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Artikel „Tannhäuser“ von Richard Moritz Meyer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 385–388, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tannh%C3%A4user&oldid=- (Version vom 10. Oktober 2024, 17:21 Uhr UTC)
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Band 37 (1894), S. 385–388 (Quelle).
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Tannhäuser: Minnesänger der Blüthezeit und Held der Volkssage. Er gehört einem im Salzburgischen und in Baiern ansässigen Adelsgeschlechte an (daß er, wie man vermuthet hat, Cleriker war, ist mir unwahrscheinlich), scheint den Kreuzzug von 1228 mitgemacht zu haben und lebt dann als fahrender Sänger bis etwa 1268. In seiner besten Zeit besaß er durch die Gunst Friedrich’s des Streitbaren von Oesterreich in Leopoldsdorf und Hinberg (Niederösterreich) Lehen, sowie einen Hof in Wien; später verlor er (wie Neidhart von Reuenthal) Gunst und Gut und scheint unbeachtet verschollen zu sein; keine der vielen litterarhistorischen Stellen bei mittelalterlichen Dichtern nennt ihn. Dafür ging er schon früh in den Venusberg der Volkssage ein, in der der ziemlich dürre Stab seiner Poesie sich mit reichen Blüthen bedeckt hat.

[386] Als Dichter geht der T. durchaus von Neidhart aus; schon die Manessische Handschrift hat dies anerkannt, indem sie ihn mit andern Neidhartianern und dem Begründer der höfischen Dorfpoesie selbst zu einer Gruppe vereinigte. Von Neidhart hat er vor allem die Manier, Bilder aus dem bäurischen Festtagsleben auf minnigliche oder panegyrische Eingänge zu setzen, aber auch die Annäherung an die halbepische Form der französischen Pastourellen und gewisse Kunstgriffe, wie die Selbstnennung, die Verwendung von Fremdwörtern im Reim. – Diese Abhängigkeit ist aber nicht in einer inneren Verwandtschaft begründet, denn T. besitzt nichts von Neidhart’s durch und durch künstlerischem Naturell. Recht im Gegensatze zu dem glänzenden Tanzcomponisten ist er in der Metrik matt, schwerfällig; „ich verstehe mich nicht auf wirksame Melodien“, gesteht er selbst. Seine Leiche haben etwas Gemachtes, Gesuchtes, seine Lieder sind unbedeutend, die Sprüche zerbröckeln in kleine Absätze. Hat er einmal einen Reim, der Effect macht, so bringt er ihn gleich noch ein paar Mal; und die Mode des Refrains – der damals aus dem Volkslied in die Kunstdichtung eindrang – übertreibt er so ungeschickt, daß man darin parodistische Absicht sehen wollte. T. ist ein rechter Epigone der mittelalterlichen Romantik: eine im Grunde prosaische Natur, der die „innere Form“ des echten Dichters fehlt, überschätzt er der Gestaltung gegenüber den Inhalt, das greifbare Ereigniß. Dem entspricht es völlig, daß er auch seinem Leben durch ein unruhiges Aufsuchen von „poetischen Erlebnissen“, durch weite Wanderfahrten und anspruchsvolle Lebensgewohnheiten einen reicheren künstlerischen Gehalt zu geben sucht und auf derartigen pathetischen Momenten seines Lebens (z. B. einem Seesturm) ausmalend verweilt. Walther von der Vogelweide, der Classiker, erwähnt nur typische Züge aus seinem Leben, wie Goethe nirgends die gefahrvolle Seefahrt nach Palermo in seine Dichtung eingeführt hat. Dies Bedürfniß nach dem greifbaren poetischen Erlebniß liegt aber in der Zeit des T.; es verräth sich so gut in den realistischen Zügen der späteren Minnedichter, wie in Ulrich’s von Liechtenstein heroisch-närrischem Versuch, das Imaginative zu verwirklichen. – Aus diesem Contrast eines poetischen Verlangens mit einer prosaischen Anlage erwächst nun ganz naturgemäß eine bald gegen die Umgebung, bald gegen das eigene Selbst gerichtete Ironie. Durch diese Ironie wird der T. zum Humoristen und gewinnt so fast gegen seinen Willen Eigenart. Denn gewiß war es nur praktische Berechnung und nüchterne Erwägung, was ihn in die Bahnen des ihm so wenig verwandten, aber hochberühmten und gefeierten Neidhart trieb. Beständig liegt er auf der Lauer, um den Geschmack seiner Zuhörer befriedigen zu können. Die Fürsten verlangen nicht mehr, wie zur Zeit Hermann’s von Thüringen, als feine Kunstkenner gelobt zu werden: er spendet der dynastischen Eitelkeit zahlreicher Fürsten (von Baiern, Brandenburg, Breslau, Dänemark, Meißen u. s. w.) plumpes Lob und weiß selbst dem kunstsinnigen Friedrich von Oesterreich nur in allgemeinen Phrasen die Krone zuzusprechen. Das Publicum, durch die minnesingerische Romantik ermüdet, will derbere Kost und Nahrung für den Verstand: er singt lascive Liebesabenteuer, reimt geographisch-historische Memorialverse (wie sie nach Verfall der Heldendichtung einst bei Angelsachsen und Skandinaviern im Schwung waren), gibt dunkle Räthsel auf. Aber all das behandelt er halb humoristisch: die Liebesgeschichten parodiren durch ihre gesuchten Fremdwörter höfische Art, die Aufzählungen durch wilde Sprünge in Raum und Zeit die Unkenntniß minder belesener Spruchdichter, und auch die krause Art seines Räthsels schmeckt etwas nach Ironie. – Einmal traf er so recht die Liebhaberei seiner Zeit, als er die volksthümliche Formel der „unmöglichen Fristen“ ins Minnelied verpflanzte und von seiner Geliebten sich Gnade versprechen ließ, wenn er ihr den Apfel brächte, den Paris der Venus gereicht – eine gelehrte Anspielung und zugleich ein Spott auf [387] die thörichten Liebesbeweise, die im höfischen Epos die Sigunen und Belakanen begehren. Er hat diesen Einfall denn auch gleich in drei Gedichten mit wenig Witz und viel Behagen ausgesponnen.

Einer psychologisch und culturhistorisch ebenso interessanten als poetisch unbedeutenden Persönlichkeit geschah ihr Recht. Seine Gedichte brachten ihm nicht allzuviel Ruhm ein; zwar bewahrt die große Heidelberger Handschrift von ihm sechs Tanzleiche, neun Lieder, einen Spruch; aber dies wird zum Theil auf die Vorliebe ihres schweizerischen Sammlers für humoristische und lehrhafte Poesie zurückgeführt werden müssen. Vielleicht förderte noch der Umstand, daß Tannhäuser’s Räthselspruch den eben ermordeten Thomas Becket von Canterbury feierte, zu dessen Ehren die Züricher gerade eine Kirche bauten. Aber sonst hat der Dichter kaum Spuren hinterlassen; nur der Spruchdichter Boppe, ein Schweizer, kann sein Schüler genannt werden, alle anderen Anklänge (vgl. Oehlke S. 42 f.) bleiben zweifelhaft.

Um so mehr erregte seine Person Interesse. Daraus, daß er im Volkslied sich an den keineswegs besonders berühmten Papst Urban wendet, der thatsächlich 1261–1264 regierte, hat man mit Recht geschlossen, die Sage müsse sich seiner sehr früh bemächtigt haben. Bekanntlich erzählt das Lied, wie T. sich von Frau Venus losreißt, zum Papst pilgert, der ihm aber Absolution verweigert, ehe der dürre Stab in seiner Hand blühe, wie er darauf in den Venusberg zurückkehrt und von den Boten nicht mehr gefunden wird, die ihm das Wunder der wieder erblühten Gerte melden sollen. Wie ward der Dichter zum Held dieser Sage? Daß er (wie ein anderer Gegenstand der litterarhistorischen Legende, wie Neidhart) sich gern nennt, konnte dazu beitragen, weil sein Name wie der ominöse des von Reuenthal allegorische Deutung herausforderte: man konnte ihn als den im dunkeln Tann Verborgenen fassen. Erzählte er doch wiederholt Liebesabenteuer, die ihm im Walde begegnet. Dann legt die Jenaer Handschrift ihm ein Bußlied bei, an dessen Echtheit man ohne genügenden Grund gezweifelt hat; aber daß Autoren bedenklicher Lieder fromme Bußpsalmen anstimmten, war damals kaum selten genug, um Aufsehen zu erregen. Aber der Stoff der Sage lag in der Luft. Seit mit dem Verfall des Reiches und der Minnedichtung die Fortsetzer des alten Sanges und Geistes immer schwerer gegen die neue Richtung der Dialektik und Askese zu kämpfen hatten, forderte dieser Kampf eine symbolische Darstellung, und der toll-geniale Ulrich von Liechtenstein entsprach wieder nur einem geheimen Sehnen seiner Zeit, wenn er auf seine Weise Frau Venus zu verkörpern suchte. Nun hatte gerade T. den Apfel der Venus unter den unmöglichen Forderungen seiner Gebieterin aufgezählt; Spielmannsphilologie mochte das verwirren und ihn wirklich mit Venus zusammenbringen. Dazu war der Dichter ein lockerer Lebemann, der für alle weltlichen Genüsse vor seiner Bekehrung geschwärmt hatte, wie ein Zacharias Werner; der verarmten Dichtergeneration erschien es kaum glaublich, daß ein Sänger draußen in der Welt schöne Frauen, guten Wein, Leckerbissen und Bäder zur Verfügung hatte; das mußten Gaben böser Geister sein. So ward gerade er zum Träger eines tief symbolischen Mythus. Das Lied stellt sich dar als ein Ausdruck milde vermittelnder Gesinnung, die den „unsittlichen Minnedienst“ nicht billigt, in der herben Strenge der dominicanischen Inquisition und Askese aber geradezu eine Gefahr für das Seelenheil bedrängter Sünder sieht. Dem wundervollen Gedicht ist die Schulung an der episch-dramatischen Mischform des „Tageliedes“ zu Gute gekommen: als ein Tagelied erscheint es selbst, nur daß statt des Wächters eine innere Weckstimme den Ritter von seiner Dame treibt, die ihn vergeblich zu fesseln sucht, bis er zurückgejagt wird in die Arme des süßen Verderbens. Verwandte Sagenstoffe (wie der von der Verzauberung in einen Berg) klingen an; [388] für die Formel mit der dürren Ruthe ist außer an biblische Stellen (Aaron’s Gerte) an des Dichters „unmögliche Fristen“ zu erinnern. – Das Gedicht gewann eine ungemeine Verbreitung, ward bald im vorreformatorischen Sinne gegen päpstliche Sündenvergebung und für Christi Erlösung des reuigen Sünders ausgemünzt und ruhte dann Jahrhunderte lang. – Die Romantik entdeckte es wieder, aber Ludwig Tieck wußte es nicht lebendig zu machen. Erst in der Hand Heinrich Heine’s blühte der vertrocknete Stab auf. Eine dem T. verwandte Natur griff den Stoff auf: Humorist aus der Romantik wie er, wie er gern sich in lasciver Poesie ergehend, und wie er zuweilen von dem Bedürfniß einer Aussöhnung mit Gott ergriffen, gestaltete Heine das Volkslied in genialer Weise um. Der Grundaccord einer ganz neuen psychologischen Auffassung erklingt hier: „Von süßem Wein und Küssen ist meine Seele geworden krank; ich schmachte nach Bitternissen.“ Der satirische dritte Theil von Heine’s Tannhäuser hat mit den beiden ersten freilich innerlich nicht mehr zu thun als die dörperlichen Tanzbilder des Minnesingers mit ihren hochtrabenden Einleitungen. – Auf jenen Grundton baute dann Richard Wagner sein Musikdrama. Er brachte den T. wieder in Verbindung mit dem Wartburgkrieg, mit dem er direct nichts zu thun hat, der aber vielleicht den gleichen Gegensätzen seinen Ursprung verdankt wie das Tannhäuserlied. Wiederholt hatte man vorher schon den – völlig unmöglichen – Versuch gemacht, den T. mit dem Haupthelden des Sängerkrieges, Ofterdingen, geradezu zu identificiren (vgl. Burdach, A. D. B. XXIV, 173). Aber im Gegensatze zu dem halbmythischen Ofterdingen ist T. eine durchaus greifbare Gestalt; und war er es auch nicht werth, daß über seinen Reliquien sich der wundervolle Dom der Tannhäusersage erhob, so hat er doch immerhin in der eigenen Brust jenen Kampf zweier Geistesströmungen gefühlt, den sie so großartig symbolisirt.

Text: v. d. Hagen’s Minnesinger II, 81; III, 48; ungenügende Auswahl in Bartsch’ Liederdichtern, S. 193. Eine unechte „Hofzucht“ in Haupt’s Zeitschrift 6, 488; 7, 174 vgl. 21, 60 und Geyer, Altdeutsche Tischzuchten, Altenburger Programm 1882. Andere unechte Gedichte in der Kolmarer und Wiltener Handschrift, vgl. Oehlke S. 1.

Zu Leben und Dichtung des Minnesingers: v. d. Hagen, a. a. O. IV, 421 f. – A. Oehlke, Zu Tannhäuser’s Leben und Dichten, Dissert. Königsberg 1890 (S. 41 ein Versuch, die Gedichte zu datiren; vgl. Kück, Anzeiger für deut. Alterthum, 17, 207 f.). – J. Siebert, Metrik und Rhythmik in Tannhäuser’s Gedichten, Dissert. Berlin 1894 (stellt eine größere Arbeit in Aussicht). – Bartsch a. a. O. S. LV. – Goedeke, Grundriß² S. 166. – Scherer, Gesch. d. d. Litt. S. 214. Weitere Litteratur bei Oehlke, S. 2 f. – Speciell zu den Räthseln: Roethe, Haupt’s Zeitschrift 30, 419; R. M. Werner, ebd. 31, 363; Kück, Anzeiger f. d. Alterth. 17, 79. – Zur Metrik: außer Oehlke und Siebert noch Roethe, Reinmar von Zweter, S. 355; ebd. S. 317 zum Stil Tannhäuser’s.

Volkslied und Sage: Text des Liedes in Uhland’s Volksliedern 2, 762; dazu Schriften 4, 259 f. – Heine’s Gedicht in Campe’s Ausgabe 7, 234 und 16, 235; in Elster’s Ausgabe 1, 245 und 4, 429. – Geschichte der Sage: Erich Schmidt, Tannhäuser in Sage und Dichtung. Nord und Süd XLIII, 188, S. 176 f., ebd. S. 192 f. weitere Litteratur.