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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[21]

No. 2.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Der Commerzienrath bog um die westliche Seite des Hauses. Hier waren nur zwei Fenster im Erdgeschoß beleuchtet; ziemlich nahe dem einen brannte eine Hängelampe und warf die helle Gluth der rothen Gardine so weit hinaus, daß der weiße Leib der steinernen Brunnennymphe drüben vor der Boscage in einem vollen Rosenlichte schwamm. Der Commerzienrath schüttelte den Kopf; er trat in das Haus, ließ sich von einem herbeieilenden Diener den Ueberzieher abnehmen und öffnete die Thür des Zimmers, in dem sich die rothen Vorhänge befanden. Der ganze Raum war roth; Tapeten, Möbelbezüge, selbst der Teppich, der sich über den Fußboden hinspannte, trug die satte, dunkle Purpurfarbe. Unter der Hängelampe stand ein Schreibtisch, ein Möbel von wunderlicher Form, in chinesischem Geschmacke schwarz lackirt, mit Goldgeäder und feinen Goldarabesken; es war ein Arbeitstisch im vollsten Sinne des Wortes; aufgeschlagene Bücher, Papierhefte und Zeitungen bedeckten seine breite Platte, auch ein dickes Manuscript mit quer darüber hingeworfenem Stifte lag da, und daneben stand auf einem kleinen, runden Silberteller ein Kelchglas, zur Hälfte mit dunklem, schwerem Rothweine gefüllt. Das war ein Zimmer, wo keine Blume gedeiht, wo kein Vogel sein störendes Lied singen darf. In den vier Ecken, auf Säulenstücken von schwarzem Marmor, standen lebensgroße Büsten aus demselben Material, das die strenggeschnittenen Köpfe noch herber und härter im Ausdrucke erscheinen ließ, und die eine lange Wand nahmen Büchergestelle ein; sie harmonirten in Farbe und Ausschmückung mit dem Schreibtische und bargen eine ansehnliche Bibliothek in ihren Fächern, schöngebundene Bücher neuesten Datums, aber auch Folianten in Schweinsleder und ganze Stöße abgegriffener Brochüren. Fast schien es, als sei hier das tiefe, gleichmäßige Roth als Grundton nur gewählt, um den Ernst des Gedankens in der Gesammteinrichtung hervorzuheben.

Als der Commerzienrath auf die Schwelle trat, blieb die Dame, die offenbar da auf- und abgegangen war, inmitten des Zimmers stehen. Man hätte meinen mögen, auch sie sei eben von draußen hereingekommen, direct aus dem Schneegestöber mit überschneitem Gewande, so blendend weiß stand sie auf dem rothen Teppich. Es ließ sich schwer bestimmen, ob die weichen Falten des langen Cachmirkleides lediglich aus Bequemlichkeit so lässig um Hüften und Taille geschürzt waren, oder ob diesem außergewöhnlichen Arrangement ein sorgfältiges Toilettenstudium zu Grunde liege – jedenfalls hob sich die Gestalt von dem dunkelpurpurnen Hintergrunde edel in jeder Linie und taubenhaft weiß ab wie eine Iphigenie. Die Dame war sehr schön, wenn auch nicht mehr in der ersten Jugend. Sie hatte ein feines Römerprofil und zartgefügte, jugendlich biegsame Glieder; nur das aschblonde Haar entbehrte der Fülle; es war kurz verschnitten und bauschte sich, von der Stirn zurückgestrichen, in kleinen durchsichtigen Locken um Kopf und Hals. Das war Flora Mangold, die Schwägerin des Commerzienraths Römer, die Zwillingsschwester seiner verstorbenen Frau. Sie hatte die Arme leicht unter der Brust verschränkt und sah ihrem Schwager mit sichtlicher Spannung entgegen.

„Nun, Flora, Du bist nicht drüben?“ fragte er, mit dem Daumen die Richtung des Salons bezeichnend.

„Was denkst Du denn? Ich werde mich wohl in Großmamas Theeklatsch setzen, zwischen Strümpfe und Wickelschnuren für arme Kinder und Altweibergeschwätz,“ versetzte sie herb und geärgert.

„Es sind auch Herren drüben, Flörchen –“

„Als ob die sich auf den Klatsch nicht noch besser verstünden, trotz Orden und Epauletten!“

Er lachte. „Du hast schlechte Laune, ma chère,“ sagte er und ließ seine schlanke Gestalt in einen Lehnstuhl sinken.

Sie aber warf plötzlich mit einer heftig schüttelnden Bewegung den Kopf zurück und preßte die festverschlungenen Hände gegen den Busen. „Moritz,“ sagte sie wie athemlos, wie nach einem augenblicklichen Ringen mit sich selbst, „sage mir die Wahrheit – ist der Schloßmüller unter Bruck’s Messer gestorben?“

Er fuhr empor. „Welche Idee! Nun wahrhaftig, Euch Frauen ist doch nie ein Unglück schwarz genug –“

„Moritz, ich bitte mir’s aus,“ unterbrach sie ihn mit einer stolzen Kopfbewegung.

„Nun ja, allen Respect vor Deiner Begabung und Deinem ungewöhnlichem Verstande, aber machst Du es denn besser als die Anderen?“ Er durchmaß aufgeregt das Zimmer – diese ungeahnte Auffassung des Ereignisses traf ihn wie vernichtend. „Unter Bruck’s Messer gestorben!“ wiederholte er mit tief erregter Stimme. „Ich sage Dir, gegen zwei Uhr hat die Operation stattgefunden, und vor kaum zwei Stunden ist der Tod eingetreten. Uebrigens fasse ich nicht, wie gerade Du den Muth findest, einen solchen Gedanken so kurz und bündig, fast möchte ich sagen, so mitleidslos auszusprechen.“

[22] „Gerade ich!“ betonte sie. Bei diesen energischen Worten drückte sie den vorgestreckten Fuß sichtlich tiefer in den Teppich. Gerade ich, weil ich nichts Todtgeschwiegenes in meiner Seele dulde – das solltest Du wissen. Ich bin zu stolz, zu wenig hingebend, um die dunkle Verschuldung eines Anderen mitzuwissen und zu verhehlen – sei dieser Andere, wer er wolle! Glaube ja nicht, daß ich dabei nicht leide! Mir geht ein Schwert durch’s Herz, aber Du hast das Wort ‚mitleidslos‘ gebraucht – verdächtiger konntest Du Dich nicht ausdrücken. Mitleid haben mit der Stümperei in der Wissenschaft, das ist absurd, geradezu unmöglich. Darüber aber bist Du doch, so gut wie ich, im Klaren, daß Bruck’s Ruf als Arzt bereits stark gelitten hat durch die gänzlich mißrathene Cur der Gräfin Wallendorf.“

„Ja, ja, die gute Frau hat ihrer Liebhaberei für Gänseleberpastete und Champagner um keinen Preis entsagt.“

„Das behauptet Bruck – die Verwandten haben es widerlegt.“ Sie preßte die Handfläche an die Schläfen, als schmerze ihr der Kopf heftig. Weißt Du, Moritz, als die Nachricht von dem Unglück in der Mühle herübergebracht wurde, da bin ich wie sinnlos draußen im Freien auf- und abgestürmt. In allen Schichten der Bevölkerung war der alte Sommer gekannt, alle Welt interessirte sich für die Operation. Sei es denn, wie Du sagst, daß er nicht sofort unter Bruck’s Händen den Geist aufgegeben hat – die Sachverständigen werden mit Recht behaupten, er habe eben nur, vermöge seiner robusten Natur, einen verlängerten Kampf gekämpft. Willst Du als Laie das besser wissen? Leugne doch nur nicht, daß Du dieselbe Ueberzeugung hegest! Du solltest Dich nur sehen, wie blaß Du bist vor innerer Bewegung.“

In diesem Augenblick that sich eine Seitenthür auf, und die Präsidentin Urach erschien auf der Schwelle. Trotz ihrer siebenzig Jahre konnte man wohl von ihr sagen: sie kam schwebenden Schrittes näher; trotz ihrer siebenzig Jahre war sie eine wunderlich jugendliche Großmama. Sie trug nicht einmal die wohlthätig verhüllende Mantille des Alters; ein weißer, auf den Rücken geknüpfter Spitzenfichu legte sich knapp um Brust und Taille, und auf der perlgrauen Seidenschleppe bauschte ein reichgarnirtes Ueberkleid. Ihr ergrautes, aber noch von glänzenden Streifen der ehemaligen Goldfarbe durchzogenes Haar war in dicken Puffen um die Stirn gesteckt, und über dieser Haarkrone lag schleierartig weißer Blondentüll, dessen lange Enden den Hals und die untere Kinnpartie, diese unerbittlichen Verräther des vorgerückten Alters, zugleich verhüllten.

Sie kam nicht allein. Neben ihr schlüpfte ein wunderliches Wesen herein, eine im Wachsthum sehr unterdrückte Gestalt, nicht gerade unproportionirt in den Gliedern, aber doch auffallend klein und erschreckend mager, und auf diesem dürftigen Körper saß der starkentwickelte Kopf einer jungen Dame von vielleicht vierundzwanzig Jahren. Die drei im Zimmer anwesenden Frauenköpfe trugen ein und denselben Familienzug – man erkannte sofort die enge Beziehung zwischen der Großmutter und den Enkelinnen; nur bei der Jüngsten erschien das edle, ebenmäßige Profil zu sehr in die Länge gezogen; auch trat das Kinn breiter und energischer hervor. Sie hatte einen kränklichen Teint und seltsam bläuliche Lippen. Durch ihr blondes Haar schlangen sich feuerfarbene Sammetbänder – sie war überhaupt in eleganter Gesellschaftstoilette; nur hing origineller Weise da, wo andere Damen ein Margarethentäschchen tragen, ein ovales Weidenkörbchen, weich gefüttert mit blauen Atlaskißchen, zwischen denen ein Canarienvogel saß.

„Nein, Henriette!“ rief Flora ungeduldig und heftig, als das Vögelchen sofort sein Nest verließ und wie ein Pfeil über ihren Kopf hinflog, „das leide ich absolut nicht. Deine Menagerie lässest Du draußen!“

„Ich bitte Dich, Flora – Hans hat weder Elephantenfüße noch Hörner am Kopfe; er thut Dir nichts,“ sagte die kleine Dame gleichmüthig. „Komm, Hänschen, komm!“ lockte sie das Thierchen, das droben an der Decke kreiste; es kam sogleich pflichtschuldigst herunter und setzte sich auf ihren ausgestreckten Zeigefinger.

Flora wandte sich achselzuckend ab. „Ich begreife Dich und die Anderen drüben wahrhaftig nicht, Großmama,“ sagte sie scharf. „Wie mögt Ihr nur Henriettens Kindereien und Narrheiten dulden? Sie wird Euch nächstens auch ihre sämmtlichen Tauben- und Dohlennester in den Salon schleppen.“

„Ei ja – warum denn nicht, Flora?“ lachte die Kleine und zeigte eine Reihe feiner, scharfer Zähnchen. „Die guten Leute müssen sich ja auch gefallen lassen, daß Du wo möglich mit der Feder hinter dem Ohr einhergehst und stets alle Taschen voll Stubengelahrtheit mitbringst –“

„Henriette!“ unterbrach sie die Präsidentin streng verweisend. Es war eine wahrhaft fürstliche Hoheit in jeder ihrer Bewegungen; auch in der graciösen Art, wie sie dem Commerzienrath ihre schlanke Hand begrüßend hinreichte, lag bei sehr viel Güte und Freundlichkeit dennoch eine nicht zu verkennende Herablassung.

„Wir haben drüben erfahren, daß Du endlich zurückgekommen bist, lieber Moritz; sollen wir noch länger warten?“ fragte sie mit ihrer schönen, immer noch weichen Frauenstimme.

Noch vor zehn Minuten hatte er mit dem festen Vorsatz, schleunigst in den Frack zu schlüpfen, das Haus betreten – jetzt sagte er zögernd und unsicher: „Theuerste Großmama, ich möchte Sie bitten, mich für heute zu entschuldigen – der Vorfall in der Mühle –“

„Nun ja, der Vorfall ist traurig genug, aber weshalb sollen auch wir darunter leiden? … Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich Dich vor meinen Freunden entschuldigen soll.“

„Sie werden doch nicht so schwer von Begriffen sein, die guten Freunde, um nicht zu verstehen, daß Käthe’s Großpapa gestorben ist?“ warf Henriette über die Schulter herüber ein – sie stand vor einem Bücherbrett und las, wie es schien, eifrig die Vignetten.

„Henriette, ich verbitte mir ernstlich Deine naseweisen Bemerkungen,“ sagte die Präsidentin. „Du magst meinetwegen Deinen feuerfarbenen Haarschmuck ein wenig moderiren; denn Käthe ist Deine Stiefschwester, mir und Moritz aber liegt diese Verwandtschaft so weltenfern, daß wir für uns dem Trauerfall officiell keinerlei Bedeutung zugestehen können, so sehr ich ihn auch beklage. Ich möchte überhaupt nicht, daß die Sache an die große Glocke geschlagen würde – Bruck’s wegen – je weniger über den Vorfall gesprochen wird, desto besser.“

„Mein Gott, seid Ihr denn Alle so ungerecht gegen den Doctor?“ rief der Commerzienrath in ausbrechender Verzweiflung. „Ihm ist auch nicht der allergeringste Vorwurf zu machen; er hat seine ganze Kunst, sein ganzes Wissen aufgeboten –“

„Lieber Moritz, darüber mußt Du meinen alten Freund, den Medicinalrath von Bär, hören!“ unterbrach ihn die Präsidentin und klopfte ihn leicht auf die Schulter. Sie winkte bedeutungsvoll mit den Augen nach Flora, die an ihren Schreibtisch getreten war.

„O, genire Dich nur nicht, Großmama! Glaubst Du denn, ich sei so blind und dumm, um mir nicht selbst zu sagen, wie Bär urtheilt?“ rief das schöne Mädchen bitter. Ihre Lippen zuckten wie im Krampf. „Uebrigens hat Bruck bereits sich selbst gerichtet, er hat nicht gewagt, mir heute Abend noch unter die Augen zu treten.“

Henriette hatte bis dahin mit dem Rücken gegen die Anderen gestanden. Jetzt wandte sie sich um; eine hohe Röthe schoß in ihr fahles Gesicht und erlosch ebenso rasch wieder. Das Mädchen hatte ein wunderschönes, tiefes Auge, ein Auge voll leidenschaftlicher Empfindung. Diese großen flimmernden Sterne richteten sich mit einem Gemisch von scheuem Schrecken und jäh aufglühendem Haß auf das Gesicht der Schwester.

„Nun, diesen Verdacht wird er widerlegen – er kommt noch, Flora,“ sagte der Commerzienrath sichtlich erleichtert. „Er wird Dir selbst sagen, daß er den Tag über wie gehetzt gewesen ist. Du weißt ja, daß er mehrere Schwerkranke in der Stadt hat, darunter das arme, kleine Mädchen des Kaufmann Lenz, das heute Nacht noch sterben wird.“

Die junge Dame stieß ein leises, bitteres Lachen aus. „Wird es sterben? Wirklich, Moritz? … Nun sieh, Bär war auch hier bei mir, ehe er zu Großmama ging; er sprach auch von dem Kinde, das er gestern gesehen hatte, und meinte, der Fall sei leicht – er fürchte nur, Bruck sei auf falscher Fährte. Bär ist eine Autorität –“

„Ja, eine Autorität voll zitternden Neides,“ sagte Henriette mit vibrirender Stimme. Sie war rasch hinzugetreten und legte ihre Hand auf den Arm ihres Schwagers. „Gieb es auf, Moritz, Flora zu bekehren! Du siehst doch, sie will ihren Bräutigam schuldig finden.“

„Ich will? … Boshaftes Geschöpf! Ich gäbe sofort [23] mein halbes Vermögen hin, wenn ich noch so denken könnte, wie zu Anfang meiner Brautschaft, so stolz, so zuversichtlich zu Bruck aufsehend,“ rief Flora leidenschaftlich. „Aber seit dem Tode der Gräfin Wallendorf trage ich stillschweigend die fortgesetzte Qual der Zweifel, des Mißtrauens mit mir herum – heute zweifle ich nicht mehr, denn ich bin überzeugt. Jene Schwäche des Weibes kenne ich freilich nicht, das nur liebt, ohne zu fragen: ist der Geliebte der Hingebung auch würdig? … Ich bin ehrgeizig, glühend ehrgeizig, das können Alle wissen. Ohne diese Triebfeder würde ich auch mit dem großen Haufen der Schwachen und Indolenten meines Geschlechts auf der breiten Heerstraße der Alltäglichkeit ziehen. – Gott soll mich behüten! Wie andere strebende und denkende Frauen es möglich machen, ruhig und gleichmüthig mit einem unbedeutenden Mann durch’s Leben zu gehen, ist mir stets unfaßlich gewesen – ich würde zeitlebens erröthen unter den Blicken der Menschen.“

„O – so verschämt würdest Du sein? Sieh, sieh! – Allerdings, dazu gehört auch mehr Muth, als vor einem kecken Auditorium von Studenten über Aesthetik und dergleichen zu lesen,“ rief Henriette, jetzt in der That mit einem boshaften Lächeln.

Flora ließ einen Blick voll Verachtung über die kleine Schwester hinstreifen. „Solch eine kleine Viper läßt man ruhig zischen. Was weißt Du von einem Ideal?“ sagte sie achselzuckend. „Aber Recht hast Du, wenn Du glaubst, mein Platz sei weit eher auf dem Katheder, als an der Seite eines Mannes, der sich als Stümper in seiner Wissenschaft documentirt – eine solche Fessel ertrage ich nicht.“

„Kind, das ist Deine Sache,“ erklärte die Präsidentin gelassen, während der Commerzienrath in namenloser Bestürzung zurückfuhr. „Du wirst Dich erinnern, daß Dich Niemand gezwungen, noch überredet hat, Deinen Kopf in diese Fessel zu stecken.“

„Das weiß ich sehr genau, Großmama; ich weiß auch, daß Du es weit lieber gesehen hättest, wenn ich die Frau des an Geld und Körper bankerotten Kammerherrn von Stetten geworden wäre. Ich gebe Dir ebenso gern zu, daß ich mich nie von irgend einem Menschen beeinflussen oder gar leiten lasse, weil ich am besten wissen muß, was mir frommt.“

„Das wird Dir auch stets unbenommen sein,“ versetzte die Großmama mit vornehmer Kälte. „Nur Eines gebe ich Dir zu bedenken: Du wirst eine entschiedene Gegnerin an mir haben, wenn die Sache auf einen Eclat hinausläuft. Darin kennst Du mich hoffentlich. Ich ertrage weit eher inneren Unfrieden, als einen Familienscandal nach außen. Ich lebe mit Euch zusammen und habe gern die Repräsentation dieses Hauses übernommen; dafür verlange ich aber auch die unbedingteste Rücksicht für meine Stellung und meinen Namen. Ich will nicht, daß man in der Gesellschaft über uns flüstert und zischelt.“

Der Commerzienrath wandte sich rasch ab. Er trat an das eine unverhüllte Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Der Wind, der sich allmählich zum Sturme steigerte, fauchte rüttelnd an den Scheiben hin, und in dem feurig rothen Streifen, den die Lampe des anderen Fensters stet und unbeirrt über die windgeschüttelten Büsche warf, fuhren die blutig gefärbten Schneeflocken im rasenden Wirbel durch einander, wie die marternden Gedanken in seinem Kopfe. Er hatte vorhin mit sich gekämpft, ob er nicht Flora wenigstens den Vorfall wahrheitsgetreu mittheilen solle – jetzt wußte er, daß gerade ihr gegenüber kein Laut über seine Lippen kommen durfte, wenn er nicht wollte, daß die Präsidentin um des „Zischelns und Flüsterns in der Gesellschaft“ willen sich von ihm lossagte; er mußte sich eingestehen, daß das ehrgeizige schöne Mädchen sofort sein Geständniß in die Welt hinausschreien würde, weniger aus Liebe, als um den Schein von sich zu wenden, daß sie sich hinsichtlich der Wahl ihres Herzens oder eigentlich ihres Verstandes geirrt habe.

Währenddem stand Henriette, das kleine, mißgestaltete Mädchen, mit Augen voll Grimm und Spott vor der Großmutter. „Also nur in Rücksicht auf das Gerede der Leute wünschest Du, daß sich meine Schwester tadellos aus der Affaire ziehe? Damit kommt sie ja sehr wohlfeil weg. Du sprichst sie ohne Bedenken frei, wenn sie nur dem Treubruche ein seidenes Mäntelchen umzuhängen versteht. Uebrigens brauchst Du wegen des Eclat wirklich nicht so entsetzlich penible zu sein, Großmama – man muß im Salon leben, wie wir, um zu wissen, daß die Gesellschaft es mit so manchen vornehmen Sündern hält, wie mit dem alten Meißner Porcellan: je öfter gekittet, desto begehrter!“

„Ich werde Dich wohl ersuchen müssen, den Rest des Abends auf Deinem Zimmer zu verbringen, Henriette,“ zürnte die Präsidentin jetzt ernstlich. „Mit dieser verbitterten Stimmung kann ich Dir die Rückkehr in den Salon nicht gestatten.“

„Wie Du befiehlst, Großmama! Gelt, Hans, wir gehen mit tausend Freuden,“ sagte sie lächelnd und drückte die Wangen auf das Gefieder des Vögelchens, das noch auf ihrer Rechten saß. „Du kannst auch die alten Hofdamen nicht leiden, und die große medicinische Autorität, den Herrn von Bär, zwickst Du regelmäßig in den Finger, wenn er Dich mit Zucker kirren will, braver Bursche … Gute Nacht, Großmama – gute Nacht, Moritz!“ Sie hemmte noch einmal ihre hastigen Schritte und wandte sich zurück. „Die Charaktervolle dort,“ sagte sie mit schneidender Ironie, „wird hoffentlich den Weg innehalten, den ihr der selige Papa unerbittlich vorgeschrieben haben würde – mit ihrer Renommage bezüglich des eigenen Willens hat sie sich zu seinen Lebzeiten niemals hervorwagen dürfen. Er würde ihr nie gestattet haben, einem Ehrenmanne das gegebene Wort zu brechen.“

Mit trotzig zurückgeworfenem Kopfe ging sie hinaus, aber schon auf der Schwelle stürzten ihr die heißen Thränen, die bereits in ihren letzten Worten mitgeklungen hatten, unaufhaltsam über die Wangen.

„Gott sei Dank, daß sie geht!“ rief Flora. Man braucht wirklich das höchste Maß von Selbstbeherrschung, um nicht ihr gegenüber die Geduld zu verlieren.“

„Ich vergesse nie, daß sie eine Kranke ist,“ bemerkte die Präsidentin trocken zurechtweisend.

„Und in einer Art hatte sie doch auch Recht, Flora,“ wagte der Commerzienrath einzuwerfen.

„Denke darüber, wie Du willst, Moritz!“ entgegnete die junge Dame kalt. „Ich habe Dich nur dringend zu bitten, mir durch Deine Einmischung die inneren Kämpfe nicht zu erschweren. Wie bereits gesagt, bin ich gewohnt, mit mir und Anderen allein fertig zu werden, und so will ich’s auch in diesem Falle gehalten wissen. Uebrigens dürft Ihr ruhig sein – Du und die Großmama – es widerstrebt mir selbst, hart und gewaltsam vorzugehen; ich habe eine geräuschlose Verbündete, und das ist – die Zeit.“

Sie nahm das Kelchglas vom Schreibtische und netzte die fast weißgewordenen Lippen mit einigen Tropfen Rothweins, während die Präsidentin, ohne ein Wort weiter zu verlieren, sich anschickte, in den Salon zurückzukehren.

„Apropos, Moritz!“ rief sie, die Hand auf das Thürschloß legend. „Was wird nun mit Käthe geschehen?“

„Darüber müssen wir das Testament entscheiden lassen,“ versetzte er, wie befreit aufathmend. „Ich bin völlig ahnungslos, wie der Schloßmüller verfügt hat. Käthe ist seine einzige Erbin; ob er sie aber auch als solche bestätigt, das fragt sich; er ist ihr ja immer gram gewesen, weil ihre Geburt seiner Tochter das Leben gekostet hat. … Auf jeden Fall wird sie für einige Zeit hierher kommen müssen.“

„Gieb Dir keine Mühe – die kommt nicht; die hängt noch heute so fest an den Rockfalten ihrer alten, unausstehlichen Gouvernante, wie zu Papas Lebzeiten,“ sagte Flora. „Man muß nur ihre Briefe an Dich lesen.“

„Nun, vielleicht ist’s auch besser, sie bleibt, wo sie ist,“ meinte die Präsidentin fast lebhaft. „Aufrichtig gestanden, ich verspüre nicht viel Lust, sie unter meine Flügel zu nehmen und vielleicht stündlich an ihr herumzumäkeln – das giebt viel stillen Aerger. … Ich habe mich nie recht für sie erwärmen können, nicht etwa, weil sie das Kind der ‚Anderen‘ war – darüber habe ich stets gestanden, aber sie kroch mir zu viel drüben in der Mühle herum, hatte stets die Zöpfe und Kleider voll Mehlstaub und war ein recht eigenwilliges kleines Ding.“

„Ja, so ein rechter Querkopf aus dem Volke, und doch – Papas Liebling,“ warf Flora mit bitterm Lächeln hin.“

„Scheinbar, Kind, weil sie seine Jüngste war,“ sagte die Präsidentin, die grundsätzlich nie den Gedanken aufkommen ließ, daß eines ihrer Angehörigen je zurückgesetzt werden könne; „er hat Euch ebenso lieb gehabt. Nun, Moritz, wirst Du mitkommen?“

Er bejahte hastig. Beide entfernten sich, Flora aber schellte [24] ihrer Kammerjungfer. „Ich will mich in mein Schlafzimmer zurückziehen und dort arbeiten – trage das Schreibzeug und diese Papiere hinüber!“ befahl sie. „Selbstverständlich bin ich für Niemand mehr zu sprechen.“

Der feurig rothe Streifen draußen erlosch; das weiße Licht des Salons aber schimmerte bis weit über Mitternacht in die dunkle, sturmgepeitschte Allee hinein. … Der Commerzienrath saß am Spieltische. Alle Anwesenden hatten bei seinem Eintreten einen liebenswürdigen Gruß, ein vertrauliches Händeschütteln für ihn gehabt, und das hatte sein beklommenes Herz durchwärmt und umschmeichelt wie Sonnenschein. Inmitten dieser Gesichter, mit der Vornehmheit des Adels oder dem Beamtenhochmuthe in den Zügen, fand er seine Handlungsweise so vollkommen gerechtfertigt, daß er die quälenden Scrupel der letzten Stunden fast nicht mehr begriff. Weshalb sich einem schiefen Urtheile aussetzen, wenn man sich bewußt ist, nicht einmal in Gedanken gesündigt zu haben? Und um welche Gemeinheit handelte es sich! All’ den allerliebsten Scandalgeschichtchen, die auch jetzt von Mund zu Mund schlüpften, hing man mit feinem, verständnißinnigem[WS 1] Lächeln „das seidene Mäntelchen“ um – es waren ja insgesammt noble Passionen und Verirrungen, die man geißelte, bei dem Verdachte eines gemeinen Attentates auf den Geldschrank des Schloßmüllers aber ließe sicher alle diese Leute den ohnehin in ihren Kreis Eingeschmuggelten gnadenlos fallen. … Allerdings durfte er sich jetzt nicht mehr damit trösten, daß sein Verschweigen Niemand schade; es drohte scheidend zwischen zwei Menschen zu treten, die bereits durch den Verlobungsring an einander gekettet waren – bah, Flora war ein excentrisches Wesen! Bei der nächsten Auszeichnung, die Bruck zu Theil wurde – und die konnte bei seinen Verdiensten, seinem Wissen nicht ausbleiben –, besann sie sich eines Bessern. … Er schlürfte ein Glas köstlicher Bowle, und das spülte die letzten Scrupel gründlich weg.




3.


Der Schloßmüller hatte in der That seine Enkelin, Katharina Mangold, testamentarisch zu seiner Universalerbin ernannt und den bereits von ihrem verstorbenen Vater für sie bestellten Vormund auch seinerseits bestätigt. – Dieser Vormund war der Commerzienrath Römer. Bei der Eröffnung des Testamentes war diesem doch sehr wunderlich zu Muthe gewesen, und er hatte den Kopf geschüttelt über die Widersprüche, die ungeahnt in der Menschenseele neben einander liegen. Der alte Mann, der ihn in dem jähen Wahne, er wolle ihn seines Goldes berauben, nahezu erwürgt, hatte ihn kaum eine Stunde zuvor bezüglich der Verwaltung des Vermögens mit beinahe unumschränkter Vollmacht betraut. Er hatte verfügt, daß, falls die beabsichtigte Operation seinen Tod nach sich ziehe, sofort sein gesammter Besitz an Liegenschaften,[WS 2] mit Ausnahme der Schloßmühle, verkauft werde. In Betreff dieser Ausnahme hatte er bemerkt, die Mühle habe ihn zum reichen Manne gemacht, und seine Enkelin, selbst wenn sie „so stolz und hochnäsig, wie ihre Stiefschwestern“ geworden sei, brauche sich nicht zu schämen, sie ihrem künftigen Ehemanne mitzubringen. Das Rittergut sollte zerschlagen, die Waldungen, Ländereien und die Wirthschaftsgebäude inmitten der weiten Gras- und Gemüsegärten je einzeln an den Meistbietenden veräußert werden; bezüglich der Villa und des dazu gehörigen Parkes solle jedoch der Commerzienrath Römer, sofern er darauf reflectire, die Vorhand haben, und sei ihm der Besitz mit fünftausend Thalern unter dem Taxwerth zuzuweisen. Diese fünftausend Thaler habe er nicht allein als Entschädigung für seine vormundschaftliche Mühewaltung, sondern auch als ein Zeichen der „Erkenntlichkeit“ des Testators anzusehen, da er sich niemals hochmüthig, wie „die Anderen in der Villa“, sondern weit eher wie ein anhänglicher naher Verwandter bezeigt habe. Ferner sollte auf Grund des Testamentes das Gesammtvermögen in Staatsobligationen und anderen soliden Papieren angelegt und die Wahl derselben dem Ermessen des Vormundes, als eines tüchtigen und umsichtigen Geschäftsmannes, überlassen sein.

Die junge Erbin lebte seit sechs Jahren entfernt von der Heimath. Ihr sterbender Vaters hatte sie der Gouvernante, einem Fräulein Lukas, übergeben, welche die Erziehung des Kindes seit dessen erstem Lebensjahre in den Händen gehabt und in der That Mutterstelle an ihm vertreten hatte. Banquier Mangold hatte sehr wohl gewußt, daß er seinen Liebling, der sich stets scheu von den weit älteren Stiefschwestern ferngehalten, dieses Schutzes nicht berauben dürfe, und deshalb verfügt, daß Katharina mit nach Dresden gehen solle, wo die Erzieherin nach langjährigem Brautstand mit einem Arzte gerade um jene Zeit ihren eigenen Hausstand begründete. … Das junge Mädchen hatte in ihren Briefen an den Vormund nie den Wunsch ausgesprochen, die Heimath wiederzusehen; ebenso wenig war es ihrem Großvater, dem Schloßmüller, eingefallen, sie je zurückzufordern; er war damals vollkommen mit ihrer Uebersiedlung nach Dresden einverstanden gewesen, weil ihr Anblick den Gram um das einzige Wesen, das er geliebt, um seine Tochter, stets erneute. Nun, nach seinem Tode, hatte der Vormund ihre Rückkehr auf einige Zeit gefordert; er hatte ihr zugleich mitgetheilt, daß er sie selbst mit Eintritt der wärmeren Jahreszeit, Ende April, abholen wolle, weil – was er selbstverständlich verschwieg – die Präsidentin Urach sich entschieden gegen eine etwaige Begleitung der ehemaligen Gouvernante verwahrte. Die Mündel war mit allem einverstanden gewesen, und hatte ihn nur auf seine Frage, ob sie bei Ausführung der testamentarischen Bestimmungen irgend einen persönlichen Wunsch habe, dringend gebeten, bei Verpachten der Schloßmühle die große Eckstube nebst Alkoven zu reserviren und beide Räume genau zu belassen, wie sie zu des Großvaters Lebzeiten eingerichtet gewesen seien. Das war geschehen. – –

Es war im Monat März, da kam eine junge Dame von der Stadt her. Sie ging auf der Chaussee, die mit den letzten vereinzelten Ausläufern der Straße, hübschen, kleinen Landhäusern, zu beiden Seiten besetzt war, und bog in den breiten Fahrweg ein, der nach der Schloßmühle führte. Noch war das Schmelzwasser des letzten Schneefalles nicht ganz versickert; es stand in den breiten Furchen, welche die Räder der Mühlenwagen gewühlt hatten, und in den tiefeingedrückten Spuren der vielen Sohlen, die hier verkehrten; aber die schlanken Füße des junge Mädchens steckten in festen Lederstiefelchen, und das schwarze Seidenkleid war so hoch aufgeschürzt, daß der elegant bordirte Saum mit dem triefenden Geröll nicht in Berührung kam. Es war durchaus keine Elfe oder Sylphide, das Menschenkind, das so kräftig und sicher dahergeschritten kam, weit eher eine Gestalt, wie man sich ein schönes Schweizermädchen denkt, dem die kräuterwürzige Alpenmilch und der reine Athem der Bergluft das Blut mischen und Adern und Sehnen vor Gesundheit strotzen machen. Eine anliegende, mit Pelz besetzte schwarze Sammetjacke bezeichnete die kräftigen, aber schön geschwungenen Linien der Taille und des Busens, und auf dem lichtbraunen Haare saß, ein wenig schief gerückt, eine Mütze von Marderfell. Das Gesicht war weit entfernt, proportionirt oder gar classisch regelmäßig zu sein – das gebogene Näschen war zu kurz im Verhältniß zur Wölbung und Breite der Stirn, der Mund zu groß, das runde Kinn mit dem Grübchen ein wenig zu kräftig vorgeschoben, der Bogen der Brauen nicht bestimmt genug, aber diese Mängel wurden aufgewogen durch die reine, von den breiten Schläfen ausgehende Ovallinie und die unvergleichliche Jugendfrische und Blüthe der Gesichtsfarbe.


(Fortsetzung folgt.)




Waisenkinder auf der Haide.

Kein Obdach! Birg in meinem Schooße
Das liebe Lockenköpfchen dein
Und schließ’ das Aug’, das dunkle, große,
Zu gold’nem Traum, mein Brüderlein!

Die Nacht bricht an – die Vögel schweifen
Zu Nest, zu Nest mit letzter Kraft;
Der Nebel wallt in langen Streifen
So grau daher – und märchenhaft
     Ziehn Glockenklänge auf der Haide.

[25]

Waisenkinder auf der Haide.
Nach dem A. Wagenmann’schen Stahlstiche des Karl Bauerle’schen Oelgemäldes.

[26]

Da liegt es ja im Abendscheine,
Das stille kleine Gotteshaus,
Und rings herum viel Leichensteine,
An manchem Kreuz ein Blumenstrauß.
Wie muß es sich doch unter’m Hügel
So heimlich lauschen und so sacht,
Wenn traumhaft senkt den weichen Flügel
Und lautlos horcht die Sommernacht
     Den Glockenklängen auf der Haide!

Der Tod so süß, so hart das Leben –
Träum’ fort, träum’ fort, mein Brüderlein!
In Winterfrost, in Sturmesweben
Wer thut uns auf, wer läßt uns ein?
Wie schön, dem Glück in’s Auge sehen,
In’s Auge warm und strahlenhell –
Uns winkt’s nur im Vorübergehen
Und kommt und flieht, wie Träume schnell,
     Wie Glockenklänge auf der Haide.

Träum’ fort, träum’ fort – und doch! wie heute
So wundersam sich hebt mein Muth,
Als grüßt’ uns Gott aus dem Geläute:
„Getrost! Es wird noch Alles gut“,
Als ging’ er mit des Tages Scheiden
Die Haid’ entlang von Ort zu Ort
Und spräch’ zu Allen, die da leiden,
Ein freundlich Wort, ein Vaterwort
     Aus Glockenklängen auf der Haide.

 Ernst Ziel.




Louise.


Zur hundertjährigen Geburtstagsfeier der Mutter unseres Kaisers.


(Fortsetzung.)


Die Reise des Königs und seiner Gemahlin zur Huldigung nach Königsberg glich einem Triumphzuge und gab Beiden vielfach Gelegenheit, durch ihre Güte, Freundlichkeit und Menschlichkeit das Herz des Volkes zu gewinnen. Auf ihrem Wege nach dort wurde Louise in einer kleinen Stadt Pommerns von neunzehn Mädchen in weißen Kleidern begrüßt, welche vor ihrem Wagen Blumen spendeten. Als die Königin in ihrer herzlichen Weise mit den Kindern sprach, erzählten ihr dieselben im Vertrauen, daß sie ursprünglich zwanzig gewesen, aber die Eine nach Hause geschickt worden wäre, weil sie gar zu häßlich ausgesehen habe. „Ach, das arme Kind,“ rief die mitleidige Königin, „hat sich gewiß auf meine Ankunft gefreut, und nun muß es zu Hause sitzen und wird bittere Thränen weinen!“ Zugleich gab sie Befehl, die betrübte Kleine zu holen. Louise beschenkte sie reich vor den anderen Kindern, um sie wegen der erlittenen Zurücksetzung zu entschädigen.

In ähnlich humaner Weise benahm sie sich gegen eine Frau, welche bei einem glänzenden Militair-Kirchenfeste zu spät kam und, da sie in der überfüllten Kirche keinen Platz fand, zufällig in die königliche Loge gerieth, wo sie auf die freundliche Einladung[WS 3] einer Hofdame sich niederließ. Nach beendigtem Gottesdienst[WS 3] wurde die unschuldige Frau von dem Ober-Ceremonienmeister so hart angefahren, als ob sie eine schwere Majestätsbeleidigung begangen hätte. In ihrer Herzensangst wandte sie sich weinend und tief betrübt an den Bischof Eylert, weil es scheinen könnte, als habe sie die der geliebten Königin schuldige Ehrfurcht verletzt. Unterdeß hatte diese den Vorfall bereits erfahren und sogleich den Bischof rufen lassen. „Aber ich bitte Sie um Himmelswillen,“ empfing sie ihn, „was ist in Ihrer Kirche geschehen? Soeben habe ich mit Unwillen gehört, wie eine würdige Frau Ihrer Gemeinde gekränkt worden ist. Warum? Sollte man es glauben – darum weil sie in meiner Loge während des Gottesdienstes Platz genommen hat. Man weiß, wie der König und ich über das Hof-Ceremoniell denken. Ganz läßt es sich nicht beseitigen, aber man sollte doch einen Unterschied machen. Und das nun vollends in der Kirche! Ich bin trostlos darüber, wiewohl nicht schuld daran – bitte, machen Sie es wieder gut! Essen Sie diesen Mittag bei mir und bringen Sie mir die Versicherung, daß die würdige Frau wieder zufrieden gestellt ist! Morgen aber kommen Sie mit ihr selber! Ich werde mich freuen, ihre persönliche Bekanntschaft zu machen.“

Wo die Königin erschien, in Preußen, Schlesien und Westphalen, wurde sie mit Begeisterung empfangen, mit Liebe begrüßt und fast wie eine Heilige verehrt. Aber die glänzenden Feste des Adels, die Huldigungen der Stände und die rauschenden Vergnügungen der vornehmen Welt erfreuten und befriedigten sie weniger als die schlichte Liebe ihres Volkes, die Thränen in den Augen der Armen, welche sie als ihre Wohlthäterin priesen. Nach all den Zerstreuungen, Bällen und Aufzügen fühlte sie sich wieder am glücklichsten in ihrer Häuslichkeit, bei ihren Kindern im kronprinzlichen Palais unter den Linden, das auch Friedrich Wilhelm der Dritte bis zu seinem Tode bewohnte. Hier lebte sie ausschließlich ihrem Gatten und ihrer Familie als eine echte deutsche Hausfrau in treuer Erfüllung aller Pflichten, mit der Erziehung ihrer Kinder und mit ihrer eigenen Bildung beschäftigt. Von frühester Jugend an interessirte sie sich für Kunst, Wissenschaft und Literatur. Die deutschen Dichter Herder, Goethe und Schiller waren ihre Lieblingsschriftsteller, besonders der Letztere, den sie so gern in ihre Nähe gezogen hätte. Außerdem las sie die griechischen Tragiker in Uebersetzungen, die Dramen Shakespeare’s, Gibbon’s römische Geschichte und die besten französischen Memoiren.

Dieses schöne, friedliche Dasein sollte jedoch nur zu bald sein Ende finden. Immer mehr verfinsterte sich der politische Horizont; immer ernster und drohender gestaltete sich die Lage des Staates; immer näher rückte das unvermeidliche Verderben. Napoleon, das Genie des Jahrhunderts, hatte in Frankreich die Revolution bezwungen, durch eine Reihe glücklicher Kämpfe die Gegner der sogenannten Republik besiegt, das alte Staatensystem tief erschüttert, Oesterreich in Italien niedergeworfen, Rußland geschlagen, das verrottete deutsche Reich zertrümmert, sich zum Schiedsrichter Europas aufgeschwungen und die Kaiserkrone auf sein mit Lorbeeren geschmücktes Haupt gesetzt.

In diesem Weltkampfe war Preußen seit dem Baseler Frieden neutral geblieben, da Friedrich Wilhelm der Dritte, von seiner Friedensliebe verführt und von Mißtrauen gegen sich selbst erfüllt, die mit Recht vielfach angegriffene Politik der freien Hand verfolgte. Mehrfach aufgefordert, einer neuen Coalition gegen den ehrgeizigen Eroberer beizutreten, schwankte er unentschlossen hin und her, obgleich die Verhältnisse zu einem entschiedenen Handeln und schnellem Entschlusse drängten und jede Zögerung die Gefahr nur noch steigerte. An seiner eigenen Begabung zweifelnd, überließ er die Entscheidung seinen meist unfähigen und uneinigen Räthen und Ministern. Während der charakterlose Haugwitz sich zu Frankreich hinneigte, Hardenberg sich für England und Rußland erklärte, die Kriegspartei am Hofe, an deren Spitze Prinz Louis Ferdinand stand, mit wildem Ungestüm den Kampf gegen Napoleon forderte, verharrte der König in seiner unglücklichen Neutralität, unfähig, unter solchen Umständen einen kühnen Schritt zu thun.

Erst der Besuch des Kaisers Alexander von Rußland und des Erzherzogs Anton von Oesterreich, die sich nach Berlin begeben hatten, um ihn zur Theilnahme an dem bevorstehenden Kriege zu bewegen, ließ ihn einen Vertrag abschließen, worin er sich erbot, zunächst den Frieden mit Frankreich zu vermitteln und für den Fall, daß Napoleon die Vorschläge Preußens zurückweisen sollte, der Coalition beizutreten und am 15. December den Krieg an Frankreich zu erklären. Zufrieden mit diesem Abkommen, äußerte der Kaiser Alexander am Abend seiner Abreise über Tisch, daß er gern die Gruft Friedrich’s des Großen gesehen hätte, um dem todten Helden seine Ehrfurcht zu bezeugen. [27] Obgleich kein besonderer Freund solch einer romantischen Ueberschwänglichkeit, gab der König sogleich den Befehl, die Garnisonkirche in Potsdam, wo die Särge des großen Friedrich und seines strengen Vaters standen, zu erleuchten. Um Mitternacht führte er selbst seinen hohen Gast in Begleitung der Königin in die Gruft. Ueberwältigt von seinen Gefühlen, küßte Alexander den kalten Marmorsarg und die warmen Lippen der von ihm angebeteten Louise, indem er mit erhobener Hand den neuen Bund zwischen Rußland und Preußen feierlich beschwor und unerschütterliche Treue gelobte. Schweigend knieten die Anwesenden nieder und beteten leise um den Segen des Himmels, worauf sie unter nochmaliger Versicherung ewiger Freundschaft von einander Abschied nahmen.

Alexander eilte zu dem Heer nach Mähren, wo die vereinigte russisch-österreichische Macht bei Austerlitz von Napoleon auf das Haupt geschlagen wurde. Der stolze Sieger, empört über die vermeintliche Treulosigkeit der preußischen Regierung, brannte vor Begierde sich an dem heimlichen Gegner zu rächen, der jetzt ohne genügende Vorbereitung, ohne erprobte Führer und ohne Bundesgenossen ihm rath- und hülflos gegenüber stand. Während der König durch Unterhandlungen noch den drohenden Kampf zu vermeiden suchte, rüstete Napoleon mit der ihm eigenen Energie und traf alle Vorbereitungen, um den längst geplanten Todesschlag gegen die Monarchie des großen Friedrich zu führen. Plötzlich rückte er nach Thüringen vor, wo er mit bewunderungswürdiger Kraft und Schnelligkeit die wichtigsten Punkte besetzte. In dieser Zeit der allgemeinen Rathlosigkeit, Verzagtheit und Verwirrung war die Königin Louise nach dem Zeugniß des bekannten Staatsmannes Gentz die einzige tröstliche und bedeutende Erscheinung. Weit entfernt davon, im kriegerischen Getümmel, wie es in den lügenhaften Berichten der französischen Blätter und in den späteren Bulletins hieß, die Amazone zu spielen und das Feuer unweiblich zu schüren, bewahrte sie auch unter den traurigsten Verhältnissen ihren sanften, echt weiblich-deutschen Charakter.

„Donnerstag den 9. October,“ schreibt Gentz in seinen denkwürdigen Aufzeichnungen, „um 9 Uhr Vormittags erhielt ich in Erfurt Zutritt bei Ihrer Majestät der Königin. Schon seit einem Jahre hörte ich beständige Lobpreisungen dieser Fürstin; ich war daher ganz darauf vorbereitet, sie anders zu finden, als ich sie früher mir gedacht. Die feinen, erhabenen Eigenschaften aber, die sie während einer dreiviertelstündigen Unterhaltung jeden Augenblick entwickelte, hatte ich nicht erwartet. Sie berathschlagte mit Präcision, Selbstständigkeit und Energie, zu gleicher Zeit eine Klugheit offenbarend, die ich selbst bei einem Mann bewunderungswürdig gefunden hätte, und doch zeigte sie sich bei Allem, was sie sagte, so voll tiefen Gefühls, daß man keinen Augenblick vergessen konnte, es sei ein weibliches Gemüth, dem man Bewunderung zollte. Nicht ein Wort, das nicht zum Zweck gehörte, keine Reflexion, keine Gefühlsäußerung, die nicht in vollkommenster Harmonie gestanden mit dem allgemeinen Gegenstande der Besprechung, so daß eine Combination von Würde, Wohlwollen und Eleganz, wie ich nie etwas Aehnliches mich zuvor besinne, das Resultat war.

Ihre erste Frage war, was ich von diesem Kriege denke und welche Ansichten ich hege. Ich suchte Alles hervor, was sich mir selbst bei dieser Frage von der schönen Seite bot. Besondern Nachdruck legte ich auf den Zustand der öffentlichen Meinung, auf die günstige Stimmung von Seiten der Zeitgenossen und auf die eifrigen Wünsche, die von allen Parteien Deutschlands dahin getheilt würden, daß ein günstiger Erfolg Preußens Unternehmung krönen möge. Die Königin bemerkte, sie habe schon seit langer Zeit Betrachtungen darüber gehegt, in welchem Lichte die öffentliche Meinung und vor Allem die der fremden Länder diesen Feldzug betrachten möchte, da sie wohl wisse, daß die Gesinnungen gegen Preußen nicht die günstigsten seien; jedoch habe sie seit einigen Wochen in dieser Beziehung Erfahrungen gemacht, die ihr wieder großes Vertrauen eingeflößt hätten. Sie fuhr fort, sie kenne die Vergangenheit besser als ich; ‚aber ist jetzt nicht der Augenblick, wo sie vergessen sein sollte!‘

Sie lenkte das Gespräch auf den für Oesterreich so unglücklichen Krieg von 1805 – unauslöschlichen Eindruck machten auf mich die liebenswürdigen tiefen Gefühle, die sie offenbarte, als sie auf die Mißgeschicke des Hauses Oesterreich anspielte. Mehr als einmal sah ich dabei ihre Augen voll Thränen. Unter Anderm erzählte sie mit rührender Einfachheit, daß an dem Tage, wo sie die Nachricht von den ersten Unglücksfällen der österreichischen Armee erfahren, der Kronprinz, ihr Sohn, sich zum ersten Male in der Uniform gezeigt habe. Als sie dies gesehen, habe sie gesagt: ‚Ich hoffe, daß an dem Tage, wo Du Gebrauch machen wirst von diesem Rocke, Dein einziger Gedanke der sein wird, Deine unglücklichen deutschen Brüder zu rächen.‘ – Sie rechtfertigte sich gegen den in französischen Blättern ihr gemachten Vorwurf der Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten, erklärte jedoch freimüthig, sie würde, wenn sie darum befragt worden wäre, für den Krieg gestimmt haben. In Bezug auf die ihr angedichtete Parteilichkeit für Rußland sagte sie: ‚es sei dies von allen die ungerechteste und absurdeste Beschuldigung. Was den Eifer, die Hingebung und persönlichen Tugenden des Kaisers Alexander anbeträfe, so habe sie diesen stets alle Gerechtigkeit angedeihen lassen und werde dies auch immer thun, allein weit entfernt, Rußland als das Hauptwerkzeug der Befreiung Europas zu betrachten, habe sie dessen Beihülfe nur immer als letzte Hülfsquelle angesehen und sie sei fest überzeugt, daß die großen Rettungsmittel einzig und allein in der engsten Verbindung aller Derer zu finden wären, die sich des deutschen Namens rühmten.‘“

Unaufhaltsam jedoch brach das Verhängniß über Preußen herein, an dem die Sünden der Vergangenheit gerächt wurden. Eine einzige unglückliche Schlacht genügte, um die Monarchie Friedrich’s des Großen zu zertrümmern. Der Tag von Jena mit den darauf folgenden Ereignissen, jene Zeit der Schmach, des Abfalls und Verraths offenbarte die allgemeine Demoralisation, die von dem scharfblickenden Mirabeau bereits bezeichnete „Fäulniß vor der Reife“, die Erbärmlichkeit der höheren Stände, die Unfähigkeit und Feigheit der Beamtenwelt, die Gesinnungslosigkeit der Bürgerschaft in der entsetzlichsten Weise. Der König sah sich gezwungen, mit seiner Familie und den Resten seines zwar tapferen, aber schlecht geführten Heeres über die Oder zu fliehen. In jenen traurigen Tagen der Prüfung, als eine Schreckensnachricht die andere jagte, sprach die betrübte Königin in ihrem Schmerze die prophetischen Worte zu ihren Söhnen:

„Ihr seht mich in Thränen; ich beweine den Untergang meines Hauses und den Verlust des Reiches, mit dem Eure Ahnen und ihre Generale den Stamm der Hohenzollern gekrönt haben und dessen Glanz sich über alle Völker verbreitete, die ihrem Scepter gehorchten. Ach, wie verdunkelt ist jetzt dieser[WS 4] Glanz! Das Schicksal zerstörte an einem Tage ein Gebäude,[WS 4] an dessen Erhöhung große Männer zwei Jahrhunderte hindurch gearbeitet haben. Es giebt keinen preußischen Staat, keine preußische Armee, keinen Nationalruhm mehr; er ist verschwunden wie jener Nebel, welcher auf den Feldern von Jena und Auerstädt die Gefahren und Schrecken dieser unglücklichen Schlacht verbarg. Ach, meine Söhne, Ihr seid in dem Alter, wo der Verstand die großen Ereignisse, welche uns jetzt heimsuchen, fassen und fühlen kann; ruft künftig, wenn Eure Mutter und Königin nicht mehr lebt, diese unglückliche Stunde in Euer Gedächtniß zurück, weint meinem Andenken Thränen, wie ich sie jetzt in diesem Augenblicke dem Umsturze meines Vaterlandes weine! Aber begnügt Euch nicht mit Thränen allein! Handelt, entwickelt Eure Kräfte! Vielleicht läßt Preußens Schutzgeist auf Euch sich nieder; befreiet dann Euer Volk von der Schande, den Vorwürfen und der Erniedrigung, worin es schmachtet! Suchet den jetzt verdunkelten Ruhm Eurer Vorfahren von Frankreich zurück zu erobern, wie Euer Urgroßvater, der große Kurfürst, einst bei Fehrbellin die Niederlage, die Schmach seines Vaterlandes an den Schweden rächte! Lasset Euch, meine Prinzen, nicht von der Entartung des Zeitalters hinreißen! Werdet Männer und geizet nach dem Ruhme großer Feldherrn und Helden! Wenn Euch dieser Ehrgeiz fehlte, so würdet Ihr des Namens von Prinzen und Enkeln des große Friedrich’s unwürdig sein. Könnt Ihr aber mit aller Anstrengung den niedergebeugten Staat nicht wieder aufrichten, so suchet den Tod, wie ihn Louis Ferdinand gesucht hat!“

Auf der Flucht nach Preußen lernte die Königin das Elend und die Noth im vollsten Maße kennen. Die pflichtvergessenen [28] Commandanten und feigen Behörden überlieferten dem Feinde ohne Widerstand die Festungen Küstrin und das starke Magdeburg, alle Vorräthe und Schätze des Staates. Nicht nur die französischen Zeitungen und lügenhaften Bulletins des übermüthigen Siegers, sondern auch feile deutsche Lohnschreiber verfolgten die reine, unschuldige Königin mit den gemeinsten Schmähungen und Verleumdungen. Elende Menschen, welche sie mit Wohlthaten überhäuft, lohnten ihr mit Undank.

Auf dem Wege von Stettin nach Küstrin versagte ihr der rohe Amtmann in Bärwalde frische Pferde zu ihrem Fortkommen, sodaß sie mit den abgetriebenen Gäulen weiterfahren mußte. Mitten in ihrem größten Unglücke erinnerte sie sich jener rührenden Strophen des „Sängers“ in Goethe’s „Wilhelm Meister“, die sie damals zu Ortelsburg in ihr Tagebuch einschrieb:

„Wer nie sein Brod mit Thränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Ihr führt in’s Leben uns herein
Und laßt den Armen schuldig werden;
Dann überlaßt ihr ihn der Pein,
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.“


(Fortsetzung folgt.)




Aus dem jüdischen Familienleben.


Von S. Mosenthal.


Ich weiß nicht, wie es historisch zu begründen ist, daß wir Juden für die Mahlzeit am Freitagabend, als am „Eingang des Sabbaths“ ein Fischgericht für unerläßlich halten. Die Bibel zählt unter den nationalen Lieblingsspeisen nur die Zwiebeln und den Knoblauch auf. Ob sich das angestammte Fischgericht durch Petri Fischfang oder das Wunder mit den Fischen auf seine historische Quelle zurückleiten lasse, das mögen die Archäologen entscheiden. Soviel aber weiß ich, daß in meiner Vaterstadt, die eine überwiegend protestantische, eine kleine katholische und eine ziemlich beträchtliche jüdische Bevölkerung besaß, fast ausschließlich für die letztere jeden Freitag die Bauern der Umgegend am sogenannten „Fischstein“ ihren Markt hielten und jüdische Köchinnen in mehr oder weniger reinen Netzen, jüdische Hausväter in mehr oder weniger reinen Schnupftüchern ihr Contingent an „Schabbesfischen“ nach Hause trugen.

Das Gericht hatte einen solennen Anstrich. Für die Größe des Festes zeugte die Qualität der Fische; den drei hohen Festtagen gehörte der Lachs, den minderen der Karpfen in der spartanischen Sauce; die gewöhnlichen Sabbathe mußten sich mit Barben und Weißfischen begnügen. Doch ohne Unterschied der Rangstufen wurden die Fische stets von meiner Mutter eigenhändig zubereitet, denn mein Vater behauptete, daß Niemand auf Erden eine Fischsauce „à la Mutter“ bereiten könne. Mit gerechtem Stolz heftete die Mutter jeden Freitag Vormittag sich die weiße Schürze um, an deren beide Zipfel ich und meine kleinere Schwester uns klammern durften, um Zeugen bei diesem Wunder der Kochkunst zu sein. So oft nun die in Stücke zertheilten Fische aus dem blanken Messingkessel genommen und symmetrisch auf die lange Schüssel geordnet wurden (das Gericht wurde Abends kalt kredenzt), legte die Mutter das prächtigste Kopfstück auf einen besonderen Teller, bekränzte es mit Zwiebeln und Citronenscheiben, übergoß es mit der gewürzig duftenden Sauce und stellte es auf den weißgescheuerten Anrichtetisch mit den Worten: „Für Tante Guttraud.“

Allwöchentlich sahen wir Kinder diesen neidenswerthen Tribut hinwegtragen, ohne uns von der Zwangspflicht, die uns kopflose Fische auferlegte, Rechenschaft geben zu können. Tante Guttraud war eine Mutterschwester unserer Mutter, die mit einem kranken Mann und zwei ältlichen Töchtern in einem Gäßchen nahe der alten „Schul“, dem Bethaus der Strenggläubigen, ihre ärmliche Wohnung hatte, aus der sie nie den Fuß setzte. So oft aber die Mutter nur ihren Namen nannte, geschah es mit einem Ausdruck frommer Verehrung, zu der auch wir Kinder mit angehalten wurden, ohne sie zu begreifen oder je nach ihrem Grunde zu fragen. Ja unsere heilige Scheu gewann einer Anstrich von Furcht, wenn wir mit der Mutter Freitag Abends nach der „Schul“ (Gottesdienst) die alte hölzerne Treppe, die einen Strick statt des Geländers hatte, zur Wohnung der Tante Guttraud hinaufkletterten um uns, wie es die Mutter nun einmal eingeführt hatte, von ihr „benschen“ (segnen) zu lassen.

Noch heute lebt in meiner Erinnerung das Bild, ja der Geruch des Zimmers, in das wir nicht ohne inneres Widerstreben eintraten. Der Geruchssinn hat ein merkwürdig treues Gedächtniß. Indem ich Dieses niederschreibe, athme ich fast wieder jene Atmosphäre von Kohlendampf, Lampendunst und Kampherduft, die mir vor fünfzig Jahren auf die Brust fiel und die, wo ich sie jemals in den Wohnungen der Armuth wiederfand, mir unwillkürlich das Bild der Tante Guttraud in die Seele rief. Das Zimmer war tief und niedrig; von dem geschwärzten Querbalken der Decke herab hing eine siebenzackige Messinglampe; aus zweien ihrer Schnäbel dampfte eine Oelflamme und warf ein grelles Licht auf den darunterstehenden, mit weißem Tischtuch gedeckten runden Tisch, während der übrige Theil des wüsten Gemachs in dämmerndem Halbdunkel lag. Der wurmstichige Fußboden war mit weißem Sand bestreut, der unheimlich unter unseren Sohlen knisterte. In einer Ecke der Tiefe lohte ein eiserner Steinkohlenofen, aus dessen Aschenthür die Windstöße qualmende Wölkchen trieben; in der anderen stand ein Bett mit roth und blau gewürfelten Kattunvorhängen, in welchem der Mann der Tante, den wir nie Onkel nannten, gichtkrank lag, die Hände und Füße in Kampherkissen eingebunden. Auf einem ledernen Lehnstuhl, unfern dem Bette, saß die Tante. Eine dicke in schwarzes Leder gebundene Tfille (Gebetbuch) haltend und die Lippen noch stumm bewegend, erhob sie sich, uns zu begrüßen. Die Mutter reichte ihr die Hand mit einer Bewegung, als verneigte sie sich vor der Greisin, die das Haupt der Mutter sanft an ihre Schulter lehnte und ihr mit der flachen Hand wiederholt über die Stirn strich. „Benschen Sie meine Kinder, Tante Guttraud!“ sagte sie jedesmal, denn die demüthige Greisin schien auf diese Bitte zu warten. Nun folgte sie und trat ein paar Schritte näher in den lichteren Raum auf uns zu, die wir uns scheu an die Ecke des Tisches geklammert hatten.

Tante Guttraud war von mittlerem Wuchs und schmächtiger Gestalt, die ein wenig gekrümmt oder vielmehr gebrochen schien, und die ein Kleid aus dunkelm Druckkattun eng umschloß. Ueber die Brust war ein weißes Tuch ohne jeglichen Zierrath gekreuzt, das ihr bleiches Antlitz fast wachsgelb erscheinen ließ. Ueber der Stirn schloß ein schwarzes Band die Haare sorgfältig ein; eine weiße Tüllhaube umrahmte das strenge vornehme Gesicht. Die Nase war so fein gezogen, daß sie wie durchscheinendes Elfenbein erschien, die schmalen Lippen ließen, geöffnet, wohlerhaltene Zähne sehen; unter stolz gewölbten dunkeln Augenbrauen leuchteten rehbraune Augen in feuchtem Glanz wie unter Thränen hervor. Zwei magere wachsgelbe Hände legten sich auf unser Haupt. Innig und seelenvoll hoben sich die Augen zum Himmel empor; die Lippen bewegten sich zur Segensformel so leise, daß wir nur das Summen der Fliegen hörten, die um die Flamme der Ampel schwirrten, und das leise Stöhnen aus dem Bette, dessen Vorhänge den Kranken verhüllten. Dann küßte sie uns auf die Stirn, und wir zogen zaghaft ihre dürre Hand an die Lippen. Mit kaum hörbarem Schritt bewegte sich die Greisin zu einem Glasschrank, aus dessen trüben Scheiben ein paar bemalte Kaffeetassen hervorlugten, und nahm aus einer Schublade zwei Borsdorfer Aepfel, mit welchen wir uns unterhielten, während die Mutter, zum Sitzen genöthigt, eine halblaute Conversation mit ihr begann.

„Wie geht es Ihnen, liebe Tante?“

„Gott sei Dank! nicht schlechter. Die böse Gicht ist hartnäckig, zumal im Herbst, aber Gott wird helfen.“

„Haben Sie heut Nacht ein wenig geschlafen?“

„Ein wenig; alte Leut’ brauchen nicht viel Schlaf. Er schläft auch wenig, aber Appetit hat er, Gott sei Dank, und die Fisch’ haben ihn delectirt. Es kocht sie auch Keine so, wie meine Betty.“

[29] „Wollen Sie nicht einmal bei uns speisen, liebe Tante? Sie haben mir’s längst versprochen.“

„Einmal, wenn ich von ‚Ihm‘ fortkommen kann. Ich schicke Dir lieber eins von den Mädchen; sie nähen sich die Augen aus – brave Kinder. Gott segne sie!“

„Und wie fühlen Sie sich, Tante Guttraud?“

„Ich? Gott sei Dank, daß es ‚Ihm‘ nicht schlechter geht; gelobt sei der Arzt der Kranken und gesegnet, wer die Kranken labt und die Wankenden stützt!“ und die magere Hand erhob sich über das Haupt unserer Mutter, die vor dem tiefen thränenfeuchten Blick der Greisin beschämt die Augen niederschlug.

Es klopft an die Thür; die Mutter erhebt sich; die Aepfel sind verzehrt; wir athmen auf, als wir durch das enge Thor in das enge Gäßchen treten. „Kinder,“ sagt die Mutter, „Tante Guttraud ist eine Heilige in Israel.“

Wir glaubten ihr. Verehrt man doch die Heiligen, ohne nach dem Grunde zu fragen. Kinder verlangen nicht nach Beweisen. Die Großtante stand unseren kindischen Interessen fern; sie ragte nur um eines Fischkopfs Länge und eines Apfels Schwere in unser Leben hinein. Und diese verhältnißmäßige Verkürzung war bald vergessen, so oft wir Abends, wenn nicht an dem durch seine Gräten gefährlichen Fisch, so doch an der Sauce „à la Mutter“ gehörig betheiligt wurden.




Wohl zwanzig Jahre später kehrte ich von der Universität in meine Heimath zurück. Wie fand ich Alles verändert und mir entfremdet! Der Tod hatte, von seiner eifrigsten Dienerin Cholera unterstützt, seine ergiebige Ernte eingeheimst. Mein geliebter Vater lag draußen, am „guten Ort“; für die vielen Andern, deren Hinscheiden mir gelegentlich berichtet wurde, hatte mein Herz kaum eine Erinnerung bewahrt. Das Vaterhaus war einsam geworden; die Brüder waren in der Fremde zerstreut, die Schwester war verheirathet; an verwaister Stätte schaltete die Mutter nicht „liebeleer“; denn ihr Herz umfaßte die ganze Menschheit; sie war der Brennpunkt für die zerstreuten Strahlen der Familie, die Vorsehung der Bedrückten und Nothleidenden der ganzen Gemeinde geworden. Es war ein schweres Wiedersehen. Wir umarmten uns schweigend. Jedes schonte die Wunden des Andern. Das Schweigen machte die gedrückte Stimmung in dem öden Hause nur schwüler und erstickender.

„Gehen wir hinaus zu den Unsern!“ sagte die Mutter. Ich wollte ihre Begleitung zurückweisen – sie lächelte.

„Das ist mein gewöhnlicher Spaziergang,“ sagte sie, „der ‚gute Ort‘ ist mein Garten, mein Persepolis.“

Eine Stunde Weges von der Stadt liegt der jüdische Friedhof auf einem Hügel am Saume eines Eichenwäldchens. Wenn man nicht durch das schmutzige Dorf fahren will, nimmt man den Weg durch den „Forst“, eine Wiese mit alten Pappeln umsäumt. Die grüne Wiese war mit unzähligen Herbstzeitlosen durchsät; zur Pforte des Friedhofes hatte die Mutter den Schlüssel, wie zu ihrem Garten. Wir wandelten unter Bekannten; von allen Grabsteinen grüßten vertraute Namen. Wir hatten uns am Grabe meines Vaters ausgeweint und schritten erleichterten Herzens durch die Gräberreihen, hie und da ein Steinchen auflesend, um es als Denkzeichen auf die Grabstätte eines Verwandten, eines Freundes zu legen. Bei einem liegenden Stein, dessen hebräische Inschrift mir schwer zu entziffern fiel, blieb die Mutter stehen, und gleich als ob sie mir einen theuren Bekannten vorstellen wollte, sagte sie mit gerührter Stimme: „Tante Guttraud!“

Die Erinnerung aus meiner Kindheit tauchte plötzlich vor mir auf, das Bild der Greisin in ihrem geheimnißvollen Schleier. Gegenüber dem unauflöslichen Räthsel des Todes empfand mein Herz zum ersten Mal den Drang, nach dem Grund der mysteriösen Verehrung dieser „Heiligen in Israel“ zu forschen. Ich setzte mich am Rand ihres Grabsteins nieder und zog die Mutter in den Schatten einer Trauerweide, die sie selbst dort gepflanzt hatte. „Was ist’s mit Tante Guttraud und Deiner frommen Verehrung für sie bis über das Gras hinaus? Wie groß muß dieses Weib gewesen sein, wenn eine Seele wie die Deinige sich in Ehrfurcht vor ihr verneigt!“

Fast erschreckt, wehrte die Mutter diesen Vergleich von sich ab. „Wie kannst Du mich, Kind, mit dieser Märtyrin vergleichen! Mir hat Gottes Gnade in meinen Kindern der Freuden so seltene gegeben, und mein Schmerz war immer nur das allgemeine Menschenloos. Sie war die heiligste Dulderin, die Heldin der Demuth, die Märtyrin der Treue. Ein Opfer, das die Liebe bringt, begreifen wir leicht, weil wir selbst uns dessen fähig halten; Tante Guttraud steht einzig da; sie hat sich selbst ihrer Treue geopfert. Ich habe Euch Kindern nie von ihren Schicksalen erzählt, weil ihr Heiligenschein einen Schandfleck unserer Familie deckt; ein Kindergemüth soll man nicht trüben durch die Schilderung menschlicher Irrthümer und Verbrechen. Aber Du kennst jetzt das Leben mit seinem Licht und seinen Schatten. Jetzt kann ich Dir ruhig ihre Geschichte erzählen.

Tante Guttraud war eine ältere Schwester meiner Mutter, Deiner verklärten Großmutter – Segen ihrem Angedenken! Sie war in einem Landstädtchen unweit der Hauptstadt verheirathet, und wir hörten wenig von ihr, bis ihr Mann starb und sie mit ihren beiden Töchtern herüberzog. Sie besaß so viel, wie sie zum bescheidenen Leben brauchte; sie war eine geübte Perlenstrickerin, und die Mädchen nähten für andere Leute. Trotz ihrer vierzig Jahre war sie noch eine schöne Frau; ihr vornehmer Gang ist mir noch immer im Gedächtniß geblieben.

Das war in den französischen Zeiten, als König Jeròme bei uns Hof hielt und aus Frankreich und Elsaß eine Menge abenteuerlicher Leute sich bei uns ansiedelten. Da war Alles ‚lustick‘ und schwindelhaft, und in der Neustadt sah man Kaufläden entstehen, so groß und prächtig wie auf der Frankfurter Zeil. Zwei Brüder, elsasser Juden, hatten das schönste Geschäft aufgemacht, und es war eine Neuigkeit, die Aufsehen in der Gemeinde erregte, als der ältere von ihnen sich mit Tante Guttraud verlobte. Es war ihm wohl hauptsächlich darum zu thun, in unsere Familie zu kommen, die nicht zu den reichsten, aber zu den geehrtesten der ganzen Gemeinde zählte. Auch war Tante Guttraud mit der weißen Hochzeitshaube wirklich eine schöne fürstliche Frau. Ich tanzte, als Mädchen noch, auf der Hochzeit, die im Stadtbausaal gehalten wurde; meine Mutter – gesegneten Andenkens – kam traurig und kopfschüttelnd von der Sude (Hochzeitsmahl) nach Haus; das Schwindelhafte des Festes hatte sie verstimmt, das Wesen des Bräutigams sie abgestoßen. ‚Bei dem hat die Windel nicht gerauscht,‘ sagte sie, um den Emporkömmling zu bezeichnen. Und sie hatte leider nur zu recht gesehen. Die Ehe der Tante war keine glückliche. Ihr zartes vornehmes Herz litt unter seiner Rohheit, ja man sagte, – obwohl sie selbst es beharrlich leugnete – daß er sie thatsächlich mißhandle. Die Stieftöchter trösteten sich mit ihren besseren Kleidern und mit dem Bewußtsein, nicht mehr für andere Leute arbeiten zu müssen; die Tante blieb einfach, wie zuvor, wir aber zogen uns mehr und mehr von ihrem Hause zurück; ein tiefer Widerwille ließ uns den neuen Onkel stets als einen Fremden betrachten.

Die ‚französische Zeit‘ ging vorüber; der Kurfürst[WS 5] wurde von den drei Alliirten wieder eingesetzt; ich war unter den ‚weißen Mädchen‘, die ihn am Weserthore empfingen. Aber die Zeiten waren, wie man damals allgemein sagte, nur schlechter geworden. Der westphälische Hof hatte viel Geld unter die Leute gebracht; mit dem Luxus hörte der Wohlstand auf; die deutsche Tugend coquettirte mit nüchterner Einfachheit; die großen Kaufleute sperrten Einer nach dem Andern ihre Läden zu. So ging es auch den beiden Elsassern; der Eine ging durch, der Andere verarmte immer mehr, und mit dem Verfalle seines Reichthums wuchs nur seine Rohheit, aber mit ihr die Demuth der frommen Dulderin. Sie strickte wieder Rosenguirlanden aus Perlen in grüne Geldbeutelchen, die sie selbst zum Verkaufe trug, und die Mädchen errichteten eine Nähschule und verfertigten wieder Hemden für andere Leute. Doch wenn Einer der Anverwandten der armen Tante eine Unterstützung bot, so wies sie diese stets entschieden und vornehm zurück: ‚Er sorge schon hinlänglich für die Seinen.‘

Ich war seit einem Jahre verheirathet, und Dein guter Vater hätte mir gern gestattet, etwas für die arme Tante zu thun. Wenn ‚Er‘ abwesend war, was jetzt halbe Wochen lang vorkam, besuchte ich die arme Tante, deren volles Gesicht der innere Gram abzehrte und bleichte, aber nie kam ein Wort der Klage über ihre Lippen. Nur heimlich durfte ich in der Küche die kleinen Vorräthe von Kaffee und Zucker, die ich mitbrachte, den Töchtern zustecken, in deren warmen Unterröcken ich die Kleider der Mutter erkannte; deshalb trug sie wohl im [30] kalten Winter ein dünnes Kattunkleid. Von dem Manne sagte sie, er sei ‚über Land‘, um Geschäfte zu machen. Das glaubte sie gewiß, aber mit dem ‚Ueberlandsein‘ hatte es eine eigene Bewandtniß, und man flüsterte in der Gemeinde darüber, daß er mit Geld in der Tasche und mit einer Uhrkette mit goldenem Petschaft zurückkam. Du weißt, mein Kind, daß damals noch jedes deutsche Ländchen seine eigenen Zollschranken hatte; wir waren gegen Hannover wie gegen Frankfurt zu abgesperrt, und die Waaren, die zumal von Hamburg reichlich zu uns herüberkamen, mußten an der Grenze, in Landwehrhagen, theuer verzollt werden. Da bildeten sich denn allerlei Schlupfwinkel, wohin die Schwärzer nächtlich ihren Vorrath trugen und in unterirdischen Magazinen anhäuften, von wo sie auf Schleichwegen in die Stadt gebracht wurden. Die Grenzjäger streiften nun bei Tage und bei Nacht, solche Spelunken zu entdecken und aufzuheben, um so mehr, als allerlei Diebsgesindel für gestohlene Güter dort guten Absatz fand; die Strafen wider solche Schwärzer und Hehler wurden stets verschärft, und es gab keine Gnade für die Ertappten.

Da hieß es eines Tages – es war in der Woche vor den großen Festtagen –, es sei bei Landwehrhagen ein solcher Diebs- und Schmugglerkeller entdeckt und aufgehoben worden und die Rädelsführer würden in Eisen hereingebracht. Ich hörte das ziemlich gleichgültig erzählen, und weil ein häusliches Weib nicht viel auf die Gasse hinaussehen kann, so wäre mir, hätte ich nicht gerade selbst die Fensterscheiben geputzt, der ganze Spectakel entgangen, als sie auf einem Leiterwagen, der auf beiden Seiten von Grenzjägern escortirt war, die Gefangenen über den Markt nach den Casematten führten. Aber so ließ mich das Geschrei des Pöbels und das Gejohle der Gassenjungen, aus dem ich den Ausruf ‚Jidde, Jidde!‘ (Jude) vernahm, den Kopf hinauslehnen – und hätte ich mich nicht an das Fensterkreuz gehalten, so wäre ich vor Schrecken zusammengestürzt; denn auf der vordersten Bank des Leiterwagens, die Hände kreuzweis mit Stricken gebunden, saß ‚Er‘, der unglückliche Mann meiner armen Tante Guttraud.

Was soll ich Dir sagen, Kind? Der Schreck hatte mir fast die Füße gelähmt. Es war ein Alarm in der Stadt, ärger als bei einer Feuersbrunst. Vor den Thüren und aus den Fenstern schrieen die Nachbarsleute Schimpfwörter auf ihn und auf die Juden; ich ließ nur geschwind die Fenster-Rouleaux herab. Dein Vater kam vom Comptoir nach Hause, todtenbleich. Die ganze Gemeinde war von dem Schlage getroffen, denn wenn bei uns ein Jude etwas angestellt hat, so läßt man’s gleich die ganze Gemeinde entgelten. Ich dachte nicht an die Gemeinde, als Dein Vater mir erzählte, der Unglückliche sei seit langer Zeit das Haupt der Hehler und Schwärzer gewesen. ‚Arme Tante Guttraud!‘ war Alles, was ich hervorbringen konnte.

‚Geh hinüber!‘ sagte Dein Vater in seiner Güte.

Ich ging. Ich glaube, es war das erste Mal, daß ich in bloßem Kopfe über die Gasse ging. Unterwegs wollte ich mir’s zurechtlegen, was ich ihr zum Troste sagen sollte – aber mir fiel nichts ein als: Arme Tante Guttraud!

Als ich hinaufkam, fand ich die Mädchen in thränenloser wilder Verzweiflung; ihre bitteren Worte und Flüche widerten mich an. Die Mutter sei fort, wohin, wüßten sie nicht, zur Polizei, oder in’s Gefangenhaus, oder zum Vorsteher der Gemeinde. Sie hätten es längst geahnt, obwohl er das Sündengeld allein verschlemmt und nichts davon heimgebracht habe; sie hätten ihn stets gehaßt. Aber die Mutter sei blind; sie dulde kein Wort über ‚ihn‘, nicht als ob sie ihn liebe, oder für besser halte, als er sei; nur die Unterwürfigkeit und die Treue sei bei ihr zur albernen Leidenschaft geworden. Nun seien sie Alle entehrt. Sie wollten lieber gleich in die Fulde springen. Mit Mühe bändigte ich ihr unheimliches Geschrei, als die Thür aufging und die Tante hereintrat.

Ich war erstaunt, sie so aufrecht und fast unverändert zu sehen; nur noch bleicher war ihr Gesicht; unter die großen braunen Augen hatten sich tiefe blaue Ringe gelegt, und ihre Wimpern zuckten fortwährend wie von sichtbaren Pulsschlägen. Ich fiel ihr laut weinend um den Hals; die Mädchen verstummten.

‚Meine gute Betty,‘ sagte sie mit ruhiger Stimme, ‚es ist eine schwere Prüfung von Gott, aber was Gott thut, das ist wohlgethan.‘

‚Das hat Gott gethan?‘ schrie die Aelteste mit krampfhaftem, herzzerreißendem Lachen.

Die Mutter richtete sich mächtig auf; ihr großer Blick fiel vernichtend auf die Tochter. ‚Verdammst Du ihn,‘ sprach sie, ‚ehe ihn unsere Saunim (Feinde) verdammen? Ist’s ausgemacht, was er gethan haben soll? Und hat er’s gethan, für wen hat er’s gethan? Um uns bessere Tage zu machen; weil ihn Euere wundgenähten Finger gedauert haben, hat er die seinen – ich will’s nicht aussprechen – Gott hab’ Erbarmen mit ihm! Aber wenn’s die Menschen nicht haben, wenn die Anderen ihn – Gott soll M’schomer und mazil sein (Gott verhüte es) – verdammen und im Stich lassen, ich bin sein Weib und hab’ ihm unter der Chuppe (Trauhimmel) Treue geschworen. Kein Wort will ich hören über ihn, oder so wahr ein Gott lebt, ich laß’ mich einsperren zu ihm in die Casematten.‘

‚Tante Guttraud‘ rief ich, und mit Thränen der Bewunderung wollte ich ihre Hand fassen, aber sie zog dieselbe zurück.

‚Was wunderst Du Dich,‘ sagte sie befremdet, ‚als wäre da weiter was dabei? Sind wir Gojim (Heiden), wo Einer auf sein eigen Blut einen Stein werfen kann? Ich bin, Gott sei Dank, ein jüdisch Weib und weiß, was geschrieben steht. Wie ich denke, denkt Jede, die nicht mewajisch haschem (Gotteslästererin) ist. – Red’ mit Deinem Manne, Bettyleb! Er ist takif (beliebt) beim Bürgermeister. Beim Parneß (Gemeindevorsteher) bin ich umsonst gewesen; er sagt, sie dürfen sich nicht hineinmischen – sie sind froh, wenn man sie nicht hineinmischt, aber der Commissär vom Gefangenhaus, den sie für den größten Rosche (Judenfeind) ausgeschrieen haben, hat mich angehört und hat mir erlaubt, daß ich ‚ihm‘ eine Supp’ bringen darf, so lange er sitzt; so braucht er wenigstens nicht treifes (Verbotenes) zu essen. Und nun sei mauchel (verzeih’), Betty! Ich will in die Küch’, damit ‚er‘ seine Supp’ kriegt.‘

So ging sie hinaus. Ich verwies die Mädchen mit stummem Blicke auf die fromme Dulderin, und als ich ging, sah ich sie in der dunkeln Küche den Topf zusetzen, so sorgfältig, als bereite sie die Suppe für ein krankes Kind.“

Die Mutter hielt eine Weile in ihrer Erzählung inne und fuhr dann fort: „Du mußt nicht glauben, Kind, daß es aus ist; das Schrecklichste, das Herrlichste kommt erst jetzt.

Der Proceß dauerte Wochen lang; da ließ sich nichts machen gegen die Beweise und das eigene Geständniß. Es sind böse Dinge da aufgekommen, die böse Menschen gleich verbreiteten und noch vergrößerten, so daß sie der armen Frau nicht verheimlicht blieben. Doch alles Das änderte nichts an ihrem Benehmen. Sie trug ihm Tag für Tag das Essen in’s Gefangenhaus, erhielt von dem Commissär sogar die Erlaubniß, ihn zu sehen und im Gegenwart von Zeugen mit ihm zu sprechen. Da sprach sie denn mit ihm, aber nur Worte des Trostes, der Milde, der Begütigung und hätte auch ohne Gegenwart der Zeugen gewiß nicht anders zu ihm gesprochen. Sonst wich sie nicht von ihrem Hause, empfing keinen Besuch und trug selbst die Stickereien, die so viel Thränen wie Perlen in sich schlossen, nicht mehr selbst zum Verkaufe. Nur am Abend von Roschhaschonu (Neujahrstag) ging sie wie sonst in die ‚Schule‘. Die frommen geputzten Weiber wichen ihr freilich aus, aber sie bemerkte es nicht und stand, wie sie immer pflegte, auf ihrer ‚Stätte‘, ohne vom Gebetbuche aufzusehen. Nur bei den Owinu-Malkeinu’s (Bitt- und Bußlitanei) bei den Worten: ‚Gedenke, daß wir nur Staub sind!‘ hob sie den Blick so inbrünstig und durchdringend zum Himmel, als wolle sie die Barmherzigkeit Gottes für alle Staubgeborenen herunterholen.

Kurz nach Sukkos (Laubhüttenfest) wurde das Urtheil gefällt. Die Meisten kamen als ‚Verführte‘ mit leichteren Strafen davon; der Rädelsführer wurde zu zehn Jahren in Eisen verurtheilt und – mich schaudert’s jetzt noch, wenn ich es aussprechen soll – zur drei Stunden langen öffentlichen Ausstellung am ‚Pranger‘.

Dieses Urtheil war ein Schreckensschlag für die ganze Gemeinde. Wäre er kein Jude gewesen – so sagte man allgemein – so wäre die Schande, die man seit zehn Jahren bei uns nicht erlebt hatte, gewiß nicht über ihn verhängt worden. Aber die Regierung war damals zum Danke für die errungene ‚deutsche Freiheit‘ sehr fromm und feierte den 18. October nicht nur durch ein Freudenfeuer am ‚Kratzenberg‘, sondern sie hätte auch gern auf dem Holzstoße dort alle Juden verbrannt. Dein guter Vater lief wieder zu dem Bürgermeister Schomburg, [31] der ein freisinniger Mann war, nahm noch zwei Deputirte aus der Gemeinde mit, und sie beschworen den Bürgermeister, diese Schande von der Gemeinde abzuwenden; der Pöbel könnte sie zu einem Krawall ausbeuten und bei allen Juden die Fenster einschlagen. Der Bürgermeister zuckte die Achseln; er wußte zu gut, woher der Wind blies; ‚da sei nichts zu machen; für die Sicherheit der Andern werde schon Sorge getragen werden.‘ Nun brachte man unter den Verwandten hundert Thaler zusammen und gab sie dem Leibkammerdiener des Kurfürsten, der bei ihm sehr einflußreich war, damit er ein gutes Wort einlege; die hundert Thaler blieben bei ihm, aber es blieb auch bei dem entsetzlichen Richtspruche.

Was ich in jener schrecklichen Zeit gelitten habe, kann ich Dir nicht schildern. Stundenlang saß ich Nachts weinend im Bette auf, und nur ein Blick auf meinen Mann und meine Kinder gab mir die Ruhe, wieder einzuschlafen. Die Tante Guttraud staunte ich nur an, wenn es mir gelang, sie auf ihrem Gange in die Casematten zu sehen und zu sprechen. Sie war so ruhig und gottergeben, als wäre es ein Blitzstrahl oder ein Todesfall, den der Allmächtige ohne menschliches Zuthun über sie verhängt hätte, und dem man sich schweigend beugen müßte. Die Mädchen verkrochen sich in ihre Kammer und ließen sich vor keinem Menschen sehen. Wir schickten täglich der Reihe nach das Essen hinüber, es kam aber fast immer unberührt in den Einsatzschüsseln wieder zurück.

Am nächsten Freitag Nachmittag sollte das furchtbare Schauspiel vor sich gehen. Damals stand das alte Rathhaus noch auf dem Markte, an der Ecke der Fischgasse, mit seinem hohen Schieferdache und seinen spitzen Thürmchen. Unter der Uhr stand der schöne Spruch: ‚Eins Manns Red’ keins Manns Red’, du sollst die Part hören beed’.‘ Ich weiß nicht, ob Du Dich noch daran erinnern kannst? Gerade gegenüber, wo die seligen Großeltern wohnten. Und gerade an der Ecke war ein Erkerthürmchen, zu gleicher Erde auf den Gassenstein stoßend, von außen vergittert, von innen mit einer drehbaren Wand versehen, an die gefesselt der arme Sünder mit entblößter Brust herausgeschoben ward, um den Schimpfwörtern der Menge und den Steinwürfen des Pöbels preisgegeben zu sein. Diese scheußliche Procedur, die das menschliche Gefühl empört und die thierischen Leidenschaften aufstachelt, hatte die fromme evangelische Regierung wieder eingeführt, nachdem die gottlosen Franzosen sie bei uns abgeschafft hatten. Und da sollte nun der ausgestellt werden, der – leider Gottes! – zu unserer Familie gehörte, auf der kein Unthätelchen eines Makels jemals gehaftet hatte. Den Tag vergeß’ ich nie. Er war für die ganze Gemeinde ärger als Tischi-b’af (Zerstörung Jerusalems). Die Läden der Juden blieben alle geschlossen; auf der Straße war Keiner zu sehen; selbst die Kinder behielt man aus der Schule zu Hause, damit ihnen die Gassenjungen kein Leid anthäten.

Ich muß Dir sagen, Kind, daß ich mir feig und elend vorkam, zu Hause zu bleiben und an mich zu denken, wo die arme Tante Guttraud in Kummer und Herzeleid vergehen mußte. Ist es ein gottgefälliges Werk, zu Sterbenden zu gehen – wie darf man da eine allein lassen, deren Seele eines hundertfältigen Todes stirbt? Ich sagte es Deinem Vater. ‚Thu’ was Du willst!‘ sagte er, ‚ich geb’ schon auf die Kinder Obacht.‘ Ich nahm mein Tuch und lief hinüber, ohne mich umzusehen, aber ich fand die Thür verschlossen und klopfte und rüttelte vergebens. Die Nachbarin, die Schneiderin Engelbrecht, kam auf die Stiege und sagte mir, die Mädchen hätten sich von innen eingeriegelt und die arme Madame sei fort. – Fort! fort! Wohin?. ‚Weiß man’s denn,‘ sagte die Engelbrechtin achselzuckend, ‚der Mensch in der Verzweiflung weiß nicht, was er thut. Herrje, die arme Frau dauert mich.‘ Ich schlich davon mit noch schwererem Herzen. Solltest Du’s glauben, Kind – ich war im Stande, das, was die Frau gedacht, der Heiligen zuzutrauen. Jawohl! Sie hat sich was angethan. Aber wie schämte ich mich, als ich erfuhr, was sie sich angethan hatte!

Die Stunde war gekommen; eine unzählige Volksmenge füllte den Markt; die brutale Masse freute sich auf das brutale Schauspiel, und johlte Schimpflieder auf die Juden. Man hatte Polizeidiener und Militär aufgestellt und die nächsten Zugänge zum Rathhause abgesperrt. Vom großen Fenster herab verlas ein Gerichtsschöffe das Urtheil, dem die Menge schallend zujubelte, und nun drehte sich die verhängnißvolle Wand und mit entblößter Brust, das Haupt gesenkt, das der im Kerker verwilderte Bart noch mehr entstellte, ward der Unglückliche sichtbar. Ein neues, noch wilderes Geheul. Schon bückten sich Einzelne nach Kieselsteinen, die den Verbrecher treffen sollten – da – (Alles, was ich Dir hier erzähle, war im Wochenblättchen genau beschrieben) da öffnete sich die kleine Thür des Rathhauses in der Fischgasse, und sie trat heraus, Tante Guttraud, in den von den Soldaten abgesperrten Raum und statt hindurch zu gehen, blieb sie am Eckstein vor dem Pranger stehen, hob sich am Eisengitter mit der dürren nackten Hand empor und stand, frei und Allen sichtbar, dicht neben dem Manne auf der Schandbühne, dem Manne, dem sie unter der ‚Chuppe‘ Treue geschworen hatte. So stand sie stundenlang, und nicht mit der Verzweiflungsmiene, wie man die Mutter unter dem Kreuze abgemalt sieht, nein, ruhig, als ob sich das von selbst verstünde, mit den Lippen nur leise zuckend, als ob sie innerlich bete, und die Augen auf ‚Ihn‘ geheftet, der zu ihr hinabsah, während dicke Thränen in seinen Bart fielen, die er sich nicht abtrocknen konnte.

Das war, wie wenn ein Blitz, nein, wie wenn ein Lichtstrahl von Gott auf die Menge gefallen wäre. Die Schimpfworte und das Geheul waren verstummt. ‚Sein Weib! Sein Weib! Sein unschuldiges Weib!‘ rief eine Stimme gedämpft der anderen zu, und so Viele schlichen sich davon, daß die Soldaten kein Gedränge mehr abzuwehren hatten. Der Pfarrer Mathias, der zum Abendsegen in die ‚Brüderkirche‘ gehen wollte, und der das Vorgefallene in der Marktgasse erfuhr, trat nahe heran – und zog den Hut ab.

Wie ein Lauffeuer war’s durch die ganze Gemeinde geflogen und nach und nach war Alles auf den Markt geströmt. Das Gefühl der Schande war aus allen Herzen gewichen und hatte dem des Stolzes Platz gemacht. Das Verbrechen war überall und zu allen Zeiten erhört; unerhört war nur das Märtyrthum der ehelichen Treue. Das war ein stilles Bewundern, ein Kopfschütteln, ein Zunicken, ein Schluchzen der Rührung, und der alte Raf (Rabbiner) hob die Hände empor und rief laut: ‚Gott, verzeih’ mir’s, so alt ich bin, weiß ich doch nicht, was man darüber für eine Broche (Segensspruch) machen soll.‘

Ich glaube immer, es war auf des Bürgermeisters Schomburg Einschreiten, daß die Zeit abgekürzt wurde und der Arme bald darauf den Blicken entschwand. Nun wollte die Menge das Spalier durchbrechen; sie hätten vielleicht auf den Händen die Tante Guttraud nach Haus getragen, aber sie war durch dasselbe Thürlein verschwunden, durch das sie eingetreten war. Man hat sie auch vergebens besuchen wollen, obwohl der Parneß und die ganze Gemeinde jetzt auf einmal den Weg zu ihr fanden. Sie war bei ‚Ihm‘ in seiner Zelle oder schloß sich mit den Ihrigen ein. Einmal fand ich sie nach vielen fruchtlosen Versuchen, und es zog mir die Kniee herab, als wenn man Kaurim fällt (der Fußfall am Versöhnungstage), aber sie sah mich mit strafenden Blicken an und sagte: ‚Betty, was thust Du für eine Ewere (Sünde)! Was würde Deine Mutter – der Friede sei mit ihr! – denken; sie war zehnmal besser als ich.‘

Als die Kurprinzessin auf die Welt kam, wurden Viele begnadigt und Vielen die Strafzeit abgekürzt. Da ist ‚Er‘ auch herausgekommen. Aber in den feuchten Casematten waren seine Hände und Füße gichtbrüchig geworden, und so lag er den Rest seines Lebens danieder, wie Du ihn noch gesehen hast, eingewickelt in Kampherkissen und von seinem treuen Weibe gepflegt, wie ein krankes Kind. Die Familie steuerte eine bescheidene Jahresrente zusammen, die durch Vermittelung der Mädchen dem kleinen Haushalte zu gut kam.

Kurz nachdem Du unsere Stadt verlassen hattest, ward ‚Er‘ von seinen Leiden erlöst. Die Lebensaufgabe der Dulderin war vollendet; da sie nichts mehr auf Erden zu thun hatte, rief sie Gott bald darauf in seinen Vaterschooß zurück. Die älteste Tochter ist Lehrerin in einer Arbeitsschule geworden, die jüngere hat einen Landlehrer geheirathet.

Das ist die Geschichte der Heiligen, die unter diesem Steine ruht.“

Die Mutter erhob sich, hinter dem Eichenwäldchen sank die Sonne und sendete einen letzten Strahl, der sich in dem thränenfeuchten Auge der Mutter spiegelte. „Giebt es noch solche Weiber in Israel?“ fragte sie.

Ich sah sie schweigend an und drückte ihr die geliebten Hände.




[32]
Auf der Spanischen Treppe.


Von Hermann Oelschläger.


So viel Schönes und Herrliches ich in Rom erlebt und erfahren, unvergeßlich vor Allem bleibt mir doch der erste Morgen, an welchem ich mit Absicht ziellos und auf’s Geratewohl diese „Hauptstadt der Welt“ durchschlenderte und an welchem mich ein freundlicher Zufall fast sofort gerade auf denjenigen Punkt führte, der mir einen der berühmtesten Blicke auf das von der Sonne bestrahlte Häusermeer der Stadt und auf die drüben so stolz und kühn in den Himmel ragende Kuppel von St. Peter bot.

Der kleine Cecco.
Nach dem Originalgemälde von Nathanael Schmitt.

Es war schon in später Abendstunde gewesen, als ich Tags zuvor den „heiligen Boden der ewigen Stadt“ betreten, und ich kann nicht sagen, daß ich trotz aller Sehnsucht und Begierde, mit welcher ich schon seit Jahren diese Stunde herbeigesehnt, anders als verdrießlich und mißmuthig gestimmt gewesen wäre. Schon, daß uns die classische Roma, diese „Hohepriesterin unter den Städten“, nicht anders empfing, als in einem Bahnhofe, der genau so herkömmlich und gewöhnlich aussah wie alle anderen Bahnhöfe dieser Welt und genau wie diese von übelriechendem Kohlenrauche erfüllt war, durch den man hustend den Ausgang suchte, schon das erschien mir höchst prosaisch und ernüchternd. Wie ganz anders mag es dem Romfahrer vordem zu Muth gewesen sein, wenn nach tagelanger Fahrt der Wagen [33] endlich die letzte Höhe vor Ponte Molle erreicht hatte und Vetturin und Reisende gemeinsam riefen: „Eccola Roma!“ denn „auf einmal lag die ewige Stadt vor ihren Blicken ausgebreitet, ein Meer von Dächern und Ziegeln, Mauern und Bogen, Thürmen und Kuppeln, und in demselben Augenblick trat auch hinter dem Monte Mario hervor St. Peter in seiner Alles beherrschenden Majestät“.

Ciocciara auf der Spanischen Treppe.
Nach der Natur aufgenommen.

Davon ist, wie gesagt, bei einem heutigen Einzuge in Rom nicht mehr die Rede. Ein Dienstmann oder Packträger, den ich mit Ehrfurcht betrachte, denn er kann – wer mag das wissen? – ein directer Nachkomme von Horatius Cocles sein, öffnet mir mit der gleichgültigsten Miene von der Welt das Coupé wie überall; städtische Zollbeamte halten uns bei aller Ungeduld unsererseits und bei aller Höflichkeit ihrerseits noch eine kleine Stunde in ihren Visitationsräumen zurück, auch wie überall, und zuletzt steht draußen eine Reihe von Hôtel-Omnibussen, nicht anders als in Paris oder London, und die nämlichen Portiers und Hausknechte mit denselben nichtssagenden Gesichtern wie dort schaffen uns sammt unserm Gepäck in den nämlichen Omnibus, ohne den wir nun einmal doch nicht in das Weichbild der „ewigen Stadt“ gelangen können. Mir wurde immer unbehaglicher zu Muthe, obwohl ich nicht sagen kann, was ich eigentlich erwartet hätte. Aber ich fuhr mir über die Stirn, denn ich glaubte zu träumen, und fragte mich: Bist du denn wirklich in Rom? In der Stadt des Augustus, des Tiberius, des – und schnell recitirte ich in Gedanken die ganze Imperatorenreihe, soweit ich sie von der Schule her noch wußte. Hatte ich vielleicht eine Ehrenwache antiker Prätorianer erwartet? Ich weiß es nicht. Aber das weiß ich, daß ich mit jeder Minute stiller und stiller wurde, namentlich als wir über die weite wüste Piazza [34] de’ Termini fuhren und dann durch gar so enge stille Straßen und zwischen gar so alten baufälligen Mauern hin durch die finstere Nacht bergab rollten.

Endlich hielten wir im großen Hofe des Hôtel Costanzi. Und wir waren in Rom! Denn rings herum an den Wänden standen und lagen in gefälliger Ordnung antike Marmorreste, Büsten, Säulenstümpfe, zerbrochene Capitäle, und von den Treppenabsätzen des Hauses leuchteten mir aus Lorbeerbüschen die wohlbekannten Gypsabgüsse berühmter Antiken grüßend entgegen. Sie, denen ich in Deutschland bisher nur in Museen begegnet war, sie riefen mir, hier in ihrer hesperischen Heimath, das erste freudige Willkommen zu, welches in meiner Brust einen begeisterten Widerhall fand, und mitten durch die Schaaren der verwünschten schwarzfrackigen Kellner und der gaffenden, lorgnettirenden Engländer und der schnatternden, langhüftigen Engländerinnen, die sich hier in den Vorsälen und auf den Treppen des Hôtels offenbar wie zu Hause fanden, eilten wir in unsere Zimmer, uns in der Stille zu freuen, daß wir wirklich in Rom seien und daß schon morgen das Größte, das die Erde kennt, leibhaftig vor unseren Augen stehen werde. Auf’s Neue spannten sich unsere begeisterungsvollen Erwartungen, spannten sich auf’s Höchste, und sie wurden erfüllt, wenn auch nur langsam und nach und nach. Denn gerade das, daß der lebhafteste und ehrlichste Enthusiasmus, den wir über die Alpen mit herüber in die Siebenhügelstadt bringen, im Anfange aus mehrfachen Gründen stark abgedämpft wird und nur allmählich wieder eine Steigerung erfährt, die aber dann um so höher geht und um so unauslöschlicher wirkt, gerade das ist charakteristisch für Rom. Und wer anders sagt, ist ein Phantast oder Heuchler.

Schon in den ersten Stunden des nächsten Tages war ich auf den Füßen, ohne Führer, ohne Plan, nur meinem Stern vertrauend, und er führte mich glücklich. Ich betrat die nahe Piazza Barberini, an der, wie ich erst später erfuhr, sich Georg Scherer für den ganzen Winter eingemiethet hatte, schritt an der rauschenden Fontaine mit ihrem muschelblasenden Tritonen vorüber, der „zu dem Platze gehört, als wäre er mit Naturnothwendigkeit auf demselben emporgewachsen“, that einen raschen Blick in die Via delle quattro fontane, ohne damals zu ahnen und um es erst einige Tage später zu erfahren, daß in einem der ersten Häuser sich hier Levin Schücking gleichfalls für den ganzen Winter niedergelassen habe, und schlug mich dann hastig wieder nach rechts, wo mir von der Höhe ein stattlicher Obelisk entgegenwinkte. Römisches Straßenleben habe ich den Lesern der „Gartenlaube“ schon früher geschildert, und ich übergehe also den lebendigen Eindruck, den ich auf diesem Wege von allen Seiten zum ersten Male empfing.

Die sanft ansteigende und zur Höhe führende Via Sistina ist zu beiden Seiten mit Ateliers, Läden und Kunstwerkstätten aller Art gefüllt: Steinschneider, Mosaikarbeiter, Bronzenhändler, Gypsgießer, Marmorschleifer, Antiquitätenverkäufer haben hier die Parterregeschosse der beiden Häuserreihen in Beschlag genommen und dazwischen hausen deutsche Künstler in ihren Ateliers, unter welchen mir später dasjenige des Schwaben Dausch mit seiner großartigen Siegfried-Figur mit das interessanteste werden sollte.

Heute eilte ich an allem Diesem vorüber, hatte kaum einen Blick für die Bronzen, Gypsabgüsse, Marmorschalen und Gemmen, die aus allen Schaufenstern schimmerten, mich lockte nur der Obelisk, und dennoch eilte ich, als ich ihn erreicht, auch an ihm achtlos vorbei über den kleinen Platz, trat in freudigem Schreck vor an die steinerne Rampe, und dem Staunenden tief zu Füßen lag im strahlenden Sonnenglanz weit gedehnt die lang ersehnte, alte, ewige Stadt. Gerade vor mir hatte ich den Spanischen Platz, und die breite, gewaltige Treppe, die von ihm zur Höhe führte, auf der ich stand, war die berühmte Spanische Treppe.

Mein Stern hatte mich wirklich gut geführt, und vielleicht war es nur die Dankbarkeit gegen ihn, wenn ich selbst später noch neben der Aussicht vom Monte Pincio, die uns außer dem volleren Blick auf die riesenhafte, majestätische Kuppel des Michel Angelo, noch den andern auf die in ihrer Art ganz einzige Piazza del Popolo bietet, oder gar neben der Aussicht vom Janiculus, die mit dem modernen Rom zugleich das antike umfaßt, auch an dem Blicke von der Spanischen Treppe mich stets auf’s Neue ergötzte und auf der Piazza della Trinita auch am häufigste verweilte.

Wenn nun Rom diejenige Stadt ist, in welcher behagliches, stillfrohes, weltvergessenes Hinschlendern eine der erfreulichsten und ausbildungsfähigsten Beschäftigungen ist, denen man sich ergeben kann, so gewährt es ein ebenso einfaches und harmloses, wie genuß- und abwechselungsreiches Vergnügen, den Obelisken und die Kirche St. Trinita de’ Monti im Rücken, auf der Steinbalustrade der Piazza della Trinita gelehnt, über die Spanische Treppe hinweg auf das ausgedehnte Häusermeer Roms zu sehen, von der Villa Melini auf Monte Mario bis hinüber zu den Höhen des Janiculus mit seinen Prachtgärten, die aus der Tiefe der Stadt bis hinauf zu seinen Höhen, bis zur herrlichen Aqua Paola und bis zum Kloster San Onofrio reichen, in welchem Tasso starb. Dazwischen hochragend über alles von Menschenhand Gebaute die Kuppel von St. Peter, links dahinter die Piniengruppen der unvergleichlichen Villa Pamfili, während aus dem Häusermeer und Dächerwirrwarr vor uns sich Säulen um Säulen, Obelisken um Obelisken heben, bis endlich links hinter dem gewölbten Bleidach des Pantheons der Thurm des Capitols den weitschweifenden Blick begrenzt.

Aber was sind Namen! Man muß das Alles sehen und zwar zur rechten Zeit, im rechten Licht. Die rechte Zeit aber war für mich immer die des Sonnenunterganges, und oft habe ich mich aus heiterer Gesellschaft weggeschlichen, um von der Spanischen Treppe aus die Sonne königlich hinter den Hügeln von Rom untergehen zu sehen. Ein violetter Duft von wunderbarem Zauber schwebt über der Riesenstadt mit ihren Giebeln und Thürmen; jener nur dem italischen Himmel eigenthümliche zarte blaugrüne Ton über dem Horizont geht rasch in ein tiefkräftiges Purpur über, in dem die Peterskuppel selbst zu erglühen scheint; die breiten Wipfel der einsamen Pinien auf Monte Mario heben sich schwarz und riesenhaft von der flammenden Abendgluth, und mir allzurasch versinkt in die aus den Tiefen aufsteigende Nacht ein Schauspiel, das an Pracht und Farbenschönheit seines Gleichen nicht hat.

Und wie oft bin ich wieder um Mitternacht auf der Spanischen Treppe gestanden, wenn das große Rom da unten nachtbedeckt still, still im tiefen Schlafe lag, nur der Brunnen auf der Piazza di Spagna rauschte und die freundlichen Sterne so zauberhaft strahlend wie immer am blauen Himmel dahinzogen, die stummen Zeugen so vieler verrauschten Jahrtausende. Sie allein sind lebendig geblieben, und wie viele Götter der Erde und des Himmels haben sie stürzen, wie viele Herrlichkeit und Macht haben sie in Blut und Jammer und Schande enden sehen! Von den Nächten, da sie Numa und Egeria im Haine belauschten, bis heute. Und für den, der die Todten zu beschwören versteht, wenn der Mond sein volles Licht auf die Dächer und Häusermassen wirft, daß sie leuchten wie von frisch gefallenem Schnee, für den ist auch die Spanische Treppe ein guter Platz, aber das Meiste, was die Todten in Rom aus dem Grabe mit sich bringen, ist grauenhaft. Denn hier auf dem Monte Pincio, der unmittelbar an die Spanische Treppe stößt, lagen die prachtvollen Lucullischen Gärten, in denen die blutgierige Buhlerin Messalina ihre Villa zum Schauplatze wilder Orgien machte, und da drüben, wo heute St. Peter aus der Erde steigt, hatte Nero seine Gärten, in denen er, die Nacht zu erhellen, die Christen bei lebendigem Leibe wie Fackeln verbrannte. …

Aber warum die Todten beschwören! Das frische Leben rauscht voll und kräftig um uns und am Meisten hier auf der Spanischen Treppe, die zugleich mit dem Spanischen Platze der Mittelpunkt des Fremdenverkehrs genannt werden kann. Vom frühen Morgen bis zum späten Abende ist die vielstufige Treppe belebt, meist von Fremden, die aus ihren Quartieren in der Via Sistina hier hinunter zur Stadt oder vom Spanischen Platze herauf steigen, die vielbewunderte Aussicht zu genießen oder auf der Passegiata des Monte Pincio sich zu ergehen oder ihre Quartiere in den luftigen Straßen da oben aufzusuchen. Unter den Passanten dieser Treppe ist im Laufe eines Winters jede civilisirte Nation der Erde, jedes Alter und Geschlecht vertreten, und ich habe nur immer die Körnigkeit des Materials bewundert, aus dem die Treppe hergestellt ist, und die große Geschicklichkeit, mit welcher die einzelnen [35] Theile und Platten so fest in einander gefügt sind, daß sie noch heute, trotz einer Dauer von mehr als anderthalbhundert Jahren und trotz der unglaublichen Benutzung, die sie erfährt, doch so fest geschlossen und gegliedert dasteht, als sei sie erst von gestern. Die Schönheit ihrer reichen Gliederung mit ihren breiten Absätzen, mit ihren Vorsprüngen und Balustraden wird indessen erst in größerer Entfernung sichtbar, etwa vom Corso aus durch die Via Condotti gesehen, oder noch besser von dem fern gelegenen Platze vor dem Palazzo Borghese.

Und bei aller Vornehmheit und Schönheit, die der alten Riesentreppe für sich eigen ist, hat sie noch einen besonderen Reiz, der, wie ich oft beobachtet habe, auf viele Fremde noch anziehender wirkt, als der Blick auf die Stadt selbst: sie ist der Aufenthalt der berühmten Costümmodelle, der Männer und Frauen aus dem Albanergebirge, aus dem Neapolitanischen, die sich den Winter über in Rom aufhalten, den Künstlern Modell zu stehen und sich in ihren eigenthümlichen malerischen Trachten, denen man selbst in Rom sonst nirgendwo wieder begegnet, malen zu lassen.

Wenn sie im Herbste kommen und ihre altgewohnten Plätze auf dem Trottoir oder auf den Haustreppen der Via Sistina, auf der Piazza Trinita de’ Monti und auf der Spanischen Treppe einnehmen, hat die Saison begonnen, und nicht eher rüsten sich die buntfarbigen, immer beweglichen Gestalten zur Rückkehr in ihr heimathliches, waldkühles Gebirgsdorf, bis die Sommersonne schon hoch am Himmel steht und unter ihrem heißen Strahle die bleiche Fieberluft aus den Tiefen steigt und sich unheilvoll über die öde und fremdenleere Stadt breitet.

Die Männer und Knaben dieser seltsamen Colonie treiben sich meistens auf der kleinen Piazza Trinita de’ Monti oberhalb der Treppe herum, in schmutzigen Sandalen, brauner Jacke, durchlöchertem blauen Mantel, und auf dem krauslockigen Haare den alten, rothbebänderten Spitzhut. Ein langer Stock, eine Kürbisflasche mit Rothwein, eine mit Ziegenfell überzogene Seitentasche, die Lebensmittel für den ganzen Tag bietet, ist ihre ganze Ausstattung. Hier stehen oder liegen sie in der Sonne herum, rauchend, essend, trinkend, bis ein Maler sie in sein Atelier holt. Sie sind freundlich und grüßen, wie dies auch ihre Frauen und Mädchen thun, Denjenigen gerne, der öfter des Weges kommt und Interesse an ihnen zeigt.

Einer gewissen Berühmtheit unter ihnen erfreuen sich der einbeinige junge Mann, der wegen seines edlen, von schwarzbraunen Locken umwallten Kopfes den nom de guerre des „Nazareners“ führt, der bildschöne jugendliche Bernardino und der kleine possirliche Cecco, dessen Bild die „Gartenlaube“ heute nach einem vortrefflichen Oelgemälde des in Rom lebenden Malers Nathanael Schmitt wiedergiebt. Wer in den letzten Jahren in Rom war, kennt auch den kleinen munteren Burschen mit den großen, kohlschwarzen Augen im Schelmengesichte, der die Bettelei so lustig zu treiben versteht, wie Keiner – denn wenn er lachend uns entgegen gelaufen kommt, sobald er unser nur von der Ferne ansichtig wird, hat er, eben seines drolligen Wesens halber, seinen Soldo schon in der Hand, bevor er uns darum gebeten hat. Wir plaudern mit ihm, und wenn wir weiter gehen, steht der Krauskopf noch lange in seinem schmutzigen Lämmerpelz da, winkt uns dankend mit der Hand und springt dann jubelnd zu seinen Gespielen zurück, ihnen die erhaltene Gabe zu zeigen. Ob er zum Betteln erzogen ist, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß, als er einstmals wieder auf mich zulaufen wollte, ein etwa sechszehnjähriges Mädchen, vielleicht seine Schwester, ihn zurückhielt und seiner Zudringlichkeit wegen, wie sie es nannte, schalt. Aber er hat den gewohnten Soldo von mir trotzdem erhalten.

Der Maler des kleinen Cecco, Nathanael Schmitt, ist unter den jungen Künstlern in Rom einer der tüchtigsten Portraitmaler, der von seinem Vater, einem Schüler des großen Cornelius, in Heidelberg den ersten Unterricht erhalten, dann seine Ausbildung durch große Reisen in Deutschland, Frankreich, England vollendet hat und nun dauernd in Rom lebt, wo er in der Via Sistina sein Atelier aufgeschlagen hat. Das Originalbild befindet sich im Besitze des Dr. Gräfe in Halle.

Auf der Spanischen Treppe selbst kauern in einzelnen Gruppen, die der Treppe eine außerordentlich malerische Staffage geben, die Frauen, Mädchen und kleinen Kinder – gleichfalls schwatzend, lachend, vom Einen zum Andern laufend, Orangen essend, vielleicht Veilchen verkaufend und im besten Falle strickend. Wirklich schön sind unter ihnen seltsamer Weise nur Wenige, und der ganze Reiz ihrer Erscheinung ruht häufig genug nur in den buntfarbigen, geschmackvollen Costümen, die sie tragen. Doch ist z. B. Philomene ein wegen seiner großen Anmuth von den Malern oft gesuchtes Modell, desgleichen Giovannina, die wegen ihres feinen Gesichtsschnittes bei den Künstlern ebenso großer Beliebtheit sich erfreut, wie ihr alter Vater, der auf hunderten von Bildern als Campagnahirte figurirt. Und nicht weit von ihr pflegt mit andern Genossinnen Marianina auf den Treppenstufen zu kauern, der ihr reiches blauschwarzes Haar eine Berühmtheit besonderer Art verschafft hat.

Während des Carnevals vergnügten sich die Modelle jeden Nachmittag auf dem ersten großen Absatz der Spanischen Treppe beim rauschenden Klang des Tambourins und von Zuschauern dicht umdrängt, am bacchantischen Saltarello, der immer nur von einem Paare getanzt wird und dessen leidenschaftliche und doch rhythmische Bewegung die schönen Formen des Körpers auf’s Anmuthigste zu Tage treten läßt.

Am poetischsten ist dieses Modellvölkchen aber immerhin aus der Ferne anzusehen, wenn es im klaren Helldunkel eines Kirchenportals herumlungert oder auch von glänzender Sonne beschienen seine Siesta hält. In der allernächsten Nähe oder gar im Lichte des Ateliers verschwindet doch Vieles von dem Zauber, der die Leute für den flüchtigeren Beobachter umgiebt; von geistiger Angeregtheit ist wenig oder Nichts an ihnen zu spüren, und Manche bringen es fertig, einem Maler den ganzen Tag lang als Modell zu sitzen, ohne zu fragen oder zu sehen, wozu sie benutzt werden. Andererseits haben sie ganz gut gelernt, daß diese Jacke oder jener Mantel noch zerfetzt und verwettert großen Werth habe, und sie vergessen es niemals, wenn dieser oder jener Maler „venticinque Lire“ (25 Lire) dafür geboten hat. Auch verstehen sie sich vortrefflich darauf, einem neuen Stück Kleid auf künstliche Weise ein getragenes Ansehen zu geben.[WS 6]

Als ich einmal mit einem befreundeten Maler durch die Via Babuino schlenderte, begegneten wir einem alten Kerl in Lumpen, den mein Freund fragte, ob er Modell sei. Er antwortete damit, daß er seinen Mantel mit großer Gewandtheit und gewiß mit viel Grazie mit der linken Hand über die Brust faßte und mit der rechten eine große Bewegung machte, die für einen Propheten wohl passend gewesen wäre.

Wirkliche Naturwüchsigkeit findet man nur mehr im Gebirge, in den Abruzzen. Anagni, Veroli und besonders Alatri, das berüchtigte Räubernest, sind reich an den herrlichsten Gestalten, ernsten, scheuen Naturen. Auch findet man dort das Costüm viel einfacher und schöner im Tone, während es in Rom dem erfahrenern Auge mitunter doch etwas zu viel Absicht verräth, was indessen nicht hindern soll, daß die Modelle der Spanischen Treppe namentlich den Touristen als heitere römische Staffage immerdar in angenehmer Erinnerung bleiben.

Das Beliebteste unter den weiblichen Costüm-Modellen ist neben der Albaneserin und der allerdings sehr selten sichtbaren Donna di Nettuno das sogenannte Ciocciaren-Costüm, wie es unser zweites Bild nach einer photographischen Originalaufnahme bietet. Es ist so genannt nach der Fußbekleidung (cioccia), einer starken, länglichen Ledersandale, deren Ecken mit Schnüren, die um das Bein bis zur Wade hinauf laufen, über den Fuß befestigt werden. Den anmuthigen Kopf schmückt ein weißer, durchbrochener und befranster Schleier; ein weißes Hemd, gleich den weiten Aermeln von zierlicher durchbrochener Arbeit, verhüllt mit dem meist dunkelfarbigen schleifengeschmückten Mieder den Oberkörper, während auf dem blauen oder rothen Rocke eine grüne oder blaue Schürze liegt, die oben und unten eine breite, bunte, arabeskenartige Stickerei zeigt. Das Ohr schmücken große goldene Ringe.

Eines der schönsten Modelle, die Schwester einer gewissen Beatrice – ich vermag mich im Augenblicke nicht auf ihren Namen zu besinnen –, ist seit vorigem Winter von der Spanischen Treppe verschwunden. Ein preußischer Baron, sagt man, hat sie in die enge Haft eines Instituts gebracht, wo sie sich damit abquält, ihren Geist zu bilden, und das sie nach erreichtem Ziele nur verlassen soll, eben besagten Baron zu heirathen. Ganz gelegentlich fragte ich Beatrice, wie denn eigentlich jener Baron, ihr künftiger Schwager, heiße? Beatrice aber lachte und sagte achselzuckend nichts als „Chi lo sa?“ – wer weiß es?“

[36]
Die Bremerhavener Katastrophe.


Von einem Augenzeugen.


Ein lebhafter Verkehr entwickelte sich in der Morgenfrühe des 11. Decembers in den beschränkten Räumen des Bahnhofs in Bremen: die Passagiere des Postdampfschiffes „Mosel“ warteten des Extrazuges, welcher sie nach Bremerhaven an Bord bringen sollte. Die Stimmung war sehr gedrückt. Erst Tags zuvor hatte man die ersten ausführlichen Nachrichten über die Strandung des „Deutschland“ an der englischen Küste erhalten und den Verlust von mehr als vierzig Menschenleben mit Entsetzen vernommen.

Das Signal zur Abfahrt nach Bremerhaven wurde gegeben, und bald sauste der Zug durch die öden Landschaften zwischen Bremen und seinem Vorhafen; das Bedürfniß nach Unterhaltung machte sich geltend; bange Ahnungen wurden ausgesprochen, getheilt und bekämpft. Da war es vorzüglich ein Passagier, dessen äußere Erscheinung durch außerordentliche Corpulenz bei mittlerer Statur auffiel, der sich lebhaft an dem Gespräch betheiligte. In gebrochenem Deutsch versuchte er die Befürchtungen der Mitreisenden zu beschwichtigen, indem er erzählte, er habe bereits dreißig Mal den Ocean durchkreuzt, ohne jemals einen ernstlichen Unfall erlebt zu haben. Das behäbige, gentile Aeußere des Mannes mit röthlich blondem Vollbart und goldener Brille, die angenehme Art seiner Unterhaltungsweise wirkten Vertrauen erweckend, und in beruhigter Stimmung war bald das nächste Ziel, Bremerhaven, erreicht. Vor der Wartehalle des Norddeutschen Lloyd hielt der Zug; die Passagiere begaben sich eiligst an Bord der „Mosel“, welche in geringer Entfernung im Vorhafen zur Abfahrt bereit lag. Ein freundlicher Empfang erleichterte die ersten Einrichtungen – die Effecten waren an Bord; jetzt noch ein Blick zurück in die Heimath und zum Abschiede vom Festlande. Die gewaltigen Dimensionen des prachtvollen Schiffes, die Ordnung und Pünktlichkeit, mit welcher die letzten Arbeiten vor der Abfahrt erledigt wurden, befestigten die Hoffnung auf „eine glückliche Reise“.

Ein prachtvoller Wintermorgen verklärte die Landschaft vor uns: nach Westen der breite Weserstrom, voll von Treibeis und dennoch durch Schiffe belebt, nach Osten ein dichter Mastenwald und dahinter im hellsten Sonnenschein die stattlichen Häuserreihen von Bremerhaven und Geestemünde. An der Nordseite des Vorhafens ragt der Leuchtthurm empor, und auf der Südseite der Kajenmauer war eine zahlreiche Menschenmenge versammelt. Noch war die Schiffstreppe herabgelassen. Die Schiffsmannschaft ging ab und zu; Arbeiter schafften die letzten Effecten und Colli an Bord; Kaufleute hatten noch Besorgungen zu machen, Passagiere Freunden und Verwandten den letzten Händedruck zum Abschiede zu geben. Auch an Bord ist der größte Theil der Passagiere in der Nähe der Schiffstreppe versammelt. Da kommen noch zwei Wagen mit den letzten Gütern für die „Mosel“, schwere Kisten und Fässer. Es ist halb elf Uhr; das Zeichen mit der Schiffsglocke wird gegeben; die noch am Lande befindlichen Passagiere eilen der Treppe zu; Nichtpassagiere verlassen das Schiff – in demselben Augenblick schießt aus dem dichten Menschenknäuel eine riesige Feuergarbe empor; eine furchtbare Detonation folgt – eine entsetzliche Katastrophe ist hereingebrochen.

Auf der „Mosel“ wurden wir sämmtlich zu Boden geschleudert, und es vergingen Minuten, bis die Unverletzten sich zu erheben vermochten. In der ersten Betäubung wußte Niemand, was geschehen sei. Ein angstvoller Blick über Bord zeigte an derselben Stätte, welche soeben noch das regste, geschäftigste Leben erfüllte, ein Bild, welches an Furchtbarkeit Alles überbietet, was die Phantasie sich erdenken kann, ein Bild des unaussprechlichsten Jammers, welches Menschenaugen je geschaut haben: Menschen, Pferde und Wagen sind verschwunden – ein entsetzliches Leichenfeld breitet sich vor uns aus. Der Jammer und die Wehklagen gräßlich Verstümmelter dringen an unser Ohr; brennende Kleidungsstücke bedecken die zerrissenen Leiber; thränenden Auges wenden wir uns ab – das Elend ist zu groß. Das Bewußtsein, selber dem grauenhaftesten Tode glücklich entkommen zu sein, steigert die fieberhafte Aufregung. Alles eilt der Schiffstreppe zu – sie ist verschwunden. Dem Capitain der „Mosel“ sind die Kleider auf dem Leibe zerrissen; durch den Sturz betäubt und schwerhörig, übergab er das Commando einem Freunde. Drei Schiffsofficiere zählten zu den Schwerverwundeten; zwei Beamte des Norddeutschen Lloyd wurden vermißt. Die „Mosel“ wurde sofort in den Hafen zurückgebracht. Die starken Eisenplanken am Vordertheile waren nach innen gebogen und durch einen Riß bis unter die Wasserlinie gesprengt.

Im ersten Augenblicke glaubte man allgemein an eine Kesselexplosion des naheliegenden Bugsirdampfers „Simson“, dessen Deck ebenfalls zertrümmert war, indeß sehr bald ergab sich, daß unter den zuletzt angekommenen Gütern eine Kiste oder ein Faß mit Sprengstoffen gewesen sein mußte, welche beim Verladen explodirt waren. Da, wo der Wagen gestanden, war ein Loch von drei Meter Durchmesser und zwei Meter Tiefe in die feste Pflasterung des Anlageplatzes gedrückt worden. Die furchtbare Gewalt der Explosion hatte den Wagen, die Kisten und die Schiffstreppe vollständig zertrümmert. Holz- und Eisensplitter brachten, rings umhergeschleudert, in weitem Umkreise Tod und Verderben.

Nicht lange hatte die so nöthige Hülfe auf sich warten lassen. Alles strömte der Unglücksstätte zu, und was thätige Nächstenliebe zu thun vermag, geschah in aufopferndster Weise. Die Leichtverwundeten wurden in die Stadt geführt, den Schwerverwundeten wurde in der nahen Wartehalle von Aerzten der erste Verband angelegt, während man die Leichen und versprengten Körpertheile sammelte und in Körben und Wagen noch dem Barackenlazareth brachte. Noch kannte Niemand den ganzen furchtbaren Umfang der Katastrophe, aber die erste Zählung ergab bereits siebenundfünfzig Leichen und dreißig Schwerverwundete, aber noch fortwährend wurden Leichen und Gliedmaßen aus dem Vorhafen aufgefischt und vermehrten die Zahl der Opfer. Es war ein trauriges, herzzerreißendes Geschäft, die meistens schrecklich entstellten und verstümmelten Leichen zu identificiren. Oft waren es nur zerrissene Ueberbleibsel der Kleidung, eine Brieftasche, ein Ring oder ein anderes zufälliges Kennzeichen, welches den Angehörigen die schmerzliche Gewißheit ihres Verlustes gab. Ergreifende Scenen namenlosen Schmerzes wiederholten sich auf der Unglücksstätte und im Lazareth. Eine Mutter fand statt des schmerzlich gesuchten Töchterchens nur deren Pelzmuff mit den abgerissenen Händchen. Einem Vater wurde der Kopf seines verunglückte Sohnes in’s Haus gebracht; ein Passagier aus Magdeburg suchte lange nach den Resten seines Vaters, der ihm das Geleit gegeben. Eine abgerissene Hand, durch den Ring gekennzeichnet, war Alles, was er der trauernden Familie heimbringen konnte.

Eine Familie aus Bremerhaven, welche einem abreisenden Sohne das Abschiedsgeleit gegeben hatte, wurde besonders hart betroffen: Vater, Mutter, zwei Söhne und zwei Schwiegersöhne waren todt, zwei Töchter schwer verwundet, zwei Verwandte vermißt. – Mehr als zweihundert Wittwen und Waisen trauern an den Särgen der Gemordeten.

Ein Gang durch die Straßen Bremerhavens zeigte auch hier überall Spuren der Verwüstung. In den zunächst gelegenen Gebäuden blieb kein Fenster unzerstört. Thüren wurden aus den Angeln gerissen oder zersplittert, und selbst in größerer Entfernung war kaum ein Haus unversehrt geblieben. Bruchstücke von Fenster- und Spiegelscheiben bedeckten die Straßen nach alle Richtungen hin. Die Bevölkerung war tief erschüttert, die Zahl der unglücklichen Opfer mehrte sich stündlich. Bestürzung und Trauer malte sich auf allen Gesichtern. – Ueber die Ursache der Katastrophe wurde fast allgemein die Ansicht geäußert, daß sträflicher Leichtsinn es versucht, eine Kiste mit Dynamit unter falscher Declaration an Bord zu schmuggeln, und dadurch die Explosion veranlaßt habe.

Gegen Abend eine neue Schreckenskunde von der „Mosel“. Ein Passagier der ersten Kajüte, als W. K. Thomas in die Liste aufgenommen, hatte einen Selbstmordversuch gemacht.

Unmittelbar nach der Katastrophe, während das Schiff in den Hafen zurückgebracht wurde, hatte sich Thomas durch auffälliges [37] Benehmen bemerklich gemacht; den Mantelsack in der Hand, verlangte er, unverzüglich an’s Land gesetzt zu werden, weil er nothwendig telegraphiren müsse. Als sein Begehren, weil unmöglich, abgewiesen, hatte man ihn öfter aus einer Flasche trinken sehen, dann war er verschwunden. Gegen fünf Uhr hört man Aechzen und Stöhnen aus einem der Staterooms. Die Thür ist von innen verschlossen, und nach gewaltsamer Oeffnung findet man Thomas mit geschwollenem blutigem Gesichte bewußtlos am Boden liegend. Der Transport des Verwundeten nach dem Lazareth wird sofort angeordnet; bald darauf findet man in seinem Zimmer einen Revolver – zwei Läufe waren entladen. Man brachte dieses Ereigniß sofort mit der Vermuthung in Verbindung, daß Thomas in irgend welcher Beziehung zu der Unglückskiste stehen müsse. Unter ärztlicher Behandlung kehrte sein Bewußtsein zurück, indeß auf alle an ihn gerichteten Fragen gab er nur die Versicherung seiner Unschuld und als Motiv des Selbstmordversuchs zerrüttete Vermögensverhältnisse an. Selbst die eindringlichsten Vorstellungen des Arztes, der Hinweis auf sein nahes Lebensende, das Seufzen und Jammern der Verwundeten, der Todeskampf der Sterbenden, welche mit ihm in demselben Raume lagen, eingesargt und hinausgetragen wurden, vermochten ihm ein anderes Geständniß nicht zu entreißen.

Da Thomas unter den übrigen Verwundeten des Lazareths lag, so war der Zutritt ohne Schwierigkeiten zu erlangen, aber schwer war es, in ihm den vielgereisten, eleganten Mitpassagier aus Bremen zu erkennen, welcher den Mitreisenden durch seine Unterhaltung die Eisenbahnfahrt so angenehm verkürzt hatte. Die Schußwunde vorn rechts am Scheitelbein war nur wenig sichtbar, das rechte Auge dagegen stark verschwollen. Die linke Hälfte des Gesichts sowie die ganze linke Körperhälfte waren gelähmt; der Blick des kleinen grauen Auges wurde nicht mehr durch die Brille verschleiert und hatte etwas Lauerndes, Stechendes. Der Gesichtsausdruck, noch gestern Energie und Intelligenz verrathend, war durch die Lähmung entstellt und verwischt.

Noch ist der Schleier nicht vollständig gelüftet, welcher auf dem Leben dieses Mannes ruht, der, zwei Tage lang schweigend mit der Todeswunde im Kopfe daliegend, nicht das Bedürfniß empfindet, sein schwer belastetes Gewissen durch ein offenes Bekenntniß zu erleichtern. Erst am dritten Tage gelingt es der imponirenden Ruhe, der humanen Behandlungsweise und dem psychologischen Scharfblicke des Polizeicommissärs S., den Mann an der Seele zu fassen, sein hartes verstocktes Gemüth dadurch zu rühren, daß er ihm das traurige Schicksal seiner unglücklichen Frau und seiner armen, unschuldigen Kinder eindringlich zu schildern weiß. Während der krampfhafte Griff der rechten Hand den furchtbaren Seelenkampf des Verbrechers verräth, erklärt er sich bereit, ein Geständniß ablegen zu wollen. Zögernd und stockend, aber mit vollem Bewußtsein und kalter Ueberlegung beantwortet er die an ihn gerichteten Fragen, nicht ohne mannigfache Widersprüche und Versuche, durch simulirte Bedürfnisse der verlangten Antwort auszuweichen. So gelingt es der geschickt geleiteten Untersuchung, den Plan einer Unthat zu entlarven, welche in ihrer grauenhaften Unmenschlichkeit kaum ein Seitenstück in der Verbrecherchronik findet.

Thomas giebt zu, Eigenthümer des explodirten Collo gewesen zu sein. Nach seiner Aussage war es ein schweres Faß, in Bremen angefertigt, dort von ihm selbst mit Sprengstoffen aus New-York gefüllt und für seinen verbrecherischen Zweck vorbereitet. Als Zünder enthielt dasselbe ein Uhrwerk, welches zehn Tage ging, geräuschlos arbeitete und nach Ablauf einen Hebel auslöste, wodurch ein Zündbolzen mit dem Drucke eines Hammers von dreißig Pfund vorgeschleudert wurde. Außer dem Fasse sollten in Southampton noch verschiedene sehr hoch versicherte Colli werthlosen Inhalts in der „Mosel“ verladen werden, um dem Verbrecher nach dem mit Sicherheit vorauszusehenden Untergange des Schiffes die bedeutende Versicherungssumme einzutragen. Zu diesem Zwecke wollte Thomas in England zurückbleiben, um dort den Verlauf seiner erbarmungslosen teuflischen Speculation abzuwarten. Sofort angestellte Nachforschungen bestätigen diese Aussagen vollständig. Ueber die Natur des Sprengstoffes hat Thomas jede Auskunft verweigert; das Schlagwerk wurde von einem geschickten Uhrmacher in Bernburg in seinem Auftrage, unter Angabe eines harmlosen Zweckes, angefertigt und bei der Abnahme eine weitere Bestellung von zwanzig anderen solcher Uhren in Aussicht gestellt. (Siehe das Feuilleton der vorigen Nummer dieses Blattes!) Durch einen Stoß beim Verladen des schweren Fasses wird die Auslösung erfolgt sein. Die Explosion wurde auf der Kaje von Bremerhaven, statt nach zehntägiger Reise an Bord der „Mosel“ herbeigeführt – der seit Jahren vorbereitete Plan war mißlungen; die Revolverkugel zog das Facit der falschen Rechnung des Verbrechers.

Ueber die Vergangenheit und die Lebensverhältnisse des Schuldigen ergab die Untersuchung nur unsichere Resultate, da viele seiner Aussagen später von ihm widerrufen wurden. Thomas ist etwa fünfundvierzig Jahre alt; er will in New-York geboren sein; seine Eltern sollen in den dreißiger Jahren von Deutschland dorthin ausgewandert sein und später in Virginien gelebt haben. Während des amerikanischen Krieges behauptet er Capitain des bekannten Blokadebrechers „Old Dominion“ gewesen zu sein; dann in die Gefangenschaft der Nordstaaten gerathen, ist er geflohen, hat seinen Namen gewechselt und sich bald darauf in St. Louis mit seiner jetzigen Frau verheirathet. Mehrere Indicien gaben Veranlassung zu der Annahme, daß sein wirklicher Name Alexander gewesen ist. Auch seiner Frau gegenüber hüllte er sein Thun und Treiben und seine ganze Vergangenheit in das tiefste Geheimniß, war daneben aber der zärtlichste Gatte und seinen vier Kindern der liebevollste Vater. Seit mehreren Jahren lebte er in verschiedenen Städten Deutschlands, in Leipzig, Linz und in der letzten Zeit in Strehlen bei Dresden. Dem Anscheine nach ohne Erwerb, bewegte er sich als wohlhabender Mann stets in guter Gesellschaft und war als feiner jovialer Gesellschafter überall beliebt und gern gesehen. Er ist viel von seiner Frau getrennt gewesen und hat neuerdings mehrere Reisen nach Amerika gemacht, angeblich in Geschäften, um Geldverluste durch neue Unternehmungen zu ersetzen. In seiner Brieftasche fand man noch vierundzwanzig Pfund Sterling mit der Bemerkung: „Für meine Frau und meine armen Kinder!“ und eine Abrechnung von Baring Brothers in London über dreitausend Pfund Sterling, welche er dort deponirt und in den letzten Jahren erhoben und verzehrt hatte. Eine Haussuchung in Strehlen blieb resultatlos.

Frau Thomas, durch eine amtliche Depesche nach Bremerhaven befohlen, kam Dienstag Morgen gerade in dem Augenblicke an, als die Trauer einer ganzen Stadt dreiundvierzig Opfer der Bosheit ihres Mannes zu Grabe geleitete. Thomas äußerte kaum ein ernstliches Verlangen, seine Frau zu sehen; seinem Arzte gegenüber konnte er sogar eine auf dieselbe bezügliche cynische Bemerkung nicht unterdrücken. Ein Brief von ihr, in den zärtlichsten Ausdrücken und mit der Versicherung geschrieben, daß seine armen Kinder täglich für das Seelenheil ihres unglücklichen Vaters beten, macht trotz klarsten Bewußtseins des hartherzigen Mannes kaum einen sichtlichen Eindruck auf ihn. Zu weiteren Geständnissen auf keine Weise zu veranlassen, wendet er sich am letzten Abend seines Lebens mit der Klage an den Arzt, daß man ihm gar keine Ruhe lasse, ihn noch immer mit Fragen belästige und erwidert auf die Mahnung, doch endlich die volle Wahrheit zu sagen: „man hat mich ganz confusionirt.“ Am folgenden Morgen trat in dem Befinden des Thomas ein Zustand ein, der eine weitere Vernehmung unmöglich machte und sein baldiges Ende voraussehen ließ. Seine Frau wurde ihm zugeführt; er erkannte sie und versuchte, ihr die gelähmte Hand zu reichen. Diese Frau hat eine seltsame Rolle im Krankenhause gespielt, für alle Anwesenden im höchsten Grade peinlich. Sie hat die behandelnden Aerzte wiederholt aufgefordert, ihren Mann zu tödten, um seine Leiden abzukürzen. („O dear doctor, kill him, kill him!“ hörte man sie mehrmals ausrufen.) Am Tage vorher äußerte sie gar kein dringendes Verlangen, ihren Mann zu besuchen; auch wollte sie ihn anfangs im Lazareth nicht sehen und bat nur, seine Hand küssen zu dürfen.

Die Frau reiste nach Dresden zurück, und Nachmittags endete ein furchtbarer Todeskampf das Leben des beispiellosen Verbrechers. Ohne eine Spur von Reue ist er aus der Welt gegangen, ein moderner Herostratus, der ohne ein Zucken seines Gewissens Hunderte von Mitmenschen opfern konnte, nur um sich vielleicht für einige Jahre die Existenzmittel zu einem behaglichen Leben zu verschaffen.

Hoffentlich sind damit die Acten der Unthat noch nicht geschlossen; vielleicht hat die Untersuchung Thatsachen ergeben, die, noch nicht zur öffentlichen Kenntniß gelangt, dem Ursprunge [38] des frevelhaften Attentats auf die Spur zu kommen geeignet sind oder zur Beruhigung der erschreckten Gemüther beitragen. Vielleicht ist die entdeckte gewissenlose Speculation, welche sich ohne Rücksicht auf Menschenleben auf den Geschäftsbetrieb des modernen Verkehrs gründet, nur ein einzelner Fall oder, wie andere Andeutungen vermuthen lassen, ein Complot, dessen Vernichtung im Interesse der Menschheit geboten ist.

Noch einen trauernden Blick werfen wir auf die frischen Gräber, welche die Gebeine von nahezu hundert gemordeten lebensfrohen Menschen umschließen, auf die fast ebenso große Zahl der Verstümmelten und schwer Verletzten. 56 Wittwen und 135 vaterlose Kinder sind durch die Katastrophe ihrer Ernährer beraubt worden. Möchte doch opferwillige Nächstenliebe ihre Trauer und ihren Schmerz zu lindern versuchen!




Der Doppelgänger.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Die Wegebeschaffenheit jener Zeit gehörte bekanntlich zu den mancherlei Dingen der Vergangenheit, die für unsere Generation den Charakter des Räthselhaften und Mystischen haben. Zum Glücke hatte damals der schöne trockene Herbst sie so erträglich gemacht, daß die vier starken fürstlichen Braunen in ununterbrochener rascher Gangart dahin eilen konnten. Trotzdem blieb zu Unterredung und gründlicher Berathschlagung den Fahrenden vollauf Zeit; man hatte drei Meilen weit bis zum Ziele. Elisabeth sprach gegen ihren Vater Alles aus, was sie ihm von ihrem Verkehre mit dem unglücklichen Manne, um den es sich handelte, nur irgend berichten konnte, und sie wußte dadurch dem Fürsten selber eine innere Theilnahme für diesen Mann abzugewinnen, der doch seiner Tochter und dadurch auch ihm ein solches Leid zugefügt hatte, und an den er deshalb nur in Entrüstung und Zorn hätte denken können. Ja, Elisabeth durfte endlich wagen, ihm den Vorschlag zu machen, den Präfecten dadurch zu täuschen, daß man ihm erkläre, der Verhaftete sei durchaus unschuldig an dem aufgehobenen Waffendepot – wenn er sich mit falscher Namensangabe und in größter Verborgenheit im Lande aufgehalten, so sei das deshalb geschehen, weil er mit Elisabeth heimlich verlobt sei gegen des Vaters Willen; wenn sie, die Prinzessin, das offen erkläre und der Fürst dem nicht widerspreche, so – davon war Elisabeth überzeugt – mußte der Präfect ihren Vorstellungen nachgeben und den Gefangenen frei lassen.

Dem Fürsten war nun auch diese Zumuthung schrecklich, aber sein Widerstreben, seine Einwürfe erstarben nach und nach, und je tiefer er in die verzweifelte Seelenpein seines Kindes blickte, desto mehr fühlte er sich bezwungen und zu einer Handlungsweise hinübergedrängt, die ihn in einen flagranten Widerstreit mit sich selber warf, in den er sich doch endlich ergab, wie in etwas Unvermeidliches, vom Schicksal über ihn Verhängtes, das ihn mit einer Gewalt faßte, in deren Händen er sich selber wohl bemitleiden, aber nicht retten und helfen konnte.

Und so rasselte die Kalesche, brausten die Braunen, zuletzt schweiß- und schaumbedeckt, dahin. Wer den stattlichen Wagen mit den reichgeschirrten Vieren davor, mit Kutscher und Bedienten in der fürstlichen Livrée, vorüberrollen sah, der ahnte sicherlich nicht, welch tief bekümmerte zwei Menschenherzen im Innern dieses Wagens schlugen.

Und endlich rasselte er über das schlechte Steinpflaster der Gassen der Präfecturstadt, dann noch über einen weiten, mit Bäumen bepflanzten Platz, und zuletzt rollte er donnernd unter das gewölbte Einfahrtsthor des großen Schloßgebäudes, in welchem statt des früheren Landesherrn jetzt der Präfect eines französischen „Departements“ residirte. Der Fürst und seine Tochter stiegen aus und die hohe Ehrentreppe hinan, von einem französischen Lakaien empfangen, der sie durch große schöne Räume mit altem Rococoschmucke, vergoldeten Stuckarbeiten und prunkvollen Deckengemälden in einen Empfangssalon führte und dann ging, seinen Herrn herbeizuholen. Elisabeth klopfte das Herz so sehr, daß sie sich in einen der rothsammtenen Lehnsessel niederlassen mußte – der Fürst ging während des Harrens auf und nieder und murmelte dabei:

„Dahin wär’s denn gekommen, daß ein deutscher Fürst bei solch einem französischen Abenteurer antichambriren muß. Nimm Dich zusammen, Elisabeth! Es wird Deine Sache sein, zu reden – ich bin einem solchen Menschen gegenüber nicht im Stande, viele Beredsamkeit aufzubieten …“

Doch hatte er Unrecht, sich über Antichambriren zu beklagen; die beiden Flügel der Thür wurden rasch aufgeworfen, und der Präfect erschien, mit großer Beflissenheit und Zuvorkommenheit seinem Besuche entgegen eilend. Es war ein mittelgroßer, magerer Mann, Franzose in seinem ganzen Wesen und Gebahren, so durch und durch Franzose, daß er, jahrelang das Haupt der Verwaltung eines Stückes deutschen Landes, auch nicht das kürzeste Gespräch in deutscher Sprache zu führen verstand. Nach dem ersten Austausche von Höflichkeiten und nachdem der Präfect seinen Besuch bewogen, auf einem breiten Wanddivan Platz zu nehmen, dem gegenüber er sich auf ein bescheidenes Tabouret niederließ, sagte der Fürst:

„Wie Sie voraussetzen werden, Herr Präfect, kommen wir mit einer Bitte, die sich an Ihre Menschenfreundlichkeit wendet, an die Güte, welche Sie mir schon einmal bewährt haben; es handelt sich heute abermals um einen unschuldig Verhafteten, nur mit dem Unterschiede, daß diesen ein weit ärgeres Loos bedroht, als damals meinen alten Meyer. Es handelt sich um ein Waffendepôt, das in meiner Nachbarschaft aufgehoben ist.“

„Ach ja, in der vergangenen Nacht,“ fiel der Präfect, dessen Miene sich plötzlich um ein Bedeutendes verfinsterte, ein. „Ich habe mich gerade in diesem Augenblicke mit der Sache beschäftigt und den Emissär der Alliirten, dessen man zugleich habhaft geworden ist, mir vorführen lassen.“

Elisabeth empfand eine furchtbare Erschütterung bei dieser Andeutung, daß der Verhaftete in ihrer nächsten Nähe, vielleicht nur durch ein paar Thüren von ihr getrennt sei, während ihr Vater, der nun doch einsah, daß er zuerst den Redner und Fürsprecher machen müsse, fortfuhr:

„Wenn Sie ihn sprachen, werden Sie sicherlich bereits den Eindruck empfangen haben, daß es sich bei diesem Manne nicht um einen Schuldigen handelt – nur der Umstand, daß er sich längere Zeit und leider auch unter einem ganz falschen Namen in unserer Gegend aufhielt, hat den Verdacht wider ihn erweckt …“

„Verdacht?“ unterbrach ihn der Präfect. „Es liegt eine ganz bestimmte Denunciation wider ihn vor, dieselbe, welche zur Entdeckung des Waffenvorrathes führte.“

„So ist,“ rief hier Elisabeth stürmisch bewegt aus, „diese Denunciation eine ruchlose Verleumdung. Der Mann, der in Ihren Händen ist, hat nicht daran gedacht, hochverrätherische Pläne gegen die Macht des Kaisers zu verfolgen; er ist einzig und allein in unsere Nachbarschaft gekommen, weil er mich liebte, und wenn er einen falschen Namen angab, wenn er sich verborgen hielt, so geschah dies, weil mein Vater seine Leidenschaft nicht ahnen durfte.“

Der Präfect sah sie höchst befremdet an.

„Ich zweifle durchaus nicht an Ihrer Versicherung, meine gnädigste Prinzessin, daß ein junger Mann, der das Glück hatte, Sie zu sehen, Sie liebt,“ versetzte er mit einem überlegenen Lächeln. „Wir leben aber nicht in Arkadien, und ein junger Mann pflegt in den Mußestunden, welche ihm eine solche Leidenschaft läßt, doch noch andere Beschäftigungen zu treiben, mehr oder minder harmlose. Ihr Emissär hat uns über die seinen ein vollständiges Bekenntniß abgelegt.“

„Ah!“ rief der Fürst aus, „er selbst hat Ihnen bekannt?“

Elisabeth war tödtlich erbleicht.

„So ist es; soeben hat er selbst Alles zugestanden,“ bejahte der Präfect.

„Der Unglückliche!“ flüsterte der Fürst.

Elisabeth hatte Mühe, unter der Wucht dieser Erklärung [39] ihre Geistesgegenwart zu behalten. Dann war nur die eine Hoffnung noch, daß er sein Geständniß sofort zurücknehmen werde, sobald ihm die leiseste Kunde davon gegeben werden könne, wie man ihn retten wolle, und so rief sie heftig aus:

„Aber, mein Gott, das ist ja ganz unsinnig – so ist dieses Geständniß nur gemacht in der Verzweiflung, um der Folter des Verhörs zu entgehen, oder weil er sterben will.“

Der Präfect zuckte die Achseln. Dann stand er auf, zog eine Klingel, und als der Diener erschien, sagte er:

„Man soll den Gefangenen, der in meinem Geschäftszimmer wartet, hereinführen, aber unter Bedeckung.“

„Sie werden,“ fuhr er dann zum Fürsten gewendet fort, „aus seinem eigenen Munde hören, daß er seine agitatorischen Umtriebe ganz offen gesteht. Was mir nur nicht klar geworden aus seinen Antworten, das ist: heißt der Mensch Falstner oder heißt er von Uffeln? Wäre das letztere der Fall, so lägen gegen ihn noch aus seiner spanischen Dienstzeit Thatsachen vor – ich lasse darüber eben in den Polizeibüchern nachschlagen – es wird sich dann das Genauere herausstellen. Aber da ist er, und nun fragen Sie ihn selbst!“

Die Thür, durch die der Präfect vorhin eingetreten, öffnete sich, und von einem Gensd’armen begleitet, erschien auf der Schwelle eine Gestalt, bei deren Anblick Prinzessin Elisabeth in einer gar nicht zu beschreibenden Ueberraschung hoch auffuhr.

„Mein Gott,“ rief sie stürmisch aus, „hört denn diese Doppelgängerei gar nicht auf?“

Der Eingetretene war Niemand anderes, als Ulrich Gerhard von Uffeln, der Mann mit der gelähmten Hand, der Verlobte von Fräulein Adelheid von Mansdorf.

„Das ist ein anderer Mann, als von dem die Rede,“ rief auch der Fürst überrascht aus, „das ist ja der …“

Der Fürst verschluckte den Namen Uffeln, den er aussprechen wollte, um den Verhafteten nicht dadurch zu compromittiren.

„Was überrascht Sie so?“ fiel der Präfect ein, „Sie erwarteten Jemand anders zu sehen?“

„In der That,“ sagte der Fürst und Elisabeth setzte rasch hinzu: einen ganz anderen – von diesem Manne kenn’ und weiß ich nichts.“

Der Verhaftete trat mit einem bescheidenen ruhigen Anstande auf sie zu und sagte:

„Sie kennen und wissen nichts von mir, Durchlaucht, aber es läge mir unendlich viel daran, daß Sie mich kennten und daß Sie von mir zu Fräulein Adelheid von Mansdorf sprächen. Ich habe eine große Schuld gegen Fräulein Adelheid von Mansdorf begangen, eine Schuld, die sich nicht rechtfertigen läßt, aber die ich milder von ihr beurtheilt sehen möchte, und wenn Sie mich anhörten und dann aus Ihrem gütigen Herzen heraus mit ihr redeten, so würde sie mich milder beurtheilen. Wollen Sie mich anhören?“

Prinzessin Elisabeth, noch immer nicht von ihrer Ueberraschung zurückgekommen, aber mit dem Gefühl einer unendlichen Erleichterung aufathmend, versetzte:

„O, gewiß will ich, gewiß. Reden Sie nur!“

„Wollen Sie mir eine Unterredung mit der Prinzessin verstatten?“ wandte sich der junge Mann bittend an den Präfecten.

Dieser runzelte die Brauen, dann, als die Prinzessin ihn ebenfalls bittend ansah, entgegnete er:

„Eine geheime Unterredung? Ich kann Ihnen nur in meiner Gegenwart Mittheilungen verstatten. Die will ich Ihnen erlauben. Tragen Sie der Durchlaucht also vor, was Sie ihr zu sagen haben! Sie mögen dort in die Fensterbrüstung treten, und seien Sie kurz!“

Elisabeth begab sich in die mit schweren Draperien verhangene Nische des letzten Fensters in dem großen Raume. Der Fürst und der Präfect schritten unterdeß in diesem letzteren neben einander auf und ab, während der Gensd’arm sich regungslos an der Thür hielt.

„Wen haben Sie denn eigentlich hier zu sehen erwartet, Durchlaucht?“ fragte der Präfect den Fürsten.

„Um es Ihnen offen zu gestehen,“ versetzte der Fürst, „ich weiß es selbst nicht. Meine Tochter, als sie durch mich von der Verhaftung eines Emissärs der Alliirten vernahm, wurde von Schrecken ergriffen, weil sie annahm, daß man aus Mißverständniß, aus falschem Verdacht sich eines Mannes bemächtigt haben könne, den sie liebt und,“ setzte der Fürst zögernd hinzu, „der sich aus Furcht vor meinem Unwillen verbirgt …“

„Dessen Entdeckung und Unschädlichmachung wir dann also auch ganz allein Ihnen überlassen können, Durchlaucht,“ entgegnete der Präfect mit einem trüben Lächeln. „Ich bin gar nicht von dem Eifer erfüllt, die Zahl der Opfer unserer heutigen politischen Lage zu vermehren, die uns freilich zwingt, unerbittlich zu sein, wo ein Feind in unsere Hände fallt. Wir haben der Feinde zu viele.“

„Und jener junge Mann dort, was wird mit ihm geschehen?“ fragte der Fürst.

„Ich werde ihn nach der Festung W. senden, wo das Kriegsgericht über ihn zu befinden hat. Da er bekennt und falls sich noch außerdem herausstellt, daß er in Spanien als französischer Officier diente, so wird man ihn höchst wahrscheinlich erschießen.“




10.


„Ich habe nur eine kurz gemessene Zeit, Durchlaucht, Ihnen Mittheilungen zu machen, von denen ich aus tiefster Seele wünsche, daß Adelheid von Mansdorf sie erfahre, damit sie milder von mir denke, als ich es von allen Uebrigen erwarten kann,“ so hatte unterdeß der Mann, der mit Elisabeth in die Fensternische getreten, zu der Prinzessin zu sprechen begonnen. „Ich muß also,“ fuhr er fort, „in wenig Worte zusammendrängen, was, wie ich zu Gott hoffe, mir ein versöhnteres Angedenken bei ihr gewinnen wird, wenn Ihre Herzensgüte sich zum Dolmetscher meiner Erklärungen macht.

Zuerst, um damit meine rückhaltlose Beichte zu beginnen: was ich in Wilstorp über mein Leben und meine Herkunft angegeben, ist in allem richtig, nur heiße ich nicht Uffeln, sondern Falstner und bin der Sohn eines bürgerlichen Mannes. Den Herrn von Uffeln, dessen Namen ich mir angemaßt, habe ich früher nur ein einziges Mal gesehen, und das war in Spanien, in einem Kaffeehause in Saragossa. Ich saß mit einigen Cameraden meines Regiments an einem der Tische. Am benachbarten Tische hatte eine Gruppe von Officieren eines anderen Regiments, das zu unserer Division gehörte, Platz genommen; mir im Rücken zunächst saß einer, den ich von seinen Cameraden Uffeln nennen hörte; ich wurde dadurch aufmerksam, weil ich aus dem Namen schloß, daß er ein Deutscher sei. So kam es, daß ich auf die am Nachbartisch geführten Gespräche horchte und vernahm, wie mein deutscher Landsmann seinen Freunden erzählte, er habe einen Brief aus seiner Heimath erhalten, man schreibe ihm, daß er dort in den Zeitungen gesucht werde, um eine Erbschaft in Empfang zu nehmen. Man beglückwünschte ihn dazu, er wies aber in einer skeptisch humoristischen Weise diese Glückwünsche zurück, indem er versicherte, es handle sich um ein verfallenes Eulennest, das er nicht einmal ganz, sondern in Gemeinschaft mit einem alten Krautjunker erben solle, den er weit entfernt sei in seiner ländlichen Ruhe zu stören, bevor nicht der Krieg zu Ende. Bis dahin könne der gnädige Herr den Pflugsterz selber halten und sehen, wer ihm dabei die Ochsen treibe. Mir prägten sich diese Worte ein, weil ich in mir gerade das Gegentheil, die größte Sehnsucht nach solch einer ruhigen friedfertigen Existenz empfand und kein höheres Glück gekannt hätte, als solch ein Asyl irgendwo in der Welt mir geöffnet zu wissen. Mit einem gewissen Neid hafteten deshalb auch meine Augen auf dem glücklichen, den Capitainsrang bekleidenden Officier, der bald darauf mit seinen Freunden das Café verließ.“

„Ich habe ihn seitdem in Spanien nicht wieder gesehen“, fuhr der Erzählende nach einer Pause fort, „aber ich dachte oft, wenn mir meine Lage, mein Beruf dort unerträglich wurden, an ihn. Und so erschrak ich, als ich eines Tages plötzlich in sehr überraschender Weise an ihn erinnert wurde. Da ich ein schlechter Soldat war und eine schöne Handschrift hatte, wurde ich oft zum Bureaudienst commandirt. So kam es, daß ich vor jetzt etwa drei bis vier Monaten im Bureau meiner Division arbeitete, als eine Acte einlief, die nichts weniger als eine kriegsrechtliche Verhandlung wider den Capitain Ulrich Gerhard von Uffeln enthielt, der einen ihm vorgesetzten Officier erschossen hatte; die Acte endete mit einem über ihn ausgesprochenen Todesurtheil und war eingesandt worden, damit der Divisionsgeneral, der den verwundeten [40] Führer des Corps zu vertreten hatte, dies bestätige. Die Bestätigung erfolgte auch, ich selbst habe dann das verhängnißvolle Papier mit einer beigegebenen Ordre, welche die augenblickliche Ausführung des Urtheils anbefahl und die mir der General selbst dictirt hatte, einer reitenden Ordonnanz übergeben, und als dieser Mann aus dem Hofe unseres Hauptquartiers fort und seiner Straße in den entfernten Ort dahinsprengte, wo von Uffeln’s Abtheilung stand, da mußte ich den letzteren als einen todten Mann betrachten.

Die eingereichte Acte sollte in unserm Büreau aufbewahrt werden. Es herrschte aber sehr wenig Ordnung in unserer militärischen Registratur; bei raschem Aufbrechen und plötzlich ankommenden Marschordren wurde oft der ganze Bestand von Schreibereien bis auf weniges Wichtigste vernichtet oder zurückgelassen; hatte ja doch der ganze Krieg in diesem unglücklichen spanischen Lande einen Charakter wildester Regellosigkeit angenommen; die überlegten und zusammenhängenden strategischen Bewegungen waren durch ganz unberechenbare Dinge unmöglich geworden; die Kämpfe selbst entwickelten die zügellosesten dämonischen Triebe in der Menschennatur, und oft fielen Handlungen von haarsträubender Entsetzlichkeit vor …“

„Ich weiß – ich hörte es,“ fiel Prinzessin Elisabeth hochaufathmend ein, „erzählen Sie weiter!“

„Ich fand der Acte, von der ich sprach, die Papiere Uffeln’s beigelegt, seine Dienstcertificate, seine Officierpatente; ich dachte dabei, daß dies die Legitimationen gewesen sein würden, wenn er sich zu seinem Erbe gemeldet hätte; ich dachte ferner, daß sie dort, wo man seine Meldung um sein Erbe erwarte, von Wichtigkeit sein würden, damit nun statt seiner ein neuer Erbe eintreten könne, und um sie vor dem Untergange zu retten, nahm ich sie an mich und verwahrte sie unter meinen eigenen Papieren; ich verband weiter durchaus keine Absicht mit dieser Handlung und vergaß sie bald darauf in der Aufregung der nächsten Tage, die voll angestrengter Märsche waren, weil wir uns durch ein englisches Corps plötzlich im Rücken bedroht sahen, und es fast täglich zu kleineren oder größeren Zusammenstößen kam. In einem derselben wurde ich verwundet, in einer Weise, die ich als ein Glück betrachtete, denn diese Verwundung brachte mir die Befreiung aus einer Lage, die mir längst unerträglich schien; sie brachte mir den Abschied. Ich erhielt, als ich nothdürftig geheilt war, die Entlassung und eine Marschroute in die Heimath; ich kehrte heim über Paris, wo man mir meine Pension als invalider Officier in einem Betrage festsetzte, daß ein Hund, aber kein Mensch davon leben konnte, und endlich war ich wieder in meinem Geburtsorte, der mir fremd geworden, wo ich nur ganz entfernte, in dürftigen Umständen lebende Verwandte fand, der mich mit der Frage zu empfangen schien: wozu kommst du, was willst du hier? was gehen wir uns an, du armer verlassener Mensch, und ich, der wohlhabende Ort, in dem Jeder im Kreise der Seinen warm gebettet ist? – In dieser Lage erinnerte ich mich jener Papiere, die in meinem Besitze waren. Ich konnte sie überbringen – dort, wo sie jedenfalls von Interesse, vielleicht von großem Werthe waren; waren sie das letztere, so konnte ich für ihre Ueberbringung eine Geldentschädigung in Anspruch nehmen, die mir weiter half. Ein Zeitungsblatt, welches eine Aufforderung an Ulrich Gerhard von Uffeln enthielt, wurde mir nicht schwer mir zu verschaffen; es gab mir Richtung und Ziel des Weges, den ich zu nehmen hatte, an, und so begab ich mich auf die Wanderung, bis ich eines schönen Abends auf Haus Wilstorp anlangte und mich zuerst bei dem Rentmeister meldete.

Dieser empfing mich offenbar sehr erfreut, als ich ihm erklärte, daß ich komme, ihm den Tod Uffeln’s zu melden und dessen Papiere zu überbringen.

‚Ist er todt, dieser unfaßbare Lehensvetter,‘ sagte er, ‚so ist uns Allen geholfen – dann sind wir alleinige Erben hier und alle Schwierigkeiten haben ein Ende. Wo sind die Papiere darüber?‘

Ich gab sie ihm, und er durchflog sie hastig.

‚Aber der Todtenschein?‘ rief er dann aus, ‚wo ist er?‘

‚Einen Todtenschein? Den habe ich nicht,‘ war meine Antwort.

‚Den haben Sie nicht, und nichts anderes, was seinen Tod beurkundet?‘

‚Nichts darüber. Aber ich sagte Ihnen, er ist füsilirt; ich selbst habe die Ordre des Divisionsgenerals in die Hände der Ordonnanz gegeben, die …‘

‚Das sagen Sie –‘ fiel er mir in’s Wort. ‚Aber was hilft uns das, was hilft alles, so lange wir nicht Schwarz auf Weiß darüber besitzen? Können Sie nach Spanien schreiben und irgend etwas Amtliches darüber beschaffen?‘

Ich schüttelte den Kopf.

‚Nein,‘ sagte ich. ‚An wen sollte ich schreiben? An das Divisionscommando? Gott weiß, wo es in diesem Augenblicke ist. Ich habe in den Zeitungen gelesen, daß der Kaiser die Division aus Spanien zurückgezogen hat, um sie gegen die Alliirten zu verwenden. Sie wird auf dem Marsche sein; vielleicht steht sie schon vor dem Feinde – wie ist es da möglich …‘

Herr Fäustelmann warf sehr geärgert meine Papiere von sich.

‚So sind wir gerade so weit, wie wir früher waren,‘ sagte er. ‚Es ist eine Sache zum Verzweifeln. Nach keiner Seite hin sich frei rühren zu können! Ihre Papiere da, Herr, können Sie zu Fidibus verwenden. Es sind Wische für uns, bloße Wische, weiter gar nichts. Hätten Sie wenigstens noch eine amtliche Abschrift des Todesurtheils! Dann würde Ihr Zeugniß, daß er wirklich executirt ist, daß er vor Ihren Augen erschossen ist, dieser Uffeln …‘

‚Das ist er nun freilich nicht …‘

‚Nicht vor Ihren Augen?‘

‚Nein. Aber die Execution ist befohlen und also auch ausgeführt.‘

‚Auch ausgeführt,‘ sprach der Rentmeister plötzlich sehr gedankenvoll mich fixirend mir nach, nickte dann mit dem Kopfe, und nachdem er eine Weile höchst nachdenklich vor sich hin, wie in’s Leere gestarrt, sagte er:

‚Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Helfen Sie selbst uns! Diese Papiere da genügen dazu. Geben Sie sie für Ihr Eigenthum aus!‘

‚Ich denke, das sind sie – bis jetzt wenigstens‘ – versetzte ich.

‚Sie verstehen mich nicht. Nennen Sie selbst sich Uffeln …‘

‚Ah, ich bitte Sie, wie könnt’ ich das?‘

‚Weshalb nicht? Nennen Sie sich Uffeln – und wir sind über alle Schwierigkeiten hinweg. Sie erben ein hübsches Gut, die Hälfte davon mindestens; Herr von Mansdorf ist froh, nun Herr über seine Hälfte zu werden, und dem armen Teufel, den sie in Spanien erschossen haben, kann’s einerlei sein.‘

Ich war erschrocken; ich zeigte mich empört über den Vorschlag, der Rentmeister aber sprach in mich hinein, so lange, mit einem solchen Tone der Ueberzeugung, daß dies das ganz selbstverständliche Auskunftsmittel sei, daß ich endlich meinen Widerstand gegen den Betrug gebrochen fühlte und nur noch die Angst vor der Entdeckung geltend machte.

‚Die Entdeckung ist ja unmöglich,‘ sagte er, ‚und wenn Sie sie dennoch fürchten, so können wir ja den schlimmen Folgen derselben auf’s Beste vorbeugen. Sie heirathen Fräulein Adelheid von Mansdorf, dann gehören Sie zur Familie, und dann ist es einerlei, ob Sie als Uffeln oder als Mansdorf’s Schwiegersohn auf Wilstorp sitzen.‘“

„Aber welch’ schreckliches Complot!“ rief hier die Prinzessin entrüstet aus.


(Fortsetzung folgt.)



Kleiner Briefkasten.


O. M. in D. Obwohl uns von drei Seiten authentische Portraits des Bremerhavener Verbrechers und sogar eine Handzeichnung zugegangen, welche denselben auf dem Sterbebette darstellt, so glauben wir doch davon keinen Gebrauch machen zu sollen, da wir es nicht für die Aufgabe unseres Blattes halten, die Züge des Mörders zu verewigen. Ein photographisches Portrait des Thomas aus der Zeit seines Aufenthaltes hier in Leipzig können Sie übrigens durch die hiesige photographische Anstalt von Eulenstein leicht beziehen.

Kolin in Halberstadt. Natürlich: zuthulich! Die Wortbildung zuthunlich kommt überhaupt gar nicht vor.

T. Hörmann. Wir bitten um gef. genaue Angabe der Lage Ihres Wohnorts. Es giebt sechs Waidhofen, und wir können Werthsendungen der Post nur übergeben, wenn genau angegeben wird, welches Waidhofen gemeint ist.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verständißinnigem
  2. Vorlage: Liegeschaften
  3. a b in Vorlage nicht lesbar, von Google-USA* übernommen
  4. a b in Vorlage nicht lesbar, von Google-USA* übernommen
  5. Vorlage: Kürfürst
  6. Vorlage: gehen