastisch genährte Sehnsucht dem Sänger zu stark, so machte er sich wohl auf den Weg nach der Burg, wo die Erkorene heimte. Unterwegs schon hatte er in allen Herbergen und Schlössern ihr Lob verkündet. Dann umschlich er unerkannt und geheim die Stätte ihres Waltens und sandte seine Lieder in stiller Nacht zu ihr hinauf, bis die Gefeierte heraustrat auf den mondbeschienenen Söller und ihm ein Zeichen der Erhörung oder auch die Lauge des Spottes herabschickte. [712] Ein wahrhaft rührendes Beispiel solch still genährter Liebessehnsucht ist der provençalische Troubadour Joufras Rudel, Prinz von Blaia, jener Rubello, dessen Schicksal Ludwig Uhland in seinen Romanzen von Sängerliebe besingt. Pilger aus dem Morgenlande hatten es ihm zugetragen, wie dort die Krone aller Frauen lebe, in der Gräfin von Tripolis. Zu ihr in Liebe entbrannt, zieht er als Kreuzfahrer nach dem gelobten Lande. Unterwegs fällt er in schweres Siechthum und kommt halb schon dem Tode verfallen, nur von der Sehnsucht noch am Leben erhalten in Tripolis an. Die Gräfin, der man die Kunde seiner rührenden Neigung vertraut, eilt an das Lager des Sterbenden und in ihren Armen haucht er die treue Seele aus, Gott preisend, daß er ihm noch vergönnt hat, die Ersehnte zu schauen.
Hatte der Ritter die Gunst der Herrin tatsächlich gewonnen, so trug er fortan ihre Farben, auch wohl ein besonderes von ihr erkorenes Wappenzeichen und die empfangenen Zeichen ihrer Geneigtheit, Ring, Gürtel, Haarband, Schleier oder Aermel, auf Schild, Lanze, Wams befestigt. Selbst ganze Gewänder fertigte die Frau mit eigner Hand für den Geliebten. Mit diesen Liebeszeichen zog er zum friedlichen Wettstreit des Turniers oder zu ernster Fehde. War der Aermel oder das Gewandstück, das er über der Rüstung trug, von Lanze und Schwert zerstochen und zerstückt, so brachte er es der darob froh entzückten Herrin zurück und sie trug es nun selbst als ihre schönsten Schmuck. („Parcival“ I, 14.)
Ziel und Gegenstand der Sängerliebe war oft genug eine bereits verheiratete Frau. Kam hier die Liebe bis zum Stadium der Erhörung – nach der provençalischen Liebeskunst ging ihm als erstes Stadium das schüchterne blöde Sehnen, als zweites das Geständniß vorher – so erhielt der ausharrende Sänger, im Beisein des Gatten der geliebten Frau, wohl das Zugeständniß eines Kusses und die Erlaubniß, ihre wirkliche oder vermeintliche Schönheit noch weiter in Liedern zu feiern, somit überhaupt das platonische Verhältniß fortzusetzen. Es war auf der Seite der Frau sowohl wie ihres Gatten ein gutes Stück Eitelkeit dabei im Spiele, besonders in dem Falle, wenn der Galan ein gefeierter Dichter war. Auch bestand wohl auf allen Seiten das Bewußtsein, daß das ganze absonderliche Bündniß nur ein äußerliches, in der Phantasie, nicht im Herzen begründetes war. Die Dichter mieden geflissentlich, den Namen der Geliebten in ihre Gesängen zu nennen. Die Geschichte des deutschen Minnelebens führt auch kein Beispiel einer ernsten Eifersucht auf, wie etwa jenes des Grafen Raimond von Roussillon, der seiner Gattin Margaride das gebratene Herz ihres Sängers und Buhlen Guillem de Cabestaing vorsetzte und damit diese selbst in den Tod trieb.
Auch der größte deutsche Minnesänger, Walther von der Vogelweide, der in seinen Liedern nicht blos von der Minne sang, sondern auch tapfer wider Rom für Kaiser und Reich stritt, hat ein solches minnigliches Verhältniß zu einer ritterliche Frau durchlebt, das so wenig zu seinem Ruhme endete, daß er die Liebe zu allem Weiblichen verschwor und fortan nur der Gottesminne lebte.
In der That vergalt die Frau nicht immer den Preis der Verehrung und des Lobes mit gleicher Münze. Ihre so sehr in’s Wachen gerufene Eitelkeit weckte auch die alte Evanatur auf. Verwöhnt und launisch gemacht, begann sie den treuen Ritter oft arg zu quälen und ihm allerlei mögliche und unmögliche Aufgaben aufzubürden, die den verheißenen Herzenslohn immer wieder in weite Fernen rückten. Da soll er, wie der Ritter und Minnesänger Tannhäuser, derselbe, dessen wildes Leben ihn zum Träger der Tannhäusersage gestempelt hat, parodirend singt, ihr den Rhein wenden, daß er nicht mehr nach Coblenz läuft, soll er dem Monde seinen Schein nehmen und von Galiläa den Berg ihr bringen auf dem Herr Adam saß.
Vielleicht ist in keinem ähnlichen Falle die Grenze zwischen dem Erhabenen und Lächerlichen enger gezogen gewesen als hier. Sie wurde zuletzt in der That auch überschritten. Zur Genüge ist beispielsweise der Lebenslauf jenes deutschen mittelalterlichen Don Quixote’s bekannt, des Ritters Ulrich von Lichtenstein, der aus liebender Verzückung das Waschwasser der Dame seines Herzens trank, um ihretwillen seine verwachsene Oberlippe wegschneiden ließ und ihr den abgeschnittenen Finger in einem reichverzierten Kästchen zuschickte, ohne in seiner verliebten Thorheit des Spottes inne zu werden, den sie beständig mit ihm trieb.
Während die zur Herausgrabung verschütteter Kunstschätze und Culturdenkmäler des griechischen Alterthums vom deutschen Reiche ausgesendete wissenschaftliche Expedition ihre bisher mit glänzenden Erfolge gekrönte Thätigkeit auf dem Boden Olympia’s unermüdet fortsetzt, ist auch unser deutscher Landsmann Dr. Heinrich Schliemann, bekanntlich ein geborener Mecklenburger, wieder auf den classischen Stätten des alten Hellas erschienen, um seine einige Zeit hindurch unterbrochenen Entdeckungsarbeiten von Neuem aufzunehmen. Wie die Zeitungen melden, ist Schliemann am 18. September von Athen nach dem durch ihn so berühmt gewordenen Hügel Hissarlik abgegangen. Vorher hat er bereits elf Tage lang Ithaka durchforscht und soll dort unter furchtbarem Sonnenbrand und ganz ungewöhnlichen Terrainschwierigkeiten von der uralten und längst verschwundenen Hauptstadt dieser homerischen Insel 190 mehr oder weniger gut erhaltene Häuser cyclopischer Bauart gefunden und festgestellt haben. Die gelehrten und verdienstvollen Forscher in Olympia arbeiten unter dem Schutze und den hinlänglich gewährten Geldmitteln eines mächtigen Reiches; Schliemann betreibt sein schönes, der Cultur und Wissenschaft dienendes Werk ganz aus eigenem Antriebe und auf eigene Hand. Je seltener im Laufe aller Zeiten derartige Erscheinungen sind, um so mehr wird es den Lesern der „Gartenlaube“ willkommen sein, einmal einiges Näheres und Bestimmte über den Mann zu hören der in der kurzen Zeit von sechs oder sieben Jahren durch die beispiellosen Erfolge seiner Ausgrabungen auf dem Hügel Hissarlik und dem Burgfelsen Mykene das Interesse der civilisirten Welt auf sich gezogen hat.
Die ganzen Jahre her haben sowohl die Tagesblätter wie die wissenschaftlichen Journale sich immer und immer wieder in die Nothwendigkeit versetzt gesehen, von den überraschenden und zum Theil so merkwürdigen Funden zu sprechen, die Schliemann mit seinem rastlosen Eifer aus dem Schooße der hellenischen Erde geholt. In der That sah sich die Welt hier einem Phänomen gegenüber, das im höchste Grade die Neugierde erregte und mit allem Reize eines geheimnißvollen Zaubers auf die Geister und Gemüther wirkte. Wie ist es möglich – so mußte man sich fragen – daß ein einzelner Privatmann ohne jede Unterstützung fertig bringen konnte, was sonst nur Sache und Aufgabe ganzer Nationen ist? Allerdings blieb es nicht unbekannt, daß die Glücksgöttin erhebliche Reichthümer in seine Hände gelegt. Aber man erfuhr auch, daß sie ihm trotz seiner vorwiegend geistigen Neigungen den Weg einer regelmäßigen Schul- und Universitätsbildung versagt und ihn so von vornherein nicht in die Kreise sattelfester Zunft- und Fachgenossen der Alterthumswissenschaft gestellt hatte. Unter solchen Umständen, bei so günstiger Vermögenslage, hätte wohl jeder andere wohlhabende Mann an der Muße behaglichen Privatlebens, an den Freuden stillen und ungestörten Studiums vollauf sich genügen lassen. Warum hat Schliemann einer so friedlich-idyllischen Existenz, welche er leicht sich schaffen konnte, die aufreibend ruhelose und entbehrungsvolle, so vielen Stürmen und Angriffen ausgesetzte Bahn des Entdeckers vorgezogen? Und wie – so wird ferner gefragt – wie konnte er, der viele Jahre hindurch ein emsiger Kaufmann gewesen, es über sich gewinnen, so gewaltig tief in seinen Beutel zu greifen und alle großen Kosten seiner idealen Unternehmungen aus der eigenen Tasche zu bezahlen? Besonders dieser letztere Punkt ist es, der Aufmerksamkeit erregt, weil er für das Wesen des Mannes bezeichnend ist. Aus seinem eigenen Munde glauben wir vernommen zu haben, daß ihn z. B. seine Ausgrabungen in Troja viel über 100,000 Thaler gekostet. Obwohl ihm aber von Liebhabern der Sammlung bereits das Dreifache dieser Summe wiedergeboten worden ist, kommt es ihm doch nicht in den Sinn, die troische Sammlung bloßen Gewinnes halber an das erste beste Museum zu verkaufen, wie dies Andere in ähnlichen Fällen trotz ihres hohen Standes und Namens thun
[713] und gethan haben. Sein liebster Gedanke ist es vielmehr, die Sammlung einst auf griechischem Boden lassen zu können, mit dessen Cultur- und Kunstgeschichte sie ja doch für alle Zeiten verknüpft ist. Die Klugheit jedoch gebietet ihm, seine Schätze nicht allzu früh aus der Hand zu geben, dieselben vielmehr einstweilen noch zur Förderung weiterer Zwecke und Ziele an sich zu halten. Auch könnte er wohl früher, als ihm dies lieb sein möchte, die schon von Alters her im Sprüchwort umgehende griechische Undankbarkeit erfahren.
Erwägen wir diese Thatsachen, und berücksichtigen wir ferner, daß Schliemann Alles, was er uns als Alterthumsforscher geleistet hat, in dem Alter von vierzig und fünfzig Jahren zu Stande gebracht hat, so werden wir uns nicht darüber wundern, wenn wir ihn schon in seinen Knabenjahren von dem Drange bestimmt sehen, der seinem späteren Mannesleben den Inhalt gegeben hat. In der That: während der gewöhnlichen Erfahrung zufolge die Menschen bei zunehmendem Alter auf ihre Jugendphantasien wie auf einen gänzlich verlassenen Standpunkt herabsehen, erleben wir bei Schliemann das gerade Gegentheil. Mit ungeminderter Wärme und Begeisterung hält er die ersten Neigungen seiner Seele bis zum gegenwärtigen Augenblicke fest.
Dasselbe Gutsdorf, in dessen altem Schlosse einst Johann Heinrich Voß die Leiden eines Hauslehrers zu ertragen hatte, sah unsern Schliemann ein halbes Jahrhundert später seine Kinderjahre im Pfarrhause verleben. Es war in Ankershagen bei dem Städtchen Penzlin, nahe an der Grenze von Mecklenburg-Strelitz. Der Aufenthalt in diesem Dorfe sollte für den Knaben zu einem Verhängniß werden, das seinem ganzen Dasein die Richtung gab. Als guter Mecklenburger fühlte sich nämlich der Vater geehrt, an demselben Orte Pfarrer zu sein, wo sein berühmter Landsmann Voß, der meisterhafte Uebersetzer des Homer, einst sein Kommen und Gehen gehabt hatte. So geschah es, daß er sich für den Homer stärker interessirte, als es sonst wohl der Fall gewesen sein würde, und darum machte er auch schon früh seine Kinder, und vor Allem seinen Sohn Heinrich, mit den troischen Sagen bekannt. Auch las er denselben zuweilen einzelne Stellen aus der „Odyssee“ und „Ilias“ vor. Das zündete in der Seele des Knaben, nur mochte dieser durchaus nichts davon hören, daß die großen Mauern der alten Stadt verschwunden sein sollten. Vielmehr pflegte er schon damals die Meinung zu äußern, die Mauern könnten wohl verschüttet, aber unmöglich ganz vom Erdboden vertilgt sein, ja er verstieg sich bereits zu dem Wunsche, daß sie durch ihn noch einmal wieder an’s Tageslicht gebracht werden möchten. Es steckte also schon früh die Idee eines Schatzgräbers in seinem unruhigen Kopfe. Uebrigens trug auch die nähere landschaftliche Umgebung wesentlich zu solchen und ähnlichen Phantasien bei. Schon frühe regten ihn die alten Thurmruinen im herrschaftlichen Schloßgarten, die steinernen Wendeltreppen, die langen Corridore und Gewölbe des Schlosses selber zur Versenkung in die geheimnißvolle Vergangenheit an. Aus einem benachbarten Hügel hätte er gern die goldene Wiege und auf dem Teiche hinter dem Pfarrgarten die silberne Schale geholt, welche die Sage darin verborgen sein ließ. Auch das große Grab eines bösen Schloßherrn längsvergangener Zeit auf dem Dorfkirchhofe beschäftigte seine Einbildungskraft.
Aber durch das Glück der Kinderzeit zog die rauhe Wirklichkeit ihre herben Striche. Früh starb ihm die Mutter. Außerdem änderten sich die häuslichen Verhältnisse in so ungünstiger Weise für ihn, daß er nur bis zum vierzehnten Lebensjahre auf der Schule bleiben konnte, und zwar auf keiner andern als auf der Realschule der benachbarten kleinen Residenz Strelitz. Hier aber vermochte er, zumal in damaligen Zeiten, nicht diejenige Nahrung zu finden, die ihm gut gethan hätte. So erduldete er es denn ohne Widerrede, daß er, vierzehn Jahre alt, nach seiner Confirmation in die Kaufmannslehre geschickt wurde. Fünf und ein halbes Jahr diente er in dem Kramladen einer benachbarten kleinen Stadt.
Allein eine Brustverletzung, die er sich beim Aufheben eines schweren Fasses zuzog, bestimmte ihn, die Laufbahn des Kaufmanns aufzugeben. Trieb ihn doch ohnehin ein unwiderstehlicher Drang in die ungewisse Ferne. Er ging nach Hamburg und wurde Schiffsjunge. Aber das erste Schiff, auf dem er ausfuhr, strandete am 12. December 1841 an der holländischen Insel Texel, und die Mannschaft rettete nichts als das nackte Leben. Der neunzehnjährige Schliemannn, von guten Leuten mit einem Almosen versehen, ging nach Amsterdam, fand hier nach mancher Noth und herber Erfahrung endlich eine Bureaudienerstelle, und das Glück wollte es, daß er allmählich in die Höhe kam und zuletzt im Hause B. H. Schröder und Comp. die Stelle eines Buchführers bekleidete. Zugleich gewann er die lang ersehnte Gelegenheit zu praktischen Sprachstudien. Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch, zuletzt auch Russisch – eines kam nach dem andern an die Reihe. Wie er uns selber (in der Vorrede zu seinem Buche „Ithaka, der Peloponnes und Troja.“ Leipzig, 1869, bei Giesecke) erzählt, bestand seine Methode darin, viel mit lauter Stimme zu lesen, jeden Tag eine Stunde zu nehmen, nicht Uebersetzungen nach irgend einer Vorlage zu machen, wohl aber, sobald er dazu im Stande war, eigene kleine Ausarbeitungen über Dies und Jenes niederzuschreiben, letztere unter Aufsicht eines Lehrers zu verbessern und in der nächsten Lection mündlich frei herzusagen, was er in der vorhergehenden gelernt hatte. Diesen Uebungen, besonders dem lauten Lesen und Sprechen, lag er mit solchem Eifer ob, daß er wegen Störung der Stubennachbarn zweimal die Wohnung wechseln mußte.
Nachdem er es endlich in der russischen Sprache bis zu einer gewissen Fertigkeit gebracht hatte, sandten ihn seine Vorgesetzten – es war im Jahre 1846 – als Stellvertreter ihres Hauses nach Petersburg. Aber schon nach einem Jahre hatten sich hier seine Handelsbeziehungen der Art gestaltet, daß er die Gründung eines eigenen Geschäfts unternehmen konnte. Und nun begann für ihn eine Zeit der erfolgreichsten Geschäftsunternehmungen. Indigo, Salpeter, Blei, Blauholz und Baumwolle waren die Handelsgegenstände, mit denen er besonders während des Krimkrieges und nachher während des amerikanischen Bürgerkrieges seinen Reichthum begründete. Freilich aber gehörte er auch nicht [714] zu denjenigen, die nur Andere für sich arbeiten lassen; stets war er selbst vom Morgen bis zum Abend in seinen Speichern thätig und übertrug seinen jungen Leuten so wenig, wie irgend möglich. Auch verstand er mit besonderem Geschick, sich stets zahlungsfähig zu erhalten. Wenn Andere um keinen Preis Geld aufzutreiben vermochten, hatte er das nöthige immer zur Hand.
Die nächste Folge dieses emsigen Geschäftsbetriebes war, daß seine Sprachstudien liegen blieben. Erst nach achtjähriger Unterbrechung, im Jahre 1854 konnte er dieselben wieder aufnehmen. Was ihn jetzt beschäftigte, war das Schwedische, Polnische und Neugriechische; letzteres führte ihn endlich an der Hand tüchtiger Lehrer zum Altgriechischen und damit zum Studium des Homer. So hatte er endlich das in der Jugend so heiß erahnte Ziel auf langen und schweren Umwegen erreicht.
Die folgenden Jahre sahen ihn auf Reisen durch Schweden, Dänemark, Deutschland, Italien, Aegypten und Syrien, und im Sommer 1859 war er zum ersten Mal auf kurze Zeit in Athen. Zu einer schon damals nach der Insel Ithaka, dem Eilande seines geliebten Odysseus, projectirten Reise kam es nicht, weil ihn eine Krankheit zur Rückkehr nöthigte. Dafür machte er im Jahre 1864 eine Reise um die Welt, worüber er 1867 eine recht hübsche Beschreibung in französischer Sprache veröffentlichte, die unter dem Titel „La Chine et le Japon“ im Verlage der Pariser Librairie Centrale erschien.
Drei Jahre nach dieser Reise, im Jahre 1867, wurde es ihm endlich möglich, die classischen Stätten der homerischen Gesänge aufzusuchen und in aller Muße zu besichtigen. Das hierüber veröffentlichte Buch „Ithaque, le Peloponnèse, Troie, Paris 1869“ (in deutscher Uebersetzung bei Giesecke und Devrient in Leipzig) ist von Anderen mit Recht als eine Art Roman bezeichnet worden. Von Seite zu Seite merkt man es dem begeisterten Verfasser an, daß er das volle Glück der Verwirklichung eines seiner liebsten Jugendträume empfindet. Die homerische Dichtung galt ihm mit allen ihren Einzelheiten als eine so reine geschichtliche Wahrheit, wie dem Gläubigen die Bibel. Mag man da sich noch wundern oder gar einen Tadel darüber aussprechen wollen, daß er auf den vom göttlichen Sänger ihm gewiesenen Spuren fast Alles findet, was er sucht? Man vergegenwärtige sich in diesem Falle – und das ist der einzig richtige Standpunkt der Verurtheilung – stets den Autodidakten, der zwar Odyssee und Ilias beinahe auswendig weiß, aber die ganze Fülle kritischer Erforschung, das einem hoch angeschwollenen Strome vergleichbare gelehrte Rüstzeug der sogenannten homerischen Frage nicht kennen gelernt hat.
Von Ithaka, das ihm mit seiner biedern Landbevölkerung ganz an’s Herz gewachsen war, ging er zur troischen Ebene hinüber, seinen Homer wie ein Evangelium im Herzen tragend. Die größten Mühen und Beschwerden, Hunger und Durst, dazu Betrügerei von Seiten seiner Führer und Arbeiter, alle diese Uebelstände hielten ihn nicht ab, die Skamandroslandschaft zur Auffindung Troja’s so gründlich wie möglich zu untersuchen, um seine Ueberzeugungen zu einem befriedigenden Abschluß zu bringen. Der Hügel Hissarlik mußte die Stadt des Priamos decken – das stand zuletzt bei ihm fest. Und mit dieser Gewißheit im Herzen begann er im April 1870 seine ersten Ausgrabungen, die er mit kleineren und größeren Unterbrechungen während der Sommermonate bis in den Juni 1872 fortsetzte.
Noch heute vergegenwärtigen wir uns den frischen Eindruck seiner zahlreichen und zum Theil wahrhaft glänzenden Entdeckungen. War es doch Jedem, der die ersten märchenhaften Berichte vernahm, als ob der Hügel eine Gold und Silber bergende, mit seltsamen Mauern und Thürmen verschlossene uralte Stadt in seinem geheimnißvollen Innern begraben hätte. Kein Wunder, daß der Entdecker selber, der mit der sichersten Ueberzeugung, nur hier könne die Stätte des alten Troja gefunden werden, an die Ausgrabung gegangen war, nicht im Mindesten daran zweifelte, daß die Bestätigung seiner Hypothese eine der allerglänzendsten sei, welche die archäologische Wissenschaft jemals erlebt habe. Kein Wunder, daß er in diesem berechtigten Gefühle höchsten Glückes eine Zurückführung seiner Funde auf die homerischen Schilderungen im Einzelnen versuchte und im Bewußtsein seiner Verdienste um die Wissenschaft dem Drange nicht länger widerstehen konnte, seine Lieblingsideen selbstständig zu verfechten. Man staunte und hörte nicht auf, nach den Wundern zu fragen; lange währte es, bis überall die Aufregung sich legte.
Da erschien im Jahre 1874 in Commission bei F. A. Brockhaus der große Atlas trojanischer Alterthümer, und mit ihm erschienen zugleich die in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ in langer Reihe hinter einander veröffentlichten Ausgrabungsberichte als ein stattlicher Band. Leider aber waren die photographischen Tafeln des Atlas zum großen Theile mißrathen und machten einen den gehegten Erwartungen durchaus nicht entsprechenden Eindruck. Obwohl der kundige Fachmann schon beim ersten Blicke die große Masse und Bedeutung dieses der Wissenschaft neu gelieferten Materials hinlänglich zu übersehen vermochte, konnte doch auch ein solcher trotz aller Vorurtheilslosigkeit sich einer gewissen Verstimmung über eine derartige Publication nicht ganz erwehren. Nur zu bald erlebte man es daher, daß sich in einer außerordentlichen Fluth von Recensionen und Kritiken der wissenschaftliche Verdruß zur Genüge, ja mehr als zur Genüge, Luft machte. An die Stelle des Lobes trat der Tadel. Wehe dem Deutschen, welchem der eigene Landsmann vom Katheder herunter Bescheid sagt! Er kann sicher sein, daß kein gutes Haar an ihm übrig bleibt, zumal dann, wenn er nicht mit zur Zunft gehört.
So geschah es Schliemann; man ging stellenweise geradezu unbarmherzig mit ihm um und vergaß ganz und gar die Art, wie dieser Mann, mit dem verschiedensten Ungemache kämpfend, unerschüttert auf dem Schlachtplane ausgehalten hatte; man sah nichts als Schwächen und Mängel, man verurtheilte nur und überließ es dem vereinzelt dastehenden Entdecker, sich mit Hand und Fuß dagegen zu wehren. Und damit der Verdruß des auf alle Art, auch mit Verleumdungen angefeindeten Mannes das höchste Maß erreiche, verwickelte ihn die türkische Regierung obendrein an einen Proceß, aus dem er sich zuletzt mit einem Trinkgelde von 50,000 Francs die völlige Unantastbarkeit des Besitzes seiner Sammlung erkaufen mußte.
Aber so unerquicklich und unbehaglich auch jene Sturmfluth ungünstiger Recensionen für ihn sein mochte; Schliemann ließ sich dadurch nicht beugen. Der feste Glaube an die geschehene Verwirklichung seiner Ideale half ihm durch die Brandung der Kritik, wie einst die Leukothea dem Odysseus durch die Wogen des Meeres. Er behielt den Kopf immerfort oben. Allerdings hatte er für den Augenblick in Folge seines Processes und der dadurch zwischen ihm und den griechischen Behörden entstandenen Differenzen die Lust verloren, auf hellenischem Grund und Boden, wie er anfänglich beabsichtigte, weitere Ausgrabungen zu veranstalten. Er ging einstweilen nach Italien hinüber, um dort ein ihm zusagendes Arbeitsfeld zu finden. Obwohl er aber auf der Insel Sicilien, wie auch an mehreren Stellen des italienischen Festlandes mit Ausgrabungen begann, fühlte er sich doch nirgends befriedigt und knüpfte schließlich am Ende des Jahres 1875 auf’s Neue und mit günstigem Erfolg Unterhandlungen mit der türkischen Regierung zur Wiederaufnahme der Ausgrabungen auf Hissarlik an. Allein die Intriguen des damaligen Dardanellen-Paschas hinderten ihn vorläufig an der Vollendung seiner Arbeiten. Man hat dies mit gutem Grunde beklagt, denn nichts ist wünschenswerther, als daß die bezüglich Hissarliks angeregten wissenschaftlichen Fragen durch weitere Ausgrabungen zum Abschluß gebracht werden; aber der Klage folgte ein rascher Trost; die Verzögerung gab Veranlassung zu den reichen Entdeckungen von Mykene. Dem Manne ist in der That ein merkwürdiges Glück beschieden: kaum stößt er den Spaten in die Erde, so öffnet sie ihm auch sofort ihre mehr als tausendjährigen Geheimnisse! Eine ausführliche Beschreibung aller jener Funde in Troja und Mykene an dieser Stelle zu geben, würde zu weit führen. Es mögen hier darum nur wenige Andeutungen genügen.
Die Funde der oberen Schichten des Hügels Hissarlik, unter diesen einige sehr werthvolle Inschriften und Marmorbildwerke, stammen von jener jüngeren Stadt her, die zur Zeit des Lyderkönigs Kroisos im siebenten Jahrhundert vor Christus von einer äolischen Colonie gegründet und mit dem alten Namen Ilion benannt worden ist. Diese Niederlassung hat, wie sich mit Sicherheit nachweisen läßt, bis in’s fünfte Jahrhundert nach Christo, vielleicht noch länger bestanden. Erst im Mittelalter – wann und wie, ist nicht aufgeklärt – muß sie zerstört worden sein. Aber erst unter diesen oberen Schichten beginnt die eigentliche Schliemann’sche Welt. Hier liegt eine – vielleicht sogar mehr als eine, was noch genauer zu ermitteln ist – mit trefflich gepflasterten Straßen, mit Mauern und Thürmen versehene uralte Niederlassung in der [715] Erde vergraben. Und hier allerdings weisen die merkwürdigen nach Tausenden zählenden Funde, Gefäße aller Art aus Terracotta, Waffen und Geräthe aus Stein und Bronze, aus Elfenbein und Knochen, Schmucksachen aus Silber, Gold und Elektron (einer Legirung von Silber und Gold) u. dergl. m., auf die vorhistorischen Zeiten, auf Zeiten hin, die weit vor derjenigen Culturperiode liegen müssen, welche uns aus den Gesängen Homer’s entgegentritt. Die bis jetzt angestellten Vergleiche dieser vorhistorischen Fundstücke mit andern führen uns auf eine uralte, theils von der See her durch die Phönicier, theils auch vom asiatischen Hinterlande her stark beeinflußte Cultur. Ihre Zeitgrenzen lassen sich freilich nicht genau bestimmen. Jedenfalls aber ist diese Cultur, deren Verzierungsweise als eine ausgebildete Linearornamentik erscheint, dem späteren gleichfalls von Vorderasien und Assyrien her wirkenden Einflüssen einer jüngeren, anders gearteten und höher entwickelten Cultur gewichen. Jene ältere vorhistorische Periode muß aus Gründen, welche die Untersuchung herausgestellt hat, als eine weit vor der Zeit der homerischen Gesänge liegende angesehen werden, da in diesen, besonders in den darin enthaltenen Kunstschilderungen, ein bereits auf jüngere assyrische Einflüsse zurückführender Standpunkt zu Tage tritt. Somit kann nicht daran gedacht werden, nur einen einzigen jener Schliemann’schen Funde in gesammter Weise als irgend einen der bei Homer beschriebenen Gegenstände, das heißt also gleichsam als bestätigende Illustration der homerischen Beschreibung erkennen zu wollen. Der Werth all dieser troischen Objecte liegt vielmehr, wie bereits angedeutet worden ist, in der Mehrung unserer Erkenntniß auf dem Gebiete der vorhistorischen Cultur; für diese sind die Schliemann’schen Funde ein noch oft zu benutzendes und als solches in hohem Grade werthvolles Vergleichungsmaterial.
Ob aber nicht dennoch in der Tiefe des Hügels Hissarlik jenes alte Ilion oder Troja gefunden ist, an welchem seit urältester Zeit die homerische Sage haftete, das konnte bisher weder verneint, noch auch mit Sicherheit bejaht werden. Aus der „Ilias“ Homer’s selber läßt sich, so Vieles auch im Einzelnen für den Hügel Hissarlik spricht, kein fester und unverrückbarer Punkt in der Gegend feststellen.
Erwägt man aber unter Anderem, daß auf dem Hügel seit dem siebenten Jahrhundert vor Christi Geburt unzweifelhaft eine Niederlassung mit dem alten Namen Ilion bestand, und erwägt man ferner, daß an einem Orte, wo sichtlich eine oder mehrere Stadtanlagen in alter Zeit vorhanden waren, auch trotz der Zerstörung und Ueberfluthung durch nachfolgende Völkerschaften der Name der alten Stätte so leicht nicht verloren zu gehen pflegt, so erscheint es viel weniger wahrscheinlich, daß die äolischen Colonisten im siebenten Jahrhundert vor Christo sich beliebig den Namen Ilion für ihre neue Stadt aus den homerischen Gesängen wählten, als daß sie dabei an eine vorhandene Tradition des Ortes anknüpften, die ihnen eben diesen Namen überlieferte. Was aber die schon im Alterthume geäußerten Zweifel betrifft, nach denen die Stätte des alten Ilion dreiviertel Meilen weiter landeinwärts anzusetzen sei, so ist dagegen zu bemerken, daß sich diese Ansicht nur auf die in topographischer Hinsicht durchaus nicht zuverlässige Dichtung Homer’s berufen kann. Wie man die Sache auch betrachten mag, es giebt vor der Hand keine stichhaltigen Gründe, die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung des alten homerischen Troja durch Schliemann zu bestreiten.
Was endlich die Funde in Mykene betrifft, den märchenhaft reichen Inhalt der in dieser uralten Residenz des Agamemnon von Schliemann entdeckten Königsgräber (der bloße Metallwerth wird auf 30,000 Mark geschätzt), so habe diese Herrlichkeiten aus grauer Vorzeit nicht blos das Staunen der Welt, die Verwunderung der Beschauer erregt, sondern auch die gelehrten Kreise in die lebhafteste Bewegung versetzt und zu den umfassendsten Untersuchungen und Erörterungen der Philologen, Archäologen und Kunstforscher Anlaß gegeben. Der Streit drehte sich auch hier um den künstlerischen und technischen Charakter der Gegenstände, sowie nun die Bestimmung der Culturperiode, der sie entsprossen sind. Das Richtige nach diesen Seiten hin scheint Professor Köhler, der Director des archäologischen Reichsinstituts in Athen, in einem jüngst erschienenen Aufsatze getroffen zu haben, es würde jedoch unmöglich sein, allen diesen noch fortwährend im Flusse befindlichen Untersuchungen hier folgen zu wollen, da mit allgemeineren Andeutungen und ohne genaues Eingehen auf die vielfältigen Specialitäten ein irgend klares Bild solcher wissenschaftlichen Vorgänge nicht zu gewinnen ist. Wer aber Weiteres über die Entdeckungen selber lesen und namentlich eine Ansicht der betreffenden Funde erlangen will, den verweisen wir auf das in ganz vortrefflicher Ausstattung (bei Brockhaus in Leipzig) kürzlich erschienene Werk Schliemann’s über Mykene, das neben zahlreichen Plänen und Ansichten der Gegend über siebenhundert ausgezeichnete Abbildungen der hervorragendsten Fundobjecte enthält.
Mag also auch in Bezug auf die Erklärung und Deutung der von Schliemann errungenen Resultate noch der Streit wogen, jedenfalls steht so viel fest: unser Schatzgräber aus den classischen Gefilden des Alterthums hat sich nicht nur durch seinen merkwürdigen Lebenslauf, durch die hohe Richtung seines Denkens und Thuns, durch Talent, Charakterenergie und begeisterte Hingebung an seine Zwecke als ein außerordentlicher Mensch bewährt, sein schweres, kampf- und sorgenreiches Mühen hat auch bereits herrliche Früchte zu Tage gefördert, die bleibend der fortschreitenden Erkenntniß zu Gute kommen und zur Lichtung des tiefen Dunkels beitragen, das so vielfach noch über der Vergangenheit unseres Geschlechts gebreitet liegt. Möge dem kühnen Forscher, den wir Deutsche mit Stolz den Unsern nennen, bei der jetzigen Wiederaufnahme seiner Thätigkeit von Neuem die Gunst eines guten Geschickes lenken, und möge er noch viele Jahre hindurch in heiterer und glücklicher Zufriedenheit der Ergebnisse seiner heißen Anstrengungen sich freuen können!
Unsere Hausthiere verdanken ihre Veredelung fast ausnahmslos einer auf wissenschaftlichem Grunde ruhenden und zugleich praktisch ausgebildeten Züchtung; solche Zucht hat theils absichtlich, größtentheils freilich zufällig, die unzähligen Varietäten geschaffen, nach welchen man die verschiedenen Hausthiere in Racen oder sogar in Arten zu scheiden pflegt. So finden wir z. B. die Haustaube in einer staunenswerthen Mannigfaltigkeit der Formen, von der blauen Feldtaube, welche der Stammmutter Felsentaube noch nahezu gleicht, bis zur Pfautaube mit ihrem aufrecht gerichteten Schwanze, vom winzigen Mövchen mit Cravatte und Halskrause bis zur kolossalen hochbeinigen Hühnertaube oder zur Bagdette mit fleischigen Wülsten um die Augen und dem raubvogelähnlich gebogenen Schnabel.
Zu derartigen Betrachtungen giebt besonders der Canarienvogel Anlaß. Seine staunenswerthe Verbreitung und Einbürgerung bei Reich und Arm, seine an’s Wunderbare grenzende Verwandlung in Gestalt, Farbe und Gesang sind in der „Gartenlaube“ bereits früher (Nr. 5, 1877 und Nr. 34 des laufenden Jahrgangs) geschildert worden. Ein kleiner australischer Papagei, der Wellensittich, welcher freilich erst seit wenigen Jahrzehnten als Stubenvogel bei uns bekannt ist, hat bereits eine nahezu ebenso große Verbreitung wie der goldgelbe Hausfreund erlangt und wird alljährlich in einer Anzahl von vielen tausend Köpfen gezüchtet.
Neben jenen Beiden sind es die sogenannten Prachtfinken, manche Widafinken und Webervögel, einige andere Finkenarten, namentlich aber auch Papageien, sodann eine beträchtliche Zahl insectenfressender Vögel, Drosseln, Staare, Bülbüls etc., besonders auch die einheimischen edlen Sänger sowie verwandte Kerbthier- und Körnerfresser, welche als Sing- und Schmuckvögel allgemeiner Beliebtheit sich erfreuen und von denen schon recht viele Arten mit Glück gezüchtet werden. Prachtfinken und kleine Papageien beherbergt in manchen Gegenden und namentlich in den großen Städten fast jede Häuslichkeit. Der kleine Amarantvogel, der Zebrafink und das Goldbrüstchen sind es im Allgemeinen zuerst, welche den Liebhaber fesseln, und mit denen auch wohl fast
[716] immer die ersten Versuche angestellt und die ersten Erfolge erreicht werden.
Das erstere prächtige dunkelrothe Vögelchen erbaut aus Agavefasern, in Ermanglung derer aus elastischen Heuhalmen und im Spätsommer am liebsten aus frischen Spargelzweigen, ein künstliches kugelrundes Nest mit sorgfältig gerundetem engem Schlupfloch. Dabei ist das Pärchen so harmlos und zutraulich, daß wir seine Brut in der Nähe betrachten und sein Familienleben schauen dürfen. Glückt uns die Zucht – und unter günstigen Umständen, bei zweckentsprechender Behandlung und Verpflegung ist es bei diesem Prachtfinken immer der Fall, – so erblicken wir bald die winzigen schneeweißen Eier und später die wunderlich genug aussehenden nackten, allmählich sich befiedernden Jungen.
Was den Zebrafinken betrifft, so gehört er zu den buntesten dieser kleinen Schmuckvögel und zeigt zugleich ein sehr drolliges Wesen. Auch er ist immer einer der Ersten beim Nestbau, und während Männchen und Weibchen in der beginnenden Heckzeit gar lustig ihre Trompetentönchen erschallen lassen, werden beide wohl so zahm, daß sie uns komisch dreist das Futter aus den Fingern holen. Trotzdem dürfen wir ihrem kleinen Heiligthum nicht nahen, denn manchmal bestimmt sie die geringste Berührung oder wohl gar nur ein Blick hinein dazu, leichten Sinnes das Nest sammt den Eiern im Stich zu lassen. Wenn es bei sorgfältiger Behandlung – oder am besten indem man außer guter und regelmäßiger Verpflegung sich so wenig wie möglich um sie bekümmert – glückt, eine Brut groß zu füttern, so ergiebt sich dann aber auch ein kaum beschreibbar lieblicher Anblick. Im Gegensatz zu dem farbenreichen Männchen kommen schlicht fahlgraue Junge zum Vorschein, nur mit einem weißen Streif an jeder Wange und einigen Tüpfeln aus dem Schwanz, die mäuschenflink laufen und unendlich drollig sich geberden. Wenige Wochen später begannen sie die Farbe zu ändern; an bestimmten Stellen erscheinen bunte Federn und gestalten sich allmählich zu den charakteristischen Abzeichen. Wie der Zebrafink nistet auch das allbeliebte, unendlich zierliche Goldbrüstchen mit großem Eifer vor unseren Blicken, aber es thut dem Herzen des liebevollen Züchters wehe, wenn er mit ansehen muß, wie in förmlich fieberhafter Hast viele Monate hindurch wieder und wieder das kunstlose Nest gebaut und dann darin gebrütet wird, und wie jedesmal die drei bis sieben Eier verlassen oder im Fall des Ausbrütens die Jungen sich selbst und damit dem Tode anheimgegeben werden. Wenn aber der Züchter doch einmal ein Nest voller Junge auch von einer solchen heiligen Vogelart glücklich flügge werden sieht, wie groß ist dann die Freude! Und wenn er nun so in seinen Erfahrungen immer weiter fortschreitet, seine Kenntniß dieser Vogelwelt mehr und mehr bereichert, wenn es ihm dann wohl gar glückt, selbst sehr kostbare, seltene oder besonders interessante Prachtfinken zu züchten, wenn er gar die staunenswerth kunstvollen Nester der Webervögel vor seinen Augen erstehen sieht, vielleicht selbst mit Glück wagt, Versuche mit werthvollen Papageien anzustellen, – so liegt in alledem begreiflicherweise eine Fülle von reinen und lohnenden Freuden. Welch herrlicher Erfolg z. B. war es, als der prachtvolle Lori der Blauen Berge von deutschen Liebhabern gezüchtet wurde, nachdem er vor kurzer Zeit von seiner Heimath Australien nach London eingeführt worden! Man hatte bis dahin geglaubt, daß die Pinselzüngler-Papageien (Loris) für die Dauer in der Gefangenschaft gar nicht zu erhalten seien. Und gegenwärtig ist dieser farbenreiche Papagei ein ständiger Gast in den Vogelstuben und wird häufig gezüchtet.
Der Reisvogel, ein ganz gemeiner Prachtfink, hatte den ersten Züchtern einen anscheinend unbesiegbaren Widerstand entgegengebracht, wie dies gegenwärtig noch bei den sogenannten Nonnen, namentlich aber bei den Widafinken oder Wittwenvögeln der Fall ist. Dann wurde er aber von mehreren Seiten mit Glück gezogen. Er tritt uns in einer Culturrace entgegen, welche viel älter als der Canarienvogel in Deutschland sein muß, und zwar im zarten, reinweißen Kleide, zu welchem sich der rosafarbene Schnabel und die rothen Füße gar prächtig ausnehmen. Dabei hat er jedoch keine rothen Augen, ist also kein Kakerlak oder Albino, sondern gleich unseren weißen Haustauben eine durch Züchtung hervorgerufene Spielart. Auch in blaubunten und ganz blauen Abänderungen oder Rückschlägen erscheint er. Eine Vogelstube, reich belebt von dieser Reisvogelzucht, gewährt einen prachtvollen Anblick. Obwohl, gleich allen Prachtfinken, keineswegs mit Gesang begabt, lassen die Reisvögel doch immerhin wohlklingende Töne hören, welche denen kleiner Glöckchen nicht unähnlich sind. In Folge der recht ergiebigen Züchtung ist der Preis von fünfundsiebenzig Mark für die ersten aus Japan eingeführten Pärchen gegenwärtig bis auf fünfundvierzig oder gar dreißig Mark herabgegangen.
Wie bei den Reisvögeln, so giebt es eine ähnliche Zuchtspielart bei einem kleineren ostindischen Vogel, dem schwärzlich-braunen Streifenfinken oder Bronzemännchen, und zwar in reinweißer, gelb- oder braunbunter Farbenvarietät; das Thierchen ist als japanisches Mövchen in den Vogelhandlungen und bei den Liebhabern bekannt. Auch dieses Culturvögelchen wird in großer Anzahl in den Vogelstuben und selbst in den Heckkäfigen gezüchtet, und sein Preis von sechszig Mark für die von Antwerpen aus zuerst in den Handel gebrachten Pärchen ist auf fünfzehn bis achtzehn Mark gesunken. Da er diesen Preis jedoch schon seit mehreren Jahren behauptet, so verlohnt sich die Zucht auch in Hinsicht des Ertrages ganz entschieden. Zugleich ergiebt sie ein fortwährend wechselndes Farbenspiel, sodaß in der That das Vergnügen nicht gering ist, welches jedes Nest in seinem Inhalte an reinweißen oder mannigfaltig gescheckten Jungen bietet.
Wenn nun bei der Vogelzucht fast überall die Prachtfinken in größter Mehrzahl vertreten sind und zwar einfach deshalb, weil sie am leichtesten züchtbar und am ergiebigsten sich zeigen, so stellt man doch auch vielfach Versuche mit anderen Finkenvögeln, mancherlei Papageien, mit Täubchen und selbst mit Drosseln und anderen Wurmvögeln an. So wird ein lieblicher kleiner Sänger, der Graugirlitz oder Grauedelfink, nicht selten gezogen, ebenso der rothe Cardinal, der Singsittich, Nymphensittich, die allbeliebten kleinen Zwergpapageien, auch die amerikanische Spottdrossel, als die Königin aller Singvögel bekannt, der blaue Hüttensänger, der Sonnenvogel und zahlreiche andere. Einen herrlichen Erfolg gewährt der erwähnte Sonnenvogel. Um seiner Schönheit und Anmuth, seines angenehmen Gesanges willen gehört er bereits zu den mit Recht hochgeschätzten Stubenvögeln, und um ein ganz Bedeutendes wird sein Werth noch dadurch erhöht, daß er ein Kunstwerk in der Vogelstube errichtet, ein schalenförmiges, aus Agavefasern schön gerundetes Nest, in welchem er ohne besonders mühevolle oder kostspielige Pflege seine Nachkommenschaft erzieht.
In der neuesten Zeit hat man auch mit Züchtung einheimischer Sing- und Schmuckvögel, theils in Volièren draußen im Freien, theils sogar in den Vogelstuben, die erfreulichsten Ergebnisse erreicht; man hat Nachtigall, Rothkehlchen, verschiedene Drosseln, Gimpel oder Blutfink, Zeisig, Edelfink und viele andere Arten mit gutem Erfolge gezogen.
Die Stubenvogelzucht hat sich sodann auch nach zwei Richtungen hin gewandt, welche im Grunde blos als Spielerei erachtet werden dürfen, trotzdem jedoch des zum Eingange erwähnten Vergnügens und selbst eines gewissen wissenschaftlichen Werthes keineswegs bar sind. Man züchtet nämlich, zunächst von den Prachtfinken, allerlei Mischlinge, und derartige Versuche glücken nicht selten in staunenswerther Weise. In manchen Fällen kann durch eine solche Zucht der Wissenschaft insofern Nutzen gebracht werden, als sich daraus die mehr oder minder nahe Verwandtschaft der betreffenden Arten ergiebt.
Fragt man mich nun auf’s Gewissen, welchen reellen Werth die Vogelzüchtung denn eigentlich habe, so brauche ich nur mit Angabe einiger Thatsachen zu antworten. Zehn Jahre sind es her, als ich an dieser Stelle den ersten Anstoß zur Entwickelung der harmlosen Liebhaberei für die kleinen fremdländischen Schmuckvögel gab, eine Anregung, die von überraschender Wirkung war. Die einmal geweckte Liebhaberei fand dann reichliche Nahrung durch die Begründung des Berliner Aquariums, die Neuschöpfung des zoologischen Gartens von Berlin, die Vergrößerung oder Gründung zahlreicher anderer derartigen Naturanstalten, durch die in Folge dessen veröffentlichten Darstellungen in Wort und Bild. Auch meine Zeitschrift „Die gefiederte Welt“ hat ihr bescheidenes Theil zur Ausbreitung der Liebhaberei beigetragen. Kurz und gut, es entstanden in ganz Deutschland fast zahllose Vogelstuben, Volièren, Heckkäfige, in denen die Vögel lediglich für den Zweck der Züchtung gehalten werden, und mit dieser Verbreitung der Liebhaberei gewann zugleich der Vogelhandel
[717][718] einen nie geahnten Aufschwung. Aus den vor zehn Jahren im Handel vorhandenen etwa zweihundertfünfzig Arten fremdländischer Stubenvögel sind bis jetzt schon über siebenhundert Arten geworden, und die Summen, welche theils an eingeführten, viel mehr aber noch an gezüchteten Vögeln alljährlich umgesetzt werden, betragen mehrere hunderttausend Mark. Etwa fünfhundert Vereine haben sich gebildet, von denen sich die meisten mit Geflügelzucht und Geflügelliebhaberei eingehend, manche mit der Vogelliebhaberei nur nebensächlich, viele dagegen auch mit der letzteren ausschließlich beschäftigen. Großartige Vogelausstellungen werden bekanntlich in vielen Städten alljährlich veranstaltet. In den immer mehr sich erweiternden Kreisen der Liebhaber werden für die Wissenschaft zahlreiche Jünger geweckt, die mit ernstem Sinn nach tieferem Eindringen auf dem Gebiete streben, welches ihnen anfangs nur Erheiterung geboten. Die Liebhaberei nützt der Wissenschaft auch darin nicht wenig, daß sie entweder zur näheren Kenntniß bisher noch gar nicht beschriebener oder erst wenig gekannter Arten beiträgt oder, soweit es sich um solche Vögel handelt, welche zu beobachten die Forscher und Reisenden in der Heimath noch keine Gelegenheit gefunden, die Erkundung der Brutentwickelung, des Jugendkleides etc. bedeutend und in bahnbrechender Weise fördert. Das zoologische Museum von Berlin hat z. B. eine stattliche Anzahl im Laufe der Zeit in der Vogelstube gezüchteter Vögel aufzuweisen, deren wissenschaftliche Beschreibung und populäre Schilderung zugleich mein Werk „Die fremdländischen Stubenvögel“ bietet.
Ungefähr unter dem sechszehnten Grade südlicher Breite und dem hundertsechsundsiebenzigsten Grade westlicher Länge von Greenwich liegt im stillen Meere, oder wie es dort immer benannt wird, in der Südsee, die Insel Niuafou, die neue Insel (Niu bedeutet in der Tonga-Sprache: Insel; fou ist: neu). Meines Wissens hat noch Niemand diese Insel einer näheren Erwähnung gewürdigt, und doch ist sie in vielen Beziehungen merkwürdig; sie war vor nicht langen Jahren selbstständig und hatte ihren eigenen eingeborenen König, Fotofile mit Namen, der noch als alter Mann auf der Insel lebt und daselbst jetzt das Amt eines Gouverneurs inne hat. Die Insel wurde vor Jahren nach sehr tapferer Gegenwehr des Fotofile von König Georg von Tonga erobert; sie gehört seitdem mit zu der Tonga-Gruppe oder den Freundschaftsinseln, wie diese Eilande vom Weltumsegler James Cook benannt wurden, und ist dem König Georg tributpflichtig; einige Erdwälle und langgezogene Gräben bezeichnen noch die Stellen, wo die Niuafou-Männer gegen die in großen Canoes von Hapai und Tonga-Tabu angekommenen Tonga-Krieger kämpften. Die Insel ist von keinem sichtbaren Korallenriff umgeben, wie es sonst fast alle Südseeinseln sind; steil und dunkel steigt sie als eine zerrissene Lavamasse, von der heftigsten Brandung bespült, unmittelbar aus der Tiefe empor; ist doch die ganze Insel nur die lavafelsige Einfassung eines ausgebrannten Kraters. Der Krater selbst ist verstopft und mit Brackwasser angefüllt, welches einen See von etwa vier englischen Meilen Umfang bildet; in diesem See liegen vier kleine Felseninseln. Wer von den ungefähr fünfhundert Fuß hohen Seitenwänden des Kraters auf den See hinabschaut, vor dessen Augen entfaltet sich ein Bild, das wohl dem Pinsel des Malers einen würdigen Gegenstand darbietet.
Auf der ganzen Insel Niuafou ist kein Tropfen Süßwasser zu finden, aber merkwürdiger Weise befindet sich auf einer der kleinen Inseln im Kratersee eine frische Wasserquelle. Die Eingeborenen sind oft genöthigt, ihren wenigen Bedarf an Süßwasser, hauptsächlich zur Bereitung ihres Kawa-Getränkes,[1] von hier zu holen, wenn ihnen das Regenwasser, welches sie in ausgehöhlten Cocosnußstämmen unter ihren mit den Blättern desselben Baumes gedeckten Hütten sammeln, ausgeht. Obwohl die Erdschicht über der Lava, aus welcher die Oberfläche der Insel größtentheils besteht, nirgends sehr tief ist, so ist der Boden darum doch sehr fruchtbar; namentlich gedeiht der Cocosnußbaum hier ganz vortrefflich. Er ist hier der einzige Reichthum der Eingeborenen; vor Jahren besaßen sie auch noch Schweine und Geflügel in Menge, aber diese guten Zeiten sind für die Insel vorüber – warum? Davon später!
Niuafou ist mehrfach vulcanischen Ausbrüchen unterworfen gewesen. So wurde im Jahre 1853 das große Dorf Ahafakatau gänzlich durch die Lava zerstört und viele Menschen verbrannten; oft habe ich mir von den Eingeborenen erzählen lassen, wie das Feuer auf einmal mit schwerem Getöse aus der Erde hervorgequollen sei und wie sie aus Leibeskräften gelaufen seien, um ihm zu entfliehen; die farbige Frau des damaligen Missionärs sei mit einem Kinde auf dem Rücken vom Feuer eingeholt worden und stehe, in Stein verwandelt, noch auf derselben Stelle; die weißen Missionäre hätten ihnen nachher gesagt, solches sei eine gerechte Strafe für ihre Gottlosigkeit, und solches würde sich noch öfters ereignen, falls sie nicht reichliche Gaben an die Mission gäben. Ich habe die Brandstätte mehr als einmal besucht. Ein trauriger, öder Anblick: meilenweit nichts als schwarze Lava! Auch an dem Krater bin ich gewesen, von woher die geschmolzene Masse floß oder hinausgeschleudert wurde, und habe dort in der Nähe wirklich etwas wie eine menschliche Figur mit einem Kinde auf dem Rücken, in Lava gegossen, stehen sehen, jedoch hatten die Eingeborenen der Figur den Kopf abgeschlagen, weil, wie sie behaupteten, die Frau sonst Nachts auf dem Lavafelde umherwandere und klage. Ob das Ganze nichts als ein Naturspiel ist, will ich Fachmännern zu entscheiden überlassen; gewiß ist es, daß auf dem ganzen Lavafelde jede Stelle, wo früher ein Cocosnußbaum stand, durch eine fünf bis sechs Fuß hohe hohle Lavasäule bezeichnet ist; die Säule ist nur etwas dicker als ein gewöhnlicher Cocosnußbaum.
Niuafou ist seitdem im Jahre 1867 wiederum von einem neuen Ausbruch heimgesucht worden, und es ist nichts Ungewöhnliches, daß die Insel von vulcanischen Stößen erbebt; auch der Anprall der Wellen an die hohe felsige Küste vermag die Insel sehr fühlbar zu erschüttern; besonders empfindet man dies, wenn der Wind sich zum Sturm aus Norden erhebt.
Eine andere Merkwürdigkeit der Insel ist eine eigenthümliche Vogelart, die sich auch auf dem australischen Festlande aufhalten soll. Diese seltsamen Vögel, welche zur Familie der Hühner gehören, legen in Gesellschaft von zwanzig bis dreißig Genossen ihre Eier in eine Grube von Lava-Asche, und tragen dann diese Eier in ihren Klauen nach einer neuen, von ihnen gescharrten Grube und zwar so, daß dort die neuesten, zuletzt gelegten Eier unten zu liegen kommen, worauf sie das Ganze mit Asche bedecken und das Ausbrüten der Sonne oder der Erdwärme überlassen. Die ausgebrüteten Küchlein zerstreuen sich bald im Busch und leben, in der ersten Zeit besonders, von Ameisen und deren Eiern. Jeder Vogel legt nur ein Ei, welches vollkommen so groß wie ein gewöhnliches Entenei und von rothbrauner Farbe ist; die Größe des Vogels übersteigt nicht die einer Taube oder eines kleinen Rebhuhns.
Auf dieser mit Cocosnußwäldern bis zur höchsten Spitze bedeckten lieblichen Insel lebt ein Menschenschlag, welcher mir von allen den verschiedenen Insulanern der Südsee, soweit ich auf meinen dortigen ausgedehnten Reisen in einem Zeitraum von mehreren Jahren mit ihnen in Verkehr trat und Tauschhandel trieb, am allerbesten gefallen hat; es ist ein hübsches Volk; Männer wie Frauen sind wohlgebaut und zeigen meistens sehr angenehme Gesichtszüge, ihre Farbe ist bedeutend heller, als man sie bei den Bewohnern der Fidschi-, Gilbert-, Marschall- oder Neu-Hebriden-Inseln findet. Die Männer tätowiren sich sehr geschmackvoll; die Frauen tragen ihr Haar lang, frei am Rücken herabfallend, und Reinlichkeit und Sauberkeit ist dort mehr vorherrschend als irgendwo sonst in der Südsee.
Wie schon seit Jahren das ganze Inselreich Tonga zum Christenthum bekehrt ist, so sind die Einwohner auf Niuafou auch [719] darunter mit einbegriffen; schon jahrelang wird diesen Leuten das Evangelium von weißen und farbigen Dienern des Herrn unter allerlei Formen gepredigt, und zwar hauptsächlich in einer Auslegung, die für die Bewohner der Insel besonders eingerichtet ist. Die englische Secte, die das Glück gehabt hat, dieses ergiebige Eiland ganz für sich zu gewinnen, ist die Wesleyanische. Ihr kirchliches Oberhaupt wohnt in Nukualofa, der Hauptstadt der Freundschaftsinseln, auf der Insel Tonga-Tabu, und ist jetzt der Missionär Reverend Baker; dieser geistliche Herr läßt sich alljährlich jedoch herab, die Insel mit seinem Besuche zu beehren, nicht sowohl, um sich von dem geistigen Wohlbefinden seiner Gemeinden zu überzeugen, als um die großartige Contribution von Copra[2] und klingender Münze für gottgefällige Werke, wie den Eingeborenen gegenüber hervorgehoben wird, mit schwungvoller Rede und imponirendem Auftreten zu einer Höhe hinaufzutreiben, wie solche in der ganzen Südsee auch nicht einmal annähernd ein Seitenstück findet, was gewiß sehr viel sagen will. Jeder Erwachsene auf der Insel hat an das Tonga-Gouvernement alljährlich sieben Dollars, ungefähr M. 28, als Abgabe zu entrichten; dieser Betrag wird in vier Terminen bezahlt. Früher zahlten die Eingebornen ihre Abgaben an die Regierung ausschließlich in Copra, die von dem Regierungsfahrzeug regelmäßig abgeholt und zum größten Theile nach Sydney hin verkauft wurde; nachdem aber weiße Tauschhändler sich auf der Insel ansässig gemacht hatten, liefern die Meisten ihren Copra an diese ab und mit dem Erlös bestreiten sie ihre königlichen Abgaben. Es erwächst ihnen daraus ein kleiner Vortheil, weil sie von dem Tauschhändler einen bessern Preis erzielen, als die Regierung ihnen für ihre Producte zugesteht.
Rev. Baker ist jedoch ein viel zu tüchtiger Geschäftsmann, um sich ein so bewährtes System so leicht aus den Händen reißen zu lassen; er besteht noch hartnäckig und leider bis jetzt auch mit Erfolg darauf, die „freiwilligen“ Beiträge für seine Mission nur in Copra empfangen zu wollen; er hat etliche seiner Jünger dort angestellt, die solchen Copra in Empfang nehmen und denselben aufspeichern, bis es sich einmal für ihn lohnt, mit einem Schiffe die Waare nach Sydney zum Verkaufe zu bringen. Daß solches ein für die Mission einträgliches Geschäft ist, mag daraus hervorgehen, daß Rev. Baker zu einer Zeit, wo der Marktpreis in Sydney per Tonne Copra à 2240 Pfund englisch Gewicht 15 Pfund Sterling (306 Mark) war, den Eingeborenen auf Niuafou nur 4½ Pfund Sterling (92 Mark) für dasselbe Quantum bewilligte.
Schreiber dieses war vor nicht langer Zeit auf der Insel anwesend, als Rev. Baker seine alljährliche Ansprache an die Eingeborenen hielt; Jeder von ihnen mußte den Beitrag, den er willens sei im Laufe des nächsten Jahres an die Missionsgesellschaft zu verschenken, nennen, und diese Beiträge wurden mit unabänderlichen Schriftzügen von Rev. Baker sorgfältig notirt. Der Ort, wo solches stattfindet, ist die von Rohr erbaute Kirche. Rev. Baker besteigt die Kanzel und redet die versammelte Menge etwa folgendermaßen an:
„Meine lieben Brüder und Schwestern in Christo! Wiederum bin ich unter Euch erschienen, um eine kurze Stunde Zeit unter Euch zu verweilen und um mit Euch durch Gebet und Gesang Erbauung in Christo zu suchen; mir ist’s eine Wonne! ja, denn wahrlich, Ihr seid des Herrn eigen auserwähltes Volk, unter Euch hat noch kein Säemann seine Saat vergebens gestreut, aber sehet Ihr denn auch nicht, daß Jehova (sein Lieblingswort) sein Auge auf Euch gerichtet hat, wie er Euch vergilt und wie er Euch stets mit Wohlthaten überhäuft, die keiner anderen Insel zu Theil wurden? Wir hören von fernen Landen, von Südamerika und anderswo, wie Jehova sie dort mit Erdbeben und mit Wassersnoth heimsucht. Tausende von Menschen sind dort von Wasser und Erde verschlungen worden und ganze Städte mit allem Leben darin zerstört, aber wißt, liebe Brüder und Schwestern, die Leute, die dort wohnen, sind nicht aus unserer Heerde; es sind Katholiken (die Katholiken sind in Tonga verhaßt), die nur auf den eigenen Vortheil bedacht sind, nichts für ihre Missionäre thun. Von der Türkei hören wir von Krieg und Pestilenz. Frauen und Kinder werden dort gräßlich ermordet und Tausende von Männern hingeschlachtet; warum sucht Jehova dieses Volk so hart heim? Wisset, liebe Brüder und Schwestern, es sind Mohammedaner, die nicht an Christum glauben und keine Missionäre unter sich dulden wollen; auf diese Art, sehet Ihr, werden die Ungläubigen heimgesucht. Ihr auf Eurer friedlichen Insel wißt nichts von Krieg oder Pest; auch hat kein Feuer Eure Insel in langen Jahren heimgesucht, nein, denn ich sage es noch einmal: Ihr seid des Herrn eigene Heerde. Ihr seid Christen! Ja (zum alten Gouverneur gewendet) Du, Fotofile, und Du, Paula Fusitua (ein alter eingeborener Richter), Ihr seid Christen; hier vor der ganzen Versammlung rufe ich es aus: Ihr seid Christen. Seid Ihr nicht immer Euren Untergebenen mit einem würdigen Beispiele vorangegangen? Habt Ihr nicht immer reichliche Beiträge zur Mission gegeben? Ihr habt es nicht geachtet, wenn solche fast Eure Kräfte zu übersteigen drohten, aber werft einen Blick auf Eure Cocosnuß-[WS 1] und Brodfruchtbäume sowie auf Eure Yams- und Tarrofelder! Wahrlich, Jehova hat sie reichlicher gesegnet, als diejenigen Eurer Brüder in Hapai und Vawao. Wißt Ihr nicht Alle, wie der Viehstand des Nehume (indem er sich zu diesem Manne wendet) mit neun schönen Ferkeln (wörtlich) erst vor Kurzem gesegnet wurde, gab aber auch nicht derselbe Mann 150 Dollars voriges Jahr an die Mission? Sehet seinen Nachbar an! Seine Cocosnußbäume sind leer, und seine Yams gedeihen nicht. Der Mann hängt am Mammon und theilt nichts mit den Lehrern, die, um seine Seele für Christum zu gewinnen, sich es sauer werden lassen müssen.“
Nachdem nun Rev. Baker noch nach verschiedenen Seiten hin Diesen und Jenen angeredet und angefeuert hat, sonst auch noch derjenigen Gemeinde, welche den größten Beitrag gebe, Lampen und Stühle etc. für ihre Kirche oder Schule, sowie allerhand Segen verheißen hat, rückt er endlich, zu Fotofile gewendet, mit der Frage hervor, wie viel ihm von Christo eingegeben sei, im kommenden Jahre aus seinen eigenen Mitteln für den heiligen Zweck zu gewähren.
Der alte Mann, schon durch die lange Rede und durch von solchem Munde empfangene Lobhudelei halbwegs in ein Stadium der Unzurechnungsfähigkeit versetzt, richtet sich von seinem Sitze langsam empor; vergebens sucht sein armes schwarzes Gesicht dem drohenden Blicke des Christusverkünders auszuweichen. Alles schweigt; man würde eine Nadel fallen hören; er blickt langsam umher, doch nirgends eine Hülfe für ihn; er steht im Begriffe, sich wiederum für ein ganzes Jahr elend zu machen; seine verworrene Gedankenreihe spottet aller Versuche, sie zu sammeln. Endlich murmelt er etwas; Keiner hat es recht gehört, viel weniger verstanden. Eine augenblickliche Verklärung erhellt jedoch momentan die strengen Züge des in den Augen der Einfältigen allmächtigen Rev. Baker; sein Ohr hat die Worte des alten Mannes vernommen oder hat sie vernehmen wollen. Er ruft mit weithin hörbarer Stimme: „Sechshundert Dollars,“ und macht gleich eine Notiz. Hatte Fotofile solche Summe genannt? Sicherlich nicht; er ist überhaupt nur zum Schein befragt worden, und Rev. Baker hatte schon lange vorher auscalculirt, wie viel Fotofile nothwendig zu geben habe. Rev. Baker hat gewonnen Spiel: der große Coup ist ihm gelungen, denn Fotofile fällt zurück und bleibt stumm. Es folgen die Anderen alle, die in den Augen des gnädigen Rev. Baker’s nicht schlechter sein wollen: Paula Fusitua mit 400 Dollars Beitrag (sein ganzes Salair) und so herunter bis zum letzten Manne, Einer den Andern, alle zu Fanatismus aufgestachelt, unsinnig überbietend.
Als Rev. Baker wenige Tage darauf stillvergnügt den Staub von seinen Füßen schüttelte und der Insel ein: Auf Wiedersehen! zurief, da wußte Alles und Jedes dort, daß der genügsame Mann um 12,000 Dollars, ungefähr 48,000 Mark, reicher war, als da er dort ankam. Von einer Insel wie Niuafou, deren Einwohnerzahl, im Abnehmen begriffen, jetzt nicht 1100 Köpfe übersteigt, Erwachsene und Kinder beiderlei Geschlechts mitgerechnet, ist solche Einnahme geradezu enorm zu nennen; denn jene Zahl repräsentirt nur ungefähr 300 Steuerpflichtige!
Auf der Insel stellen sich gar bald die traurigen Folgen solcher übertriebenen Schenkungen ein; vorerst müssen die Eingeborenen den Copra schneiden, um damit ihre königlichen Abgaben zu bestreiten; darauf hat Jeder seinen Missionscopra zu schneiden, und dabei darf er nicht unterlassen, die Kirche vier Tage der Woche jeden Tag zwei Mal und Sonntags vier Mal zu besuchen, sonst wird er in’s Kirchenbuch notirt und ihm fährt ein Unglück auf’s Dach, und zwar in Gestalt von Geldstrafen. Woher aber soll er sich die Zeit nehmen, um Copra für seinen und [720] seiner Familie Unterhalt zu schneiden, wenn sich wirklich auch noch, was in den meisten Fällen kümmerlich genug bestellt ist, Cocosnüsse dafür vorfänden, oder um sein Haus und Feld zu bestellen? Es bleibt ihm keine Zeit dafür übrig, wie mir von den Eingeborenen schon so manchmal versichert worden ist und wovon ich auch genügend überzeugt bin; sein Yams- und Tarrofeld bleibt unbestellt liegen und er muß essen, was ihm eben in die Hand wächst. Das ist der Grund, warum auch nach und nach der große Ueberfluß an Schweinen und Geflügel von der Insel verschwunden ist; die Eingeborenen hatten eben nichts weiter zu essen, denn Brodfrucht wächst nicht überreichlich und nur zu einer gewissen Jahreszeit auf der Insel.
So lange die Cocosnußbäume das erforderliche Quantum Nüsse hergeben können, werden die Eingeborenen der Insel nicht verhungern, aber schon jetzt müssen sie, um den sich lawinenartig steigernden Forderungen ihrer Seelsorger nachkommen zu können, die halbreifen Nüsse von den Bäumen herunterreißen; sonst wurde keine Nuß angerührt, ehe sie von selbst vom Baume fiel. Lange kann es nicht mehr so fortgehen. Die Bewohner der reichen, einst so blühenden Insel werden bittere Noth leiden, und wer trägt dann die Schuld daran? Die Missionäre, die unter dem Deckmantel der Christuslehre, unter dem in alle Welt ausgeschrieenen Vorwande, die Seelen der armen unwissenden Eingeborenen retten zu wollen, ihr leibliches Wohl so schamlos untergraben.
Ueber Leben und Treiben der Missionäre auf den Südsee-Inseln könnten Bücher geschrieben werden, Niuafou ist nur eine von den Inseln, wie sie zu Hunderten in der Südsee unter solchem geistlichen Druck verbluten; zu hoffen bleibt, daß die unabwehrbare Civilisation auch hier im Kampfe mit einem habsüchtigen Priesterthum über kurz oder lang endlich doch den Sieg davon tragen, und dem gutmüthigen Eingeborenen, welchem Hab- und Gewinnsucht unbekannte Leidenschaften waren, für das zum Himmel schreiende, gegen ihn in Anwendung gebrachte Erpressungssystem die Augen öffnen wird.
Ist es zu verwundern, wenn zuweilen die Eingeborenen von Niuafou selbst nicht die verzweifeltsten Mittel scheuen, um solcher geistlichen Knechtschaft zu entrinnen? Ich habe mehr als einmal den Fall erlebt, daß sich Eingeborene in ihren gebrechlichen Canoes den Wellen preisgegeben haben, um womöglich von Wind und Strömung nach irgend einer andern Insel verschlagen zu werden. Aber wie vielen gelang es, eine rettende Küste zu erlangen? Wohl nur wenigen!
Blätter und Blüthen.
Internationaler Wettlauf im Central-Skating-Rink in Berlin. (Mit Abbildung S. 717.) Unter den vielen in Berlin durch die Neuzeit geschaffenen Etablissements nehmen die sogenannten „Skating-Rinks“ eine hervorragende Stelle ein. Es ist eine neue Form, in welcher unsere Jugend, männlichen und weiblichen Geschlechts, ritterliches Spiel übt, und mag man nun über das „Skaten“ denken, wie man will, man wird zugestehen, es ist zugleich eine schöne Form, ein Kühnheit, Sicherheit und Grazie erweckendes Spiel.
In der ersten Zeit nach der Einführung des „Skating-Rinks“ – oder warum setzt man nicht im Sinne unseres deutschen Postmeisters: „Rollschuhbahn“? – war für die aristokratische und elegante Welt eine Bahn unmittelbar am Thiergarten errichtet, die Träger der klangvollsten Namen der Berliner Gesellschaft rollten dort auf den Holzrädern einher und trieben fröhlich Spiel und Tanz. (Siehe unser Bild in Nr. 27, 1876.) Das ist vorüber – haben die prinzlichen und fürstlichen Herrschaften den Geschmack daran verloren, oder woran liegt es? Die Bahn ist leer; ich glaube sogar, sie ist ganz eingegangen. Dagegen sind andere Bahnen aufgetaucht, und von diesen ist eine der glänzendsten der sogenannte „Central-Skating-Rink“ in der Bernburgerstraße. Ohne „Central“, „General“, „Haupt“ geht es ja doch nun einmal nicht, versäumt doch der gewöhnlichste Budiker nicht, „Hauptniederlage“ über seinen Keller zu schreiben. Kurz, hier tummelt sich allabendlich beim Klange eines großen Orchesters in weiten glanzvollen Räumen eine Welt von jungen Herren und Damen, und solchen die es sein möchten, auf knarrenden Räderschuhen. Hier hat auch der Sport schon seine schönsten Blüthen getrieben und rollende Künstler auf dem Gebiete des „Skatens“ erstehen lassen.
Was Wunder also, wenn sich hier auch das Wettlaufen entwickelte! Eine Anzahl der allezeit wettlustigen Söhne Albions ist nun jüngst herüber gekommen, um sich mit deutschen oder speciell Berliner Läufern zu messen. Das ist auch geschehen. Eine kreisförmige, etwa 600 Meter lange Bahn war der Rennplatz für’s Schnelllaufen, ein abgetheilter Ring derjenige für den Kunstlauf. Bei aller Harmlosigkeit des Spiels hatte es doch etwas Aufregendes, dem Beginne und dem Verlaufe des Rennens zu folgen.
Preisrichter, Starter etc. waren regelrecht am Platze. Fünf Paare, je ein Engländer und ein Deutscher, liefen nach einander und dann die fünf Sieger gemeinschaftlich um den Ehrenpreis. Ich kann nur von einem Abende berichten, aber an diesem wurden die Engländer im Schnelllaufe sämmtlich von den Deutschen (Berliner Bürgersöhne) auf’s Glänzendste geschlagen; tadellos und ohne Unfall ging das immerhin gefährliche Spiel von Statten. Bei dem folgenden Kunstlauf siegten dagegen die Engländer. Tusch, Bravos und Lorbeerkränze belohnten hier die Fremdlinge. Stolz auf den eigenen Sieg, anerkannte man doch auch neidlos die Vorzüge der Gegner. H. L
Schwindel für ganz Dumme. Sollte man es glauben, daß ein Curpfusch-Brief, wie der nachstehende, den wir zum Vergnügen unserer Leser buchstabengetreu abdrucken müssen, noch Menschen findet, die dem Schreiber desselben ihre Gesundheit anvertrauen? Und doch wird uns versichert, daß namentlich der Regierungsbezirk Kassel und die Provinz Westfalen einträgliche Domänen für solch einen Schwindel seien. Der uns vorliegende Brief ist gedruckt, und geschrieben ist nur das durch gesperrte Schrift Hervorgehobene:
Meine lieben Freunde!
Ihren Brief habe ich erhalten und daraus ersehen, daß Sie meiner erfahren haben, was mich sehr erfreut hat, und was Sie von mir verlangen, das werde ich Ihnen jetzt schreiben. Ich habe auf den Taufnamen gemessen, und mich ganz genau überzeugt; da hat sich eine Länge von Gicht herausgestellt von Trei virdels zol das ist zu bedauern. Wenn Sie sich nun nach meinem Schreiben richten, und Sie haben einen festen Glauben an meine Kur, dann gedenke ich Sie mit Gottes Hilfe auf Zeit Lebens von Ihren Leiden zu befreien, hier gebe ich Ihnen die Tage wann ich brauche, den 29. 30. 31. Merz. und den 28 29 30ten Aprill. – Ehe aber diese Tage kommen, werde ich dem Schmerz vorgebeugt haben, dieses sind die Verhältnisse in den angezeigten Tagen: den Kaffee nicht zu weiß getrunken, kein Scheinefleisch gegessen, über kein Wasser schreiten und mit keinem Wasser sich beschäftigen und dann recht warm gehalten, das muß aber im Bett geschehen, desto weiter thun wir mit der Besserung kommen. Das Uebrige, was noch nöthig thut, das werde ich mit Gottes Hilfe besorgen. Wassertrinken darf geschehen, es muß aber durch einen anderen Menschen geschöpft werden.
Vorerst aber lesen Sie meinen Brief, was der verlangt, das müssen Sie pünktlich halten und richten Sie sich nur nach meinem Brief. – Nach dieser Zeit möchte ich zehn Tage vor dem 26. Mey. Antwort haben, wie es geht und steht. Tragen Sie keine Sorgen um ihre leiden in Ordnung zu bringen das über laßen Sie mir ich halte So gott will mein versprechen richten Sie sich nur nach mein Brief was er verlangt das müssen Sie Pünktlich halten. Meine liebe Freunde, über lessen Sie mein Brief. daß Sie in den angezeichten Tage Kein Fehler machen, und folgen Sie mir nach und bleiben Sie von Herrn docktorn ich halte so Gott wil mein versprechen. Meine Liebe Freunde Sie werden mir es nicht vor übel nehme weil weil ich mir von ersten Brüf etwas auf Abschlag 2 Mark Post vor schuß entnehmen weil ich spahre das ich mit unter undank bahre Menschen habe was ich mir nicht gedacht hätte. Da Kan ich schlecht mit bezahlen.
Meine Attresse an Hartmann Hesse in Römershausen Kreis Frankenberg R. Bezirck Cassel.“
Die Noth in Tirol! In Nr. 38 der „Gartenlaube“ brachten wir eine Schilderung des grausigen Unglücks, welches durch Bergstürze und Ueberschwemmungen über verschiedene Gegenden Tirols, vor Allem aber über das schöne Tauferer Thal, hereingebrochen ist. Wir knüpften an jenen Aufsatz die Bitte um milde Gaben für die so plötzlich verarmten Opfer jener Naturereignisse. Die Nachrichten, die uns seitdem aus dem Tauferer Thal zugegangen sind, bestätigen nur, wie unmittelbar dringend der dortigen, ohnehin überaus armen Bevölkerung die Hülfe guter wohlthätiger Menschen Noth thut. Rührend sind die Berichte, welche wir durch Herrn Dr. Deimer, den Arzt in Taufers-Sand, empfingen. Die übermenschlichsten Anstrengungen gehörten dazu, um die ganz oder theilweise verschütteten Häuser wieder zugänglich zu machen. „Krankheiten und Hungersnoth stehen zu erwarten und vermehren noch unsere Sorgen. Wie dies Alles enden wird, ist gar nicht abzusehen“ – so schließt einer jener Berichte.
Wo vielleicht Industrie oder ergiebiger Ackerbau Gelegenheit bieten, erlittene Verluste im Laufe der Zeit wieder auszugleichen, da wird die Noth weit weniger schwer empfunden, als in jenen Gegenden, deren Bewohner auch in sogenannten guten Jahren die Lebensbedürfnisse nur mit Anstrengung aller Kräfte zu erringen vermögen. Jetzt aber, wo Jahre lang alle Kräfte aufgeboten werden müssen, um nur erst wieder dem kargen Boden seinen ehemaligen bescheidenen Ertrag abzugewinnen, bedürfen jene Armen dringend der Unterstützung wohlthätiger Menschen, und aus diesem Grunde bitten wir unsere freundlichen Leser in der Nähe und der Ferne wiederholt recht herzlich, ihr Scherflein zur Linderung der Noth der Verunglückten uns zukommen zu lassen.
Georg Theodor de Leel. Der Stoff ist schon zu oft behandelt worden. Geben Sie gütigst Ihre Adresse zur Rücksendung des Manuscriptes nebst Bildern an!
A. E. in Berlin. Ungeeignet! Verfügen Sie gefälligst über das Eingesandte!
- ↑ Kawa-Getränk wird aus Kawa-Wurzel (Piper mysticum) bereitet, indem die Eingeborenen die Wurzel kauen. Das Gekaute wird mit Wasser gemengt und, nachdem es durchgesiebt, in Cocosnußschalen zum Trinken verabreicht; das Getränk hat eine berauschende Wirkung.
- ↑ Copra ist der zerschnittene, an der Sonne getrocknete Kern der Cocosnuß, aus welcher das Cocosnußöl gepreßt wird, das in unseren Tagen ein bedeutender Handelsartikel ist.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Cocusnuß-