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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[41]

No. 3.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Die junge Dame trat in das offene Hofthor der Schloßmühle. Eine Schaar Hühner, die, einer Spur verstreuter Getreidekörner nachgehend, eben auf den Fahrweg hinausspazieren wollte, stob gackernd vor ihr auseinander, und die Hofhunde fuhren mit wüthendem Gebelle aus ihrem trägen Halbschlummer empor. Wie floß das neue Frühlingssonnenlicht goldglänzend über die Mauern des alten, prächtigen Hauses, deren gewaltige Quadern vor alten Zeiten unter den Augen des fürstlichen Erbauers aufeinander gethürmt worden waren! Vorgestern erst war die letzte dicke Eiszacke klingend von dem aufgesperrten Löwenrachen der blechernen Dachrinne gefallen, und heute zitterte und flimmerte die Luft über dem sonnenerhitzten Schiefer des Daches. Aus den dicken, braunen Knospen der Kastanien quoll das Harz und ließ sie glitzern, als seien sie mit Diamantenstaub bestreut; ein paar Töpfe mit halbverkümmerten Stubenpflanzen standen, zum ersten Male wieder in die laue freie Luft gerückt, vor dem einen Fenster der Knappenstube, und auf dem hölzernen, ausgetretenen Freitreppchen, das von dieser Stube direct in den Hof führte, saß ein weißbestäubter Müller und schnitt sich tüchtige Brocken von Brod und Käse.

„Mohr! Wächter!“ rief die junge Dame mit schmeichelnder Stimme über den Hof hinüber. Die Hunde geberdeten sich wie toll und rissen winselnd an der Kette.

„Was wünschen Sie?“ fragte der Müller, sich schwerfällig erhebend.

Sie lachte leise in sich hinein. „Ich wünsche gar nichts, Franz, als Ihnen und Suse guten Tag zu sagen.“

Im Nu flogen Brod, Käse und Messer hinter das Treppengeländer. Der Mann war nicht groß. Er war kleiner als das junge Mädchen – er sah sprachlos in das blühende Gesicht, das er zum letzten Male gesehen, wie es, noch nicht einmal in der Höhe seiner breiten Schultern, auf einem schmächtigen Kindeskörper gesessen; sie hatte „das Müllermäuschen“ geheißen und war ihm in der Mühle und auf dem Kornboden, in der That quecksilbern wie eine Maus, auf Schritt und Tritt nachgehuscht – und jetzt war sie die Herrin hier, und er, der ehemalige Obermüller, ihr Pächter. „Curios,“ sagte er, in unbeholfener Verlegenheit den Kopf schüttelnd, „die Grübchen in den Backen und die Augen sind’s noch, aber, aber das unmenschliche Wachsthum!“ Er ließ seine Augen scheu und ungläubig messend an der hohen Gestalt emporgleiten. „Na ja, da hat eben der Trieb von der Sommers-Großmutter her dahinter gesteckt; die war auch so wie Milch und Blut und – „wollt ihr wohl still sein, ihr Racker!“ unterbrach er sich scheltend und drohte mit der Faust nach den unaufhörlich bellenden Hunden. „Die Schlingel kennen Sie wirklich noch, gnädiges Fräulein –“

„Besser als Sie; das ‚unmenschliche Wachsthum‘ hat sie nicht irre gemacht,“ versetzte sie, zu den Hunden tretend und die hoch an ihr aufspringenden Thiere streichelnd. „Sie tituliren mich ja wunderlich, Franz. Ich bin nicht avancirt in Dresden, das kann ich Ihnen versichern.“

„Aber die Fräuleins drüben in der Villa lassen sich ja auch so benennen,“ sagte er mit steifem Nacken und starrköpfig.

„Ah so!“

„Und Sie sind doch zehnmal mehr. So jung und schon so reich, so unmenschlich reich! Die Mühle da, die schönste weit und breit – Sapperment, das will was heißen! Herrje – nur ein Mädchen, und kaum achtzehn Jahre alt, und das Commando über eine solche Mühle!“

Sie lachte. „Das steht mir allerdings zu, und ich will Ihnen das Leben schon sauer machen, alter Franz. … Wo steckt denn Suse?“

„Die hat Stubenarrest, hat’s wieder einmal in der rechten Seite, das arme, alte Frauenzimmer. Die Hausmittel wollen nicht mehr recht verfangen. Doctor Bruck ist eben bei ihr.“

Die junge Dame reichte ihm die Hand und trat sofort in das Haus. Die schwere Bohlenthür fiel rasselnd, mit gellendem Geklingel hinter ihr zu, und der Lärm hallte von allen vier Wänden des weiten Flurs zurück. … Unter den Füßen der Eingetretenen schütterte der Boden sehr stark. Das Tosen und Stampfen des Mahlwerkes dröhnte dumpf durch die kleine, klaffende Thür im gewölbten Steinbogen, und der Duft des frisch zermalmten Kornes füllte kräftig durchdringend die Luft. In tiefen Zügen sog ihn das junge Mädchen ein – eine ganze Fluth von Erinnerungen überwältigte sie; sie wurde blaß vor innerer Bewegung und blieb mit gefalteten Händen einen Augenblick stehen. Ja, sie war um Alles gern in der alten Mühle „herumgekrochen“, wie die Präsidentin von ihr sagte, und der Papa hatte ihr oft genug den Mehlstaub von Zöpfen und Kleidern geklopft – er hatte sie lächelnd „sein weißes Müllermäuschen“ genannt. Der finstere Mann, ihr Großvater, der meist von dort oben, über das Treppengeländer [42] hinweg, mürrisch, mit herrisch polternder Stimme seine Befehle herabgerufen, er hatte sie nie geliebt. Sie war fast immer vor seinem feindseligen Blicke in Susens blanke Küche oder zu Franz geflüchtet, und doch dachte sie mit bitterer Wehmuth seiner und wünschte, er möge wieder da herabsteigen mit den wuchtigen Tritten, unter denen die Treppenstufen geächzt; vielleicht fürchtete sie sich nicht mehr vor dem Gesichte, das, wie sie nun wußte, hauptsächlich Geldstolz und Protzenthum so abstoßend gemacht hatten; vielleicht wäre er jetzt auch milder und zugänglicher, weil sie der Großmutter ähnlich geworden.

Sie fand die Thür der Eckstube droben verschlossen, aber aus dem schmalen Gange, der das Hintergebäude mit dem Vorderhause verband, scholl Susens weinerlich klagende Stimme. Ach ja, dort war die Schlafkammer der alten Jungfer, das dunkle Stübchen mit den runden, in Blei gefaßten Fensterscheiben und der Aussicht auf das graue Schindeldach eines Holzschuppens und das niemals trocknende Pflaster des Seitenhöfchens. Sie schüttelte unwillig den Kopf und betrat den Gang.

Eine heiße, dumpfe, mit Rauch erfüllte Krankenluft schlug ihr beim Oeffnen der Thür entgegen, und dort in dem häßlichen Zwielicht, welches das erblindete, fahlgrüne Fensterglas verbreitete, stand ein Mann, mit dem Rücken ihr zugewandt. Er war sehr groß – er überragte sie offenbar um ein Bedeutendes – und breit von Schultern. Jedenfalls war er im Begriffe, zu gehen, denn er hielt Hut und Stock in der Hand… Ah, das war also Doctor Bruck, von welchem Schwager Moritz vor acht Monaten, bei Gelegenheit der Verlobungsanzeige geschrieben hatte, daß er ihre schöne Schwester Flora schon als Gymnasiast heimlich geliebt, selbstverständlich aber damals nicht gewagt habe, zu dem geistreichen, hochgefeierten Mädchen emporzusehen, und nun sei er doch am schwererkämpften und errungenen Ziel – das war er also. Sie hatte seitdem die Verlobung eigentlich wieder vergessen, und auch während ihrer Herreise war ihr nicht ein einziges Mal eingefallen, daß sie ja ein Glied der Familie mehr vorfinden würde.

Hatte das Seidenkleid der jungen Dame gerauscht – die angelehnte Thür hatte sich vollkommen geräuschlos in ihren Angeln gedreht – oder wehte ein reinerer Luftstrom mit ihr herein, die in der That so frühlingsfrisch auf die Schwelle trat, als gehe der Veilchenhauch, den man bereits in den letzten Märztagen zu spüren meint, von ihr aus – der Arzt drehte sich rasch um.

„Doctor Bruck? Ich bin Käthe Mangold,“ sagte sie, sich kurz und flüchtig vorstellend; dabei ging sie rasch an ihm vorüber und streckte Suse, die, in Bettkissen gepackt, zusammengekrümmt auf einem Lehnstuhle hockte, beide Hände entgegen.

Die Alte starrte sie mit blöden Augen an.

„Ich komme da herein, wie vom Himmel geschneit, nicht wahr, Suse? Aber gerade zur rechten Zeit, wie ich sehe,“ sagte sie und strich der Kranken die unordentlich um die Stirn hängenden greisen Haare unter die Nachthaube. „Wie kömmt es, daß ich Dich hier finde, in dieser elenden Hinterstube? Der Ofen raucht, und bei aller Gluth, die er ausströmt, sitzen die Moderspuren an den Wänden. Hat man Dir nicht gesagt, daß Du in der Eckstube wohnen und im Alkoven schlafen sollst?“

„Ja wohl, das hat der Herr Commerzienrath gesagt, aber es müßte doch da bei mir rappeln,“ sie tippte mit dem Zeigefinger auf die Stirn, „wenn ich mich mutterseelenallein in die gute Eckstube setzen wollte, wie eine Gnädige, oder gar wie die selige Schloßmüllern selber.“

Die junge Dame verbiß ein schalkhaftes Lächeln. „Aber, Suse, hattest Du nicht auch beim Großpapa das Recht, Dich in der Wohnstube aufzuhalten? Im Fenster stand Dein Spinnrad – ich habe Dir’s oft genug in Unordnung gebracht – und auf der Kommode Dein Nähkästchen… Ist ein Zimmerwechsel zulässig, Herr Doctor?“ wandte sie sich ohne Weiteres an den Arzt.

„Dringend nöthig sogar, aber ich bin bisher auf einen entschiedenen Widerstand der Kranken gestoßen,“ versetzte er achselzuckend. Er hatte eine sonore und doch sanfte Stimme, die in diesem Augenblicke jenen moderirten Klang nicht verkennen ließ, den man dem Leiden gegenüber so leicht annimmt.

„Nun, dann wollen wir aber auch keinen Augenblick verlieren,“ sagte Käthe. Sie nahm das Pelzbarett ab, legte es auf Susens Bett und zog die Handschuhe aus.

„Nicht um die Welt bringen Sie mich ’nüber,“ protestirte die Haushälterin. „Fräulein Käthchen, thun Sie mir das nicht an!“ bat sie weinerlich. „Die Stube ist mein Augapfel; ich putze und blinke alle Tage d’rin auf, seit mir der Herr Commerzienrath gesagt hat, daß Sie kommen wollten. Erst vorgestern habe ich neue Vorhänge d’rin aufstecken lassen.“

„Nun gut, so bleibe! Ich hatte mir vorgenommen, wie in meiner Kindheit, Nachmittags den Kaffee in der Mühle zu trinken. Wenn Du aber so eigensinnig bist, dann komme ich gar nicht; darauf kannst Du Dich verlassen. Ich bleibe ohnehin nur vier Wochen in M. – und dann magst Du Deine ‚aufgeblinkte‘ Stube mit den geschonten Gardinen präsentiren, wem Du Lust hast.“

Das half. In Gesicht und Haltung des jungen Mädchens lag so viel strafender Ernst, so viel Entschiedenheit, daß man sofort sah, sie habe nicht zum ersten Mal mit einer widerspenstigen Kranken zu thun.

Suse zog aufseufzend den Stubenschlüssel unter ihrem Kopfkissen hervor und reichte ihn der jungen Dame hin, die nun auch rasch ihre Sammetjacke abstreifte. „Die Eckstube ist jedenfalls nicht geheizt,“ sagte sie und griff nach dem Holzkorbe, der neben dem Ofen stand.

„Nein, das können Sie unmöglich,“ sagte Doctor Bruck mit einem Blick auf ihren eleganten Anzug. Er legte rasch Hut und Stock auf den Tisch.

„Es wäre sehr beschämend für mich, wenn ich das nicht könnte,“ versetzte sie ernsthaft, aber mit tieferrötheten Wangen – sie hatte seinen zweifelhaften Blick wohl bemerkt.

Sie ging hinaus, und wenige Minuten darauf prasselte ein tüchtiges Feuer im Ofen, während Doctor Bruck die Fenster der Eckstube öffnete, um den lauen Märzodem erst noch einmal durch den mit dumpfer Scheuerluft erfüllten Raum strömen zu lassen.

Käthe trat ein. „Ich bitte, sich zu überzeugen, daß ich salonfähig geblieben bin, Herr Doctor,“ sagte sie, nicht ohne einen Anflug von Spott ihm ihre schlanken, rosigen Hände mit dem tadellos weißen Leinwandstreifen am Armgelenk hinstreckend.

Ein ausdrucksvolles Lächeln ging über sein ernstes Gesicht, aber er schwieg und war bemüht, das südliche Eckfenster wieder zu schließen, durch welches der Zugwind die Eingetretene so derb anblies, daß das braune Lockengeringel von ihrer Stirn wegwehte. Auch der Vorhang blähte sich auf und flog in die Stube herein; Käthe griff mit flinken Händen zu und suchte den steifen Faltenwurf wieder zu ordnen.

„Die gute Suse – wenn sie nur wüßte, welchen Streich sie mir spielt mit diesen Gardinen!“ sagte sie halb lächelnd, halb verdrießlich. „Ich muß das Zeug nun wohl oder übel hängen lassen, denn sie hat es sicher vom Vormund für mich erpreßt. Gemusterte Mullgardinen vor solchen Fensterbögen, in der schönsten mittelalterlichen Wohnstube, die sich denken läßt! … Ich hatte mir vorgenommen, sie wieder einzurichten, wie sie vor drei Jahrhunderten gewesen sein mag – mit runden, bleigefaßten Glasscheiben, mit Klappsitzen von Eichenholz, hier zu beiden Seiten der Fensternischen in die Wand eingefügt und mit Polstern belegt, und dort auf die massive Hausthür, von der die Stufen herabführen, sollten neue Metallbeschläge kommen. Die alten hat jedenfalls erst der Großpapa abreißen lassen; man sieht deutlich, wo sie gesessen haben. Und nun denken Sie sich die alte Suse mit ihrem Spinnrad in dem einen Fenster! … Ich hatte mir das wirklich sehr hübsch und anheimelnd ausgedacht – nun werde ich’s bei ihr nicht durchsetzen.“

„Aber ich begreife nicht – sind Sie denn nicht die Herrin?“

„O, die kann ich niemals herauskehren, wenn es dergleichen Wünsche gilt – ich kenne mich schon,“ versetzte sie fast kleinlaut. „Darin bin ich entsetzlich feig.“ Der Contrast zwischen diesem aufrichtigen Bekenntniß und der äußeren gebietenden Erscheinung der jungen Dame war so groß, daß es in der That eines scharfen Blickes in ihre rehbraunen Augen bedurfte, um sich zu überzeugen, daß sie vollkommen wahr spreche. Sie hatte ein [43] nicht sehr großes, aber schöngeschnittenes klares Auge mit einem kühlen Blick; er harmonirte mit der unbefangenen Sicherheit ihres ganzen Wesens. Wie ruhig und praktisch traf sie die Anstalten zur Aufnahme der Kranken! Das Sopha wurde als Bett eingerichtet, der plumpe mit Leder bezogene Lehnstuhl des Schloßmüllers aus der Fensterecke tiefer in das Zimmer gerückt, damit kein Zuglüftchen die Patientin streife; sie holte einen kleinen Tisch aus dem Alkoven und die weißgescheuerte Fußbank unter dem hochbeinigen Kanapee hervor – das geschah so unbefangen und selbstverständlich, als sei sie nie von der Mühle fortgewesen. Sie war aber auch so vertieft in ihre augenblickliche Aufgabe, daß man meinen konnte, sie habe die Anwesenheit des Mannes dort im südlichen Eckfenster ganz vergessen. Nur als sie die obere Schublade der Kommode aufzog und ein weißes Tuch mit roth eingewirkter Kante herausnahm, um es über das Tischchen vor dem Lehnstuhle zu breiten, wandte sie das Gesicht nach ihm und sagte: „Es ist etwas Schönes um diese altbürgerliche Ordnung – Alles steht und liegt am altgewohntem Orte. So ist es gewesen, ehe ich geboren wurde, und während meiner sechsjährigen Abwesenheit sind die Einrichtungsgesetze unverrückt geblieben – man ist sofort wieder heimisch.“ Sie zeigte auf den Spiegel über der Kommode. „Da hinter dem Rahmen guckt die Ecke des Hauskalenders, in den der Großpapa seine Notizen schrieb, und darüber steckt noch die Ruthe mit dem verblichenen Bande, die schon der Schrecken meiner Mutter gewesen ist.“

„Auch der Ihrige?“

„Nein, mich kleines Ding beachtete der Großpapa nicht genug, um sich mit meiner Besserung zu befassen.“ Sie sagte das durchaus nicht bitter; eher mit einer Art lächelnder Resignation. Dabei wischte sie den leichten Staubanhauch, der sich während Suse’s Kranksein abgelagert hatte, von den Möbeln und schloß auch die anderen Fenster. „Hier auf dem Steinsims müssen nothwendig Blumen stehen; ihr Duft soll meine arme Suse erquicken. Ich werde Schwager Moritz um einige Hyacinthen- und Veilchentöpfe aus dem Wintergarten bitten –“

„Da werden Sie sich an die Frau Präsidentin Urach wenden müssen; sie hat einzig und allein über den Wintergarten zu verfügen; er gehört zu ihrer Wohnung.“

Das junge Mädchen sah ihn groß an. „So streng ist die Etiquette drüben? Zu Papas Lebzeiten war der Wintergarten Gemeingut der Familie.“ – Sie zuckte die Achseln. – „Damals freilich war die vornehme Schwiegermutter meines Vaters nur dann und wann Gast in der Villa.“ Ihre klangreiche Stimme verschärfte sich ein wenig bei diesen Worten, aber sie warf gleich darauf den Kopf in den Nacken, als könne sie damit eine augenblickliche unangenehme Empfindung abschütteln, und setzte heiter lächelnd hinzu: „Nun, dann um so besser, daß ich zuerst in die Mühle ging, um mich zu acclimatisiren!“

Er verließ die Fensternische und trat zu ihr. „Ob man Ihnen aber drüben nicht sehr verargen wird, daß Sie sich nicht sogleich in den Schutz der Familie begeben haben?“ fragte er mit ernstem Nachdrucke, aber auch mit jenem Antheile, der zart einen Rath, einen Wink zu geben versucht, ohne zudringlich zu werden.

„Dazu hat man doch wohl nicht das Recht,“ versetzte sie rasch und lebhaft, während der leuchtende Carmin auf ihren Wangen sich verdunkelte. Dieses ‚Drüben‘ ist für mich gleichbedeutend mit der Fremde, in der ich den Familienschutz, wie Sie ihn nennen – nämlich das Gefühl der Zusammengehörigkeit – nicht voraussetzen kann, auch nicht bei den Schwestern. Wir kennen uns gar nicht näher; nicht einmal das dürftige Band eines kleinen Briefwechsels existirt zwischen uns – ich habe nur mit Moritz correspondirt. Als Papa noch lebte, wurde Henriette bei ihrer Großmama erzogen. Wir sahen uns äußerst selten und auch dann nur unter der Aufsicht der Frau Präsidentin. Meine Schwester, die Commerzienrath Römer, wohnte in der Stadt und starb auch sehr frühe. Und Flora? Sie war sehr schön und sehr gescheidt; sie war eine hochgefeierte junge Dame und machte bereits die Honneurs in unserem Hause, als ich noch tief in den Kinderschuhen steckte. Flora muß großartig beanlagt gewesen sein, weil man sich stets so namenlos bedrückt und eingeschüchtert in ihrer Nähe fühlte. Ich habe nie gewagt, sie anzureden, oder auch nur ihre wunderschönen Hände zu berühren, und noch heute fühle ich, daß es sehr unbescheiden von mir sein würde, wollte ich den Umgangston zwischen ihr und mir beanspruchen, wie er sonst zwischen Schwestern üblich ist.“

Sie unterbrach sich und sah ihm erwartungsvoll in das Gesicht, aber sein weggewendeter Blick schweifte über die Gegend draußen. Er ermuthigte sie mit keiner Silbe – hatte er doch auch um das seltene Mädchen dienen müssen, wie Jakob um die Rahel. Möglicher Weise war er nicht einmal duldsam gegen die Schwesterliebe in dem Herzen, das sich ihm endlich zugeneigt. … Bei aller Milde und sanften Schlichtheit, die er wohl in Folge seines ärztlichen Berufes äußerlich angenommen, sah er doch aus, als könne er auch sehr ernstlich und entschieden auf seinem Rechte bestehen.

„Wie die Sachen stehen – die Villa ist ja nicht mehr mein Vaterhaus – kann ich dort nur als Gast, als Besuch gelten, wie jeder Andere auch,“ hob sie nach einer augenblicklichen Pause wieder an. „Hier in der Mühle stehe ich auf meinem eigenen Grund und Boden; da ist Heimathluft und Heimgefühl, und das alte Schieferdach droben und Franz und Suse werden mich und meine unmündigen achtzehn Jahre wohl ebenso treu beschirmen, wie es die Villa mit ihrer strengen Etiquette nur immer vermag.“ Ein muthwilliges Lächeln schwebte um ihren Mund. „Uebrigens wird man über diesen ‚Formfehler‘ rascher hinweggehen, als Sie denken, Herr Doctor – man kann es von ‚der Müllermaus‘ nicht besser erwarten.“

Der Schmeichelname, mit welchem der Papa sie einst genannt, konnte nun allerdings nicht mehr gelten: Huschen und Schlüpfen und unversehens in einem Verstecke verschwinden – dieses Gesammtbild von zarter Gliedergeschmeidigkeit und furchtsamer Seele paßte nicht zu dem Mädchen, das der Welt den fleckenlos weißen Schild der Stirn so ruhig zukehrte, das seine kraftvollen, plastisch ausgeprägten Glieder bei aller jugendfrischen Regsamkeit dennoch mit einer Art von stiller Würde beherrschte.

Allmählich kam eine behagliche Wärme vom Ofen her; Käthe zog ein Flacon aus der Tasche und goß einige Tropfen Eau de Cologne auf die heiße Eisenplatte; ein lieblicher, luftreinigender Duft verbreitete sich. „Suse wird ganz feierlich zu Muthe sein, wenn sie herüber kommt,“ sagte sie heiter und ließ ihre Augen noch einmal musternd durch die Stube gleiten; es war Alles in Ordnung; nur die Alkoventhür stand noch offen, und durch den breiten Spalt sah man gerade auf die bunten Nelkensträuße der Bettstelle, die drinnen in der Nähe des Fensters stand. Jetzt erst fiel der Blick des jungen Mädchens auf die plumpen wohlbekannten Blumengebilde, die einst das Entzücken ihrer Kinderseele gewesen waren – die ganze Rosenfrische wich plötzlich von ihren Wangen, selbst ihr rother Mund war blaß geworden.

„Dort ist mein Großpapa gestorben,“ flüsterte sie ergriffen.

Doctor Bruck schüttelte den Kopf und zeigte schweigend nach dem südlichen Eckfenster.

„Sie waren bei ihm?“ fragte sie hastig und trat ihm näher.

„Ja.“

„Er ist so plötzlich gestorben, und Moritz hat mir den Trauerfall in so wenig eingehender Weise angezeigt, daß ich nicht einmal weiß, was die Ursache seines Todes gewesen ist.“

Der Doctor stand so, daß sie nur sein Profil sehen konnte; er war sehr bärtig um Kinn und Lippen; dennoch konnte sie bemerken, wie sich diese Lippen fest aneinander legten, als werde es ihnen schwer, zu antworten. Nach einem augenblicklichen Schweigen wandte er ihr langsam und voll das Gesicht zu und sah sie ernst an. „Man wird Ihnen sagen, er sei an meiner Ungeschicklichkeit im Operiren gestorben,“ sagte er mit einer Stimme, der die innere Bewegung fast allen Klang nahm.

Das junge Mädchen fuhr vor Schrecken und Bestürzung zurück; ihr Auge streifte noch einmal den Mund, der gesprochen hatte, dann suchte es den Boden.

„Einzig und allein um Ihrer eigenen Beruhigung willen möchte ich Ihnen die Versicherung geben, daß das durchaus unwahr ist,“ fuhr er mit sanftem Ernste fort; „aber wie kann ich von Ihnen verlangen, daß Sie mir glauben sollen? … Wir sehen uns heute zum ersten Male und wissen nichts von einander.“

[44] Sie hätte sich mit einer einzigen oberflächlichen Phrase aus dieser peinvollen Lage helfen können, aber das fiel ihr nicht ein. Er hatte Recht – wie konnte sie wissen, ob er schuldlos, und die anklagende öffentliche Meinung im Unrechte sei? Freilich trug seine ganze Erscheinung den Stempel einfacher Geradheit und Wahrhaftigkeit. Sie fühlte sogar heraus, daß es eigentlich seine Art gar nicht sein könne, ungerechten Verdächtigungen gegenüber auch nur ein Wort zu verlieren, ja, daß er sich in diesem Augenblicke mit seiner Versicherung gleichsam herablasse. Dennoch war sie nicht fähig, etwas auszusprechen, für das sie keine innere Rechtfertigung fand.

Er hatte wohl auch keine Antwort erwartet; denn er wandte sich ab, aber mit so viel Würde und stolzer Gelassenheit, daß in Käthe ein Gefühl plötzlicher Beschämung aufstieg und ihre Wangen heiß röthete. „Darf ich die Kranke nun herüber bringen?“ fragte sie mit unsicherer Stimme.

Er bejahte, und sie verließ mit raschen Schritten das Zimmer. Drüben in der Hinterstube wischte sie sich die hervorquellenden Thränen von den Wimpern und ließ sich den erschütternden Vorgang von der Haushälterin erzählen.

„Die Geschichte hat dem Doctor in der Stadt schrecklichen Schaden gebracht,“ sagte Suse schließlich. „Erst gab’s keinen Besseren und er hatte alle Hände voll zu thun, und nun sagen sie auf einmal, er verstände seine Sache nicht. So sind eben die Menschen, Fräulein Käthchen. Und er ist nicht schuld an dem Unglücke. Es war Alles gut; ich hab’s ja mit meinen eigenen Augen gesehen. Aber da sollte sich der Schloßmüller ganz ruhig verhalten – ja, der und ruhig! Ich weiß am besten, wie er beim kleinsten Aerger gleich kirschbraun wurde. Da darf nur der Franz draußen zu laut gesprochen haben, oder der Wagen ist zu schnell in den Hof gefahren – da hat schon die Wuth in ihm gekocht. So war er. Ich hab’ genug mit ihm ausgestanden, und zum Dank dafür hat er mich auch mit keinem Pfennig bedacht“ – sie lachte scharf und zornig auf – „wenn Sie nicht für mich sorgten, da könnte ich jetzt betteln gehen.“

Käthe hob unwillig warnend und Schweigen gebietend den Zeigefinger.

„Nun meinetwegen auch – ich will still sein,“ grollte die Alte und ließ es still geschehen, daß das junge Mädchen ihren vertrockneten Körper wie ein hülfloses Kind in Decken und Kleider einmummte. „Es thut mir nur leid, daß so ein guter Herr, wie der Doctor, deswegen nun angeschwärzt wird und sein Brod verliert, und seine arme Tante, für die er sorgt und arbeitet, dauert mich auch. Sie hat ihn von ihrem Bischen Vermögen studiren lassen, die alte Frau Diaconus. Sie wohnt bei ihm; er ist immer ihr ganzer Stolz gewesen – und nun muß sie das mit erleben.“ –

Käthe machte der Mittheilung, die sehr in’s Breite zu gehen drohte, ein Ende, indem sie die Kranke vorsichtig aus dem Lehnstuhle hob. Sie war der früheren Heimath zu sehr entfremdet und wurzelte mit ihrem Denken und Empfinden viel zu sehr in ihrem Dresdener Heim, um sich für die Privatverhältnisse dessen so rasch zu erwärmen, der Flora’s Bräutigam war. Allerdings bedauerte sie den Arzt in ihm, dem das Mißlingen einer Cur so plötzlich Existenz und Stellung gefährdete, allein das Weh um den Großvater, der jedenfalls schwer gelitten hatte, überwog bei Weitem auch diesen Antheil.

Halb und halb getragen von den starken Armen des jungen Mädchens, hinkte Suse über den Vorsaal. Die Thür der Eckstube war offen, und am Fuße der herniederführenden Stufen stand Doctor Bruck mit ausgestreckten Händen, um die Leidende in Empfang zu nehmen und ihr herabzuhelfen. … Es war eine charakteristische Gruppe, die der Thürrahmen einen Augenblick umschloß. Käthe hatte sich den gesunden Arm der Kranken um den Nacken gelegt und hielt die knochige braune Hand mit ihren rosigen Fingern auf der linken Achsel fest, während ihr rechter Arm die Hüften Susens umschlang. Ausdrucksvoller konnte die opferwillige Barmherzigkeit nicht verkörpert sein, als in diesem Mädchen, das, seitlich über die gekrümmte Hülflose gebeugt, ihr strahlend junges Gesicht an den grauen Scheitel, die runzelvolle Wange des alten Frauenkopfes legte.

Nach wenigen Minuten saß Suse bequem und weich gebettet in der luftigen Stube. Sie musterte ängstlich die famosen Vorhänge, entsetzte sich über das Bett auf dem „stolzen Kanapee“ und bemühte sich vergeblich, ihre Freude darüber zu verbergen, daß sie nun wieder jeden Sack zählen konnte, der drunten im Hofe auf- und abgeladen wurde.

Die junge Dame sah nach ihrer kleinen goldenen Uhr. „Es wird Zeit, mich in der Villa vorzustellen; sonst gerathe ich möglicher Weise mitten in den stolzen Theezirkel der Frau Präsidentin,“ sagte sie mit der anmuthigen Geste eines leichten Schauders und zog die Handschuhe aus der Tasche. „In einer Stunde komme ich wieder und koche Dir eine Suppe, Suse –“

„Mit den feinen Händen?“

Mit den feinen Händen, versteht sich. Glaubst Du denn, ich lege sie in Dresden in den Schoos? … Hast doch meine Lukas gekannt, Suse – sie ist heute wie damals; da heißt es, Hand und Fuß rühren und die Zeit ausnutzen. Du solltest sie nur einmal sehen! Sie ist eine Frau Doctorin geworden, die ihres Gleichen sucht.“ Damit verließ sie das Zimmer, um sich in Susens Stübchen zum Fortgehen zu rüsten.


(Fortsetzung folgt.)




Menschenaffen.


Von Brehm.


I. Aeußere Umrisse.


Noch vor zwei Jahrzehnten war es leicht, über Affen zu schreiben – heutzutage ist es schwierig. Man befriedigt Niemand mehr, weder die Gläubigen, noch die Ungläubigen, weder die Anhänger der alten Anschauung, nach welcher der Mensch das Ebenbild Gottes sein soll, noch die feurigen Jünger Darwin’s, welche viel weiter zu gehen pflegen als ihr Meister selber. Jene glauben, weil sie den Kern und das Wesen der neuzeitlichen Entwickelungslehre einfach nicht verstehen oder verstehen wollen, in jedem Schimpanse ihren Großvater erblicken zu müssen; diese wollen womöglich jeden Affen als einen werdenden Menschen betrachtet wissen; jene verletzt die Bezeichnung „Menschenaffen“; diese nehmen keinen Anstand, in ihrer Entwickelung zurückgebliebene Adamssöhne „Affenmenschen“ zu nennen. Die goldene Mittelstraße zu gehen ist also schwierig, von Affen zu reden und zu schreiben aber noch mehr. Ich habe dies vielfach erfahren. Daß mich ein Herr, dessen Handschrift offenbar einen durch Hochschulen gebildeten Mann verräth, in einem nur mit „Kein Schimpanse“ unterzeichneten Briefe, Postzeichen Sangerhausen, mit den Worten anredet: „Intoleranter, inhumaner Schimpanse“ anstatt „Hochgeehrter Herr“ (wie ich das übrigens übersetzt habe), will wenig besagen; denn derartige Aeußerungen einzelner durch meine Arbeiten erzürnter Eiferer, welche niemals den Muth haben, sich zu nennen, erhalte ich zu meiner Erheiterung in Menge; daß aber unter den verschiedenen Vorträgen, welche ich gegenwärtig öffentlich halte, der die Affen behandelnde unter zehn Fällen neunmal zurückgewiesen oder nur schwach besucht wird, thut mir nicht meinetwegen, sondern lernbegieriger Zuhörer halber aufrichtig leid. „Nur nicht die Affen!“ heißt es von hier oder dort; „nur nicht die Affen in unserem Saale!“ seufzt eine fromme Gesellschaft, welche besagten Saal jedoch recht gern zu anständigem Preise vermiethet; „nur nicht die Affen!“ lispeln Frauen, welche sonst alle naturwissenschaftlichen Vorträge eifrig besuchen und mir, wie ich offen gestehe, meine liebsten Zuhörer sind; „nur nicht die Affen!“ sagen selbst vorurtheilsfreie Männer in gerechtfertigter Berücksichtigung der herrschend gewordenen Ansichten über die Art und Weise, in welcher neuerdings diese uns zunächst verwandten Hochthiere von berufenen und unberufenen, kundigen und unkundigen Schriftstellern und solchen, die es sein wollen, behandelt werden.

Die Leser dieses Blattes, welches mein würdiger „Nichtschimpanse“

[45] 

Menschenaffen, aus der Gruppe des Tschego’s im Dresdener zoologischen Garten.
Eine Studie nach der Natur von G. Mützel.

[46] aus Sangerhausen in seinem grimmigen Zorn mit den liebenswürdigsten Schimpfnamen belegt, kennen mich hoffentlich viel zu gut, als daß sie nicht annehmen sollten, ich würde ihnen die Großvaterschaft eines Gorilla, Schimpanse oder Orang-Utan rückhaltslos klarlegen, wenn ich von derselben überzeugt wäre. Dies bin ich aber nicht, obgleich ich mich als Anhänger der Lehren Darwin’s bekenne und nicht daran denke, die innige Verwandtschaft, wohlverstanden: Verwandtschaft im thierkundlichen Sinne, welche zwischen Menschen und Affen thatsächlich besteht, wegleugnen zu wollen. Hiervon bin ich im Gegentheil so durchdrungen, daß alle bisher vorgebrachten Gegengründe mir bedeutungslos erscheinen müssen. Menschen und Affen gehören in eine und dieselbe Ordnung des Thierreichs: in die der Primaten, welche ich „Hochthiere“ genannt habe, mag sich der erstere gegen diese Verwandtschaft sträuben, wie er will. Mensch und Affe sind jedoch keineswegs gleichartig, und die Kluft, welche zwischen dem am höchsten entwickelten Affen und dem auf der niedrigsten Stufe stehenden Menschen besteht, wird nicht überbrückt, mag man auch das beiderseitige Verhältniß ansehen und deuten, von welcher Seite und wie man wolle. Dies beweisen am allerdeutlichsten unsere nächsten Verwandten, die „Menschenaffen“, über welche neuerdings ein reicher Stoff zusammengetragen worden ist, weil seit dem Erscheinen der die alten Anschauungen vollständig umwälzenden Werke Darwin’s jeder irgendwie Befähigte sich bemüßigt gesehen hat, für oder wider die aus der neuzeitlichen Entwickelungslehre gezogenen Folgerungen zu schreiben, zu reden und zu lehren.

Ein im Dresdener Thiergarten vor wenigen Wochen gestorbener Menschenaffe veranlaßt mich, die in jeder Beziehung der allgemeinsten Theilnahme würdige Gruppe der Ordnung vor dem weitesten Kreise, welchen ich finden kann, zu besprechen. Besagter Affe hat neuerdings, wie ich höre, viel Staub aufgewirbelt, weil sich die Gelehrten wie die Ungelehrten noch nicht darüber einigen konnten, zu welcher der seit geraumer Zeit bekannten, mehr oder minder ausführlich beschriebenen und mit größerer oder geringerer Berechtigung unterschiedenen Arten sie ihn zählen sollten. „Hie Welf, hie Waiblingen“ – „hie Gorilla, hie Schimpanse“, schreit man sich wüthend entgegen und ficht mit Waffen, wie sie gelehrter oder gelehrtseinwollender Männer in jedem Falle unwürdig sind, indem man sich gegenseitig Unwissenheit und andere Schwächen vorwirft. So wenigstens ist mir berichtet worden; denn ich selbst habe den Streit, welcher sich, meines Wissens, bisher nur in den Tagesblättern abgespielt hat, nicht verfolgt, weil ich schon seit Jahren ausschließlich Arbeiten von Fachmännern, nicht aber bedeutungslose Auslassungen der neuerdings wie Pilze aufschießenden Thierkundigen von gestern und heute zu lesen pflege. Der so heftig geführte Streit beweist aber, daß die Frage doch eine allgemeinere Bedeutung gewonnen hat, und daß deshalb der Versuch, die Hauptzüge unserer heutigen Kunde der Menschenaffen auch dem weitesten Kreise zugänglich zu machen, eine gewisse Berechtigung hat.

Im Allgemeinen wird angenommen daß man, abgesehen von den Langarmaffen oder Gibbons, drei sogenannte Menschenaffen unterscheiden darf: den Gorilla, den Schimpanse und den Orang-Utan, fälschlich auch Orang-Utang genannt. Ueber den erstgenannten kann, dank den eingehenden Arbeiten französischer und englischer Forscher, insbesondere Isidor Geoffroy’s und Owen’s kein Zweifel herrschen; anders dagegen verhält es sich mit dem Schimpanse und dem Orang-Utan, beziehentlich den Sippen oder Untersippen, als deren Vertreter beide gelten. Man hat nämlich mehrere, ebensowohl dem Schimpanse wie dem Orang-Utan ähnelnde Menschenaffen unterschieden, benamset und beschrieben und dadurch eine Verwirrung hervorgerufen, welche, wegen des uns gegenwärtig noch mangelnden Stoffes, geradezu als unlöslich erscheinen will. Hinsichtlich der Orangaffen ist man neuerdings mehr oder weniger zu der Ueberzeugung gekommen, daß es sich in diesem Falle nur um eine einzige Art, den Orang-Utan, handeln kann, beziehentlich der nächsten Verwandten des Schimpanse aber sind die Meinungen noch getheilt; denn während Einzelne sich nicht überzeugen lassen wollen, daß Afrika mehr als zwei Menschenaffen, Gorilla und Schimpanse, beherbergt, verfechten Andere die Ansicht, daß mindestens drei dieser Thiere in diesem noch immer sehr wenig bekannten Erdtheile leben. Der Menschenaffe des Dresdener Thiergartens hat mir den Beweis geliefert, daß letztere Anschauung die richtigere ist, und ich denke mir auch, daß alle, welche die von Mützel für die „Gartenlaube“ nach dem Leben gezeichneten beiden in Frage kommenden Menschenaffen mit vergleichendem Auge betrachten, derselben Ansicht sein werden, wie ich.

Um mich allgemein verständlich zu machen, muß ich, wohl oder übel, eine leibliche Beschreibung der betreffenden Menschenaffen geben, verspreche aber im voraus, dieselbe so kurz wie möglich fassen und später um so eingehender über die Lebensverhältnisse derselben berichten zu wollen.

Unter allen stellen wir den seit dem Jahre 1847 uns bekannten Gorilla (Anthropopithecus Gorilla) obenan, den riesigsten aller Affen überhaupt, ein ebenso gewaltiges wie entsetzliches, um mit dem alten Thierkundigen Geßner zu reden, „scheußliches“ Thier. Seinen Namen erhielt derselbe in Berücksichtigung eines uralten Berichtes des Karthagers Hanno, welcher erzählt, daß eine von seiner Vaterstadt ausziehende zahlreiche Auswanderergesellschaft mit wilden haarigen, von den Dolmetschern „Gorillas“ benamseten Menschen zusammengetroffen sei. Der Gorilla erreicht, vollkommen ausgewachsen, zwar nicht die Höhe eines großwüchsigen Mannes, übertrifft ihn aber sicherlich an Stärke und Gewicht. Die Höhe von der Sohle bis zum Scheitel beträgt 1,65 bis 1,70 Meter, die Breite von einer Schulter bis zur anderen 95 Centimeter, die Länge des Kopfes und auffallend gestreckten Rumpfes zusammengenommen 1,08 Meter, die Länge der Vorderglieder ebenso viel, die der Hinterglieder dagegen nur 75 Centimeter. Bezeichnend für den Gorilla sind: der lange Kopf mit stark hervortretenden Augenbrauenwülsten, eingesenkter Stirne und lang nach hinten gezogenem Hinterhauptstheile, der ziemlich weit vorgestreckte Kinntheil des Gesichts, das sehr kleine, dem des Menschen bis auf das stets entwickelte Läppchen ähnelnde Ohr, das überaus starke Gebiß, dessen Eckzähne eine ungeheuerliche Entwickelung erlangen und dessen hinterster unterer Backenzahn mit drei äußeren und zwei inneren Höckern nebst hinterem Anhange versehen ist, die ebenso starken wie langen, fast gleichmäßig dicken Vorderarme, die gewaltigen, breiten, wegen der bis zum zweiten Gliede verschmolzenen Mittelfinger im Handteller zwar lang, im Fingertheile aber kurz erscheinenden Hände mit zwar verhältnißmäßig starken, im Vergleiche zum Menschen aber doch immer sehr schwachen und kurzen Daumen, die kurzen Ober- und wadenlosen Unterschenkel und die ungemein breiten, klumpigen Füße, deren große Daumenzehe unter einem Winkel von 60 Grad von den übrigen, unter sich größtentheils ebenfalls verbundenen absteht. Das Gesicht bis zu den Brauenbogen und der Mitte der Jochbogen, die Ohrgegend seitlich und unten, die riesig dicken Finger von der Mitte des zweiten Gliedes an, die Sohlen und Seiten der Füße und die Obertheile der Zehen sind nackt, alle übrigen Theile behaart.

Der Strich der Haare verläuft auf dem Unterarme von unten nach oben, und auf den inneren Schenkeln von vorn und oben schief nach unten und hinten, im Uebrigen gleichmäßig von vorn nach hinten und unten. Die Haare verlängern sich auf dem Oberkopfe, an den Armen und Beinen, sind verkürzt oder abgerieben auf dem Rücken und stehen spärlich auf den Bauchseiten. Die Färbung der Haare ist bei dem Männchen wie bei dem Weibchen, beim Alten wie beim Jungen dieselbe: ein düsteres Dunkelgrau mit bräunlichem Schimmer, welcher auf dem Kopfe, in Folge der hier röthlichbraun zugespitzten Haare, in deutlicheres Grauroth übergeht, wogegen auf dem Rücken und an den Oberschenkeln, deren Fell in der Regel abgerieben wird, mehr die grobe Farbe zur Geltung kommt.

So viel man bis jetzt weiß, bewohnt der Gorilla die zwischen dem Gleicher und dem fünften Grade südlicher Breite gelegenen, von den Flüssen Gabun, Muni und Fernando Vaz durchströmten Länder West-Afrikas, jedoch weniger die an der Küste, als die weiter im Innern liegenden Striche. Wie weit sein Verbreitungskreis in das Innere von Afrika sich erstreckt, weiß man nicht.

Theilweise in denselben Gegenden, jedoch viel weiter nach Norden hin, bis zur Sierra Leona sich verbreitend, lebt diejenige Art von Menschenaffen, welche man allgemein Schimpanse (Anthropopithecus troglodytes) nennt, im Alterszustande aber noch immer nicht genügend kennt. Dieses Thier, ist jetzt [47] fast in allen größeren Thiergärten vertreten, und ich habe es allein in mindestens dreißig unter sich vollkommen übereinstimmenden Stücken gesehen und wenigstens ihrer acht, männliche und weibliche, jahrelang gepflegt. Es ist kleiner, kurzrumpfiger, kurzarmiger, wohl auch kurzbeiniger und schmalhändiger als der Gorilla, soll jedoch nach Versicherung der Eingeborenen ausgewachsen immerhin bis anderthalben Meter hoch werden. Sein Kopf ist rundlicher, sein Gesichtsausdruck minder thierisch, sein Ohr größer und weniger menschenähnlich, seine Hand dünn und lang, nicht allein schmäler, sondern auch länger, was sich namentlich in den wie bei der Menschenhand nicht zum größern Theile in eine Haut eingehüllten Fingern bemerklich macht. Der Daumen ist kleiner und schmächtiger, der Fuß ebenfalls verhältnißmäßig länger und schmäler als die betreffenden Theile beim Gorilla, der Leib ähnlich behaart wie bei diesem, das Haar jedoch zu beiden Seiten des Gesichts und Kopfs stärker entwickelt, auf dem Rücken in der Regel nicht abgescheuert, auch ein größerer Theil der Oberhand und des Oberfußes nackt. Die Färbung der Haare, mit alleiniger Ausnahme derer, welche das Kinn und spärlich die Schnauze sowie das Gesäß bekleiden und weiß aussehen, ist gleichmäßig dunkelschwarz; Augenbrauengegend, Vordergesicht von der Mitte der flachen Nase an, sowie das Ohr und die Hände und Füße, soweit sie nackt, haben lederfarbene, eine maskenartig die Augen umgebende Stelle und die Wangen schwarzgraubraune, die Haut des Kopfes bläulichgraue, der Haarboden des übrigen Leibes ebenfalls lederbraune Färbung.

Von beiden Menschenaffen unterscheidet sich derjenige, welcher in Dresden lebte, so auffallend, daß er mit keinem von ihnen verwechselt werden kann. Als ich dieses äußerst merkwürdige Thier am 26. August vergangenen Jahres zum ersten Male sah, erkannte ich sofort, daß ich keinen Schimpanse vor mir hatte, glaubte damals aber, vielleicht doch einen Gorilla in ihm erkennen zu dürfen. In diesem Sinne berichtete ich, bevor ich das einschlägliche Schriftthum genauer gewürdigt, an den in Frankfurt erscheinenden „Zoologischen Garten“, beiläufig gesagt, die einzige wissenschaftliche Zeitschrift, welche von der Verwaltung eines deutschen Thiergartens herausgegeben wird. Ich bekenne auch an dieser Stelle meinen Irrthum und nehme jene Aeußerung hiermit zurück. Besagter Affe ist gewiß kein Gorilla, ebenso sicher aber auch kein Schimpanse, also jedenfalls eine neue, beziehentlich durch die bisher veröffentlichten Beschreibungen noch nicht genügend bekannt gewordene Art. Am meisten scheint er mit dem von Franquet und Duvernoy aufgestellten Tschego übereinzustimmen, und nehme ich deshalb keinen Anstand, ihn vorläufig mit diesem Namen zu bezeichnen. Irre ich mich wiederum, so ist es kein Unglück: es genügt mir, die Aufmerksamkeit auf das Thier gelenkt und auch meinerseits zu ferneren Untersuchungen Veranlassung gegeben zu haben. Zur genaueren Beschreibung will ich mich derselben Worte bedienen, welche ich in der vollständig umgearbeiteten, demnächst (im Verlage des Bibliographischen Instituts zu Leipzig) erscheinenden zweiten Auflage meines „Thierlebens“ gebraucht habe.

Der Tschego (Anthropopithecus Tschego), welchem ich, falls meine Deutung der ursprünglichen Beschreibung Duvernoy’s nicht richtig sein sollte, unter Beibehaltung des landesüblichen den wissenschaftlichen Namen Anthropopithecus angustimanus verleihen würde, ist, wie uns das höchstens fünfjährige Weibchen des Dresdener Thiergartens bekundete, bedeutend größer als der Schimpanse und vielleicht nur wenig kleiner als der Gorilla. Schon das in Rede stehende, noch sehr junge Thier hatte etwa die Größe eines sechs- bis siebenjährigen Menschenkindes erlangt: seine Höhe betrug 110 Centimeter, die Rückenlänge 53 Centimeter, die Länge des Armes von der Schulter bis zur Handwurzel 15,5, die der Hand bis zur Spitze des Mittelfingers 26 Centimeter. Der verhältnißmäßig, namentlich im Vergleiche zu dem des Schimpanse, kleine Kopf sitzt auf kurzem Halse zwischen sehr breiten Schultern, welche so hoch gezogen sind, daß die wegen der nackten Kehle leicht erkennbaren Schlüsselbeine in ihrer Richtung der senkrechten sehr nahe kommen. Der Leib ist schlank, nach den Hüften zu bedeutend verschmächtigt, der Brustkorb ebenmäßig gerundet, nicht aber, wie bei dem Gorilla und Schimpanse, von vorn nach hinten zusammengedrückt, der Bauch eingezogen, wenigstens nicht vorgewölbt, der Leib überhaupt durchaus anders, weil verhältnißmäßig länger, in der Schultergegend viel breiter, in der Hüftengegend weit schmächtiger als der des Schimpanse.

Die vergleichsweise langen Arme sind sehr kräftig, die Hände ungemein schlank und schmal, verglichen mit einer großen Manneshand nur so breit wie jene ohne den letzten Finger. Der weit zurückstehende Daumen ist lang, aber merklich schwächer als die übrigen, unter sich ziemlich gleichmäßig entwickelten, kräftigen, jedoch nicht dicken, wie bei Mensch und Schimpanse nur durch kurze, nicht weit vorragende Bindehäute vereinigten Finger, unter denen die beiden mittelsten durch ihre Stärke hervortreten. Die Nägel ähneln bis auf den etwas mehr gewölbten des Kleinfingers denen der Menschenhand, sind aber ebenfalls kleiner, als hier; die kräftigen Beine scheinen verhältnißmäßig länger zu sein als bei irgend einem bekannten Menschenaffen; die wohlgestalteten Füße, welche schwache Knöchel, aber ziemlich entwickelte Fersen zeigen, sind sehr gestreckt; die mittleren Zehen fast bis zum Ursprunge des ersten Gelenkes frei, von der langen und starken Daumenzehe weit getrennt. Am Kopfe, welcher sich außer durch seine geringe Größe auch durch Schmalheit auszeichnet, fallen namentlich die sehr stark vortretenden, mit dicker, runzeliger Haut überdeckten Augenbrauenwülste und die ziemlich großen, abstehenden, ein kleines Läppchen tragenden Ohren auf. Erstere verleihen, weil sie die kleinen, lebhaften, braunen, rundsternigen, von vielen Falten umgebenen Augen zurücktreten lassen, dem Gesichte einen Ausdruck eigenthümlicher Wildheit; letztere ähneln denen des Schimpanse, weichen also weiter von denen des Menschen ab, als die des Gorilla. Die Nase ist sehr flach gedrückt, der Nasenrücken kurz, in der Mitte durch eine tiefe Längsfurche getheilt, die Nasenspitze flach gerundet, die Nasenscheidewand beträchtlich vorgezogen, jeder Nasenflügel wulstig verdickt, wodurch die erwähnte Wildheit des Gesichtsausdruckes sich steigert.

Von der Nasenwurzel bis zum Rande der Oberlippe bildet der Umriß des Gesichts eine fast gerade Linie und an den Lippen mit dem merklich zurücktretenden Kinne einen stumpfen Winkel. Die wie das Gesicht vielfach gefalteten, sehr dünnen, weit gespaltenen Lippen sind überaus beweglich und lassen sich noch bedeutend weiter vorstrecken, als die des Schimpanse. Zwischen den breiten, aber flachen Backen und dem Maule tieft sich eine Grube ein; eine andere befindet sich am hinteren Mundwinkel. Gesicht und der größte Theil des Vorderkopfes überhaupt, Ohrgegend, Kinn und Kehle, ein schmaler Hof um die Brustwarzen, Handteller und Fußsohlen, Finger und Zehen sowie die Mitte des Gesäßes sind nackt, oder doch nur sehr spärlich behaart, auch die Innenseite der Glieder, Brust, Bauch und Hinterrücken dürftig oder dünn bekleidet. Die im Allgemeinen dunkellederbraun gefärbte Haut geht in der Gesichtsmitte zwischen Augen, Jochbogen und Lippen in ein tiefes Schwarz über, welches auch auf den Brauenbogen noch zur Geltung gelangt, hier jedoch nicht das sammtige Gepräge zeigt, wie im Gesichte. Finger und Zehen, Handteller und Fußsohlen sehen blaugrau aus. Die Behaarung entwickelt sich im Gesichte zu einem an den Schläfenleisten beginnenden, über die hintere Wangengegend verlaufenden, die vordere Kehlgegend bekleidenden schmalen Backenbart, bildet auf der Mitte des Scheitels einen nach hinten sich verstärkenden Längsstreifen, verlängert sich sodann auf Hinterkopf und Nacken, Oberrücken und Schulter ein wenig, richtet sich im Allgemeinen von vorn nach hinten oder von oben nach unten, auf dem Unterarme jedoch umgekehrt von der Handwurzel nach dem Ellenbogen, am Oberschenkel nach der Vorderseite, ist vollkommen schlicht, glatt, glänzend und mit alleiniger Ausnahme einiger graulichen Härchen am Kinne und einiger weißlichen am Gesäße schwarz gefärbt, besitzt aber einen schwachen blauen Schimmer und spielt daher etwas in letztere Farbe.

Unser Menschenaffe stammt von der Loangoküste und zwar aus Majumba oder Mayumba und ist wahrscheinlich dasselbe Thier, welches schon der am Anfange des achtzehnten Jahrhunderts an der Loangoküste thätig gewesene Battel unter dem Namen „Ensego“ erwähnt, vielleicht auch mit Du Chaillu’s „Kulukamba“ gleichartig. Der schon Plinius unter dem Namen „Satyr“ bekannte Orang-Utan (Simia Satyrus) unterscheidet sich von allen afrikanischen Menschenaffen durch die verhältnißmäßig bedeutend längeren Arme, welche bis zu den Knöcheln der Füße [48] herabreichen, sowie den kegel- oder pyramidenförmig zugespitzten Kopf mit weit vorstehender Schnauze. Die Höhe des erwachsenen Orang-Utan beträgt bis 1,4 Meter, die Klafterbreite der Arme jedoch 2,4 Meter. Der Leib ist plump gebaut; der Bauch tritt stark hervor; der kurze Hals trägt vorn eine kropfartige Erweiterung, weil das Thier einen Kehlsack besitzt, welcher aufgeblasen werden kann. An den langen Gliedmaßen sitzen auch lange Hände und Füße, Finger und Zehen; die Daumenzehen tragen nicht immer platte, sondern oft krallenartig gewölbte Nägel. Das Gesicht ist häßlich, die Nase gänzlich flach gedrückt, die Nasenscheidewand weit über die Nasenflügel hinaus verlängert; die Lippen sind unschön, weil nicht allein gerunzelt, sondern auch etwas aufgeschwollen und aufgetrieben, Augen und Ohren klein, aber denen des Menschen ähnlich gebildet. In dem furchtbaren Gebisse treten die Eckzähne stark hervor und vermehren noch das Schnauzenhafte des Kinntheiles, welcher, des den Oberkiefer an Länge übertreffenden Unterkiefers halber, ohnehin weit vorgeschoben ist. Die Behaarung entwickelt sich im Gesichte bartähnlich und bildet zu beiden Seiten einen reichen Behang, deckt aber nur spärlich den Rücken und bekleidet dünn die Brust. Der Strich richtet sich auf dem Schädel, an dem Kinne und dem Unterarme nach aufwärts, übrigens abwärts; ihre Färbung ist ein dunkles Rost- oder Braunroth, welches auf Rücken und Schultern düsterer, am Bauche aber heller wird. Gesicht und Handflächen, Brust und Oberseite der Finger sind nackt und bläulich oder schiefergrau gefärbt. Alte Männchen unterscheiden sich von dem Weibchen durch bedeutendere Größe, dickeres und längeres Haar, reichlicheren Bart und eigenthümliche Schwielen oder Hautlappen an den Wangen, welche sich halbmondförmig von den Augen nach den Ohren hin und zum Unterkiefer herabziehen und das Gesicht auffallend verhäßlichen. Junge Thiere sind bartlos, jedoch nicht minder unschön als die Alten.

Das Verbreitungsgebiet des Orang-Utan beschränkt sich auf die Sundainseln Sumatra und Borneo.

Soviel zur äußerlichen Kennzeichnung unserer Thiere, deren Leben und Sein, Wesen und Treiben, deren Kampf um das Dasein und deren Verhältniß zu dem Menschen die nächsten Abschnitte behandeln werden.




Der Spiritismus,

eine geistige Verirrung unserer Zeit.
Von Dr. S. Th. Stein.
(Schluß.)
Sophie, die Somnambule, und Madame de B. – Krampfzustände und Hypnotismus: hypnotisirte Hühner und Menschen. – Die kleine Pariser Knopflochnäherin. – Die Mönche vom Berge Athos und die indischen Fakire als Zeugen des Hypnotismus. – Spiritistische Verirrungen bei sonst bedeutenden Männern. – Pflichten der Sanitätsbehörden gegenüber dem Spiritismus.

Auf dem Congresse zu Brüssel, über welchen wir in unserem ersten Artikel berichteten, waren noch andere merkwürdige Experimente zu schauen. Unter Anderem bat eine Somnambule während der Verhandlungen um’s Wort. Mademoiselle Sophie erhielt die Erlaubniß, zu sprechen. Sie erhob sich und erklärte, daß sie soeben einen Blick in die lichten Höhen gethan und die Aufforderung erhalten habe, die in sie gefahrene Kraft auszuüben. Der Präsident gestattete ihr ein freies Walten; sie erhob sich; mit geschlossenen Augen wanderte sie in die Mitte der Capelle und blieb vor einer Dame stehen, welche sich sofort in Positur setzte. Die Dame, Madame de B..........., wurde nun von der begeisterten Seherin, welche die Augen geschlossen hielt, einige Male mit den Händen bestrichen, worauf sie plötzlich in einen kataleptischen Krampfanfall verfiel, die Augen weit aufsperrte, an die Decke des Saales stierte und während einer Zeit von dreiundzwanzig Minuten regungslos, gleich einer Marmorstatue, festgebannt blieb. Oft wurde sie während dieser Zeit, sowohl von dem Präsidenten, wie den anderen Mitgliedern befragt, ob die Geister, die sie umschweben, ihr nicht eine Mittheilung an den Congreß aufzutragen beliebten. Als sie immer nicht aus ihrem Zustande erwachen wollte, erklärte die in einem eigenthümlich zitternden Zustande befindliche Somnambule, daß sie überzeugt sei, die Geister verschlössen der Frau de B........... den Mund. Was that sie nun? Sie griff mit gekrallter Hand der Frau de B........... auf die Lippen und machte, indem sie die Geister mit ihrer einen Hand vom Munde gleichsam abwischte, mit der andern Hand einige wegwerfende Bewegungen. Sie hatte die sprachfesselnden Geister vom Munde gejagt. Da, auf einmal fing die Dame wieder an sich zu regen und sagte auf Befragen des Präsidenten mit scharfer, halblauter Stimme – es war halb zwei Uhr Nachmittags –: „die Geister wünschen, daß wir jetzt die Sitzung schließen.“ Sofort wurde denn auch die Sitzung geschlossen, und unsere soeben noch in kataleptischem Zustande befindlich gewesene Dame entfernte sich beruhigten Schrittes aus dem Sitzungssaale. Nach beendigter Sitzung wurden ähnliche Experimente noch an zwei Frauen ausgeführt.

Derartige in Krampfzustände überleitende Einwirkungen auf nervös reizbare Personen gehören durchaus nicht zu den Seltenheiten, kommen dem Arzte sehr oft zur Beobachtung und sind häufig in das Gebiet der hysterischen Krämpfe zu verweisen. Besonders wird durch vieles Lesen aufregender Romane und durch Vorkommnisse, wie wir sie in diesem Aufsatze geschildert, die weibliche Phantasie krankhaft erregt und in einen verderblichen Zustand der Empfindsamkeit und Reizbarkeit versetzt.

Mannigfach auftretende eigenthümliche Erscheinungen im Nervenleben des Menschen und der Thiere, die im Laufe der Zeiten sowohl von ärztlicher wie nichtärztlicher Seite beobachtet wurden, und für welche eine hinreichend exacte Erklärung nicht gefunden war, gaben Veranlassung zu Aberglauben und zur Annahme von Wundern. Die bei sensitiven Menschen durch irgend welchen bisher unbekannt gebliebenen Anlaß hervorgerufene krampfartige, mit absoluter Empfindungslosigkeit gepaarte Apathie ließ die Lehren vom Somnambulismus, von der Hellseherei, von dem thierischen Magnetismus entstehen, und daraus erst entwickelte sich die Geisterseherei in ihrer heutigen Gestalt. Wenn auch mit den schärfsten Beweisen der Logik negativ gegen jenen Unsinn angekämpft wurde, so fehlt doch bis jetzt der positive naturwissenschaftlich-mathematische Beweis wider jene Irrlehren.

Vor einigen Jahren hat ein der Wissenschaft leider allzu früh durch den Tod entrissener Gelehrter, der Physiologe Johann Czermak, in diesen Blättern den Beweis geliefert, daß der sogenannte magnetische Einfluß auf einer Ermüdung der Gehirnnerven beruhe. Der schlafähnliche Zustand entwickele sich aus der Nervenabspannung, ein Zustand, welcher Schlafsucht, Hypnotismus, genannt wird. Czermak hat die bezüglichen beweisenden Experimente an Thieren versucht, indem er das Experiment der hypnotisirten Hühner vorführte. Diese Thiere verlieren ihr Bewußtsein und werden unempfindlich, wenn man sie zwingt, längere Zeit einen auf den Tisch gezogenen Kreidestrich zu fixiren. Professor Czermak hatte den Kreidestrich durch einfaches Vorhalten des Fingers vor den Schnabel der Thiere ersetzt, und auf diese Weise dieselben gezwungen, den Finger längere Zeit zu betrachten, wodurch ebenfalls der genannte Zustand hervorgerufen wurde.

Schreiber dieser Zeilen selbst hatte kürzlich Gelegenheit, ein ähnliches Experiment bei einem jungen Menschen zu beobachten. Es waren an einem gemüthlichen Abende mehrere Damen und Herren bei einer befreundeten Familie versammelt; man vertrieb sich die Zeit mit gesellschaftlichen Spielen, und, um der Unterhaltung eine belehrende Wendung zu geben, erbot ich mich, den Anwesenden das „magnetische“ Experiment mit dem Huhne vorzuführen. Wir ließen ein Huhn und ein Hühnchen bringen, und als Dritter im Bunde mußte ein Canarienvogel, welcher fröhlich sich in seinem Vogelbauer tummelte, herhalten. Die Experimente gelangen zum Staunen der Anwesenden; die Ansichten waren getheilt, ob Magnetismus oder Hypnotismus der Grund der Erscheinungen sei, und man forderte mich auf, dasselbe Experiment an einem der Anwesenden zu versuchen. Es waren mehrere eifrige Verfechter des Magnetismus zugegen, welche aus dem Erfolge, den das Experiment auf einen Menschen ausüben werde, einen Beweis für den thierischen Magnetismus herzuleiten sich bestrebten. Eine junge Dame setzte sich auf einen Sessel, [49] die Hände auf die Kniee gestützt; ich trat vor dieselbe und bat sie, die Augen einige Minuten lang scharf auf meinen gegen die Spitze ihrer Nase gehaltenen Zeigefinger zu richten. Dies geschah, jedoch ohne Erfolg; die Dame klagte nur, durch die Anstrengung ein gewisses unbehagliches Spannen im Kopfe zu empfinden. Die anwesenden Anhänger des Magnetismus dagegen meinten, auf diese Weise könne das Experiment nicht gelingen; es sei unerläßlich, kreisförmige Bewegungen um den Kopf des betreffenden Individuums zu beschreiben, damit die magnetischen Kräfte aus meinen Händen als Nervenfluidum auf die sitzende Person übergehen könnten.

In Folge dieser Gespräche und der sie begleitenden Manipulationen bemächtigte sich der ganzen Gesellschaft eine eigenthümliche Erregung. Ich entdeckte unter den Anwesenden einen blassen Jüngling, welcher für die Vorkommnisse ein ganz besonderes Interesse, eine gespannte Aufmerksamkeit zu haben und zu dem Experimente sehr geeignet zu sein schien. Auf meinen Vorschlag, ihn „magnetisiren“ zu wollen, ging er bereitwillig ein. Er setzte sich auf den Sessel, welchen die Dame verlassen hatte, während ich die Gesellschaft ersuchte, absolute Ruhe zu beobachten; hierauf hielt ich den Zeigefinger meiner rechten Hand senkrecht gegen den Nasenrücken meines jungen Freundes, indem ich mit der linken Hand seinen Kopf hielt. Nach einigen Minuten beschlich ihn ein eigenthümliches schweres Gefühl im Kopfe; ich forderte ihn auf, meinen Finger mit beiden Augen weiter scharf zu fixiren, welchem Verlangen er durch ein krampfhaftes Schielen nach einwärts nachzukommen versuchte. Da – plötzlich – ließ er beide Arme sinken, streckte zum Schrecken aller Anwesenden, die Beine weit aus, öffnete krampfhaft die Augenlider und starrte mit gebanntem Blicke ganz ähnlich wie Madame de B........... auf dem Brüsseler Spiritistencongresse, nach der Decke des Zimmers. Er war plötzlich in einen Zustand von wahrhafter Katalepsie und Hypnotismus verfallen, in eine Bewußtlosigkeit, welche neun und eine halbe Minute andauerte. Die Zeit wurde für die Zuschauer eine peinigend lange, aus dem Spiele war zu Aller Entsetzen ein ungeahnter Ernst geworden. Während des kataleptischen Zustandes war der Schlafende sowohl gegen Nadelstiche, als auch für jedes Anrufen unempfindlich. Ein vor seine Augen gehaltenes Licht machte auf seine Pupille durchaus keinen Eindruck; dieselbe blieb unbeweglich und starr, gleich als ob sie mit einer Atropinlösung, dem bekannten Mittel zur vorübergehenden künstlichen Lähmung der Ciliar-Augenmuskeln, behandelt worden wäre. Nach Ablauf der genannten Zeit fing unser Held sich zu regen an. Wir rüttelten ihn wach – er rieb sich die Augen, und nach einigen Minuten befand er sich wieder ganz wohl und in demselben normalen Stadium, wie vor dem Experimente; von den Vorkommnissen selbst wußte er Nichts; er glaubte kurze Zeit geschlafen zu haben.

Einen ähnlichen merkwürdigen Fall erzählt der berühmte französische Kinderarzt Dr. Bouchut in der zu Paris erscheinenden „Gazette des Hôpitaux“: Ein Mädchen von zehn Jahren, welches stets der besten Gesundheit sich erfreut hatte und niemals irgend welchem krampfartigen nervösen Leiden ausgesetzt war, wurde unter eigenthümlichen Umständen in das Kinderkrankenhaus gebracht. Die Kleine war fünf Monate vorher zum Lernen in eine Nähschule geschickt worden, woselbst sie tagtäglich dazu angehalten wurde, an Herrenwesten zu arbeiten. Bekanntlich ist es unter den Arbeiterinnen in Paris Gebrauch, daß sie ihre Kinder schon in frühester Jugend an eine Specialität gewöhnen, und so war unsere Kleine dazu ausersehen, sich eine specielle Uebung in der Anfertigung der Knopflöcher genannter Kleidungsstücke anzueignen. Nachdem sie diese Kunst gelernt und sich einen Monat lang mit der Bethätigung derselben beschäftigt hatte, trat in ihrer Arbeit eine kleine Pause ein. Als sie nach einigen Tagen die Arbeit wieder begann, verlor sie im Moment, wo sie ein Knopfloch einzufassen sich anschickte, ihr Bewußtsein und schlief eine Stunde. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war und ihre Arbeit wieder aufgenommen, fand derselbe Zufall immer wieder statt, wenn ein Knopfloch einzufassen war; stets trat ein neuer Schlafanfall ein. Die Umgebung glaubte, daß hier ein Zauber zu Grunde liege und daß jedesmal, wenn das Kind an die genannte Arbeit ging, ein böser Geist es von derselben abhalte. Merkwürdigerweise konnte das Kind jede andere Arbeit ausführen. Es konnte ungefährdet der Länge nach nähen, Schleifen machen, Perlen einfädeln und dergleichen, ohne in den genannten Schlaf zu verfallen. Einzig und allein die Knopflöcher hatten eine magische Gewalt über das kleine Wesen.

Diese Zufälle wiederholten sich acht bis zehn Mal am Tage. Die Mutter war trostlos, und unter diesen Verhältnissen brachte sie das Kind in’s Hospital zu Dr. Bouchut. Im Krankensaale ließ letzterer das Kind vor seinen Augen Knopflöcher nähen. Kaum hatte es einige Stiche gemacht, als es nach ungefähr einer Minute vom Stuhle fiel, ohne jeden Versuch sich zu schützen, fest auf den Boden aufschlug und daselbst vollkommen eingeschlafen war. Das Kind wurde zu Bette gebracht; es war von vollständiger Katalepsie der Arme und Beine befallen. Die Pupillen der Augen hatten sich erweitert; der Pulsschlag war langsamer geworden und vollkommene Unempfindlichkeit eingetreten; man konnte es an allen möglichen Stellen des Körpers kneifen und stechen, ohne ihm den geringsten Schmerz zu verursachen. Dieser anästhetische (empfindungslose) Zustand dauerte drei Stunden, worauf das Kind wieder zu sich kam und durchaus nichts Unangenehmes verspürte. Das Experiment wurde am andern Tage wiederholt, dauerte aber nur eine Stunde. Um eine Probe zu machen, ließ Dr. Bouchut am dritten Tage das Kind mit Aufmerksamkeit einen silbernen Bleistift fixiren, welchen er ihm zehn Centimeter von der Nasenwurzel entfernt vor die Augen hielt, und siehe da, dieselben Erscheinungen traten ein. Als das Kind wieder aufwachte, klagte es weder über Kopfweh noch über Augenschmerzen, noch war in den Körperfunctionen eine Unregelmäßigkeit eingetreten; Appetit, Verdauung und Blutcirculation waren normal.

Bei der Jugend der Kleinen ist Hysterie unbedingt auszuschließen, auch hatte der Zustand durchaus keinen epileptischen Charakter. Es war nur der oben geschilderte Hypnotismus eingetreten, die Abspannung der Nerven, der natürliche Schlaf, welchen die Magnetiseure seit Jahren zu ihren trügerischen Experimenten auszubeuten verstehen. Während das Kind sich anschickte, die Knopflöcher zu nähen, lenkte es beide Augen auf einen Punkt. Es trat in der directen Verbindung des Sehnerven mit dem Gehirn ein Reizzustand ein, und der momentane Hypnotismus war die Folge jenes Einflusses. Es kann durchaus nicht angenommen werden, daß ein so junges Kind sich interessant zu machen suchte, oder eine Täuschung im Spiele gewesen wäre. Der Vorgang ist vom physiologischen Standpunkte aus ganz natürlich zu erklären. Nachdem das Kind längere Zeit in dem Hospitale verweilt hatte, hörten die Zufälle allmählich auf und sind bei einiger Schonung der Augen nicht wieder zurückgekehrt. Daß bei vielen Menschen, welche sich mit sehr feinen Arbeiten befassen, durch Ueberanstrengung der Augen oft Kopfschmerzen und Reizzustände der Gehirnnerven eintreten, ist Jedermann bekannt. Daß diese Gehirnaffectionen bei empfindsamen Personen in Hypnotismus ausarten können, beweisen obige Beispiele. Die Erscheinung erklärt sich durch eine momentane Blutüberfüllung des Gehirns, welche mit Leichtigkeit durch den Augenspiegel constatirt werden kann. Dr. Bouchut untersuchte seine kleine Patientin mit dem genannten Instrumente vor, während und nach dem schlafähnlichen Zustande und fand, daß die aus dem Gehirn in das Auge eintretenden Blutgefäße während des hypnotischen Zustandes sich bedeutend erweitert hatten und der mit dem Gehirn in directer Verbindung stehende Hintergrund des Auges eine tiefrothe Farbe annahm, welche im wachen Zustande wieder verschwand.

Die Entdeckung des Hypnotismus bei den Menschen lehrt uns die Ursachen aller jener Vorkommnisse kennen, welche man bisher einer übernatürlichen Beeinflussung oder der Existenz eines sogenannten thierischen Magnetismus zugeschrieben hat. Indem wir nachgewiesen, daß die Ermüdung des Gesichtssinnes durch Fixirung des Blickes den Schlaf und eine eigenthümliche Abwesenheit der Sinne und besonders des Gefühls hervorbringt, ist der sogenannten Ekstase, mag sie mysterisch-religiöser oder spiritistischer Natur sein, der Boden entrückt. Der Hypnotismus nimmt den verschiedensten bisher berichteten Begebenheiten dieser Art den übernatürlichen Charakter; die Göttlichkeit des Wunders auf der einen Seite, das Fluidum des Magnetiseurs auf der andern Seite sind vernichtet; einzig und allein die feinen Nervengeflechte, welche die Blutgefäße regieren, begründen jene Erscheinungen; in der Ermüdung einiger Nervenstämmchen, deren Reiz eine erhöhte Blutcirculation im Gehirne bedingt, liegt die [50] Ursache der Ekstase, der Katalepsie, der Schmerzlosigkeit, der Hallucinationen, der Spiritisterei und aller betreffenden Verirrungen des menschlichen Geistes.

Derselbe Anlaß galt schon im vierten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung bei den Mönchen, die auf dem Berge Athos ihr Wesen trieben. Diese Mönche versetzten sich in einen eigenthümlichen ekstatischen Schlaf, der mit Gefühllosigkeit verbunden war, indem sie, entkleidet, längere Zeit gegenseitig den Mittelpunkt ihres Leibes fixirten. In Folge der langwährenden Ermüdung der Augen entstand jene Ekstase, welche historisch überliefert ist.

Ganz dasselbe findet bei den Fakiren von Indien statt, welche das Ende ihrer Nasen zum Gegenstande ihrer liebenden Blicke auswählen. Nach einiger Zeit glauben sie eine bläuliche Flamme zu sehen. Ihre Augen schließen sich; sie verlieren das Bewußtsein, werden unempfindlich, und es zeigen sich an ihnen alle jene mehr oder weniger charakteristischen ekstatischen Phänomene. Die kataleptischen Erscheinungen bei hysterischen Nonnen und exaltirten Mönchen haben überall denselben Grund. Sie beginnen mit scharfer Fixirung eines Objectes, eines Heiligenbildes oder eines Phantoms, welches ihre Gedanken beherrscht; es handelt sich um einen sensitiven Reiz, eine Art geistiger Wollust, welcher die Ekstase folgt, und deren Anfangspunkt immer als ein vorübergehender Reizzustand des Sehnerven nachzuweisen ist.

Die Anhänger des Spiritismus und modernen Geisterthums zählen in England, Amerika, Frankreich und Belgien schon nach Tausenden. Einundzwanzig periodische Zeitungen in allen modernen Sprachen, eine Anzahl von Flugblättern und Gelegenheitsschriften vermitteln den geistverwirrenden Verkehr zwischen den Anhängern der neuen Lehre, welche Letztere sich jetzt sogar auf die Thierseelen erstreckt.

Bei der Kenntnißnahme und der Beurtheilung wissenschaftlicher Fragen liebt eben der große Haufen weniger die Ergründung wahrer Thatsachen als den Autoritätsausspruch berühmter Personen. Der Werth einer geistigen Errungenschaft liegt ja im Allgemeinen für das sogenannte „gebildete“ Publicum leider weniger in der Bedeutung des Erzählten, als in der Stellung, die der Gelehrte einnimmt, der eine angeblich neue Entdeckung oder Beobachtung mittheilt.

So verhält es sich auch mit den Autoritäten des Spiritismus. Ihre reellen Errungenschaften auf dem Gebiete der Naturforschung werden von dem großen Haufen vergessen, nur die Schlacken ihres Geistes werden an’s Tageslicht gezogen und passend verwerthet. Wenn Männer wie William Crookes, der Entdecker des Thalliums, wenn R. Wallace, der Rival Darwin’s, wenn Varley, der berühmte Physiker der transatlantischen Kabelgesellschaft, „wissenschaftlich“ Gesetze aufstellen konnten, wie: das Gesetz der Schwere ist aufgehoben; die Körper können sich, von Geistern gehoben, in die Luft begeben; Töne jeglicher Art und Tonwellen können ohne nachweisbare Ursachen entstehen; Gegenstände können von einer Stelle eines Zimmers zur anderen, ohne Anwendung bekannter Kräfte befördert werden; menschliche Körper können in die Höhe steigen; Geistererscheinungen können sich verkörpern und berührbar werden; Geister können ohne Mitwirkung eines Menschen bleibende Schrift auf Papier hinterlassen, und dergleichen mehr: so können wir in der Beurtheilung der genannten Forscher nur entschuldigend annehmen, daß dieselben einer geistig krankhaften Erregung, einer sogenannten monomania spiritistica, zum Opfer gefallen sind.

Darf solchen Verirrungen gegenüber die ehrliche wissenschaftliche Forschung schweigen? Ist es da nicht Pflicht, mit allen zu Gebote stehenden aufklärenden Mitteln gegen jene Verirrungen des Geistes vorzugehen? – In der Physik werden alle bekannten Gesetze umgestoßen; in der Physiologie und Heilkunde werden die wahnsinnigsten Theorien zu Tage gefördert und die Heilung der Krankheiten den Eingebungen der Geisterwelt überlassen. Im socialen Leben werden die Geister in den wichtigsten Dingen befragt. Der Wahnsinn wird gleichsam mit Macht heraufbeschworen und verbreitet. Ist es da nicht die unumstößliche Pflicht der Sanitätsbehörden, jener Wächter der öffentlichen Gesundheitspflege, diese über die ganze civilisirte Welt sich erstreckende epidemische Geisteskrankheit einzuschränken und die durch Irrthum, Täuschung und Lüge erzeugten verkehrten Begriffe mit der leuchtenden Fackel der Vernunft zu beseitigen?

Der Ehrenrath der britischen Nationalgesellschaft der Spiritisten allein weist gegen neunzig Personen aus den besten Kreisen der englischen Gesellschaft auf; die Mitglieder selbst zählen nach Tausenden. Auch nach Deutschland greift in den jüngsten Jahren der Spuk herüber, und besonders die Stadt Leipzig bietet ein nennenswerthes Contingent von Geistergläubigen; man versucht von hier aus das Unheil in Deutschland einzubürgern. Wir werden trotzdem, bei dem gesunden naturwüchsigen Sinne unseres Bürgerthums und der guten Schulbildung, der man im Allgemeinen bei uns doch immer begegnet, kaum Gefahr laufen, die besten Errungenschaften unseres Jahrhunderts durch das Auftauchen mittelalterlicher Zauberei und Magie wieder einzubüßen. Wenn aber an der Verbreitung solcher Hirngespinnste anerkannte, bewährte Naturforscher sich betheiligen, dann dürfen Presse und exacte Wissenschaft nicht schweigen. Beide vereint müssen mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln und Kräften den modernen Aberglauben durch prüfendes Eingehen auf jene Verirrungen zu bekämpfen und zu vernichten suchen.

Aus den mitgetheilten Thatsachen geht mit unanfechtbarer Klarheit hervor, daß Erscheinungen, welche Jahrhunderte hindurch einem geheimnißvollen Einflusse zugeschrieben wurden, auf die einfachste Weise in den Errungenschaften der neueren Medicin ihre eingehende Erklärung finden. Schwärmerei, Phantasie und Irrthum müssen von nun an der Forschung, dem Studium und der Wissenschaft das Feld räumen. Lüge und Aberglauben werden ihr keckes Haupt nicht mehr zu heben wagen, nachdem die Physiologie des Nervensystems gezeigt hat, daß es in ihrer Gewalt stehe, jene natürlichen Phänomene willkürlich hervorzurufen.




Der Doppelgänger.

Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

„Sie haben Recht,“ entgegnete Falstner der Prinzessin, „es war ein abscheulicher Betrug – das habe ich, als ich furchtbar unter seiner Ausführung litt, mit jedem Tage mehr eingesehen. In jener Stunde aber – mein Gott, ich war so arm, so verlassen in der Welt, und eine Heimath zu finden hatte etwas so unwiderstehlich Verführerisches für mich – und dann, war ich nicht gewohnt, immer Werkzeug zu sein, mich Anderer Willen zu beugen, fremdem Einfluß als dem mein Leben bestimmenden Schicksal mich zu unterwerfen? Ich bin nicht schlecht, glauben Sie mir das, Durchlaucht –“

„Aber schwach, sehr schwach,“ antwortete, ihm streng und fest in’s Auge sehend, Prinzessin Elisabeth.

„Ja. Verdammt es mich oder entschuldigt es mich?“

„Erzählen Sie weiter! Eilen Sie! der Präfect wirft ungeduldige Blicke zu uns herüber.“

„Ich will deshalb,“ fuhr er fort, „nichts sagen von den Tagen, die nun folgten. Nichts von der Qual, in die ich gerieth, als ich Adelheid’s Erscheinung einen immer stärkeren Zauber auf mich ausüben fühlte und dann gewahrte, daß ihr Herz nicht mehr frei sei, daß es längst in leidenschaftlicher Liebe einem Anderen gehörte, während ich doch in der Sorge um eine mögliche Entdeckung meines Betrugs, um der Sicherheit meiner Zukunft willen auf ihre Hand nicht verzichten konnte. Durch diese Lage habe ich bitter gebüßt. Und dann kam der fürchterliche Augenblick, wo ich, im Begriffe zu Ihnen zu gehen, Durchlaucht, einen Mann vor mir auftauchen sah, der sich Uffeln nannte. Ich war wie vom Blitze gerührt. War das der Mann, den ich einmal in Spanien gesehen, der Mann, dessen Namen ich usurpirt hatte, oder war er es nicht, war es ein Fremder, der sich ebenfalls diesen Namen beigelegt hatte …“

„Erkannten Sie ihn denn nicht wieder?“

„Nein, nicht sicher, nicht gewiß; ich hatte[WS 1] ihn in Spanien [51] nur Abends, in einem schlecht beleuchteten Locale gesehen; damals war er in Uniform, jetzt in ganz anderem Anzuge. Und wenn die Unmöglichkeit, daß er dem Tode entgangen, zur Möglichkeit geworden wäre, weshalb war er dann nicht nach Wilstorp gekommen, sein Recht dort geltend zu machen? Nein, nein, er konnte, er durfte es nicht sein, und mit diesen Gedanken eilte ich heim, um Rath und Zuflucht bei dem Rentmeister zu suchen, dem ich freilich meine innere Angst, daß dieser Mann wirklich Uffeln sein könne, gar nicht anzuvertrauen wagte; er hätte mir dann ja die niederschmetterndsten Vorwürfe gemacht, daß ich, der ihm den Tod Uffeln’s als eine ganz unbestreitbare und felsenfest stehende Thatsache dargestellt, ihn damit hintergangen und ihn durch leichtsinnige Versicherungen in einen betrügerischen Handel verstrickt. Nein, Fäustelmann durfte ich die ganze peinigende Angst, welche mich erfüllte, nicht durchschauen lassen, und so zog er denn aus, um bei Ihnen, Durchlaucht, Ermittelungen anzustellen – er kam mit der festen Ueberzeugung zurück, der Mann, der mit so kühner Stirn sich Uffeln nannte, müsse ein Emissär der Alliirten sein, der sich, um besserer Sicherheit willen, frech jenen Namen beigelegt habe. Auch ich suchte mich bei diesem Gedanken zu beruhigen, und da der Fremde für uns verschollen blieb, da er Tag um Tag vorübergehen ließ, ohne mit Rechtsansprüchen hervorzutreten, die er doch geltend gemacht hätte, wenn er sie irgend gehabt, wiegte ich mich in eine falsche Sicherheit ein, bis endlich gestern die Katastrophe hereinbricht …“

„Gestern bereits? Und was ist da geschehen?“

Gestern, um die Dämmerung – eben wurde meine Verlobung mit Fräulein Adelheid gefeiert – da steht plötzlich, wie aus dem Boden emporgewachsen, dieser Herr von Uffeln vor uns und sagt mit spöttischer Ruhe, daß er bedauere, einen Mißton in den Einklang einer schönen Feststimmung gemüthreicher Menschen werfen zu müssen. Er sei nämlich Ulrich Gerhard von Uffeln, mit Herrn von Mansdorf zu gesammter Hand belehnter Vasall von Haus Wilstorp, und obwohl er auch nicht den geringsten Beweis dafür, nicht den kleinsten Fetzen von einem urkundlichen Papier, um sich zu legitimiren, habe, fordere er doch in größter Gemüthsruhe mich auf, ihm in’s Auge zu blicken und ihm zu sagen: er spreche eine Lüge.“

„Welche Scene!“ rief Prinzessin Elisabeth aus.

„Welche Scene in der That! Ich brauche die Verwirrung, die Ueberraschung, die Rathlosigkeit, das wilde Hin und Her, welches folgte, nicht zu schildern; ich könnte es auch nicht; ich war mehr todt als lebendig. Nur das Eine war mir klar: daß ich wirklich und wahrhaftig Uffeln vor mir hatte. Ich erkannte ihn jetzt; ich erkannte den Ton seiner Stimme, die breiten Lider seiner Augen, die mir schon damals in Spanien aufgefallen waren; ich erkannte ihn, ohne daß ich hinzuhören brauchte auf das, was er über die Art und Weise angab, wie er dem Füsilirtwerden entgangen sei. Ich war ja auch viel zu bestürzt, viel zu sinnberaubt dazu. Ich ließ mich willenlos von dem Rentmeister bei Seite ziehen, der mir zuraunte:

‚Seien Sie ein Mann! Weichen Sie keinen Fingerbreit! Nur um Gotteswillen den Kopf nicht verloren. Er gesteht selbst, keine Spur von einem Ausweise zu haben. Also bieten Sie ihm die Stirn, bis ich ihn unschädlich gemacht habe. Und dafür soll auf der Stelle gesorgt werden.‘

Und danach eilte er davon …“

„Um eine Denunciation anzubringen?“

„Gewiß, dazu …“

„Aber ich bitte Sie,“ unterbrach die Prinzessin Falstner, „was trieb den Rentmeister so, Ihre Sache als die seinige zu betrachten und, ohne zu untersuchen, gegen den echten Uffeln so leidenschaftlich Partei zu ergreifen? Er fürchtete, daß Sie, entlarvt, ihn als Ihren Verführer anklagen würden?“

„Ich weiß nicht, ob das allein. Er hätte dann ja leugnen können. Seine Triebfeder war ja eine andere, glaube ich, eine schon lang gehegte Berechnung des Eigennutzes. Ich war sein Geschöpf, er konnte mich zwingen, ihm um einen Spottpreis meinen Antheil am Gute zu überlassen, und ich zweifle nicht, daß das seine Absicht war, sobald er mich mit Fräulein Adelheid vermählt sah … den Antheil Mansdorf’s hätte er dann auch unter den leichtesten Bedingungen an sich gebracht.“

„Der abgefeimte Schleicher!“ rief die Prinzessin empört aus. „Und was wurde weiter?“

„Fragen Sie mich nicht! Ich weiß nur, daß ich zunächst Rettung vor den Augen, vor den Fragen der mich bestürmenden Menschen suchte, daß ich mich flüchtete, daß ich mich stundenlang im Walde umhertrieb und dann heimschlich, um in der frühesten Frühe mit den wenigen Habseligkeiten, an denen mein Herz hing, von Haus Wilstorp zu verschwinden, bevor noch eine Menschenseele dort erwacht sei und meinen Abzug beobachten könne. Ich führte dies in der Morgenfrühe glücklich aus. Kaum aber hatte ich das Haus verlassen und schlug eben den nach Idar führenden Weg ein, als ich zwei Gensd’armen in die Hände fiel, die mir entgegengeritten kamen und mich anhielten.

‚Wohin – wer sind Sie? Wir haben einen Verhaftsbefehl gegen Sie. Wie heißen Sie?‘ wurde ich angefahren.

Ich antwortete, indem ich meinen wahren Namen Falstner angab; daß ich mich Uffeln genannt, daß ich Officier in Spanien gewesen, gab ich dann zu, und darauf wurde ich verhaftet und nach Idar gebracht, und von da zurück zu dem geheimen Waffendepôt, bei dessen Erhebung ich zugegen sein sollte –“

„Und Sie protestirten nicht dagegen, daß Sie mit diesem Depôt etwas zu schaffen haben, daß Sie ein Emissär seien?“

Nein, ich protestirte nicht. Indem ich schwieg und mich als den Schuldigen behandeln ließ, schützte ich Uffeln vor der Verfolgung und Verhaftung. Es war das Einzige, was ich thun konnte, um den Betrug zu sühnen, zu dem ich mich hatte verführen lassen.“

„O, das ist edel von Ihnen,“ rief die Prinzessin aus. „Das ist edel und groß und versöhnt mich mit Ihnen. Aber wissen Sie, welchem Schicksale Sie sich dadurch aussetzen?“

„Freilich – dem Tode. Und ich will nicht unwahr sein, mir nicht die Miene geben, als fürchte ich den Tod nicht. Nein, ich fürchte ihn, und deshalb werde ich Alles aufbieten, ihm zu entgehen, sobald ich annehmen darf, daß Herr von Uffeln volle Zeit gehabt hat, sich zu retten. Man wird mich in die nächste Festung senden und dort vor eine Commission stellen; ich werde dort die Wahrheit sagen und mich vertheidigen, so gut ich kann und bis auf’s Aeußerste. Und jetzt, Durchlaucht, wissen Sie Alles – wollen Sie zu Fräulein Adelheid von mir reden?“

„Ich will es. Sie soll erfahren, was Sie entschuldigt, und auch das, was Sie wieder zu Ehren bringt – Alles, sie soll versöhnt an Sie denken. Wenn ich Ihnen zum Abschiede meine Hand gebe, zum Zeichen, daß ich Sie nur noch bemitleide, so mögen Sie darin im Geiste auch die Hand Adelheid’s erblicken, die Ihnen verzeiht.“

„Ich danke Ihnen aus voller Seele,“ antwortete Falstner, indem er die Hand der Prinzessin an die Lippen führte. –

„Ich glaube,“ sagte hier die Stimme des Präfecten, der herantrat, „es kommt die lange Unterredung der Herrschaften endlich zu einem Schlusse; ich müßte wenigstens darum bitten, Durchlaucht.“

Die Prinzessin wandte sich mit einer leichten Kopfneigung rasch von Falstner ab und schritt zu ihrem Vater zurück. Der Präfect gab dem Gensd’armen einen Wink, und Falstner kam diesem entgegen, um sich von ihm abführen zu lassen.

„Sie sind so rücksichtsvoll und milde, wie es Ihnen die Pflicht erlaubt, gegen den Unglücklichen, nicht wahr, Herr Präfect?“ sagte Prinzeß Elisabeth dann zu den Beamten.

„Da er das Glück hat, eine solche Fürsprecherin zu besitzen, so zweifeln Sie nicht daran!“ versetzte lächelnd der Präfect.

„Dann,“ fiel der Fürst ein, „trüben wir diese Ihre gute Stimmung nicht, indem wir Ihre kostbare Zeit noch länger in Anspruch nehmen.“

„Als ob ich nicht ganz und völlig zu Ihren Diensten stände, mein Fürst!“ sagte der Präfect mit einer Verbeugung und setzte dann hinzu: „Bevor Sie gehen, lassen Sie mich eine Bitte an Sie richten!“

„Verfügen Sie über mich!“

„Falls Sie in Ihrer Gegend – Sie wohnen ja, denke ich, schon so viel weiter östlich – falls Sie dort irgend eine sichere Kunde erhielten, daß sich diesseits der Weser Kosaken gezeigt, so lassen Sie es mich sofort wissen – sofort – senden Sie mir eine Estafette! Wollen Sie?“

„Wenn Sie es wünschen – gewiß.“

[52] „Ich wünsche es – ich verlasse mich darauf.“

„Ich verspreche es Ihnen.“

Man schüttelte sich die Hände. Der Präfect begleitete seinen fürstlichen Besuch hinaus bis auf den ersten Treppenabsatz, und nach einigen Augenblicken trabte das Viergespann wieder über den Platz vor dem Schlosse dahin.

„Hörtest Du das,“ war des Fürsten erstes Wort an seine Tochter, als sie wieder in ihrem Wagen saßen, „hörtest Du das, wie er von den Kosaken Nachricht haben wollte? Das sagt uns besser, wie die Dinge stehen, als hundert ihrer Zeitungen. Die Kosaken, sie fürchten sie schon diesseits der Weser auftauchen zu sehn. Bei Gott, wenn ich noch Souverän wäre, ich ließe bei der Rückkunft in Idar jetzt mit allen Glocken läuten und ein Tedeum singen. Die Kosaken diesseits der Weser! Aber wahrhaftig, die Estafette soll er haben, wenn sie beihelfen kann, ihn rascher einpacken zu machen.“

Der Fürst war so voll patriotischer Freude über dieses erste ihm kund gewordene Symptom jener Kosakenfurcht, die sich bald nachher unter den Franzosen unserer Gegend wie eine Art panischen Schreckens verbreitete und in oft lächerlichen Ausbrüchen verrathen sollte, daß Elisabeth ihn erst nach einer Weile auf das Nächstliegende zurückbrachte. Sie theilte ihm die ganze merkwürdige Enthüllung mit, welche sie eben erhalten hatte, und da sich jetzt herausgestellt hatte, daß der Mann, um dessen willen Beide die ganze Fahrt gemacht hatten, der rechte und wahre Erbe von Wilstorp sei, so fand der Fürst nichts einzuwenden, als seine Tochter nun voll Eifer und Erregung darauf drängte, daß man nach der Heimkehr zuerst und vor Allem diesem die Lage der Dinge kund thun und ihn vor einer falschen Sicherheit warnen müsse, die nur so lange dauerte, als Falstner’s Bekenntnisse sich gleich blieben. –




11.


Unterdeß hatte Herr Fäustelmann einen sehr üblen Tag verlebt. Am gestrigen Abend spät war er von Idar, von seiner geheimen Zwiesprache mit dem Gensdarmerie-Brigadier zurückgekommen und hatte eifrig sich nach seinem Schützling umgesehen, um sich zu vergewissern, daß dieser fest in seiner Rolle geblieben und seinem Gegner die Stirn geboten. Fäustelmann zweifelte nicht daran; es war ja eine so leichte Aufgabe, einen solchen Menschen, der selbst gestanden, daß er ohne eine Spur eines Beweises für seine Behauptungen sei, zu beschämen und abzuweisen. Aber wie Fäustelmann auch suchte und sich erkundigte, er fand seinen Schützling nicht; dagegen vernahm er, daß, nachdem die anderen Herren sich entfernt, der neu aufgetauchte Uffeln sich mit der Herrschaft noch lange unterhalten und dann ebenfalls gegangen sei.

Am heutigen Morgen war es dann förmlich wie Schlag auf Schlag über ihn gekommen. Herr von Mansdorf hatte ihn schon in der Frühe zu sich holen lassen.

„Aber nun bitte ich Sie, Fäustelmann,“ hatte er ihm entgegen gerufen, „was sagen Sie zu dieser Geschichte? Wie konnten wir uns so täuschen lassen!“

„Täuschen? Sind wir denn getäuscht? Ich glaube das nicht. Ich halte den Menschen, der gestern mit einer so frechen Stirn vor uns trat, für einen Schwindler.“

„Für einen Schwindler? Ihn? Wenn Sie ihn hätten länger reden hören, so würden Sie das nicht thun, und ich bitte Sie, wenn er das wäre, weshalb brauchte dann der Andere vor ihm Reißaus zu nehmen; weshalb brauchte er wie ein begossener Hund sich fortzustehlen?“

„Ah – ich hoffe nicht …“

„Gewiß – er hatte, das Weite gesucht, ist auf und davon, ist verschwunden, ohne nur an Einen von uns ein Wort der Vertheidigung oder Erklärung zu richten. Spricht das nicht deutlich genug? Und wenn Sie den Andern hätten reden hören – aber wo waren Sie denn? Sie waren ja auch verschwunden und fort wie in den Erdboden gesunken.“

Herr Fäustelmann fand nicht für gut, hierüber eine Auskunft zu geben; er blickte nur in höchster Betroffenheit seinen Herrn an und wiederholte:

„Also er ist fort? Uffeln ist fort?“

„Ihr Uffeln, ja. Glauben Sie es nicht? Gehen Sie in sein Zimmer hinauf! Von den Leuten hat ihn heute Morgen da keiner mehr gesehen – vielleicht daß Sie mit Ihren Geisteraugen glücklicher sind.“

„Dann,“ versetzte Fäustelmann, indem er tief aufathmete, „dann allerdings muß er sich schuldbewußt fühlen und uns getäuscht haben.“

„Das ganz gewiß,“ entgegnete Herr von Mansdorf, „und ich habe nach Plümer gesendet, um mit ihm zu überlegen, ob man ihn verfolgen soll; Plümer wird, hoffe ich, bald hier sein, mit dem Doctor Günther, nach welchem meine Frau gesendet hat, weil Adelheid von allem dem so erschüttert und angegriffen ist, daß sie, wie ich fürchte, im Fieber liegt.“

Herr Fäustelmann strich sich mehrmals mit der Hand über sein aschfahles Stirnhaar und sagte sich, daß er jetzt mit seiner Denunciation einen recht dummen Streich gemacht – wie furchtbar war er compromittirt, wenn die Welt sie erfuhr! Und sein so schön aufgebauter Plan, Herr von Wilstorp zu werden, lag nun auch am Boden. Der war nun zerstört durch dieses Auftauchen eines todtgeschossenen Menschen, welcher jetzt als Lebender frisch und gesund umherging – wie das zu erklären, wie das möglich, das ging über Fäustelmann’s praktische Kunde vom Geisterreich hinaus. Sein Uffeln mußte ihn abscheulich belogen haben. Plümer, der Justitiar, kam sehr bald. Sein ganzes schlaues Gesicht glühte vor Aufregung; seine Blicke stachen ordentlich in Fäustelmann’s betroffene Mienen hinein.

„Nun, das wird immer besser,“ rief er aus, als er eben eingetreten war, „immer besser. Wissen Sie die neuesten Neuigkeiten aus Idar, Herr von Mansdorf?“

„Aus Idar? Ich weiß nichts.“

„Man hat ein Waffendepôt in der Kropp aufgehoben. Runkelstein’s Kindersärge. Schöne Särge! Kisten mit Musketen. Und dazu hat man sich einen Emissär eingefangen – und wissen Sie, wen? Eben unseren falschen Uffeln, unseren charmanten Lehensvetter, der obendrein beinahe noch Ihr Schwiegersohn geworden wäre.“

„Ihn,“ rief Fäustelmann aus, „ihn hat man eingefangen – verhaftet?“

„Ihn – ich habe ihn mit eigenen Augen über den Markt führen sehen.“

Das war der zweite Schlag für Herrn Fäustelmann. – War dieser Mensch verhaftet, so gestand er ohne allen Zweifel die Rolle, die er in Wilstorp gespielt, nicht ohne Beschuldigungen Fäustelmann’s als seines Verführers, ein.

„Ihn!“ wiederholte er deshalb ganz tonlos und verwünschte dabei innerlich die Dummheit der französischen Schergen, denen er doch deutlich gesagt hatte, wer der Emissär sei, dessen Persönlichkeit er ihnen doch auf’s Genaueste beschrieben zu haben glaubte. Lange über diese für ihn schreckliche Verwechselung zu grübeln, dazu ließ Plümer jedoch dem Rentmeister keine Zeit, denn er fuhr fort:

„Und nun muß Alles aufgeboten werden, herauszubringen, wem diese abscheuliche Verrätherei, diese Denunciation an die Franzosen zu danken ist – der Bösewicht muß exemplarisch bestraft werden. Widmer, der patriotische Apotheker, sagt, er kenne schon Leute, die bereit sein würden, im Stillen ein Volksgericht über ihn zu halten, und auch solche, die sich nichts daraus machten, ihn nach altem gutem Väterbrauch an eine Eiche zu knüpfen. Widmer ist außer sich und wird den Schuldigen herausbringen, ehe vierundzwanzig Stunden vergehen. Verrathen die Gensd’armen nichts, so wallfahrtet Widmer darum nach M., wo einer seiner Vettern Schreiber auf der Präfectur ist und ihm im Stillen einen Einblick in die Acten nicht verwehren wird.“

Das war nun der dritte Schlag für Herrn Fäustelmann, der nach so viel Aufregung das lebhafte Bedürfniß empfand, ein wenig freie Luft zu schöpfen und über die Unsicherheit menschlicher Berechnungen nachzudenken. Er sagte, daß ihn Leute auf seinem Bureau erwarteten, und daß er gehen müßte, um sie abzufertigen. –

Unterdeß war der Doctor Günther bei der erkrankten Adelheid angekommen. War bei diesem Wiedersehen auch Frau von Mansdorf zugegen gewesen, so hatte dies die beiden jungen Leute doch nicht hindern können, sich durch ihre strahlenden Blicke das Glück dieses Wiedersehens auszudrücken, und dies Glück schmolz denn auch in Adolf so sehr alles Gefühl von Zorn und Bitterkeit gegen Frau von Mansdorf, daß er es

[53]

Mosel und Simson kurz vor der Katastrophe.
Originalzeichnung von Marinemaler Fedeler in Bremerhaven.

[54] nicht über sich gewinnen konnte, den Racheplan, mit dem er gekommen, auszuführen und der Mutter den Zustand, in den durch sie ihr Kind gebracht worden, als recht bedrohlich und sorgenerregend vorzustellen. Bedrohlich fand er diesen Zustand ja in der That nicht; er wußte, daß während einiger Tage der Schonung das Gefühl inneren Glückes Adelheid so kräftigen und herstellen werde, daß er fast nur zur Beruhigung der Ihrigen etwas aus den Droguentöpfen Widmer’s verschrieb.

Doch sagte er, als er ging und Frau von Mansdorf ihn in’s Vorzimmer begleitete, um noch unter vier Augen seinen Ausspruch über Adelheid’s Zustand zu vernehmen, offenherzig zu der heute sehr kleinlaut gewordenen und bekümmert dreinschauenden Dame:

„Danken Sie Gott, gnädige Frau, daß es nicht schlimmer ist, und hüten Sie sich ja, wieder solche Experimente mit Fräulein Adelheid’s Herzen anzustellen! Dazu hat der Himmel ihm nicht die nöthige Härte gegeben – Gewalt dürfen Sie ihm nicht anthun wollen oder Sie verlieren Ihr Kind. Ich will Ihnen auch nicht verhehlen, daß Fräulein Adelheid’s Herz mir gehört, daß ich allein der Arzt bin, durch den sie gesunden kann, und daß Sie sich deshalb gefallen lassen müssen, daß dieser Arzt sie von nun an in ununterbrochene treue Pflege nimmt. Ich werde deshalb jetzt täglich wiederkehren, und Sie, nicht wahr, gnädige Frau? sind eine zu gute besorgte Mutter, um dies hindern zu wollen.“

„Es ist das zwar,“ versetzte trübe lächelnd Frau von Mansdorf, „eine merkwürdige Art von Ausbeutung der ärztlichen Autorität, wenn der Doctor seinen Kranken als Heilmittel sich selbst verschreibt – oder gar am Ende als sein Honorar für ärztliche Bemühungen den Patienten selber in Anspruch nimmt.“

„Es ist das allerdings,“ fiel der Doctor scherzend ein, „in der Medicinaltaxordnung nicht vorgesehen, aber doch auch nicht verboten. Und da, was Heilmittel betrifft, diese sich immer auf’s Genaueste nach dem speciellen Falle richten müssen, den Fall aber nur der Arzt beurtheilen kann, so werden Sie ihn, gnädige Frau“ – der Doctor setzte das mit einem bittenden Blicke und weicherer Stimme hinzu – „in seiner Curmethode nicht stören und hindern wollen.“

Frau von Mansdorf seufzte.

„Ich bin ja freilich selbst schuld, daß ich den Doctor habe die Krankheit hervorrufen lassen. So werd’ ich mich denn auch wohl nicht dawider auflehnen dürfen, daß er sie nun heilt.“

Sie reichte ihm langsam und ein wenig widerstrebend die Hand, die er nichtsdestoweniger lebhaft und glücklich an seine Lippen zog.


(Schluß folgt.)




Louise.


Zur hundertjährigen Geburtstagsfeier der Mutter unseres Kaisers.


(Fortsetzung.)


Dazu erkrankten noch ihre jüngeren Kinder auf der in der rauhen Jahreszeit doppelt beschwerlichen Reise; sie selbst erlag den auf sie einstürmenden Gemüthsbewegungen und verfiel in ein Nervenfieber, von dem sie jedoch in verhältnißmäßig kurzer Zeit genas. „In dieser Krankheit,“ bezeugt die bekannte Gräfin Voß, ihre Oberhofmeisterin, „habe ich den Muth und die Gelassenheit meiner theuren Königin wieder recht erkannt. Ihr Leben ist ihr selbst nur von Werth um ihres Mannes und ihrer Kinder willen, und die vollständige Ergebung in den Rathschluß des Allerhöchsten giebt ihr diese große Geduld und tiefen, inneren Frieden.“ – Kaum genesen, mußte sie mitten im Winter das vom Feinde bedrohte Königsberg verlassen und nach Memel flüchten. In Betten gehüllt, wurde sie auf elenden Wegen fortgebracht und, zu schwach zum Gehen und in Ermangelung eines Sessels, auf den Armen eines Dieners in ihre Wohnung getragen, aber keine Klage, kein unwilliges Wort entschlüpfte den bleichen Lippen der starken Dulderin, welche mit rührender Ergebung ihr hartes Geschick trug.

Unterdessen schlug sich der Rest des preußischen Heeres, in Verbindung mit der russischen Armee unter Bennigsen, mit anerkennungswerther Tapferkeit gegen den überlegenen Feind. Nach der zweifelhaften Schlacht bei Eylau, wo Napoleon große Verluste erlitten, schickte dieser einen seiner Generale mit vortheilhaften Friedensvorschlägen an den König, welche dieser jedoch, aus Rücksicht auf seine Bundesgenossen zurückwies. Die Königin, welche von Memel wieder nach Königsberg zurückgekehrt war, bestärkte ihn in seinen hochherzigen Entschlüssen, obgleich sie am meisten unter den Drangsalen des Krieges litt. Leider sollte ihr Vertrauen auf Alexander bitter getäuscht werden. Nach der unglücklichen Schlacht bei Friedland sah sie sich von Neuem gezwungen, die Flucht zu ergreifen. „Es ist,“ schrieb sie an ihren Vater, wieder ein ungeheures Ungemach über uns gekommen, und wir stehen auf dem Punkte, das Königreich zu verlassen. Bedenken Sie, wie mir dabei ist; doch bei Gott beschwöre ich Sie, verkennen Sie Ihre Tochter nicht! Glauben Sie ja nicht, daß Kleinmuth mein Haupt beugt! Zwei Hauptgründe habe ich, die mich über Alles erheben. Der erste ist der Gedanke: wir sind kein Spiel des bloßen Zufalls, sondern wir stehen in Gottes Hand, und die Vorsehung leitet uns – der zweite: wir gehen in Ehren unter. Der König hat es bewiesen. Der Welt hat er bewiesen, daß er nicht Schande, sondern Ehre will. Preußen wollte nicht freiwillig Sclavenketten tragen. Auch nicht einen Schritt hat der König anders handeln können, ohne seinem Charakter ungetreu und an seinem Volke zum Verräther zu werden. Wie dieses stärkt, kann nur der fühlen, den wahres Ehrgefühl durchströmt.“

Noch war der Kelch des bitteren Leids nicht bis zum Grunde geleert. Von der stockrussischen Partei gedrängt, welche sich nicht länger für die persönliche Freundschaft der Monarchen schlagen wollte, schloß Kaiser Alexander auf Kosten Preußens seinen Frieden mit Napoleon, so daß dem Könige nichts übrig blieb, als sich dem Sieger zu unterwerfen, der, in seiner Eitelkeit durch den edlen Stolz des unglücklichen, aber nicht gedemüthigten Fürsten beleidigt, diesen mit rücksichtsloser Brutalität behandelte und ihn die ganze Wucht seines Zornes fühlen ließ. Da die Umgebung Friedrich Wilhelm’s des Dritten und auch Alexander’s durch die Gegenwart der Königin die schwebenden Verhandlungen zu fördern und mildere Bedingungen zu erlangen hoffte, so wurde der Wunsch ausgesprochen, die hohe Frau möge den Verhandlungen in Tilsit beiwohnen. Louise entschloß sich, wenn auch mit Widerstreben, diesen Wunsch zu erfüllen.

Von dem Dorfe Piktupönen[WS 2] wo der König während der Verhandlungen in einem Bauernhause wohnte, fuhr die Königin mit einer Escorte von französischen Garden in Begleitung der Gräfinnen Voß und Tauenzien nach Tilsit, wo jene historische Zusammenkunft stattfand. Eine Stunde nach ihrer Ankunft erschien Napoleon mit seiner glänzenden Suite, um sie zu sehen. Er ritt einen kleinen arabischen Schimmel; Generale hielten ihm den Steigbügel, als er sich vom Pferde schwang. Er hatte die Reitpeitsche in der Hand und trug den bekannten kleinen Hut, mit dem er nach allen Seiten hin grüßte. Der König und die Prinzen kamen ihm bis zur Haustreppe entgegen. Ohne sich aufzuhalten, ging er sogleich hinauf zur Königin, welche er äußerst höflich anredete. Mit bewunderungswürdiger Feinheit empfing sie den Kaiser, indem sie bedauerte, daß er genöthigt worden sei, eine so unbequeme Treppe zu ihr hinaufzusteigen; dann erkundigte sie sich, wie seiner Gesundheit das nördliche Klima während des Winters bekommen, worauf sie erst den eigentlichen Beweggrund ihrer Reise berührte. In brüskem Tone unterbrach er sie mit der Frage: „Aber wie konnten Sie den Krieg mit mir anfangen?“

„Sire,“ erwiderte die Königin, „dem Ruhme Friedrich’s des Großen war es erlaubt, uns über unsere Kräfte zu täuschen, wenn anders wir uns getäuscht haben.“

Auch der König benahm sich mit Würde, und als Napoleon die im Verlaufe des Gespräches ihm zugemuthete Aufopferung der alten Provinzen als gewöhnliche Wechselfälle des Kriegsglückes bezeichnete, gab ihm dieser zu verstehen, daß Napoleon [55] sich leichter über einen solchen Fall hinwegsetzen könne, da er nicht wisse, was es heiße, angestammte Länder zu verlieren, in denen die theuersten Erinnerungen wurzelten und die man so wenig vergessen könnte, wie seine – Wiege.

„Was Wiege!“ spottete Napoleon. „Wenn das Kind ein Mann geworden, hat es keine Zeit mehr, an seine Wiege zu denken.“

„Doch, doch,“ entgegnete der König mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit. „Seine Jugend kann man so wenig vergessen, wie verleugnen, und ein Mann von Herz wird sich dankbar der Wiege erinnern, in der er als Kind lag.“

Bei der gemeinschaftlichen Tafel, wozu Napoleon die Königin geladen, war oder schien er sehr guter Laune und sprach eifrig und fast ausschließlich mit ihr; auch nach Tisch setzte er die Unterhaltung noch lebhaft fort, deren Resultat sie befriedigte. Sein ganzes freundliches Benehmen rechtfertigte den Glauben, daß der stolze Sieger, gerührt durch das Schicksal des unglücklichen Monarchen und durch die Schönheit und Liebenswürdigkeit der hohen Frau, geneigt sein werde, Großmuth zu üben und seine harten Forderungen zu ermäßigen. Um so größer war daher die Enttäuschung, als Graf Golz von einer Audienz bei Napoleon zurückkam, worin der Kaiser mit dürren Worten erklärt hatte, daß Alles, was er der Königin gesagt, nur höfliche Phrasen gewesen wären, die ihn zu nichts verpflichteten. Trotzdem versuchte sie noch einmal, sein Herz zu rühren, um von ihm billigere Bedingungen zu erlangen. Im Fortgehen sagte sie ihm: sie würde abreisen und empfinde es tief, daß er sie getäuscht habe. Wie man erzählt, soll Napoleon ihr zum Abschiede eine Rose von seltener Schönheit überreicht haben. Sie schien jedoch geneigt, diese Gabe abzulehnen, besann sich aber und nahm die Rose mit den Worten: „Zum Mindesten mit Magdeburg,“ worauf er kurz erwiderte: „Belieben Eure Majestät zu bedenken, daß ich es bin, der darbietet, und daß Eure Majestät nur anzunehmen haben.“

Unter solch traurigen Verhältnissen wurde der Friede unterzeichnet, welcher dem Könige fast die Hälfte seiner Länder kostete und dem Staate unerschwingliche Lasten auferlegte. „Der Friede,“ schrieb die Königin „ist geschlossen, aber um einen schmerzlichen Preis; unsere Grenzen werden künftig nur bis zur Elbe gehen – dennoch ist der König größer als sein Widersacher. Nach Eylau hätte er einen vortheilhaften Frieden machen können, aber er hätte freiwillig mit dem bösen Princip unterhandeln und sich mit ihm verbinden müssen – jetzt hat er unterhandelt, gezwungen durch die Noth, und wird sich nicht mit ihm verbinden. Das wird Preußen einst Segen bringen. Auch hätte er nach Eylau einen treuen Alliirten verlassen müssen; das wollte er nicht. Noch einmal: die Handlungsweise des Königs wird ihm Glück bringen; das ist mein fester Glaube.“

In dieser Zeit der größten Noth erkannte Friedrich Wilhelm der Dritte die begangenen Fehler und zugleich die Nothwendigkeit, dem dahinsiechenden Staatsleben einen neuen Geist einzuhauchen und die in seinem Volke schlummernden oder durch eine schlechte Verwaltung gefesselten und unterdrückten Kräfte zu wecken. Damals erinnerte er sich des einzigen großen Staatsmannes, dessen Warnungen und Rathschläge er in seiner Verblendung zurückgewiesen, den er aus seinen Diensten, verführt von seiner beschränkten oder böswilligen Umgebung, ungnädig entlassen hatte. Hauptsächlich durch die Vorstellungen der Königin ward der König bewogen, den von ihm verabschiedeten Freiherrn von Stein zurückzurufen und wieder an die Spitze der Regierung zu stellen. Dieser rechtfertigte durch eine Reihe durchgreifender Reformen und segensreicher Maßregeln das in ihn gesetzte Vertrauen. Bald stieß er jedoch auf Hindernisse und Intriguen von Seiten seiner alten Gegner, der feudalen Junker, der Schwächlinge und der französisch gesinnten Friedenspartei am Hofe, so daß er mehr als einmal im Begriffe stand, sein mühevolles Amt niederzulegen.

Nur die Königin, welche den vollen Werth eines solchen Mannes mit dem ihr eigenen Scharfblicke erfaßte und zu schätzen wußte, hielt ihn zurück und vermittelte mit echt weiblicher Milde und Klugheit zwischen dem unentschlossenen, vor jedem entscheidenden Schritte zurückschreckenden, peinlich ängstlichen Könige und dem schroffen, stolzen, energischen Freiherrn. Sie bat und beschwor den Minister, auszuharren, indem sie ihm unter Anderem den folgenden Brief schrieb:

„Ich beschwöre Sie, haben Sie nur Geduld in den ersten Monaten! Der König hält gewiß sein Wort; Beyme kommt weg, aber erst in Berlin. So lange geben Sie nach, daß um Gottes willen das Gute nicht um drei Monate Geduld und Zeit über den Haufen falle. Ich beschwöre Sie um König, Vaterland, meiner Kinder, meiner selbst willen. Darum – Geduld!

Louise.“

Sie selbst nahm in dieser Zeit, wo sie in Königsberg lebte, den innigsten Antheil an der Wiedergeburt des Staates und an der Erweckung des Volkes. Besonders beschäftigte sie sich mit der Erziehung und dem Unterrichte der Jugend, die sie mit Recht für die Hauptquellen und Stützen eines gesunden Lebens hielt. Lebhaft interessirte sie sich für die damals aufblühende Lehrmethode des berühmten Pädagogen Pestalozzi in der Schweiz, über den sie sich nicht nur Bericht erstatten ließ, sondern dessen Schriften sie mit großem Eifer durchforschte. „Ich lese jetzt,“ schrieb sie, „‚Lienhard und Gertrud, ein Buch für’s Volk von Pestalozzi‘. Es ist mir wohl mitten in diesem Schweizerdorfe. Wäre ich mein eigener Herr, so setzte ich mich in meinen Wagen und rollte zu Pestalozzi in die Schweiz, um dem edeln Manne mit Thränen in den Augen und mit einem Händedrucke zu danken. Wie gut meint er es mit der Menschheit! Im Namen der Menschheit danke ich ihm. – Eine Stelle in dem Buche gefiel mir besonders, weil sie so wahr ist: ‚Leiden und Elend sind Gottes Segen, wenn sie überstanden sind.‘ – Ja, inmitten meines Elends sage ich schon: Es ist Gottes Segen. Wie viel näher bin ich bei Gott! Wie deutlich sind meine Gefühle zu Begriffen geworden über die Unsterblichkeit der Seele! Nicht ohne Thränen schmilzt das schöne Siegel – nicht wahr?“

Schon in Memel trieb sie geschichtliche Studien mit Benutzung der historischen Vorlesungen des später zum Staatsrath ernannten Professor Süvern, welche sie sich durch den ihr ergebenen originellen Kriegsrath Scheffner zu verschaffen wußte. Mit diesem hatte sie öfters auch lange Unterredungen über die Erziehung des talentvollen, hoch begabten Kronprinzen. Aus den Lehren der Geschichte und dem Verkehr mit bedeutenden Männern, zu denen auch der bekannte Bischof Borewski zählte, schöpfte sie Trost für die traurige Gegenwart und Hoffnung für die dunkle Zukunft, indem sie zwar für ihre Person auf das Glück verzichtete, aber von dem Sieg des Guten und von dem Walten einer weisen und gerechten Vorsehung durchdrungen war. Diese Gesinnung sprach sie in einem ihrer[WS 3] herrlichsten Briefe an ihren Vater aus, welcher ihr Glaubensbekenntniß enthält und das schönste Zeugniß für Herz und Geist der hohen Frau ablegt:

„Bester Vater! Mit uns ist es aus, wenn auch nicht für immer, doch für jetzt. Für mein Leben hoffe ich nichts mehr. Ich habe mich ergeben, und in dieser Ergebung, in dieser Fügung des Himmels bin ich jetzt ruhig und in solcher Ruhe, wenn auch nicht irdisch glücklich, doch, was mehr sagen will, geistig glückselig. – Es wird mir immer klarer, daß Alles so kommen mußte, wie es gekommen ist. Die göttliche Vorsehung leitet unverkennbar neue Weltzustände ein, und es soll eine andere Ordnung der Dinge werden, da die alte sich überlebt hat und in sich selbst als abgestorben zusammenstürzt. Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrich’s des Großen, welcher, der Herr seines Jahrhunderts, eine neue Zeit schuf. Wir sind mit derselben nicht fortgeschritten; deshalb überflügelte sie uns. – Das sieht Niemand klarer ein, als der König. Noch eben hatte ich mit ihm darüber eine lange Unterredung, und er sagte in sich gekehrt wiederholentlich: das muß auch bei uns anders werden. –

Gewiß wird es besser werden: das verbürgt der Glaube an das vollkommenste Wesen. Aber es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß der Kaiser Napoleon Bonaparte fest und sicher auf seinem, jetzt freilich glänzenden Thron ist. Fest und ruhig ist nur allein Wahrheit und Gerechtigkeit, und er ist nur politisch, das heißt klug, und er richtet sich nicht nach ewigen Gesetzen, sondern nach Umständen, wie sie eben sind. Dabei befleckt er seine Regierung mit vielen Ungerechtigkeiten. Er meint es nicht redlich mit der guten Sache und den Menschen. Er und sein ungemessener Ehrgeiz kennt nur sich selbst und sein persönliches Interesse. Man muß ihn mehr bewundern, als man ihn lieben kann. Er ist von seinem Glück geblendet, und er meint Alles zu vermögen. Dabei ist er ohne Mäßigung, und wer nicht [56] Maß halten kann, verliert das Gleichgewicht und fällt. Ich glaube fest an eine sittliche Weltordnung. Diese sehe ich in der Herrschaft der Gewalt nicht; deshalb bin ich in der Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird. – Hier, lieber Vater! haben Sie mein politisches Glaubensbekenntniß, so gut ich, als eine Frau, es formen und zusammensetzen kann.

Gern werden Sie, lieber Vater, hören, daß das Unglück, welches uns getroffen hat, in unser eheliches und häusliches Leben nicht eingedrungen ist, vielmehr dasselbe befestigt und uns noch werther gemacht hat. Der König ist der beste Mensch, ist gütiger und liebevoller, als je. Oft glaube ich in ihm den Liebhaber, den Bräutigam zu sehen. Mit einem Worte, er gefällt mir in allen Stücken und ich gefalle ihm, und uns ist am wohlsten, wenn wir zusammen sind. Verzeihen Sie, lieber Vater, daß ich dies mit einer gewissen Ruhmredigkeit sage! Es liegt darin der kunstlose Ausdruck meines Glückes, welches Keinem auf der Welt wärmer am Herzen liegt, als Ihnen, bester, zärtlichster Vater! Gegen andere Menschen, auch das habe ich von dem Könige gelernt, mag ich davon nicht sprechen; es ist genug, daß wir es wissen. – Unsere Kinder sind unsere Schätze, und unsere Augen ruhen voll Zärtlichkeit auf ihnen. Der Kronprinz ist voller Leben und Geist. Er hat vorzügliche Talente, die glücklich entwickelt und gebildet werden. Er ist wahr in allen seinen Empfindungen und Worten, und seine Lebhaftigkeit macht Verstellung unmöglich. Er lernt mit vorzüglichem Erfolge Geschichte, und das Große und Gute zieht seinen idealischen Sinn an sich. Für das Witzige hat er viel Empfänglichkeit, und seine komischen überraschenden Einfälle unterhalten uns sehr angenehm. Er hängt vorzüglich an der Mutter, und er kann nicht reiner sein, als er ist. Ich habe ihn sehr lieb und spreche oft mit ihm, wie es sein wird, wenn er einmal König ist.

Unser Sohn Wilhelm wird, wenn mich nicht Alles trügt, wie sein Vater, einfach, bieder und verständig. Auch in seinem Aeußeren hat er die meiste Aehnlichkeit mit ihm, nur wird er nicht so schön. Sie sehen, lieber Vater, ich bin noch in meinen Mann verliebt. Unsere Tochter Charlotte macht mir immer mehr Freude; sie ist zwar verschlossen und in sich gekehrt, verbirgt aber, wie ihr Vater, hinter einer scheinbar kalten Hülle ein warmes, theilnehmendes Herz. Karl ist gutmüthig,[WS 4] fröhlich, bieder und talentvoll; körperlich entwickelt er sich ebenso gut wie geistig. Er hat oft naive Einfälle, die uns zum Lachen reizen. Er ist heiter und witzig. Er wird, ohne die Theilnahme an dem Wohle und Wehe Anderer zu verlieren, leicht und fröhlich durch’s Leben gehen. – Unsere Tochter Alexandrine ist, wie Mädchen ihres Alters und Temperaments sind, anschmiegend und kindlich. Sie zeigt eine richtige Auffassungsgabe, eine lebhafte Einbildungskraft und kann oft herzlich lachen. Sie hat Anlage zum Satirischen und sieht dabei ernsthaft aus, doch schadet das ihrer Gutmüthigkeit nicht. Von der kleinen Louise läßt sich noch nichts sagen. Möge sie ihrer Ahnfrau, der liebenswürdigen und frommen Louise von Oranien, der würdigen Gemahlin des großen Kurfürsten, ähnlich werden!

Da habe ich Ihnen, geliebter Vater, meine ganze Galerie vorgeführt. Sie werden sagen: das ist ja eine in ihre Kinder verliebte Mutter, die an ihnen nur Gutes sieht und für ihre Mängel und Fehler keine Augen hat. Und in Wahrheit, böse Anlagen, die für die Zukunft besorgt machen, haben sie nicht. Umstände und Verhältnisse erziehen den Menschen, und für unsere Kinder mag es gut sein, daß sie die ernste Seite des Lebens schon in ihrer Jugend kennen lernen. Wären sie im Schooße des Ueberflusses und der Bequemlichkeit groß geworden, so würden sie meinen, das müsse so sein. Daß es aber anders kommen kann, sehen sie an dem ernsten Angesichte ihres Vaters, und an der Wehmuth und den öfteren Thränen der Mutter. Meine Sorgfalt ist meinen Kindern gewidmet für und für, und ich bitte täglich Gott in meinem sie einschließenden Gebete, daß er sie segnen und seinen guten Geist nicht von ihnen nehmen möge. Erhält Gott sie uns, so erhält er mir meine besten Schätze, die Niemand mir entreißen kann. Es mag kommen, was da will, mit und in der Vereinigung unserer Kinder werden wir glückselig sein.“


(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Ein vierundsiebenzigjähriger politischer Verbrecher. Unsere entfernten, namentlich jenseits der deutschen Grenzen wohnenden Leser bitten wir, den Jahrgang von 1864 der „Gartenlaube“, S. 68, aufzuschlagen. Dort steht vor ihnen der Volksredner, der jetzt, als Greis, das büßt, was er als Volksschriftsteller nach der Ansicht strenger Altgläubigkeit gegen die Ehre der „Kirche“ zu viel gewagt. Das Urtheil ist rechtskräftig geworden durch den Spruch der höchsten Instanz; wir haben es also zu respectiren und beugen uns gehorsam vor der amtlichen Pflichterfüllung.

Ludwig Würkert, den jetzt Verurtheilten, von dem jener illustrirte Artikel von 1864 erzählt, wie er, einer der angesehensten Geistlichen, gefeiertesten Kanzelredner und theologischen Schriftsteller Sachsens, seine Theilnahme an der Volkserhebung von 1849 mit jahrelangem Zuchthaus ersten Grades in Waldheim gebüßt, dann, um Amt, Vermögen und Familie gekommen, sich als Schriftsteller und Dichter durch rastlosen Fleiß wieder eine bescheidene Habe erworben, haben wir damals als Eigenthümer und Leiter des „Hôtel de Saxe“ in Leipzig verlassen, das er zu einer originellen Redehalle „für Volksbildung, Volksveredelung und Volksermuthigung“ erhoben hatte. Später finden wir ihn wieder als Prediger und Wanderredner der frei-religiösen Gemeinde in Hanau, von wo er endlich in einen stillen Winkel seiner Heimath, bei Leisnig, sich zurückzog, noch immer rüstigen Geistes und Körpers blos noch literarischen Arbeiten lebend. Sein reger Trieb, an den geistigen Kämpfen der Zeit, besonders auf religiösem Gebiet, nach seinen Kräften Theil zu nehmen, bewog ihn, den reichen Stoff, den er als Volksredner angesammelt, zu verarbeiten und in einer periodischen Schrift „Die Feldkirche“ niederzulegen; die Theilnahme, welche dieses Werk in den Volkskreisen gefunden hatte, ermuthigte den grauen Kämpfer zur Begründung einer neuen frei-religiösen Wochenschrift, die er seit einem Jahre unter dem Titel „Freie Glocken“ herausgiebt und die durch das jüngste Schicksal des schwergeprüften Greises wohl die allgemeinere Beachtung erwirbt, die sie verdient.

Ein in der genannten Zeitschrift abgedrucktes, ein „Osterwort“ einleitendes Gedicht ist es, welches die Bestrafung L. Würkert’s herbeiführte. Dieses Gedicht sammt dem ganzen Osterwort ist schon früher veröffentlicht worden, namentlich zu Gunsten der Hinterbliebenen Roßmäßler’s in mehreren Auflagen gedruckt, weit verbreitet und damals nirgends beanstandet worden. Zu seiner Vertheidigung gab L. Würkert eine „Schutzschrift“ (Leipzig, Verlag von Thiele und Freese) heraus, auf welche wir diejenigen Leser, welche der Angelegenheit ihre nähere Aufmerksamkeit schenken wollen, verweisen müssen. Sie hat freilich so wenig, wie die ausgezeichnete juristische Vertheidigung seines Rechtsbeistandes Ficker, eines seiner alten Gesinnungs- und Leidensgenossen, der selbst einst als politischer Verbrecher von zwei Instanzen zu lebenslänglichem Zuchthause verurtheilt worden war, die Kerkerstrafe von dem tapferen Alten abwenden können. Ludwig Würkert sitzt, wenn der Leser diese Zeilen liest, in seiner Gefängnißzelle auf Schloß Mildenstein bei Leisnig. Möge der ehrwürdige Greis auch diese Prüfung ungebrochen überstehen! Niemand wird seine Theilnahme einem Manne versagen, den selbst seine strengsten Richter nur hochachten können und den wir als einen unserer treuesten und muthigsten Kämpfer für Geisteslicht und Menschenrecht zu verehren haben.

Fr. Hfm.




Bremerhaven. Zu dem Berichte eines Augenzeugen über die Explosion in Bremerhaven (in unserer vorigen Nummer) bringen wir denjenigen Gartenlaubenlesern, denen die Oertlichkeit des himmelschreienden Verbrechens unbekannt ist, auf Seite 53 eine Abbildung. Sie stellt den Hafenplatz in dem Augenblicke vor dem Ausbruche des Unglücks dar. Zur Linken steht der Schleppdampfer „Simson“; das größte Lloydschiff „Mosel“ wird soeben von den letzten Mitreisenden bestiegen. Vor dem Dampfer packt man das schwere Faß ab, dessen geheimes Schlagwerk, wahrscheinlich durch Aufstoßen auf das Bodenpflaster, vorzeitig den Vernichtungsstoff entzündet und seine Zerstörung noch im Angesichte der Menschen vollbracht hat, während nach dem teufelischen Plane des Urhebers das ewigschweigende Meer sein einziger Zeuge sein sollte. Wir wiederholen hier die Bitte an unsere Leser, auch dieses Bild als einen Hülferuf für die beklagenswerthen Hinterbliebenen der so schrecklich Hingeschlachteten betrachten zu wollen.



Kleiner Briefkasten.


Frau Mathilde Boer in Berlin. „Aus der Pension. Briefe einer Fünfzehnjährigen an eine Siebenzehnjährige. Frei nach dem Englischen von Sophie Verena“, kurz vor Weihnachten bereits in zweiter Auflage bei I. Guttentag in Berlin erschienen, ist von außen und innen ein liebreizendes Buch, das wir Ihnen zu dem angegebenen Zwecke auf das Dringendste empfehlen. Der ganze Duft der Jugend weht aus diesen Blättern, deren neckischer Humor den tiefen Ernst des Lebens mildert, auf dessen Grunde sie wurzeln. Sie werden selten eine Lectüre finden, die eine so anmuthige Unterhaltung und zugleich so werthvolle Anregung bietet und jedes Alter und Geschlecht auf gleiche Weise fesseln und befriedigen wird. Auf der englischen Unterlage hat Sophie Verena ein deutsches Werk geschaffen, dem kein Vorzug ihrer Originalschöpfungen fehlt.

Tr–r.

A. M. in R. Wie kommen Sie darauf, den in unserem Artikel über den Berliner Börsen- und Gründungsschwindel (Nr. 51, 1875) genannten Banquier Louis Bamberger (Mitgründer der Potsdamer Brauerei) mit dem Abgeordneten Dr. Ludwig Bamberger in Verbindung zu bringen? Die beiden genannten Herren haben durchaus nichts mit einander gemein.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hätte
  2. Vorlage: Pictügöhren; heute: Piktupėnai
  3. Vorlage: ihren
  4. Vorlage: gutmüthtg