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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[209]

No. 13.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


„Du kommst jedenfalls von Henriette,“ sagte Flora und schlug hastig den blauen Umschlag über dem ihr zurückgeschickten Manuscript zusammen. „Es geht ihr ja recht gut, wie ich höre; ich habe schon um acht Uhr hinübergeschickt und mich erkundigen lassen. Moritz ist nicht recht klug; er jagt mich mit einem Billet, das er noch in der Nacht geschrieben hat, in aller Frühe aus dem Bette, damit ich rechtzeitig Toilette mache, weil er à tout prix der Großmama und mir vor dem Frühstück seine Gäste vorstellen wolle. Als ob das Heil der Welt von dieser Vorstellung abhinge! Die Großmama wird darüber gerade auch nicht sehr erfreut sein.“

Sie sah reizend aus. Man sagt, daß der Mensch sich unbewußt nach seiner Stimmung kleide, demnach mußte Flora’s Erwachen heute ein überaus frohes und heiteres gewesen sein; denn die ganze schlanke, schöne Gestalt erschien wie in ein leuchtendes Aetherblau getaucht. Selbst in den zierlich gekräuselten Locken steckte eine glänzend blaue Atlasschleife. Mit dem Arbeitszimmer harmonirte freilich diese Toilette schlecht; es sah heute, wo der strahlend goldene Tag draußen lag, so düster und unwohnlich wie möglich aus und war allerdings weit eher ein passender Hintergrund für einen menschenscheuen Stockgelehrten, als für diese duftig blaue Fee. Aber auch der Gesichtsausdruck der schönen Dame paßte nicht mehr zu den gewählten Farben; sehr üble Laune und eine kaum zu verbergende Niedergeschlagenheit guckten aus allen Winkeln und Linien ihrer Züge. Ueber die Ereignisse des gestrigen Abends fiel kein Wort. Die waren versunken und scheinbar vergessen; selbst der beraubte Goldfinger hatte Ersatz gefunden – zwei kleine Brillantringe schmückten ihn.

Auf Käthe’s Bitte trat Flora an ein Bücherregal und nahm das verlangte Buch herab. „Henriette wird doch nicht selbst lesen wollen?“ fragte sie über die Schulter.

„Das würde Doctor Bruck schwerlich gestatten; die Frau Diakonus will das Buch lesen,“ sagte Käthe mit ruhiger, kalter Stimme und nahm das Werk in Empfang.

Ein verächtliches Spottlächeln zuckte um Flora’s Mund; in ihren Augen blitzen Verdruß und Aerger auf; sie hielt es jedenfalls für eine nicht zu entschuldigende Tactlosigkeit von Seiten der Schwester, daß sie diese Namen vor ihren Ohren noch laut werden ließ.

Käthe ging. Aber in demselben Augenblicke, wo sie die Thür öffnete, um das Zimmer zu verlassen, trat ihr der Commerzienrath entgegen. Er sah prächtig, fast strahlend frisch aus, wenn er auch in sichtlich großer Aufregung kam.

„Dageblieben, Käthe!“ rief er fast scherzhaft und breitete seine Arme aus, um sie zurückzuhalten. „Ich muß mich erst überzeugen, ob Du heil und unverletzt bist.“ Er schob sie in’s Zimmer zurück, drückte die Thür in das Schloß und warf seinen Hut auf den Tisch. „Nun sagt mir um Gotteswillen, was ist Wahres an der haarsträubenden Geschichte, die mir eben mein Anton beim Ankleiden mitgetheilt hat?“ rief er. „Die Leute haben einfältiger Weise bei meiner Ankunft geschwiegen, um mir die Nachtruhe nicht zu stören, und ich habe mir eben dergleichen unzeitige Rücksichten für die Zukunft energisch verbeten.“ Er fuhr sich mit beiden Händen durch das reiche Haar. „Ich bin ganz außer mir. Was muß die Welt von mir und meinem Tactgefühl denken! Henriette liegt auf den Tod krank, und ich arrangire sorgloser Weise ein Herrenfrühstück in meinem Hause. Ist’s denn nur wahr, das Unglaubliche? Eine Schaar Megären soll Euch attaquirt haben?“

„Nicht ‚uns‘, sondern ganz speciell mich, Moritz,“ sagte Flora. „Henriette und Käthe haben eben nur mitleiden müssen, weil sie bei mir waren. Ich kann mir nicht helfen – den größten Theil der Schuld, daß es so weit gekommen ist, muß ich Dir beimessen. Du mußtest schon bei den ersten feindseligen Kundgebungen ganz anders vorgehen; solch einer Rotte gegenüber ist ein entschlossener Mann stets Herr, wenn er’s richtig anzufangen weiß. Aber bei Deinen ewigen Rücksichten, um Gotteswillen nie und nirgends anzustoßen, bist Du schwach –“

„Ja, schwach gegen Euch, gegen Dich und die Großmama,“ fiel der Commerzienrath ganz blaß vor Aerger ein. „Du vorzüglich hast nicht geruht, bis ich mein Wort zurückgenommen und dadurch meine Arbeiter unnöthig gereizt habe. Bruck hat Recht –“

„Ich bitte Dich, verschone mich damit!“ rief Flora dunkelroth vor Zorn. „Wenn Du keine andere Autorität zu nennen weißt, auf die Du Dich berufst –“

Der Commerzienrath trat ihr rasch näher und sah ihr erstaunt prüfend in die funkelnden Augen. „Wie, noch immer so feindselig, Flora?“

„Hältst Du mich für so jammervoll schwachköpfig, daß ich meine Ansichten wechsele, wie man einen Rock aus- und anzieht?“ fragte sie herb zurück.

„Das nicht, aber ist es nicht verwegen, der ganzen gebildeten Welt zum Trotz –“

„Was geht mich die Welt an?“ Sie brach plötzlich in [210] ein lautes Gelächter aus. „Die ganze, gebildete Welt!“ wiederholte sie. „Willst Du mir sagen, wie Du es möglich machst, sie mit Deinem bedauernswürdigen Protégé in Verbindung zu bringen?“

Der Commerzienrath faßte kopfschüttelnd ihre Hand; er war fast athemlos vor Ueberraschung. „Ja, wie ist denn das möglich? Weißt Du denn noch nicht –“

„Mein Gott, was soll ich denn wissen?“ unterbrach sie ihn ungeduldig mit ärgerlich gerunzelten Brauen und stampfte leicht mit dem Fuße den Boden.

Da wurde sehr rasch die Thür geöffnet, und die Präsidentin trat herein. Sie war einfach, in penséefarbene Seide gekleidet. Ob die starke lila Nüance ihr Gesicht so gelb und alt machte, oder ob sie infolge der gestrigen Aufregung eine schlechte Nacht gehabt – genug, sie sah sehr verfallen und dabei unverkennbar tief alterirt aus.

Der Commerzienrath eilte auf sie zu und küßte ihr ehrerbietig die Hand. Er betonte, daß er ihr schon vor einer halben Stunde habe seine Aufwartung machen wollen, aber zurückgewiesen worden sei, weil die Großmama das Schlafzimmer noch nicht verlassen und dort den Besuch der Hofdame Fräulein von Berneck angenommen habe.

„Ja, die gute Berneck kam, um mir ihr Beileid auszusprechen über Henriettens Erkranken und das abscheuliche Attentat, dem Flora ausgesetzt gewesen ist,“ sagte sie. „Wir werden heute einen anstrengenden Tag haben; die ganze Stadt ist aufgeregt über den Vorfall, und die Freunde unseres Hauses sind empört; sie kommen sicher alle, um nach uns zu sehen.“

Sie sank matt in einen Lehnstuhl; ihre Stimme klang angegriffen und den Geberden fehlte die Elasticität, die sie sonst noch so siegreich in ihrem Alter behauptete. „Uebrigens hatte die Berneck auch noch einen anderen Grund, und der stand jedenfalls in erster Linie,“ hob sie wieder an. „Ich kenne sie schon; sie ist Eine von Denen, die gar zu gern die Ersten sein wollen, die eine sogenannte gute Nachricht hinterbringen, und da fragen sie nicht viel danach, ob sie ein Hofgeheimniß verletzen, oder nicht. Denkt Euch, sie kam, um mir insgeheim zu gratuliren, weil unserem Hause Heil widerfahren werde.“ Sie erhob sich und verschlang die Hände ineinander. „Mein Gott, welches Dilemma! Ich weiß wirklich nicht, ob ich weinen oder mich freuen soll. Es ist ja so trostlos niederschlagend, daß gerade bei Hof, der ein gutes Beispiel geben sollte, das alte Sprüchwort vom Undanke immer wieder zur Wahrheit wird. Wie hat sich Bär zeitlebens aufgeopfert für die Herrschaften! Und jetzt geht man plötzlich über ihn hinweg, als habe der alte, treue Diener nicht existirt. Er ist noch so rüstig, so geistesfrisch, und doch – will man ihn pensioniren.“

„Und dazu gratulirt Dir die alte Person?“ rief Flora ärgerlich.

Dazu selbstverständlich nicht, mein Kind,“ entgegnete die Präsidentin, ihre Stimme verstärkend, mit großem Nachdrucke. „Flora, es geschehen wunderbare Dinge in der Welt. Hättest Du das vor einer Stunde noch für möglich gehalten? Bruck soll Hofrath und Leibarzt des Fürsten werden.“

„Verrücktes Hofgeschwätz! Auf was Alles werden wohl diese müßigen Köpfe noch verfallen! Sie combiniren wirklich das Blaue vom Himmel herunter,“ lachte Flora auf. „Hofrath und Leibarzt! Und solchen Blödsinn hörst Du ruhig mit an, Großmama, und lässest Dich auch noch deshalb beglückwünschen?“ Sie brach abermals im ein schallendes Gelächter aus.

„Nun, das muß ich sagen, lebt man denn hier in der Residenz so weltenfern von der Civilisation, daß keine Zeitungen gelesen werden?“ rief der Commerzienrath die Hände zusammenschlagend. „Ihr wißt wirklich nichts, rein gar nichts von Dem, was geschehen ist, was uns so nahe angeht? Und ich komme deshalb einen Tag früher zurück. Die Freude hat mir keine Ruhe gelassen. Alle Zeitungen sind voll von der wunderbaren Operation, die Bruck in L…..g ausgeführt hat; in allen Kreisen Berlins wird augenblicklich davon gesprochen. Der Erbprinz von R., der gegenwärtig in L…..g studirt, ist mit dem Pferde gestürzt; er ist so schwer und unglücklich am Kopfe verletzt gewesen, daß sich kein Arzt zu der Operation hat verstehen wollen, selbst der tüchtige Professor H. nicht. Denn aber ist es erinnerlich gewesen, daß Bruck im letzten Feldzuge einen ähnlichen Fall behandelt und zum Erstaunen Aller glücklich durchgeführt hat. Darauf hin hat man ihn sofort telegraphisch berufen –“

„Und das soll Dein Bruck, Dein Protégé gewesen sein?“ unterbrach ihm Flora – sie versuchte zu lächeln, aber diese weiß gewordenen Lippen schienen versteinert, wie das ganze, plötzlich leichenhaft erblichene schöne, impertinente Gesicht.

„Es war allerdings mein Bruck, wie ich ihn jetzt mit Stolz nenne,“ bestätigte der Commerzienrath mit sichtlicher Genugthuung. Er war ja so froh über diese glückliche Wendung. Zwar Scrupel hatte er sich längst nicht mehr gemacht über sein Verschweigen – der bereits halb vergessene grauenhafte Vorfall hatte ihn ruhig schlafen lassen; denn er war ein echtes Kind seiner Zeit, ein Egoist, der bei der Wahl: „Er“ oder „Ich“ keinen Augenblick im Unklaren war, daß das „Ich“ betont werden müsse. Aber nun war es doch gut, daß Alles so gekommen, und Bruck sich durch eigene Kraft, wie er, der Commerzienrath, ja vorausgewußt, wieder emporgerungen. „Uebrigens macht auch zu gleicher Zeit eine Broschüre von ihm unglaubliches Aufsehen in den medicinischen Kreisen,“ fuhr er fort. „Er hat für die Operation im Allgemeinen einen völlig neuen Weg entdeckt, der von unberechenbarer Tragweite sein soll. Es ist nicht mehr zu leugnen – Bruck geht einer großen Zukunft entgegen.“

„Wer’s glaubt!“ sagte Flora mit seltsam erloschener Stimme. Verzweifelt gespannt in jedem Gesichtszuge, glich sie einem Spieler, der sein Letztes auf eine Karte setzt. „Mit Deinem hohlen Pathos überzeugst Du mich nicht. Entweder liegt hier eine Namensverwechselung vor, oder – die ganze Wundergeschichte ist erfunden.“

Bei dieser hartnäckigen, trotzigen Behauptung büßte auch der Commerzienrath seine sprüchwörtlich gewordene Langmuth ein, die er den Damen seines Hauses gegenüber jederzeit an den Tag legte. Er stampfte zornig mit dem Fuße auf und wandte sich ab.

Die Präsidentin stand am Tische und ließ ihre weißen, welken Finger in nervöser Erregung auf der Tischdecke spielen. Ihre Augen fixirten unruhig die Enkelin. Sie begriff recht wohl, was in ihr vorgehen mußte, die den nun so gefeierten Mann so schmählich verkannt und verleumdet hatte. Es war eine jämmerliche Niederlage, aber gerade in solchen Momenten mußte die gut erzogene Weltdame sich ohne Weiteres zurecht finden können.

„Dein Sträuben wird Dir wohl nichts helfen, Flora,“ sagte sie gelassen. „Du wirst schließlich doch glauben müssen. Ich für meinen Theil – so wunderlich mir auch dabei zu Muthe ist – zweifle nicht mehr. Der Herzog von D. ist der Mutterbruder des verunglückten Erbprinzen; er mag wohl sehr erfreut und glücklich sein über die Rettung seines Neffen, denn gestern Abend sah ich den D.’schen Hausorden auf Bruck’s Schreibtische liegen.“

„Und das sagst Du mir jetzt erst, Großmama?“ schrie Flora wie wahnwitzig auf. „Warum nicht gestern noch? Warum hast Du mir das verschwiegen?“

„‚Verschwiegen‘?“ wiederholte die Präsidentin so geärgert, daß ihr Kopf in jenes leise nervöse Schütteln verfiel, das alten Leuten bei zorniger Erregung leicht eigen ist. „Wie impertinent! – Ich möchte wissen, was mich veranlassen könnte, dergleichen geheim zu halten, höchstens der Umstand, daß man in den letzten Monaten Bruck’s Namen vor Deinen Ohren kaum noch nennen durfte. Ich habe das allerdings auch möglichst vermieden –“

„Weil mein Verhalten vollkommen nach Deinem Geschmacke war, chère grand’ mère –“

„Bitte recht sehr, nur weil es mir im Innersten widerstrebt, Zeugin leidenschaftlicher Ausbrüche zu sein. Du bist ja seine erbittertste Gegnerin, hast ihn schärfer gerichtet, als die mißgünstigsten unter seinen Collegen; das leiseste Bemühen, ihn zu entschuldigen, ruft stets heftige Scenen hervor. Der arme Moritz und Henriette wissen ein Lied davon zu singen. Und hast Du nicht eben gezeigt, in welcher Weise Du eine Nachricht aufnimmst, die zu seinen Gunsten spricht?“ Wie tief gereizt mußte sie sein, daß sie – anstatt das fatale Vergangene nunmehr todtzuschweigen, wie es sonst ihre Art war – noch einmal Flora’s häßliches Benehmen vor den Augen der Anderen vorüberführte!

Flora schwieg. Sie stand am Fenster, den Rücken den Anwesenden zugekehrt; an ihren fliegenden Athemzügen sah man, daß sie heftig mit sich kämpfte.

[211] „Sage mir doch, wann ich Dir die Mittheilung hätte machen sollen!“ fuhr die Präsidentin fort. „Vielleicht gestern, wo Du beim Nachhausekommen kaum den Kopf zur Thür hereinstecktest, um mir und meinem Besuche guten Abend zu bieten? Oder im Hause des Doctors selbst, wo ich keinen Augenblick mit Dir allein war, und wo Dich das pauvere Hauswesen Deines Bräutigams in die übelste Laune versetzte?“

„Das war Dein Kummer, liebe Großmama, wie Du die Güte haben wirst, Dich zu erinnern; was mich betrifft, so übertreibst Du.“

Käthe öffnete weit die ehrlichen, braunen Augen vor Erstaunen über dieses kecke Verleugnen – das gestern gegen die „spukhafte Spelunke“ geschleuderte Anathema klang noch in ihren Ohren.

„Mit Dir ist schwer rechten; ich kenne Dich schon. Bei aller bis zum Ueberdrusse an den Tag gelegten derben Wahrhaftigkeit verschmähst Du doch die Schlupfwinkel des Leugnens nicht, wo es Dir gerade paßt,“ zürnte die Präsidentin und schob mit einer ziemlich heftigen Handbewegung das vor ihr auf dem Tische liegende Manuscriptenpacket weiter. Der Umschlag löste sich wieder, und der mit den „langbeinigen Krakelfüßen“ geschriebene Titel kam zum Vorscheine.

„Ah, spricht das wieder einmal vor auf seinem Zickzackwege durch die Welt?“ fragte sie und zeigte mit dem Finger auf die Papiere. Ihr Ton bewies, daß die Frau der weisen Mäßigung auch schneidend malitiös werden konnte. „Ich dächte, Du gönntest ihm endlich die Ruhe im Papierkorb. Dieses fortgesetzte Angebot von Seiten eines meiner Angehörigen und die consequente Zurückweisung der Buchhändler wird mir nachgerade unerträglich. Ich möchte wissen, wie Du es aufnehmen würdest, wenn eines von uns Deine ‚hervorragende geistige Begabung‘ auch nur mit einem Worte anzweifeln wollte, und da lässest Du es Dir alle vier, fünf Wochen schwarz auf weiß sagen –“

„Echauffire Dich nicht unnöthig, Großmama! Du könntest leicht irren, wie gewisse andere Leute auch,“ unterbrach Flora sie zornbebend; ihr Blick streifte dabei entrüstet die junge Schwester. Der Backfisch hatte ja schon gestern Abend ein ähnlich absprechendes Urtheil mit angehört. „Du bist verstimmt, weil Du an Bär eine einflußreiche Stimme bei Hofe verlierst; je nun, ich verdenke Dir das im Grunde nicht, liebste Großmama, denn Bruck wird sich schwerlich dazu verstehen, Deine kleinen Interessen bei unseren Herrschaften zu vertreten, vielleicht nicht einmal mir zu Liebe; das ist fatal für Dich, aber ich sehe trotzdem nicht ein, weshalb ich armes Opfer es nun ausbaden soll. Ich werde mir erlauben, mich zurückzuziehen, bis das Wetter im Hause wieder klar ist.“ Sie raffte die auseinanderfallenden Blätter des Manuscriptes zusammen und verschwand wie eine blaue Wolke hinter der Thür ihres Ankleidezimmers.

„Sie ist doch unberechenbar excentrisch,“ sagte die Präsidentin mit einem Seufzer. „Von ihrer Mutter hat sie nicht eine Ader; die war die Sanftmuth und Fügsamkeit selbst. … Mangold hat sehr gefehlt darin, daß er sie so frühe die Honneurs in seinem Hause machen ließ. Ich habe genug dagegen geeifert, aber das war Alles in den Wind gesprochen. Du weißt ja am besten, Moritz, wie obstinat Mangold sein konnte.“

Käthe schritt nach der Thür, um das Zimmer zu verlassen. Die allzufrühe Selbstständigkeit war für Flora allerdings verderblich gewesen, das ließ sich nicht mehr leugnen, aber das junge Mädchen konnte es doch nicht mit anhören, daß ihrem verstorbenen Vater in so verletzender Weise der Vorwurf gemacht wurde, daß – er der Frau Schwiegermutter aus guten Gründen das Herrscheramt in seinem Hause verweigert habe.

Der Commerzienrath folgte ihr und ergriff ihre Hand. „Du bist so blaß, Käthe, so erschrecklich ernsthaft und still,“ sagte er. „Ich fürchte, Du stehst noch unter dem Eindrucke des gestrigen Vorfalles und leidest, armes Kind.“ Das klang nichts weniger als vormundschaftlich.

„So verändert in der Gesichtsfarbe und so nachdenklich ist Käthe schon seit einigen Tagen,“ warf die Präsidentin rasch ein. „Ich weiß, was ihr fehlt: sie hat Heimweh. Du darfst Dich darüber nicht wundern, bester Moritz. Käthe ist an das Stillleben in kleinbürgerlichen Verhältnissen gewöhnt; dort wird sie vergöttert; um das reiche Pflegetöchterchen dreht sich schließlich Alles in dem kleinen Hauswesen. Wir können ihr das mit dem besten Willen nicht bieten. Wir leben zu sehr in der Welt; unsere gesellschaftlichen Formen, die Elemente unserer Kreise sind so ganz andere, daß sie sich bei uns entschieden unbehaglich und bedrückt fühlen muß“ – sie trat näher und streichelte[WS 1] mit linder Hand die Wange des jungen Mädchens – „hab’ ich nicht Recht, mein Kind?“

„Es thut mir leid, aber ich muß ‚nein‘ sagen, Frau Präsidentin,“ versetzte Käthe mit ihrer festen Stimme; dabei bog sie den Kopf mit einer entschiedenen Bewegung zurück – es nahm sich aus, wie ein Protest gegen jegliche fernere Liebkosung. „Ich werde nicht vergöttert, und es dreht sich auch nicht Alles um ‚den Goldfisch‘“ – sie lachte leise und schalkhaft aus – „der arme Goldfisch spürt die Zügel einer consequenten Erziehung mehr als je; ein Versehen im Hauswesen wird mir weit schwerer verziehen, seit ich die reiche Erbin bin. Und so bedrückend fremd, wie Sie meinen, sind mir die vornehmen Elemente Ihrer Kreise auch nicht. Der Staatsminister von B. ist einer der Auserwählten, die zu dem kleinen Abendzirkel meiner Pflegeeltern gehören. Unser Salon ist freilich so eng, daß keine Spieltische aufgestellt werden können, aber einige Professoren der Akademie, Freunde des Doctors, halten interessante Vorträge; öfter kehren auch musikalische Celebritäten bei uns ein, und dann wird unverdrossen, mit wahrer Lust auf meinem schlechten Pianino musicirt.“ Um ihre Lippen schwebte wieder der ganze Liebreiz jugendlicher Heiterkeit, aber auch ein Zug von Sarkasmus trat hervor – sie hatte in der That eine „streitbare Ader“ in sich.

„Ich bin, Gott sei Dank, so erzogen, daß ich dem Heimweh nicht die geringste Macht einräume, sobald ich weiß, daß ich irgendwo nöthig bin,“ wandte sie sich an den Commerzienrath. „Damit lasse Dich nicht schrecken, Moritz! Erlaube mir vielmehr, auf unbestimmte Zeit hierzubleiben – Henriette’s wegen!“

„Mein Gott, ich habe ja selbst keinen anderen Wunsch, als Dich hier zu behalten,“ rief er mit einem Feuer, das selbst dem jungen Mädchen verwunderlich erschien.

Die Präsidentin stand wieder am Tische und ließ die Blätter eines vor ihr liegenden Buches unter ihrem Daumen hinlaufen, und die gesenkten Augen hingen so nachdenklich an diesem Spiel, als sehe und höre sie nichts anderes. „Es versteht sich ja von selbst, daß Du bleibst, so lange es Dir gefällt, meine liebe Käthe,“ sagte sie gleichmüthig, ohne aufzusehen. „Nur darf dieses Bleiben beileibe nicht den Anstrich einer Aufopferung erhalten; dagegen müssen wir uns entschieden verwahren. Nanni pflegt unsere Kranke musterhaft, und auch meine Jungfer ist angewiesen, Nachts beizuspringen, wenn es nöthig ist. Du könntest sie ohne Sorge verlassen.“

„Mag doch das Motiv sein, welches es will, theuerste Großmama, es genügt, daß Käthe in unserer Mitte zu bleiben wünscht,“ fiel der Commerzienrath lebhaft ein – er konnte den Blick nicht wegwenden von dem Mädchen, das sich unverkennbar die eigene Ueberzeugung durch beschwichtigende Worte nicht übertäuben ließ. „Sieh, im frohen Vorgefühl, daß wir Dich hier behalten werden, mein Kind, habe ich den neuen Flügel“ – er unterbrach sich und küßte ekstatisch Daumen und Zeigefinger der rechten Hand – „Du bekömmst ein Instrument, Käthe, gegen welches das drüben im Musiksalon ein Klimperkasten ist; ich habe es, sage ich, gleich direct hierher dirigirt.“

„Aber, Moritz, so ist das nicht gemeint,“ rief das junge Mädchen rückhaltslos mit großen, erschrockenen Augen. „Gott bewahre mich! Dresden ist und bleibt meine Heimath und die Villa Baumgarten meine Besuchsstation“ – sie lachte mit ihrem ganzen Muthwillen auf; „soll ich den Flügel immer als Gepäckstück mitschleppen?“

„Ich bilde mir ein, daß Du eines Tages in Bezug auf Dresden ganz anders denkst,“ versetzte er mit einem feinen, ausdrucksvollen Lächeln. „Der Flügel wird morgen hier eintreffen und bis auf Weiteres in Deinem Zimmer placirt werden.“

Die Präsidentin klappte denn Deckel des Buches zu und legte die schmale, weiße Hand darauf. „Du triffst andere Dispositionen, als ausgemacht war,“ sagte sie anscheinend gelassen. „Das bringt mich zwar sehr in Verlegenheit, aber ich bescheide mich gern. Ich werde heute noch an die Baronin Steiner schreiben, daß ihr für den Monat Mai angekündigter Besuch unterbleiben muß.“

„Aber ich sehe nicht ein, weshalb –“

[212] „Weil wir sie nicht unterbringen können, bester Freund. Käthe’s Zimmer war für die Gouvernante bestimmt, die sie mitbringen wollte.“

Der Commerzienrath zuckte die Achseln. „Dann thut es mir leid – meine Mündel bleibt selbstverständlich, wo sie ist.“

Er opponirte! Er wagte es, mit kühler Ruhe in das zornblitzende Auge der empörten alten Dame zu sehen und es natürlich zu finden, daß die Frau Baronin von Steiner Käthe weichen müsse – er, der sonst Himmel und Erde in Bewegung setzen mochte, der kein Opfer scheute, wenn es galt, vornehme Gäste in sein Haus zu ziehen! Es wich von ihm plötzlich der im Verkehr mit exclusiven Kreisen angeflogene feine Lack der Außenseite, und die plumpe, gemeine Natur des Parvenü kann zum Vorschein. Er war ja nun selbst von Adel, und dazu reicher als die meisten seiner jetzigen Standesgenossen – hatte er doch eben wieder eine immense Goldernte eingeheimst – er konnte herausfordernd auf seine Tasche klopfen und – er that es.

Die alte Dame biß sich auf die Lippe. „Ich werde unverzüglich die nöthigen Schritte thun,“ sagte sie und nahm ihre Schleppe auf, um zu gehen. „Beneidenswerth ist die Situation, in die ich ohne mein Verschulden gedrängt bin, durchaus nicht – das muß ich sagen,“ warf sie mit hochgezogenen Brauen, in bitterem Tone über die Schulter hin.

„Und das um meinetwillen?“ rief Käthe und trat mit ausgestreckter Hand einen Schritt näher, um das Hinausgehen der Präsidentin zu verhindern. „Moritz, es kann doch Dein Ernst nicht sein, daß ich junges Ding die Freunde der Frau Präsidentin verdrängen soll? Das geschieht ganz gewiß nicht. Habe ich denn nicht mein eigenes Heim? Ich quartiere mich sofort in der Mühle ein, wenn Frau von Steiner kommt.“

„Das wirst Du bleiben lassen, meine liebe Käthe; dagegen protestire ich selbst mit allen Kräften,“ versetzte die Präsidentin mit vornehmer Kälte, und jetzt brach aller Hochmuth, der dieser stolzen Weltdame innewohnte, aus ihren Augen. „Ich bin gewiß tolerant – Deine verstorbene Mutter hat sich nie über Unfreundlichkeit meinerseits zu beklagen gehabt, aber ein solch intimer Verkehr zwischen Villa und Mühle, ein solch ungenirtes ‚Hinüber und Herüber‘ widerstrebt mir denn doch in tiefster Seele, am allerwenigsten aber möchte ich diese Beziehung der scharfen Kritik meiner sehr streng denkenden Freundin ausgesetzt wissen.“ Sie neigte steif grüßend den Kopf. „Ich bin im blauen Salon zu finden, wenn Du mir die Herren vorstellen willst, Moritz.“ Damit ging sie hinaus.

Der Commerzienrath wartete mit spöttischer Miene, bis das Rauschen der Seidenfalten draußen verklungen und die entgegengesetzte Thür im Musikzimmer sehr hörbar zugefallen war, dann, indem sich seine Lippe höhnisch hob, lachte er leise in sich hinein.

„Da hast Du Deine Lection, Käthe!“ sagte er. „Gelt, es stecken recht scharfe Krallen in den Sammetpfötchen. Ja, kratzen kann sie, die alte Katze, daß es eine Art hat. Ich armer Tropf könnte Wundenmaale genug aufweisen, aber, Gott sei Dank, ihr Schicksal erfüllt sich endlich auch. Sie erlebt das Schlimmste, das ihr passiren kann: sie wird ungefährlich. Mit Bär’s Pensionirung ist ihr Einfluß bei Hofe und in der Gesellschaft gebrochen.“ Er rieb sich die Hände in lächelnder, unaussprechlicher Befriedigung. „Du weichst nicht um eine Linie, lieb Herz! Du hast mehr Rechte in meinem Hause als alle Anderen zusammen – merke Dir das!“

Er wurde unterbrochen. Ein eintretender Diener meldete, daß die fremden Herren in der Beletage den Herrn Commerzienrath erwarteten. Eiligst griff Moritz nach seinem Hute; er wollte Käthe den Arm reichen, aber diese schlüpfte verlegen an ihm vorüber, hinaus in den Corridor. Der Herr Vormund mit der befremdenden Zärtlichkeit in Ton und Geberden gefiel ihr ganz und gar nicht; seine kühlen, geschäftsmäßigen Briefe waren ihr lieber gewesen. Und welche merkwürdige Veränderung war sonst noch mit ihm vorgegangen! Unwillkürlich dachte sie an ihren neulichen Empfang in diesem Hause; noch hörte sie den ängstlichen Flüsterton, mit welchem der Commerzienrath sie auf den Respect hingewiesen, den sie der Präsidentin schulde, und jetzt machte er unehrerbietige Mienen hinter ihrem Rücken und fing an, ihrer bisher wirklich unumschränkten Machtvollkommenheit in seinem Hause unliebsame Grenzen zu ziehen. Das Alles erschreckte das junge Mädchen, war ihr unbegreiflich und so unheimlich, wie das dunkelpurpurne Zimmer voll dumpfer Luft und Bücherstaub, dem sie jetzt tiefaufathmend den Rücken wandte, um in das Haus am Flusse zurückzukehren.




15.


Das Krankenzimmer im Doctorhaus sah am Nachmittag genau so aus, wie gestern, als man Henriette hineingetragen. Auf ihre leidenschaftlichen Bitten hin hatte der Doctor die vornehmen Eindringlinge aus der Villa wegschaffen lassen. Draußen im weiten Flur, auf dem rothen Backsteingetäfel standen sie in Reih’ und Glied, die apfelgrünen Lehnstühle, der elegante Ofenschirm, und um die einfache Thonvase mit dem Tannenstrauß gruppirte sich das vergoldete Waschgeschirr. Das Steingut war wieder zu Ehren gekommen, und die altmodischen Polsterstühle mit ihren schwarzen Serge-Bezügen standen an ihrem ehemaligen Platze. Dagegen sprang das erfrischende Silbergefunkel der kleinen, zerstäubenden Zimmerfontäne aus einem Kranz von grünen Topfgewächsen, und auf einem Tisch stand der große Käfig mit Henriettens Kanarienvögeln, den man auf den sehnsüchtigen Wunsch der Kranken aus der Villa herübergeschafft hatte. Die flinken, goldgelben Geschöpfchen schlüpften, wie daheim, ungenirt aus und ein; sie umschwirrten das Bett, holten Zuckerkrumen aus den wächsernen Fingern der kranken Herrin und wiegten sich auf den schwebenden Blumenampeln an der Zimmerdecke.

Nanni, die Kammerjungfer, war gegen Mittag entlassen worden, damit sie in der Villa ausschlafen könne, und die Tante Diakonus hatte die Pflege für die Tagesstunden übernommen. Die alte Frau war noch im braunseidenen Kleide, aber sie hatte eine breite, weiße Leinenschürze darüber gebunden, um das Seidengeräusch zu dämpfen.

Henriette wußte bereits um die Wandlung, die sich so plötzlich vollzogen. Die Jungfer war von draußen hereingekommen und hatte ihr zugeflüstert, daß eben ein Herr vom Hofe im Flur feierlich von der Frau Diakonus empfangen und in das Zimmer des Doctors geführt worden sei. Ein Herr vom Hofe bei Bruck, der zuletzt nur noch Armenarzt gewesen war! Dazu hatten die festliche Toilette der Tante, ihr freudig verklärtes Gesicht die Aufmerksamkeit der Kranken erregt; sie war unruhig geworden und hatte mit Forschen und Fragen nicht nachgelassen, bis sich der Doctor an ihr Bett gesetzt und ihr in seiner ruhigen, einfachen Art und Weise Mittheilung von den Vorgängen gemacht hatte. Das Alles war geschehen, während Käthe in Flora’s Zimmer dem Auftritte beiwohnte, den die Hofdame von Berneck und der Commerzienrath mit ihrer blitzartig einschlagenden Neuigkeit hervorgerufen hatten.

Nachmittags saß Käthe am Krankenbett. Der Doctor war zu einer Audienz beim Fürsten befohlen, und die Tante hatte sich für eine halbe Stunde freigemacht, um einige häusliche Anordnungen zu treffen; die beiden Schwestern waren zum ersten Mal wieder allein. Auf Henriettens Gesicht lag ein wahrer Glanz unausgesprochener Freude und Glückseligkeit; Ruhe und Schweigen war ihr auferlegt worden. Der Doctor hatte ihr streng verboten, nochmals den Jubel laut werden zu lassen, in welchen sie bei seiner Mittheilung ausgebrochen war und der ihn tief erschreckt hatte. Sie war auch folgsam gewesen und hatte weder ihn, noch die Tante im Laufe des Tages mit weiteren Fragen belästigt, aber jetzt, wo die ernsten Augen des Arztes nicht warnten, wo die Thür hinter der ängstlich besorgten alten Frau zugefallen war, jetzt richtete sie sich plötzlich in den Kissen auf. „Wo bleibt Flora?“ fragte sie gespannt und hastig flüsternd.

„Du weißt, daß die Großmama von Stunde zu Stunde herübersagen läßt, der Boden brenne ihr unter den Füßen, aber sie könne nicht fort, man sei drüben von Beileidsvisiten dermaßen umringt, daß ein Losmachen sich noch immer nicht bewerkstelligen lasse.“

„Mein Gott, die Großmama!“ wiederholte die Kranke geärgert und sich ungeduldig herumwerfend. „Wer verlangt denn nach ihr? Mag sie doch drüben bleiben. Ich spreche von Flora!“


(Fortsetzung folgt.)




[213]
Das „Franzele“.


Franziska von Hohenheim! Ein Name, der, wenn er im Schwabenlande erklingt, stets voll dankbarer Anerkennung genannt wird und „draußen im Lande“ mindestens jedes Gebildeten Interesse weckt. Herzog Karl Eugen, Schiller, Schubart, die blauröckige, zopfbekleidete Schaar jugendlicher Karlsschüler, diese Gestalten alle gruppiren sich um die zarte Erscheinung jener Frau in wirkungsvollster Lebendigkeit.

Franziska von Hohenheim.

Kaum hundert Jahre sind es, daß das „Franzele“ an der Seite „Karl Herzogs“, wie ihn der Schwabe nennt, erschien, um ihn als guter Engel auf seiner Lebensbahn zu begleiten, und wenig mehr als sechszig, seit Franziska als Herzogin von Württemberg starb. Welch ein gewaltthätiger Herrscher Herzog Karl, der mit sechszehn Jahren schon auf den Thron gelangt war, in der ersten Hälfte seiner Regierung gewesen, ist bekannt. Feste, so glänzend, wie man sie nur am französischen Hofe sah, große militärische Schauspiele, verschwenderische Reisen vertrieben ihm die Zeit, während das Volk unter Frohnen und Steuern seufzte. Seine Gemahlin, Friederike von Bayreuth, die Nichte Friedrich’s des Großen, verließ ihn im achten Jahre ihrer kinderlosen, unglücklichen Ehe. Eine förmliche Scheidung konnte die ungleichen Gatten – so lebenslustig, feurig und leutselig Karl war, so stolz und eigensinnig war seine Gemahlin – nicht trennen, weil der Herzog der katholischen Kirche angehörte.

Hatte schon während der Anwesenheit der Herzogin zu Stuttgart und Ludwigsburg das bunteste Leben geherrscht, so nahm dasselbe nach ihrer mehr einer Flucht gleichenden Abreise noch mehr überhand. Elende Günstlinge, wie Montmartin, Rieger und Wittleder, bedrückten das württembergische Land, während sich der Herzog amüsirte, und zwar so lange amüsirte, bis er endlich, übersättigt, den Entschluß faßte, ein anderes Leben zu beginnen und den Versuch zu machen, ob es ihm nach allem Vorhergegangenen nicht noch gelingen könne, sein Volk zu beglücken und dessen Liebe zu erringen. In diese Zeit fiel seine erste Begegnung mit der Frau, welche auf ihn einen so wohlthätigen Einfluß üben und für Württemberg ein Segen werden sollte, der Frau, mit welcher diese Zeilen sich beschäftigen werden.

Franziska von Bernerdin – wir entnehmen die nachfolgenden Mittheilungen aus dem Leben derselben dem soeben in zweiter Auflage erschienenen Werke „Herzog Karl von Würtemberg und Franziska von Hohenheim“ von E. Vely (Stuttgart, C. F. Simon), welches auf Benutzung bisher noch nicht veröffentlichter Archivalien beruht – Franziska war die Tochter eines alten, hochachtbaren, aber armen Geschlechts, der Bernerdins zum Pernthurn, und wurde am 10. Januar 1748 zu Adelmannsfelden auf dem Familiengute ihrer Mutter, einer Hohenstein, geboren. Sie erwuchs mit vier Schwestern bei dem nothdürftigsten Unterrichte, der sich nur auf Lesen, Schreiben und Religion erstreckte. Durch die Vermählung der Schwestern kam sie hinaus in die Welt, und auf einer dieser Reisen lernte sie der Freiherr Friedrich von Leutrum kennen und warb um sie. Sein Charakter war unedel und neidisch, seine Gestalt zwerghaft und bucklig, sein Kopf unförmig und dick, gewiß keine Erscheinung, welche das Herz eines sechszehnjährigen Mädchens einnehmen konnte. In den Augen der Eltern aber wurde das Alles zur verschwindenden Nebensache, weil der Brautwerber einen altadligen Namen und großen Reichthum besaß. Sie gaben ihm ohne Zögern ihr „Ja“. Die arme Franziska wurde nicht gefragt, ob ihr der zukünftige Gemahl gefalle.

„Geheirathet, als ich kaum sechszehn Jahre alt war,“ schrieb sie in späteren Jahren über diese Ehe, welche eine Quelle vielen Leids für sie geworden war, „gleichsam als ein Kind, ohne alle Neigung, ohne alle Liebe, blos weil man mir sagte: ‚Du mußt den von Leutrum heirathen.‘ Mithin aus bloßem Gehorsam und nicht aus eigener Wahl wurde ich meinem Manne angetraut, der nie mein Herz befriedigen konnte. Dieses ist Beweis genug, daß ich nur auf die erste schickliche Gelegenheit gewartet, mich seiner nach den Grundsätzen meiner Religion los zu machen.“

Franziska war, wie das nebenstehende ebenfalls dem oben genannten Vely’schen Buche entnommene Portrait zeigt, ohne gerade regelmäßig schön zu sein, eine liebliche, frische Erscheinung; sie hatte reiches, blondes Haar und tiefblaue Augen, eine blendendweiße Gesichtsfarbe und schlanke Gestalt, die wohlklingendste Stimme und graziöse Bewegungen. Ihre neue Heimath war das Herrenhaus der Leutrums zu Pforzheim, wohin sie ihr Gatte gleich nach der Vermählung führte. Ein ziemlich gleichförmiges Leben erwartete sie dort. Der Baron Leutrum war eine eifersüchtige und mißgünstige Natur und barg seine junge hübsche Frau ängstlich vor fremden Blicken. Dieselbe suchte in der Einsamkeit durch eifrige Studien nachzuholen, was bei ihrer Erziehung versäumt worden war. Bücher waren ihre liebste Gesellschaft, namentlich wählte sie religiöse Schriften; sie hatte äußerst schwärmerische Glaubensanschauungen, denen sie bis in ihr hohes Alter treu blieb.

Im Jahre 1769 reiste Baron von Leutrum mit seiner Gemahlin nach dem nahen Wildbad, wo sich eben eine Schwägerin Herzog Karl’s, die Herzogin Dorothea von Württemberg, mit ihrem Hofstaate aufhielt.

Die Kinder derselben hatten, wenn Karl Eugen ohne Nachkommen starb, das einzige Anrecht auf den württembergischen Thron. Mit dieser Fürstin war die liebenswürdige Baronin Leutrum bereits in nähere Beziehungen getreten, als Herzog Karl in Wildbad anlangte, um seine Schwägerin zu besuchen. Er sah Franziska. Sie fiel ihm durch ihre unbewußte Anmuth und mädchenhafte Frische auf, und er zeigte ihr seine Zuneigung unverhohlen. Den Baron von Leutrum erfaßte Eifersucht und Zorn, und als die fürstliche Gesellschaft Wildbad verlassen hatte und er mit seiner Gattin nach Pforzheim zurückgekehrt war, machte er ihr Vorwürfe, die sogar bis zu Thätlichkeiten ausarteten, weil sie sich die Huldigungen des Herzogs, dieses ebenso schönen wie gefährlichen Mannes, hatte gefallen lassen. Dennoch wagte der Baron nicht, als plötzlich vom Stuttgarter Hofe eine Einladung zu Jagdfestlichkeiten in Pforzheim anlangte, dieselbe abzulehnen, sondern reiste mit Franziska nach dort. In Urach, wo die Jagden stattfanden, hatte Karl die beste Gelegenheit, sich Franziska zu nähern. Ihr Liebreiz bestrickte ihn mehr und mehr und entriß ihm endlich das Geständniß der Liebe. Die junge Frau, tödtlich erschreckt, wich ihm aus, und Herzog Karl erhielt so die erste Zurückweisung, welche ihm in seinem Leben wurde.

So ablehnend sich Franziska nun auch dem fürstlichen Verehrer gegenüber verhalten hatte, so heiß schlug dennoch für ihn ihr Herz, das bisher die Liebe nicht gekannt. Ihr Gatte [214] quälte sie mit neuen Eifersuchtsscenen, besonders, als der Herzog plötzlich in Pforzheim erschienen war, folgte aber doch einer zweiten Einladung mit ihr an den Stuttgarter Hof.

Franziska’s Herz war mit ihren strengen Ansichten in schwerem Kampfe – des Herzogs Worte und Gelübde erschütterten ihre Festigkeit und verwirrten sie. Er sprach von einem neuen Leben, das er zu beginnen wünschte, von einer Vereinsamung auf dem Throne, von der Menschenverachtung, die sich seiner bemächtigt hatte – und der schwärmerischen, jungen Frau erschien es plötzlich als die schönste, menschenwürdigste Aufgabe, den trotz aller Schwächen großherzigen Fürsten auf eine andere Bahn zu lenken. Des Gatten Augen gewahrten ihre wachsende Neigung; neue Mißhandlungen kränkten sie auf’s Aeußerste – und so, halb willenlos getrieben, flüchtete sie sich in des Herzogs Schutz. Wir sind weit davon entfernt, das mit diesem Schritte anhebende Verhältniß zwischen Franziska und dem Herzoge, welches beiderseits auf einem unleugbaren Treubruche beruht, hier entschuldigen oder gar glorificiren zu wollen, nur das psychologische und historische Interesse, welches dasselbe gewährt, veranlaßt uns, auf Grund des oben erwähnten Buches noch einmal auf diese schon oft behandelte Episode der württembergischen Geschichte zurückzukommen.

Zuerst führte Karl seine Freundin auf die Solitüde, das reizende Lustschloß unweit Ludwigsburg; der Baron von Leutrum eilte zornig nach Pforzheim zurück, von wo aus er Franziska zur Heimkehr zu bewegen versuchte. Vergebens! Abscheu vor ihm und warme Liebe zu Herzog Karl ließen sie jede andere Rücksicht vergessen. Der Herzog stellte ihr ein Rescript aus, daß ihre Ehe mit Leutrum geschieden werden solle, und daß er sie, sobald seine Gemahlin, die kränkelnd zu Bayreuth lebte, stürbe, zu seiner rechtmäßigen Gattin erheben wolle. Er bestrebte sich, ihr zu zeigen, daß er es wirklich ernst mit der Umkehr meine. Von dem Tage der Vereinigung mit Franziska an begann er in der That ein neues Leben; seine „gute Periode“ brach an, von der in Schwaben noch heute viel berichtet wird. Vor allen Dingen wollte er für die Erziehung und den Unterricht seiner Landeskinder sorgen. Er erweiterte die bereits gegründete „Militärische Pflanzschule“, den Anfang der späteren „hohen Karlsschule“, dehnte die „Académie des arts“ aus, entließ die fremden Künstler, schränkte die Feste ein und gründete eine „École des demoiselles“, deren Protectorat seine Freundin übernehmen mußte.

Nachdem Franziska’s Ehe geschieden war, erwirkte der Herzog beim Kaiser Joseph dem Zweiten ihre Erhebung in den Reichsgrafenstand unter dem Namen „von Hohenheim“. Denselben hatte er einem Landgute in der Nähe von Stuttgart entlehnt, das er nun, ihr zu Ehren, mit neuen Bauten und Gartenanlagen schmückte. Ueberall thut sich seine zärtliche Fürsorge für Franziska hervor. Seine Briefe an sie zu Geburts- und Namenstagen, oft in Versen, sind wahrhaft rührende Beweise seiner Liebe und Hochachtung für die Frau, welche, über die ihrem Verhältnisse zum Herzoge mangelnde Sanction tief unglücklich, aber dem Urtheile der Welt trotzend, an seiner Seite blieb und sich ihrer Aufgabe wohl bewußt war. Niemals hat sie nach Bereicherung, nach Einfluß in Staatsgeschäften gestrebt; all ihr Denken ging dahin, Herzog Karl eine ruhige Häuslichkeit zu bereiten, da zu mildern, wo sein unruhiger Sinn aufbrauste, und im Stillen wohlzuthun – so wurde sie wirklich Württembergs guter Engel.

Ihr Eifer, zu lernen und sich fortzubilden, gefiel dem Herzog und ließ ihn den Plan fassen, ihr fremde Länder zu zeigen. Italien, die Schweiz, Frankreich, England, ganz Deutschland und Dänemark hat sie im Laufe der Jahre mit ihm besucht. Diese Reisen glichen im Gegensatze zu Karl’s früheren prunkvollen Ausflügen einfachen Studienfahrten. Er besuchte Universitäten, unterhielt sich mit Professoren und faßte dabei neue Ideen für seine „Karl’s-Akademie“. Seit dem 17. Januar 1773 zählte, nebenbei bemerkt, Friedrich Schiller als „Zuwachs“ unter der Nr. 447 zu den Schülern der weltberühmten Anstalt.

An allen Höfen fast, die man auf den Reisen berührte, wurde die Reichsgräfin von Hohenheim gleich einer regierenden Fürstin empfangen; man ehrte in ihr Karl’s bescheidene Freundin, von der man wußte, daß sie längst als rechtmäßige Gattin an seiner Seite stehen würde, hätte nicht Friederike von Bayreuth noch grollend in ihrer Heimath gelebt.

Daß neben vielen Aufmerksamkeiten, welche Franziska freiwillig gespendet wurden, auch manche Demüthigung sie traf, wurde durch das Absonderliche ihrer Stellung hervorgerufen. Am tiefsten kränkte sie der Ausschluß von Beichte und Abendmahl, wogegen selbst Karl’s Machtgebot wirkungslos blieb. Die früheren prunkvollen Oper- und Balletvorstellungen wurden eingestellt, und statt deren feierte Herzog Karl jetzt Franziska’s Geburts- und Namenstage mit großen Armenspeisungen, Ausstattungen von Brautpaaren etc., weil ihre Hauptfreude im Wohlthun bestand.

„Eleve Schiller“ brachte bei einer solchen Gelegenheit dichterische Gaben: „Empfindungen der Dankbarkeit beim Nahmensfeste Ihro Excellenz der Frau Reichsgräfin von Hohenheim“ von der Militärakademie und der École des demoiselles. Ein anderes Mal entwarf er „Inschriften für ein Hoffest“ zu ihrem Preise, und im Jahre 1780, dem letzten seines Studiums, hielt er in Gegenwart des Herzogs und seiner Freundin eine schwungvolle Geburtstagsrede für sie: „Die Tugend in ihren Folgen betrachtet.“

Für sämmtliche Schüler der Militär- oder Karl’s-Akademie war die Gräfin von Hohenheim, die oft an des Herzogs Seite die Lehrsäle betrat, eine verehrte, glanzvolle Erscheinung. Nur eines Unglücklichen hat sich Franziska nicht mit jener Wärme angenommen, die sie sonst Leidenden zu Theil werden ließ – Schubart’s, des Gefangenen des Hohenaspergs. Er hatte sie durch Spottlieder und Reden auf ihr Verhältniß zum Herzog bitter gekränkt. Seine Kinder beschenkte sie indessen, und als Herzog Karl ihm endlich die Freiheit gab, war es Franziska’s Mund, welcher ihm die freudebringende Botschaft verkünden mußte. Seine feurigsten Lieder priesen sie fortan.

Das Tagebuch der Gräfin von Hohenheim ist ein Denkmal ihres edlen Herzens, ihres einfachen Lebens. Sie hat jedes kleine Ereigniß gewissenhaft darin verzeichnet, oft hat aber auch Herzog Karl ihr die Feder aus der Hand genommen und Sätze zu ihrem Lobe hineingeschrieben. Am 9. April 1780 erzählt sie: „Beim Aufwecken wurde gemeldet, daß eine Stafette da wäre, und diese brachte die Nachricht, daß Ihre Durchlaucht, die Herzogin, den 6. dieses, Abends zwischen 6 und 7 Uhr, das Ewige mit dem Zeitlichen verwechselt hätten; ich war gewiß gerührt über diese Nachricht.“

Der charakteristischste aller Briefe des Herzogs an seine Freundin ist der, in welchem er ihr verspricht, daß sie nun seine Gattin werden solle: „Bald Zehen jahre sind es, Gott ist mein Zeug, daß immer meine Gedanken dahin gingen, wann Ich die nun Verstorbene Herzogin überleben sollte, keiner andern, alß Dir, Liebste Freundin, theil an meinem Herzen, an meiner Hand zu geben; nun ist der fall, mein Herz ist Dir Eigen, und hier, zum pfand meiner bißherigen rechtschaffenheit und redlichen gedenkungsarth gegen Dir, und hier sage Ich, ist meine Hand.“

Aber so ehrlich Herzog Karl es auch meinte, und so gewissenhaft er allen Heirathsvorschlägen, welche ihm politische Vortheile bringen konnte, widerstand, vorläufig konnte er seinen Entschluß, sich mit Franziska kirchlich zu verbinden, doch nicht ausführen. Die katholische Kirche widersetzte sich der Ehe mit einer geschiedenen Protestantin. Er wandte sich, um den Consens zu erlangen, direct an den Papst Pius den Sechsten, aber auch von dort traf eine abschlägliche Antwort ein. Daß Franziska in diesen Tagen, Wochen und Monaten der Erwartung unendlich litt, wer könnte das bezweifeln?! Ihr Tagebuch bezeugt es oft genug.

Mit neuen Plänen und Versuchen, den Papst umzustimmen, gingen noch Jahre hin; endlich gab der Prälat von Neresheim dem Herzoge den Rath, sich heimlich zu vermählen und den päpstlichen Consens erst nachträglich einzuholen. Karl, dessen Geduld erschöpft war, befolgte denselben. Am 11. Januar 1785 ließ er sich mit Franziska in Gegenwart seines Bruders Friedrich Eugen, dessen Gemahlin und eines Ministers in aller Stille trauen. Franziska’s Tagebuch berichtet nichts über diesen Act, als den Satz: „Der Herzog führte mich dahin, wo ich mein weltliches Glück befestigt sehe.“

Erst ein Jahr später, am Lichtmeßfeste 1786, machte Karl dem versammelten Hofe seine Vermählung bekannt; der Act war ebenso eine Ueberraschung für „sein Franzele“ wie die Trauung [215] selber. Franziska hörte plötzlich in der Akademiekirche für sich beten: „Segne auch, o Gott, höchstdesselben Gemahlin!“

Im Lande war Jubel und Freude, daß „Karl Herzogs Engele“ nun endlich den Thron bestiegen hatte. Franziska blieb nach ihrer Erhöhung ebenso einfach und bescheiden, wie vorher; sie hatte nicht nach Macht gestrebt, sondern nur nach jener als berechtigt geltenden Stellung an der Seite des Gatten, um welche sie oft das ärmste Weib im Lande mit heißen Thränen beneidet hatte. Sämmtliche protestantische Höfe erkannten Franziska als Herzogin an; die katholischen aber warteten erst den Beschluß des Papstes ab. Dieser ließ nicht lange auf sich warten; denn kaum hatte Pius der Sechste von Karl’s eigenmächtiger Handlung erfahren, als er ihm einen eindringlichen Brief schrieb und ihn aufforderte, die ungültig eingegangene Ehe wieder aufzuheben.

Herzog Karl sandte daraufhin neue Unterhändler nach Rom.

Franziska theilte in den bescheidensten Ausdrücken ihre Heirath den Verwandten des Herzogs und ihren Freunden mit. An Professor Niemeyer am Waisenhause zu Halle schrieb sie:

„Ich eile, Ihnen zu melden, daß durch die Gnade des Herzogs in meiner öffentlichen Anerkennung und Erhebung zu seiner Gemahlin endlich das so lange gegebene Aergerniß, wie ich wenigstens hoffe, in den Augen der Welt sein Ende erreicht hat. – Je mehr Menschen auf mich sahen, desto strafbarer erschien ich mir. Sie fühlen gewiß, wie drückend der Gedanke blieb und wie gerecht noch jetzt meine Thränen darüber fließen, auch nur einem Menschen zum Anstoße geworden zu sein. Für diesen Schmerz giebt es eigentlich keinen ausreichenden Trost und keine völlige Beruhigung.“

Im März 1791 langte endlich die päpstliche Anerkennung der Heirath an; das Paar war gerade in Brüssel. Herzog Karl schrieb in sein Reisetagebuch: „Heute Morgen bekam ich durch eine Estafette von Rom von dem von Mylius die Nachricht, daß der Papst meine Heirath als kanonisch erklärt, mithin der letzte eingebildete Stein des Anstoßes gehoben sei.“

Nur wenige Jahre traulichen Zusammenlebens waren den Beiden indessen noch beschieden – am 23. October 1793 starb Herzog Karl in Franzel’s Armen.

Eigenhändige Bestimmungen ihres verstorbenen Gatten wiesen Franziska den Wittwensitz auf dem Schlosse zu Kirchheim unter Teck an. Hier hat sie noch mit einem ziemlich großen Hofstaate bis zum ersten Januar 1811 gelebt. Unter dem Chore der dortigen Martins-Kirche fand sie ihre letzte Ruhestätte; kein Denkmal bezeichnet dieselbe, aber in dem schwäbischen Volke lebt Franziska dennoch fort als „Württembergs guter Engel“.




Auf der nordamerikanischen Eisenbahn.


Von Gerhard Rohlfs.


Bei der bevorstehenden Eröffnung der Weltausstellung in Philadelphia werden gewiß auch deutsche Reisende die amerikanischen Bahnen sehr bald ungewöhnlich stark frequentiren. So dürften denn den vielen Lesern der Gartenlaube einige Andeutungen über die Eisenbahnverhältnisse jenseits des Oceans willkommen sein.

Wer in Europa die Schweiz, einige Theile von Oesterreich und Württemberg bereiste, wird sich jener langen Waggons erinnern, welche in der Mitte mit einem Gange und an beiden Seiten dieses Ganges mit Sitzen für je zwei Personen versehen sind; nach diesem einen Grundsatze sind alle nordamerikanischen Waggons gebaut. Jeder Zug hat in der Regel außer der Locomotive nebst Tender und Packwagen drei solcher Waggons, wovon zwei für Nichtraucher und einer für Raucher bestimmt sind; auf stark befahrenen Strecken ist bei Tage ein Pulman-Palace-Car (auch Parlor-Car oder Saloon-Car genannt), welcher Nachts durch einen Sleeping-Car ersetzt wird, beigefügt. Man kann aus einem Waggon in den anderen gehen, auch während der Fahrt. In jedem Waggon sind Oefen, welche außerdem durch eiserne Röhren die Hitze durch den ganzen Waggon vertheilen. Durch jeden Zug, also durch alle Waggons, läuft eine Schnur, welche mit einer auf der Locomotive befindlichen Glocke in Verbindung steht, wodurch dem Locomotivführer in jedem Augenblicke das Signal zum Halten gegeben werden kann. Obschon nirgends in einem Waggon angeschlagen steht: „Es ist streng verboten, unnützer Weise an dieser Schnur zu ziehen,“ wie das in Europa, wo man auf einigen Bahnen auch diese Einrichtung hat, der Fall zu sein pflegt, so ist doch noch nie der Fall eines unnützen Nothsignals vorgekommen. In jedem Waggon ist ein Watercloset, in den Parlor- und Sleeping-Cars sind auch Waschtische mit Handtüchern und Seife und in jedem Waggon ist stets ein großer Krug mit frischem Trinkwasser zu finden.

In allen Zügen findet sich ein Zeitungsverkäufer, der außerdem eine ganze Auswahl recht guter Bücher zum Verkaufe feil hält und fortwährend von einem Waggon zum andern geht. Die leiblichen Bedürfnisse sucht er durch Aepfel, Birnen, Bananen, Feigen, Nüsse und Süßigkeiten zu befriedigen, und meistens machen diese Leute, welche fest angestellt sind und feste Preise haben, ganz gute Geschäfte.

Es giebt in den ganzen Vereinigten Staaten nur eine Eisenbahn-Fahrclasse;[1] nur für Auswanderer giebt es weniger gut eingerichtete Waggons und eigens eingelegte Züge, auf den Fahrplänen sind dieselben aber nicht aufgeführt. Da indeß selbst in einer so frei eingerichteten Republik das große Gleichheitsprincip praktisch nicht durchgeführt werden kann, so haben die Amerikaner für die reichen und bequemlichkeitsuchenden Reisenden den Palace-Cars und Nachts den Sleeping-Car.

Die Palace-Cars, äußerst elegant mit Teppichen ausgelegt, haben Lehnsessel für eine Person; manchmal und sie verrückbar, manchmal blos drehbar. Statt sechszig Personen kann also ein Palace-Car nur dreißig aufnehmen. In einigen ist auch ein Rauchcompartiment für vier oder sechs Personen angebracht; in den meisten fehlt diese Einrichtung. Die Sleeping Cars sind insofern anders eingerichtet als in Europa, als Männer und Frauen in einem Waggon, durch keine Scheidewand getrennt, schlafen. Ein Sleeping-Car enthält in der Regel achtundzwanzig Betten, vierzehn an jeder Seite, sodaß sieben Reisende unten und sieben oben schlafen. Die Betten sind sechs und einen halben Fuß lang, circa drei Fuß breit, mit Sprungfedern versehen; die Matratze ist weich, und die Bettwäsche wird jeden Abend erneuert. Durch dicke Vorhänge sind die Betten abgeschlossen; sobald sich also Jemand in sein Bett zurückgezogen hat, ist er ganz allein und von allen Anderen abgetrennt, und dies ermöglicht es eben, daß Herren und Damen, ohne daß es irgendwie Anstoß erregte, in einem Sleeping-Car zubringen können.

Besonders angenehm berührt es den Europäer, daß nirgends in einem Waggon directorielle Anordnungen, Verbote und Vorschriften angeschlagen sind; Jedermann weiß eben, was er zu thun und zu unterlassen hat. Will Jemand den Kopf zum Fenster hinausstecken, so kann er es auf die Gefahr hin thun, ihn sich abschlagen zu lassen; will Jemand auf die Plattform gehen, auf die Gefahr hin, hinabgeschleudert zu werden – der Conducteur wird ihn sicher nicht daran verhindern; springt Jemand aus dem Wagen, wenn der Zug noch im Fahren ist – „Was geht das mich an?“ denkt der Conducteur, vorausgesetzt, der Reisende hatte ein Billet; springt Jemand auf die Plattform des schon in schnellem Tempo fahrenden Zuges – „Sei mir willkommen!“ sagt der Conducteur, „vorausgesetzt Du hast ein Billet oder zahlst mir den Preis desselben.“ Ob der Reisende dabei Schaden erleidet – „Was geht das mich an?“ sagt die Eisenbahndirection.[2]

Die Züge in den Vereinigten Staaten fahren stets pünktlich, pünktlich auf die Minute von den großen Städten ab, und die einmal existirenden Fahrpläne werden sehr selten geändert.

Eine große Annehmlichkeit für das reisende Publicum besteht darin, daß man in den größeren Städten überall Bureaux etablirt findet, wo nicht nur Eisenbahnbillets verkauft werden, [216] sondern wo man auch die Aufgabe seines Gepäckes besorgt bekommen kann. Ein Hôtel ersten Ranges hat selbstverständlich einen Billetschalter. Das persönliche Gepäck des Reisenden wird nie gewogen; man nimmt an, daß Niemand über zweihundert Pfund mit sich führt, und erachtet es demnach nicht der Mühe werth, es wiegen oder gar die Ueberfracht bezahlen zu lassen. Eine Kupfermarke dem betreffenden Gepäckstücke angehängt, die correspondirende dem Reisenden übergeben, das ist die ganze Procedur des Gepäckaufgebens, welche bei uns in Europa so zeitraubend und mit Umständlichkeit verknüpft ist. Selbstverständlich ist von Trinkgeldgeben und Trinkgeldnehmen in den Vereinigten Staaten nicht die Rede; der Amerikaner ist dazu viel zu stolz; der niedrigste Arbeiter betrachtet sich in dieser Beziehung als Gentleman und stellt das Trinkgeldnehmen mit Bettelei auf gleiche Stufe. Ebenso leicht und bequem wie das Billeterlangen und Gepäckaufgeben in den Vereinigten Staaten dem Reisenden gemacht wird, ebenso leicht ist auch das Gepäckherausbekommen. Sobald der Zug sich einer größeren Stadt nähert, durchschreitet ein Mann die Waggons und fragt den Reisenden, nach welchem Hôtel oder nach welchem Hause er sein Gepäck hingeschafft haben wolle, und gegen Auswechselung der Gepäcksmarke für einen Schein, sowie gegen Zahlung von fünfzig Cents (zwei Mark) erhält der Reisende nicht nur Fahrgelegenheit vom Stationsgebäude nach seinem Absteigequartiere, sondern findet auch sein Gepäck dort unversehrt vor.

Auf längeren Strecken, z. B. auf der Pacificbahn, findet man auch die Hôtel-cars dem Zuge angehängt, in welchen während der Fahrt gefrühstückt, Mittag gegessen und gevespert werden kann. Der Preis für ein Mahl variirt zwischen einem Dollar und einem Dollar und fünfzig Cents. Sonst wird zu den drei Zeiten auf irgend einer Station gehalten und gespeist, und für eine solche Mahlzeit gilt der Durchschnittspreis von fünfundsiebenzig Cents (drei Mark). Alle übrigen Halte sind äußerst kurz, gerade lang genug, um die ein- und aussteigenden Passagiere zu wechseln.

Alles, was wir bis jetzt aufgeführt haben, läßt uns die Einrichtungen des Eisenbahnwesens in den Vereinigten Staaten im freundlichsten Lichte erscheinen, aber um gerecht zu sein, wollen wir nicht unterlassen, auch auf die Schattenseiten aufmerksam zu machen.

Der Mangel an Beamten macht sich in erster Linie für den fremden Reisenden auf’s Unangenehmste fühlbar. Es ist wahr, in den Vereinigten Staaten reisen so wenige Fremde, daß die verschiedenen Directionen auf „außeramerikanisches Publicum“ überhaupt gar nicht nöthig haben, Rücksicht zu nehmen, aber wie unangenehm ist es, wenn man sich von der Straße aus, nach seinem Zuge, nach seinem Waggon mühsam den Weg suchen muß! Fragen kann man nicht; denn Niemand ist da, der einem antworten würde. Man setzt sich in den Waggon; man fragt endlich die Mitreisenden: „Geht dieser Zug oder dieser Waggon nach der und der Stadt?“, oft ohne zu erfahren, ob man wirklich in den richtigen Car gerathen ist. Endlich geht der Zug ohne das in Europa übliche Pfeifen ab, ohne daß Jemand abgerufen hätte, aber pünktlich auf den Glockenschlag. Zwanzig bis dreißig Personen springen noch während der Fahrt in den Waggon, während wenigstens ebenso viele schon seit einer Stunde oder noch länger vor der Abfahrt im Waggon saßen.

Warum sollten sie auch nicht, denn im Waggon wartet es sich besser und sicherer, als in den Warteschuppen. Die Stationsgebäude in den Vereinigten Staaten, oder, wie man sie nennt, Depôts, sind nämlich die elendesten Scheunen, die man sich nur denken kann, selbst die in den größten Städten. In St. Louis oder Chicago z. B. brennen Abends in der Abfahrtshalle vielleicht zehn oder zwölf Gasflammen; in diesen Städten kann man wenigstens von Abfahrtshallen reden; in den kleineren Städten muß man „Schuppen“ sagen.

Der berühmte Centralbahnhof in New-York ist gegen unsere Lehrter, Potsdamer und Ostbahnhöfe in Berlin nichts als ein Güterschuppen. Granit- und Marmormonolithen, elegant eingerichtete Wartesäle, reich ausgestattete Restaurants, prächtige Empfangshallen und Abends taghelle Beleuchtung sucht man im New-Yorker Centralbahnhofe, wie überall anderswo in Amerika, vergebens. Während in Deutschland, wie überhaupt in Europa, die eigentlichen Bahnhofskörper durch oft tausende von Gasflammen erleuchtet sind, ist eine solche Lichtverschwendung in den Vereinigten Staaten vollkommen unbekannt; höchstens zeigt eine einsame Petroleumflamme den Ort, wo eine Weiche steht.

In den kleineren Städten sind die Stationen aber wirkliche Viehställe; von menschenwürdigen Gebäuden, von Gasbeleuchtung, selbst wenn in der Stadt solche wäre, ist keine Rede.

Wenn ich in meinem früheren Aufsatze über deutsche Eisenbahnen die Beleuchtung der amerikanischen Waggons als musterhaft hinstellte, so muß ich das jetzt, nachdem ich sie aus eigener Anschauung kennen gelernt, widerrufen. In den Vereinigten Staaten ist die Beleuchtung die elendeste, die man sich denken kann; als Norm gilt, daß in einem circa fünfzig Fuß langen Waggon drei flimmernde Kerzen, oder auch Petroleumlampen brennen, und selbst die Pulman-Palace-cars sind nicht viel besser beleuchtet.[3] Wie vortheilhaft erscheinen einem da die Waggons der preußischen Staatsbahnen nach dem Osten zu, welche seit 1874 durch Gas erleuchtet werden und wirklich so viel Licht haben, daß man Abends lesen kann.

Da auf den Vereinigten Staaten-Bahnen keine Stationsgebäude vorhanden sind – denn wir Europäer können diesen Namen auf die hölzernen Buden nicht anwenden –, so findet man auch fast nirgends den Namen eines Ortes oder einer Stadt angeschrieben, und da niemals abgerufen wird, oder höchstens in selbst für Amerikaner unverständlichem arabisch-gurgelndem Tone, so weiß Niemand, wo er sich befindet. Viele Bahnen haben allerdings die löbliche Einrichtung, daß sie beim Besteigen des Waggons dem Reisenden kleine Billets überreichen, worauf alle zu durchlaufenden Stationen verzeichnet sind, aber dann muß man auch eben immer mit dem Billet in der Hand dasitzen, um die Namen der Oerter zu erfahren. Uebermannt einen der Schlaf, fährt man unbemerkt bei verschiedenen Stationen vorüber, dann ist’s so wie so aus mit der Orientirung.

Es ist übrigens dafür gesorgt, daß Niemand einschläft, denn die Sitze in den Waggons sind so eng, die Lehnen so niedrig und so hart, daß an Schlafen nicht zu denken ist; wohin sollte man auch sein müdes Haupt legen, wohin seine Füße? Oft zwar kann man letztere auf dem vorstehenden Sitz, falls man ihn zurückklappen kann, ruhen lassen, meist aber sind mit großer Hartherzigkeit die Sitze festgeschlossen. Bei langen Tagfahrten ist dies zum Verzweifeln, und selbst die Saloon-cars gewähren keine Abhülfe; denn die Lehnsessel haben keine Kopflehne. Man fährt also ohne Widerrede in den Vereinigten Staaten auf langen Strecken viel unbequemer; dazu kommt noch, daß meistens die Cars ganz voll von Reisenden sind, sodaß man, geradezu eingeschachtelt, während der ganzen Fahrt seine einmal eingenommene Position innebehalten muß. „Aber wir können doch während der Fahrt auf und ab gehen,“ wirft mir ein Amerikaner ein. „Thut’s doch!“ erwidere ich, „wie lange wird dieses Vergnügen dauern, während der Zug in Bewegung ist, und wenn zwei, drei oder gar mehrere Personen diese Neigung verspürten?!“ – Selbstverständlich fährt man sehr häufig über sein Ziel hinaus, denn wer sagt Einem, daß man angekommen ist? Dem Schreiber dieses ist es passirt, und mehrere Male hat er gesehen, daß es Anderen ebenso erging. Endlich lehrt die Erfahrung, genau aufzupassen. Beschweren kann man sich nicht darüber, daß man nicht avisirt worden sei; denn Beschwerdebücher giebt es nicht.

Ein großer Uebelstand in den Vereinigten Staaten ist der, daß die arme und weniger bemittelte Volksclasse ganz vom Reisen mit der Eisenbahn ausgeschlossen ist, eben weil das Reisen sich als zu theuer herausstellt. Die für die Armen so wohlfeil eingerichtete vierte Classe, oder auch nur die dritte Classe, fehlt in Amerika. Denn die Auswandererzüge, welche diese Reisenden billiger befördern, können die vierte und dritte Classe nicht ersetzen, da sie eben unregelmäßig fahren und nur abgehen, wenn eine hinlängliche Anzahl von Auswanderern vorhanden ist. Man reist in den Vereinigten Staaten durchschnittlich zum halben Preise wie in Europa mit der zweiten Classe; nimmt man bei Tage Saloon-Car, so zahlt man weniger zu, als bei uns die Differenz zwischen erster und zweiter Classe beträgt, und nimmt man Nachts Sleeping-Car, so würde der zu zahlende Zuschlag etwa einem Billete erster Classe in Europa entsprechen. Wer gewohnt [217] ist, in Europa erster Classe zu fahren, reist also in den Vereinigten Staaten billiger, selbst wenn er Saloon- und Sleeping-Cars benutzt. Man ersieht hieraus, wie in der Republik der reiche Mann begünstigt ist, der arme aber als nicht vorhanden betrachtet wird. Ein Deutsch-Amerikaner, den ich auf diesen Uebelstand aufmerksam machte, warf mir ein: „O, hier reist nur Der, welcher Geld hat,“ aber wer möchte ernstlich eine solche anmaßende Behauptung vertheidigen!

Man fährt in den Vereinigten Staaten viel langsamer als in Europa, meist nur mit der Geschwindigkeit unserer gewöhnlichen Personenzüge; Courierzuggeschwindigkeit findet man nur zwischen Chicago und New-York und auf den Linien, welche die großen Städte des Ostens verbinden. Jagdzugsgeschwindigkeit würde überhaupt in den Vereinigten Staaten bei dem mangelhaften Zustande der Bahnen nicht anwendbar sein können. Bei meistens eingleisigen Bahnen, hat man sich bemüht, so gut wie möglich zu nivelliren, und auf den gekiesten Boden die Schwellen gelegt. Da man diese bedeutend dichter aneinander legt als bei uns, so gewährt dies eine verhältnißmäßig größere Sicherheit beim Fahren.

Aber Wärterhäuschen sucht das Auge vergeblich. Wie in Aegypten hat man Bahnwärter als ganz überflüssig erkannt. Nirgends sind die Uebergänge durch Barrieren abgeschlossen, in den Städten erst recht nicht; der Amerikaner würde hierin einen Eingriff in die Freiheit der Circulation erblicken. Höchstens findet man eine englische Warnung: „Gebt Acht auf den vorbeifahrenden Zug!“ oder dergleichen.

Bei der geringen Frequenz der Reisenden – von den Hauptstädten gehen nach den Hauptstädten des Tages nur zwei Züge – würde auch eine größere Anzahl von Beamten, ein größerer Aufwand im Eisenbahnmaterial ganz unmöglich sein, weil die Directionen damit nicht ihre Auslagen erschwingen könnten. Man reist in Amerika viel weniger als in Europa. Während in Europa die Eisenbahnen hervorgerufen werden durch das Bedürfniß, Städte und Ortschaften miteinander zu verbinden, baut man in Amerika und namentlich im Westen des Landes Bahnen, um Ortschaften zu gründen, um Verkehr zu schaffen und um ganze Landschaften zu erschließen. Aber auch die angebliche Eisenbahnentwickelung, was Länge in Meilenzahlen anbetrifft, beruht zum Theile in den Vereinigten Staaten auf Fiction, da die meisten Bahnen eingleisig sind. Die New-Yorker Buffalobahn stellt sich selbst immer als ein Weltwunder hin, „weil sie in der ganzen Welt die einzige viergleisige sei“. Uns Europäern, deren Bahnen durchgängig zweigleisig sind, und die wir viele vier-, ja sechs- und achtgleisige Bahnen haben, kommt so etwas höchst komisch vor.

Auch hier enthalte ich mich, über Frachtenbeförderung zu schreiben; es ist allgemein bekannt, wie in den Vereinigten Staaten die ganze menschliche Gesellschaft durch die einzelnen Eisenbahngesellschaften in Schach gehalten wird. Die Frachtsätze sind hier höher als in irgend einem anderen Theile der Welt. Aus Vorstehendem wird aber der Leser haben entnehmen können, daß, wenn auch manche Einrichtung in den Vereinigten Staaten im Eisenbahnwesen besser ist als in Europa, doch in vielen Dingen unsere europäischen Betriebsmaßregeln den Vorzug verdienen.




Die holde Scham.


Das Erröthen in seiner seelischen und körperlichen Entstehung.


Menschen von Gefühl werden sich von dem Ausspruche des alten Humoristen Hippel: nächst der Morgen- und Abendröthe sei die Schamröthe das schönste Roth von der Welt, sicher nicht befriedigt finden, Diejenigen zum Mindesten, denen einst die Gluth der Wangen der Geliebten früher noch als ihr Mund verkündete, daß sie ihr nicht gleichgültig seien, werden die Schamröthe sogar noch schöner finden als das Erglühen der kommenden und scheidenden Sonne und es in diesem Punkte mit Petrarca halten, wenn er von dem Erröthen seiner Laura sagt:

So schön sah ich den Morgen nimmer strahlen,
Wenn kein Gewölk den Himmel überzogen,
Als bei dem Keimen meiner süßen Qualen
Ihr Antlitz glüh’nde Röthe überflogen,
Der, was ich schön auf Erden auch erwogen,
Nichts gleichkommt – und ich liebe nicht zu prahlen.

Nicht weniger entzückend erscheint uns bei gleicher Gelegenheit die liebliche Verwirrung des Geistes, welche dieses unfreiwillige Auflohen einer bis dahin vielleicht sorgsam im innersten Herzen verborgenen Empfindung begleitet und sich in ungenügender Antwort genügend verräth, ferner das hastige Athmen und stürmische Klopfen des Herzens, endlich die Schüchternheit der vor Erregung leuchtenden Augen, welche nach jedem kühnen Aufschlage immer wieder schnell zum Boden oder zur Seite abirren. Aber auch ganz von dem Parteiurtheile des Urhebers so zarter Empfindungen abgesehen, wie viel wohlthuender berührt Jeden von uns z. B. bei den an vielen Orten noch immer öffentlichen Preisvertheilungen an Schüler der Anblick eines über seine Belobigung tief erröthenden Jünglings, als der kecke Rundblick eines anderen, welcher befriedigt beobachtet, ob auch alle Leute der Stadt seinen Triumph gewahren!

Wenn nun jene Ansicht der Tochter des Aristoteles, Pytheas, daß die Schamröthe die schönste Gesichtsfarbe sei, die man sich denken könne, im Rathe der Poeten einstimmig angenommen ist, so wird im Kreise der Theologen und Philosophen nicht weniger eifrig einer andern Behauptung beigestimmt, daß nämlich in diesem Verräther der inneren Empfindung, welcher sich ebenso schwer wie das Gewissen zum Schweigen bringen läßt, ein erhabenes Naturgeheimniß verborgen sei, daß die göttliche Abkunft des Menschen in dieser zarten, allen Thieren versagten Seelenregung am unverkennbarsten zum Ausdrucke komme; daß das Schamgefühl, mit einem Worte, ein göttliches Geschenk sei, wenn es die Bibel auch immerhin erst durch das Kosten verbotener Frucht in der Menschenbrust erweckt werden läßt. Selbst ein Arzt, Dr. Burgeß, der vor etwa vierzig Jahren dieser Erscheinung zum ersten Male zergliedernd näher getreten ist und ein besonderes Buch über die Physiologie der Scham geschrieben hat, meinte, daß dieser im unverdorbenen Menschen nicht niederzukämpfende und bei dem Versuche dazu nur erstarkende Verräther dem Geschöpfe vom Schöpfer als eine Art Talisman, als ein Hemmniß, seine Gebote ungescheut zu übertreten, eingepflanzt sei.

Allein, wenn wir der Sache näher treten, so muß uns schon der Umstand in Zweifel versetzen, daß ein und dieselbe Erscheinung bald den Abglanz der Unschuld, bald das Kainszeichen der Schuld vorstellen soll, und wahrlich, der Untersuchungsrichter würde übel fahren, welcher von dem Erröthen eines Menschen bei irgend einer Anklage auf sein Schuldbewußtsein schließen wollte. Der Unschuldige erröthet, wenn ihm eine schwere Anklage in’s Gesicht geschleudert wird, leichter, als der Schuldige, der sich solche „Kindereien“ in der Regel längst abgewöhnt hat, und meistens sind es die allerleichtesten Vergehen, Schulbubenstreiche, Etiquettenfehler etc., die sich bei ihrer Entdeckung in den allertiefsten Purpur kleiden.

Wir ersehen hieraus, daß diese Farbenerscheinung durchaus nichts mit einem für unfehlbar geltenden Gewissen zu thun hat, daß sie eben nur eine innere Erregung kund macht, die bald durch bloße Schüchternheit, bald durch Liebe, Theilnahme (wenn wir für Andere erröthen), durch Unschulds- oder Schuldbewußtsein, durch Bescheidenheit, Stolz und manche andere Gemüthsbewegungen erweckt werden kann. In allen den unzähligen Fällen aber, in denen der Mensch zu erröthen pflegt, läßt sich ein und derselbe sehr wenig überirdische, sondern vielmehr sehr weltliche Grund als letzte Ursache der inneren Erregung nachweisen, nämlich die Rücksichtsnahme auf unsere Beurtheilung durch Andere. „Was wird die Gesellschaft dazu sagen, daß du dich so furchtbar ungeschickt benimmst?“ heißt die fixe Idee des Schüchternen, die ihn aus der Purpurtinte nicht herauskommen läßt. „Was sollen die Leute dazu sagen, daß du hier so über Gebühr gelobt wirst?“ ist der Gedanke des Bescheidenen, wenn er erröthet. „Was muß dein Nebenmensch von dir denken, daß er dir eine solche Schlechtigkeit nur zutrauen kann?“ lautet der höchst beunruhigende Gedanke des im Gefühle seiner Unschuld Erröthenden. Die geistige Unruhe also, die uns beim unumgänglichen [218] und unwillkürlichen Erwägen der möglichen Gedanken unserer uns zuschauenden Mitmenschen ergreift, nichts Anderes ist der Mittelpunkt der für so geheimnißvoll ausgegebenen Erscheinung. Und wenn nun für eine Person die ganze Welt sich in einer einzigen andern zusammenfaßt und personificirt, so ist es deren Gegenwart und die mit ihr wachgerufene Frage, ob wir auch ihre Billigung finden, die uns bis zur stärksten Rothgluth einheizt. Darum erglühen wir am tiefsten vor denen, die wir am höchsten lieben oder verehren, und daher kommt es, daß die Liebeserklärungen meist unter so lebhaftem Farbebekennen vor sich gehen, und daß der übermüthige, aber von Herzen gute Junge über denselben Streich, mit dem er sich eben noch gegen Seinesgleichen rühmte, vor seinem Vater oder Erzieher tief erröthet.

Darwin, dessen tiefdurchdachte Auffassung uns hier zur allgemeinen Richtschnur dient, hat den Nachweis erbracht, daß das Schamgefühl sich bei allen Menschenracen durch das Erröthen und seine Begleiterscheinungen äußert, daß selbst den Negern, Kaffern und andern dunkelhäutigen Menschen, bei denen man wenig davon merken kann, bei gegebener Veranlassung das Blut in die Wangen schießt, ebenso wie eine wohlerzogene Europäerin auch im Dunkeln erröthet, obwohl in beiden Fällen der vorgebliche Zweck des verrätherischen Blutstroms verloren geht. Bei solchen Negern, die Wundnarben, welche in der Regel lange hell bleiben, auf den Wangen haben, kann man die Spur des Blutstroms, der sonst nur ein wenig Nachdunkelung hervorbringt, an ihrem Rothwerden leicht erkennen. Bei hellfarbigen Racen wird das Erröthen dadurch gesteigert, daß es sich leichter verräth, und der Wunsch, seine innere Erregung zu verbergen, nur die Verwirrung und ihre Wappenfarbe zu erhöhen geeignet ist, eine Steigerung, die nicht so leicht eintreten wird bei Personen, deren von Natur dunklere Gesichtsfarbe eine leichte Erregung maskiren kann. Im Uebrigen hängt die Empfindlichkeit des Schamgefühls natürlich von dem Grade der angeborenen oder anerzogenen Feinfühligkeit ab, und während die eine Person nur ganz leicht rosenfarben angehaucht erscheint, sinkt die Andere bei derselben Veranlassung bis über die Ohren in Päoniengluth; während die meisten Menschen nur bis zum Halse, viele bis zur Brust erröthen, spricht man von Anderen, die vom Wirbel bis zur Zehe roth werden. Aerzte haben einzelne Personen angetroffen, die in diesem Punkte so empfindlich waren, daß die Röthe sich auf jeden Körpertheil verbreitete, den sie behufs der Untersuchung entblößen mußten. Wir dürfen wohl schließen, daß die übliche Beschränkung der Röthe auf die von der Mode unverhüllt gezeigten Theile der menschlichen Büste eben durch den Umstand, daß sie die innere Erregung allein nach außen spiegeln können, hervorgebracht worden ist, wie sich das Brennen in unseren Wangen durch den Gedanken, es zur Schau zu tragen, vermehrt und am ersten nachläßt, wenn das Antlitz hinter dem Fächer, den Händen oder einem Taschentuche Schutz finden kann.

Denen, welche sich scheuen, eine Rose zu zerpflücken, um ihren Bau kennen zu lernen, wird es wohl sehr schamlos erscheinen, der körperlichen Natur und Entstehung einer so poesievollen Erscheinung, wie es dieser Rosenschmuck der aufblühenden Jugend ist, nachzuspüren. Wir müßten eine solche Scheu indessen, wo sie hervorträte, in das Gebiet der falschen Scham oder Prüderie verweisen, welches freilich ungleich ausgedehnter ist, als das der wahren und berechtigten. Wenn wir zuerst Umschau halten im Thierreiche, so findet sich, daß das Vermögen, die Farbe zu wechseln, kein Vorzug des Menschen vor den Thieren ist; wenn es den Säugethieren beinahe fehlt, ist es in desto größerer Ausdehnung den riesenhaften Seepolypen oder Kraken, vielen Fischen und in besonders ausgezeichnetem Grade dem Chamäleon verliehen. Bei den meisten dieser Thiere scheint das Farbenspiel der Haut sowohl dem Ausdrucke der Stimmung wie auch als eine Kriegslist zu dienen, um dadurch, daß sie die Farbe ihrer Umgebung annehmen, den Nachstellungen ihrer Feinde besser entgehen zu können. Wie sehr der Eindruck der Umgebung die Farbe der Fische beeinflußt, hat G. Pouchet kürzlich nachgewiesen, indem er zeigte, daß Fische, die man blendet, unter allen Umständen eine dunklere Färbung annehmen, als sie vorher zeigten, als wollten sie die Trauerfarbe, in welche die Natur sich für sie kleidet, wiederspiegeln. Das Farbenspiel der sterbenden Meerbarbe war ein Schaustück, welches einer wohlbesetzten römischen Schwelgertafel nicht fehlen durfte. Wenn es sich in diesen Fällen meistens um die Füllung besonderer verästelter Hautgefäße mit einem eigenthümlichen flüssigen Farbstoffe, der beim Zusammenziehen derselben zurücktritt, handelt, so bringt bei den Säugethieren das Blut ähnliche Erscheinungen hervor, indem es die feinen Haargefäße (Capillaren) der Oberhaut beim Erröthen anschwellt, beim Erblassen verläßt. An dem haarlosen Gesichte des Affen läßt sich leicht erkennen, daß es in der Leidenschaft sich ebensowohl röthet, wie das eines zornigen Menschen, aber daß es niemals von dem edeln Roth der Scham besucht wird, ist bei der bekannten Schamlosigkeit dieser Bestien nur zu natürlich.

Allein weshalb sollten wir sie tadeln für einen Mangel, der uns an unseren eigenen Kindern so über alle Beschreibung hold und reizend erscheint, wegen jener Unbefangenheit, die uns den Beweis liefert, daß das Schamgefühl hauptsächlich nur ein Erzeugniß der Erziehung des Menschengeschlechts, und zwar sowohl der persönlichen, wie der allgemeinen im Laufe der Jahrtausende ist. Wer hätte nicht in seinem Leben die Unbefangenheit und Unschuld kleiner Kinder bewundert und beneidet, wie sie, ohne mit der Wimper zu zucken, Jedem unverwandt in’s Auge blicken und sich auch in der allervornehmsten Gesellschaft niemals wohler fühlen, als wenn sie die letzte Hülle von sich geworfen. Wir erhalten hier den vollsten Beweis, daß das Schamgefühl nichts unmittelbar in der Natur Gegebenes ist, und die schönste Rechtfertigung, welche der Dichter der gedankenreichen biblischen Erkenntnißmythe irgend verlangen kann. Erst mit dem zweiten Lebensjahre etwa, nachdem die Erziehung ihr Werk begonnen und die Mahnung „Was sollen die Menschen von Dir denken?“ unaufhörlich vor dem Ohre des Kindes wiederhallt – und, setzen wir hinzu, nicht wohl entbehrt werden kann –, entwickelt sich auch die Fähigkeit des Erröthens in einem oft so bedenklichen Grade, daß spätere Selbsterziehung ihre Noth hat das Uebermaß, die allzu peinliche, auf Kleinlichkeiten ausgedehnte Rücksichtnahme auf unsere Mitmenschen wieder einzuschränken. Im Uebrigen kann ein äußerstes Zartgefühl in Bezug auf den Nächsten, wie alle anderen Gemüthsanlagen, leicht vererbt werden, und ein solches „Erbtheil des Blutes“ mag dann viel schwerer, als eine „alberne Angewohnheit“, auf ein erträgliches Maß zurückführbar sein. In solchen Fällen hat die Erziehung die ernste Pflicht, zu mäßigen, da ein Uebermaß auch hier sehr lästig und hinderlich werden kann. Dem starken Geschlechte gelingt es in der Regel in einem viel höhern Grade als dem zarteren, sich über das Urtheil seines lieben Nächsten hinwegzusetzen und nicht mehr über jeden Hühnerdreck zu erröthen. Dieses Beherrschenkönnen seiner innersten Empfindungen ist nicht immer eine Tugend, aber stets ein Gewinn für’s praktische Leben, wenn wir auch jene Stufe, die über nichts erröthet, in den meisten Fällen als einen traurigen Gewinn bezeichnen müßten. Der Volksmund nennt solche Menschen „abgebrüht“, als wäre die Schamröthe eine Anstrichfarbe, die sich ein- für allemal durch kochendes Wasser entfernen läßt. Auch hier ist die Mitte das Richtige, aber ein Zuviel besser als ein Zuwenig. Nicht nur von der Wange des Jünglings fordern wir mit Anakreon: „Und sieh zu, daß sie das edle – Roth der Scham erkennen lasse!“ auch einem Männerantlitze steht eine wohlangebrachte Gesichtsröthe zu Zeiten vorzüglich.

In dem erwähnten Seelenzustande, der mitunter einer Geistesabwesenheit gleicht, haben wir offenbar den eigentlichen Mittelpunkt der ganzen Erscheinung zu suchen. Geistige Vorgänge beeinflussen nun bis zu einem solchen Grade die Thätigkeit des Herzens, daß man den Leidenschaften, wie der Liebe und dem Hasse geradezu diesen Hohlmuskel als Wohnung zugewiesen hat. Der Muth und die Sehnsucht schwellen das Herz; Angst und Erwartung lassen es heftiger pochen; Furcht preßt es zusammen, und Entsetzen bringt das Blut zum Starren. Da nun die das Herz, den Verdauungsapparat und andere innere Organe bewegende Nervenkraft nicht dem Gehirne und seiner Rückenmarksfortsetzung entstammt, vielmehr von besonderen Kraftmagazinen des sogenannten sympathischen Nervengeflechtes ausgeht, so können wir den Herzschlag, die Verdauungsbewegungen etc. nicht willkürlich beeinflussen, und sie dauern auch nach einer Enthauptung, namentlich bei niederen Thieren, noch Stunden lang fort. Es besteht also hierin nur ein mittelbarer Zusammenhang, der sich [219] auf eine Regelung jener Lebensthätigkeiten vermittelst des aus dem Gehirne entspringenden, umherschweifenden Nerven (Vagusbündel) beschränkt. Dieser Vagabundus unter den Nerven spielt eine Art Oberaufseher im Körper; er treibt an, wo seinem Gefühle nach nicht genug gethan wird, und mäßigt, wo man zu viel thut. Während er nun in der Erwartung oder Furcht möglicher Weise direct den Herzschlag beschleunigt oder verlangsamt, verliert, wie man bemerkt zu haben glaubt, der Herr Oberaufseher in der Verwirrung, welche unsere emsige Beschäftigung mit den Gedanken Anderer im Oberstübchen anrichtet, gleichsam den Kopf und vernachlässigt seine Pflicht, ja verführt obendrein die Nerven, welche die haarförmigen Blutgefäße der Haut (Capillaren) im Zaume halten, seinem Beispiele zu folgen. Das Herz pocht deshalb, so lange eben die Verlegenheit andauert, ungezügelt darauf los und füllt die durch nichts mehr beengten Haargefäße der Wangen überreichlich mit Blut; die Lungen beeilen sich, in gleichen Schritt zu kommen, kurz, der Körper benutzt den Augenblick, wo der Geist „außerm Häuschen“ ist, zu einer kleinen Revolte.

Auf diese interessanten Vorgänge ist ein merkwürdiges Licht geworfen worden durch das Studium der Wirkungen des Amylnitrits, eines neuen, bei Migräne und anderen Nervenleiden angewendeten Arzneimittels. Es ist dies eine schwachgelbliche, durchdringend obstartig riechende Flüssigkeit, welche, beiläufig bemerkt, aus dem Kartoffelfuselöle, dem Abfalle der Spiritusbrennereien, durch Behandlung mit Salpetersäure erzeugt wird. Schon im Jahre 1859 hatte ein Selbstbeobachter (Guthrie) die Bemerkung gemacht, daß das Einathmen sehr geringer Mengen dieser Aetherart das Antlitz in Purpurgluth taucht und die Zahl der Herzschläge verdoppelt. Darwin wies sodann in seinem Buche über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen (1872) auf den sonderbaren Umstand hin, daß dieser Blutrausch mancherlei Aehnlichkeit mit der natürlichen Beschämung bietet, daß sich unter Anderm die künstliche Röthe nur ausnahmsweise über die Grenzen der natürlichen ausbreite etc. Schließlich hat Dr. Filehne (1874) durch eine Reihe von Untersuchungen nachgewiesen, daß der durch Amylnitrit erzeugte Zustand sich körperlich gar nicht von einer rechtschaffenen Scham unterscheidet. Die Purpurgluth der Büste, das glänzende Auge, die geistige Verwirrung, das hastige Athmen und starke Herzklopfen, Alles stellt sich ein. Sogar der halberloschene Herzschlag eines übermäßig Chloroformirten läßt sich, wie ein Londoner Arzt kürzlich entdeckt hat, durch das Einathmen von Amylnitrit neu beleben, sodaß dasselbe als wichtiges Gegenmittel bei Chloroformvergiftungen erkannt worden ist.

Es ist gewiß eine höchst überraschende Erscheinung, daß das Einathmen eines aromatischen Dunstes sämmtliche Aeußerungen einer anscheinend sehr zusammengesetzten Gemüthsbewegung hervorrufen kann. Und dieser Einwirkung vermag sich nicht einmal derjenige zu entziehen, welcher sich das Schämen längst gänzlich abgewöhnt hat; drei Tropfen eines Parfüms, auf einem Taschentuche unter die Nase gehalten, bringen nach wenigen Secunden den abgebrühtesten Schuft, den abgehärtetsten Sünder und hartgesottenen Gründer dahin, zu erröthen und in Verwirrung zu gerathen, wie ein sechszehnjähriger Backfisch. Vielleicht läßt sich von diesem Mittel auf der Bühne Nutzen ziehen, wo mitunter Jemand erröthen soll und es doch ebenso wenig vermag, wie Immermann’s „Münchhausen“, der stets ergrünte, oder wie jene Unglücklichen Jean Paul’s, die nur eine einzige Thräne zum Besten geben sollten, um lachende Erben zu werden. Der angehende Heirathscandidat aber, der bisher so großen Werth auf das züchtige Erröthen seiner Auserwählten legte, muß künftig, wenn er von einem purpurnen Antlitze begrüßt wird, oder ein solches hinter dem Spitzentaschentuche verschwinden sieht, aufmerken, ob sich nicht vielleicht gleichzeitig ein Duft nach Bergamottbirnen im Zimmer verbreitet.

Das Erröthen schamloser oder blödsinniger Menschen, die sonst nie erröthen, unter dem Einflusse des Amylnitrits mußte darauf führen, es auch bei Thieren zu versuchen und in der That, sie errötheten wie ein Mensch. Hier konnte nun auch festgestellt werden, daß dabei nicht etwa die genannten gefäßbewegenden Nerven vorübergehend gelähmt werden, sondern daß die Arbeitseinstellung im Bureau derselben, im Gehirne, stattfindet. Man fand also, daß, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Mechanik oder Claviatur des Vorganges schon unter den höheren Thieren gegeben ist, und daß es hier offenbar nur an dem eingeschulten Spieler, einer feinfühlig entwickelten Psyche fehlt, um das verführerische Farbenspiel anzustimmen. Jedenfalls muß die Verbindung des bewegenden Theiles der gefäßregulirenden Nerven mit dem Denkorgane eine sehr innige sein, da sie so überaus leicht, und selbst bei verhältnißmäßig rohen Völkern in Mitleidenschaft gezogen werden. Es wäre eine anziehende Aufgabe, sich auszumalen, wie diese zarte Rücksicht auf die Meinung der Andern, von dem Geselligkeitstriebe geweckt, allmählich aus schwachen Anfängen durch immerwährende Wiederholung und Steigerung endlich zu jener hochgradigen Sensibilität entwickelt worden ist, deren auf- und abwogendes Spiel unserem geselligen Verkehre beständig neue Reize und Vorzüge zuführt.

Carus Sterne.




Federzeichnungen aus Oesterreich.

2. Die Wiener Kaffeehäuser.

Der Wiener, der Berlin besucht hat, ist bei seiner Heimkehr des Lobes voll über die Kaiserresidenz an der „schönen schwarzen Spree“. Er erkennt gern alle Vorzüge der deutschen Reichshauptstadt an, aber Eins hat ihm sicher gefehlt: das Kaffeehaus. Bis vor wenigen Jahren hatte Berlin gar kein Kaffeehaus; jetzt hat es eins, und noch dazu ein nach Wiener Muster eingerichtetes, aber eins ist, insbesondere für eine Stadt von einer Million Einwohnern, keins, und der Wiener wird in Berlin nach wie vor sein liebgewordenes Asyl für seine Mußestunden schwer vermissen. Mit einem Anflug moralischer Hoheit wird er die feierliche Erklärung abgeben, daß er sich am hellen Tage nicht in Wirthshäusern herumtreiben, noch weniger aber in Conditoreien mit Süßigkeiten anschlampen dürfe. Dein etwaiger Einwand, unschuldiger Leser, daß in Berlin in jedem Restaurant, sowie in jeder Conditorei auf Wunsch auch Kaffee servirt werde, würde mit einem mitleidigen Lächeln aufgenommen werden; als ob es überhaupt auf den Kaffee ankäme!

Wenn es nur das wäre! Um den Kaffee an sich handelt es sich gar nicht; es handelt sich um die ganze Atmosphäre, um das ganze Kaffeehaus mit Allem, was d’rum und d’ran ist. Diese Etablissements haben sich mit der Zeit durch die Macht der Gewohnheit zu einer allgemeinen Nothwendigkeit, und man kann sagen auch zu einer allgemeinen Calamität herausgebildet, welche der heiteren Donaustadt einen ganz besonderen Charakterzug aufgeprägt hat. Die edle Kunst des Müßiggangs findet in Wien eine ziemlich ausgiebige Pflege, und kein Mittel der Welt befördert ihn so sehr, wie das Wiener Kaffeehaus. Es ist durchaus nichts Ungewöhnliches, daß Männer der verschiedensten Berufszweige das Kaffeehaus täglich regelmäßig drei- bis viermal besuchen, und zwar zur Frühstückszeit, nach dem Mittagstisch, zum „Jausenkaffee“ (da es zu lange wäre, zwischen dem Mittagbrod und dem Nachtmahl nichts zu sich zu nehmen) und zuletzt endlich nach dem Abendbrod. Es ist sicher, daß die Kaffeehäuser eine ganz enorme Summe von Zeit und Geld absorbiren, die in privatem, wie in öffentlichem Interesse viel besser verwerthet werden könnte. Ein Gutes aber haben diese Asyle für den Müßiggang dennoch: der Massenverbrauch alkoholischer Getränke ist in Wien kein so gewaltiger, wie in anderen Weltstädten. Wie Alles in der Welt zwei Seiten hat, haben auch die Kaffeehäuser nicht nur ihre Annehmlichkeiten, sondern auch ihren Nutzen, sie hätten sonst, wie ich optimistisch genug bin zu glauben, nicht einen so ungeheuren Aufschwung nehmen können. Sie bestehen nämlich verhältnißmäßig noch nicht lange und sind erst mit dem aufblühenden Zeitungswesen in Wien so recht in Flor gekommen.

Das erste Kaffeehaus in Wien entstand unmittelbar nach der letzten Belagerung der Stadt durch die Türken. Die erste Concession zu einem solchen wurde einem Polen verliehen, der sich als Spion und Depeschenträger während der Belagerung [220] nicht unwesentliche Verdienste erworben hatte. Klopstock’s Klage in einer Schlittschuhode: „Vergraben ist in ewige Nacht der Erfinder großer Name zu oft“, findet seine Anwendung auf den Kaffeehauserfinder nicht; sein Name ist auf die Nachwelt gekommen, und der dankbare Gemeinderath von Wien hat bekanntlich eine Gasse nach ihm getauft. Der Mann hieß Kolschitzky. Wenn zwischen seinem Kaffeehause und jenen, welche heute auf der Ringstraße den Spaziergänger in so einladender Weise anlocken, doch ein Unterschied sich zeigt, so ist es jener, der auch zwischen einem Guttenberg’schen Drucke und einer Doré’schen Prachtbibel besteht. Der Luxus, mit welchem die neuen Kaffeehäuser eingerichtet sind, ist oft ein erstaunlicher; Tapezierer und Decorateure, Maler, Bildhauer und Architekten haben da zusammenwirken müssen, um

Generalstabsarzt Ludwig Stromeyer.
Nach einer Photographie.

den behaglichen, einladenden Comfort zu Stande zu bringen, der die nicht geringste Zugkraft der Café’s bildet; es giebt Kaffeehäuser, in welchen die Tische, die Stühle, das Geschirr, namentlich aber die „Kredenz“ Kunstwerke für sich vorstellen.

Schon habe ich angedeutet, daß zwischen den Kaffeehäusern und unserem Zeitungswesen ein gewisser Causalnexus besteht; thatsächlich bilden die Zeitungen den weitaus wichtigsten Grund für das Publicum, Kaffeehäuser zu besuchen, und da die Neuigkeiten zweimal des Tages durch Morgen- und Abendblätter brühwarm zum Verschleiße gelangen, so liefern jene, die zweimal täglich die Kaffeehäuser besuchen, das stärkste Contingent zu den Gästen dieser. Für die Cafétiers – der Wiener hat für sie die gut bürgerliche Bezeichnung „Kaffeesieder“ – stellen die Journale den wirksamsten Magnet vor, und immer sind sie eifrig bemüht, diesem selbst mit sehr bedeutenden Opfern seine große Anziehungskraft zu erhalten. In den besseren Kaffeehäusern der inneren Stadt reicht der Marqueur jedem Gaste mit dem verlangten Kaffee mindestens eine Zeitung; ist es ein Stammgast, so schleppt er ihm, noch bevor er den Kaffee gebracht hat, einen ganzen Stoß derselben hin. Des Morgens zur Frühstückszeit und Nachmittags zwischen drei und vier Uhr haben die Marqueurs den schwersten Stand. Dann sind fast nur Stammgäste da, und jeder will natürlich sogleich eine Zeitung haben, was sage ich: eine Zeitung? Seine Zeitung muß er haben. Nun ist aber nichts leichter möglich, als daß zu gleicher Zeit zwanzig Stammgäste anwesend sind, die alle dieselbe Zeitung als ihr Leibblatt verehren. Auf’s Warten läßt sich der Wiener Kaffeehausbesucher nicht ein, also hat der Kaffeesieder auf zwanzig Exemplare desselben Journals zu abonniren. Abendblätter müssen in noch größerer Anzahl gehalten werden, erstens, weil Abends mehr Gäste erscheinen, als Morgens, da namentlich verheirathete Herren nur selten im Kaffeehause frühstücken, und zweites, weil die Abendblätter, die weniger umfangreich als die Morgenblätter und nicht „eingespannt“ sind, sehr oft auf unerklärliche Weise zu verschwinden lieben.

Aber nicht nur die politischen Journale werden stark begehrt, auch die illustrirten Blätter erfreuen sich lebhafter Nachfrage. Bei diesen kommt es wenig auf die Sprache an, in welcher der Text geschrieben ist. Die Hauptsache bei ihnen sind die Bilder, die mit vielem Eifer betrachtet und mit Kennermiene kritisirt werden. Sonnabend Nachmittag treffen die meisten der illustrirten Blätter, auch vom Auslande, namentlich aber auch die Wiener Witzblätter, ein. Mit wenigen Exemplaren derselben könnte ein Cafétier sein Auskommen finden, da diese Blätter eine ganze Woche lang aufliegen; nichts destoweniger müssen auch von diesen immer ziemlich viele Exemplare gehalten werden, weil die Gäste sie schon Sonnabend sehen wollen, und zwar ohne erst zu warten. Die „Gartenlaube“ liegt in jedem Wiener Kaffeehause auf. Viele Vorstadtkaffeehäuser sind sogar gezwungen, mehrere Exemplare derselben zu halten. Für größere Journale bilden die Kaffeehäuser einen großen Nachtheil, da viele, die sonst auf die Zeitung abonniren würden, hier durch wenige Exemplare befriedigt werden, kleinere Blätter dagegen, die bei einer Auflage von sechshundert oder tausend Exemplaren bestehen können, haben an den Kaffeehäusern die stärkste Stütze.

Erst nach den Zeitungen kommt die Rücksicht auf die Getränke in Frage. Die Qualität des verabreichten Kaffees hält sich fast überall auf einem anständigen Durchschnittsniveau und befriedigt in der Regel Ausländer weit mehr, als den in diesem Punkte sehr verwöhnten Wiener und Oesterreicher überhaupt. Der Fremde, der eine Portion Kaffee verlangt, ist durch seine Harmlosigkeit schon geliefert; er erhält nicht mehr als das übliche Quantum, aber anders servirt, in zwei hübschen Kännchen, und hat dafür genau das Doppelte zu bezahlen wie für eine nach einheimischer Sitte, das ist in einem Glase kredenzte Melange. Ein Wiener geradezu polizeiwidriger Kalauer lautet: Wer ist noch viel entsetzlicher, als der verstockteste Sclavenhändler? Antwort: Der Kaffeesieder, denn er verkauft nicht nur Schwarze und Weiße, sondern auch Kapuziner ohne Haut. – Das ist aber noch nicht Alles; wir genießen einen „kleinen Schwarzen“ oder „einen schwarzen Kleinen“, „eine Kleine, weiß“ (man achte auf das Geschlecht!), einen „Braunen“, einen „Kapuziner“ mit oder ohne Haut, eine kleine oder große „Melange“ mit oder ohne „Schlagoberst“. Der Preis für die „Kleinen“ beträgt vierzehn bis sechszehn, für die „Großen“ sechszehn bis achtzehn Kreuzer; die Brödchen, die zum Kaffee gereicht werden, sind geistvoll concipirt und genial ausgeführt: sie sind außerordentlich appetitlich, allein ein rechtschaffener Hunger ist durch sie fast ebensowenig zu stillen, wie durch Erdbeeren. Neben dem Kaffee spielen dann noch mehr oder minder untergeordnete Rollen allerlei Liqueure, der Punsch mit denn Diminutivum Pünscherl oder Pinscherl und mit der hochachtbaren Seitenlinie der Eierpünsche, dann die Bavaroise, auf Wienerisch Barbaras, und endlich Limonaden, moussirende Gewässer und Gefrorenes; Bier und Wein sind verpönt, werden aber Stammgästen zu Liebe und dem Gesetze zum Trotz doch hier und da eingeschmuggelt.

Ein besonderes Blatt verdienen die Kellner, die da zwischen dieser Menge von lesenden, schwatzenden, rauchenden, Billard,

[221]

In Wiener Kaffeehäusern.
Nach der Natur aufgenommen von Th. Breidwiser in Wien.

[222] Karten, Domino oder Schach spielenden Gästen mit imponirender Sicherheit und Schnelligkeit ihres Amtes walten. So ein richtiger Kellner in seinem tadellosen schwarzen Fracke, mit seiner immer ballfähigen Leibwäsche, seinem Feldherrenblicke, seinem staunenswerthen Gedächtnisse, seiner akrobatischen Gewandtheit, seinem durch nichts zu erschütternden Gleichmuthe, seiner Geschwindigkeit, seiner Unterwürfigkeit, seiner meist erstaunlichen Geschicklichkeit im Billardspiele, seiner genauen Kenntniß aller Spielgesetze, bei deren wirklicher oder vermeintlicher Verletzung er als Autorität angerufen wird, verdient als ein Stück Universalgenie respectirt zu werden.

Betrittst Du zum ersten Male sein Reich, so wird er Dich zwar höflich, aber ohne weitere Zeichen rein menschlicher Theilnahme anhören, wenn Du ihm Dein Anliegen vorbringst; das zweite Mal grüßt er Dich freundlich, wenn auch noch mit einer gewissen Zurückhaltung, das dritte Mal aber betrachtet er Dich als Stammgast. Kaum hast Du die Schwelle überschritten, so ruft er Dir laut seinen Gruß zu, indem er diesem auch Deinen Namen zufügt, den er natürlich schon kennt, damit Du nicht im Zweifel seist, daß der Gruß Dir gelte. Du hast Deinen Platz noch nicht eingenommen, und schon siehst Du Deinen Kaffee und „Deine“ Zeitungen vor Dir liegen, und nun hast Du nie mehr etwas zu bestellen – ihr kennt euch; er liest Dir den Wunsch von den Augen ab. Eine ganz selbstverständliche Sache ist es, daß er Dich taxfrei in den Adelstand erhebt, so oft er Dich anspricht.

Jean, Karl oder Julius – er capricirt sich nicht auf einen bestimmten Namen – ist im Stande, acht bis zehn Kaffeegeschirre auf einmal durch die Menge zu balanciren, dabei einem Ankömmling Posten auszurichten, Aufträge entgegenzunehmen, seinen Untergebenen Befehle zu ertheilen, mit einem Blicke die Gäste und ihre an den Wänden hängenden Hüte und Ueberröcke zu controlliren, denn er wird für Alles verantwortlich gemacht, und die Rockdiebe gehören in Wien nicht mehr zu den Seltenheiten. Hat er seine Last abgesetzt, dann nimmt er von Gästen, die nach ihm gerufen oder geklopft haben, das Geld entgegen, bedankt sich für das nie ausbleibende Trinkgeld und langt aus allen Taschen Abendblätter hervor, die er vertheilt. Hier bringt er einem Sieger im Billardspiele seine feinsten Cigarren oder Cigarretten, die der überwundene Gegner zu bezahlen hat; dort spannt er ein grünes Tuch über den Spieltisch, legt Karten, Kreidestifte, Täfelchen und ein Blechtäßchen für den „Juden“ i. e. „pagat ultimo“ hin; hier wieder bezahlt er für einen Stammgast, der kein Geld bei sich hat, die Spielschulden; dort verlangt Einer Karten für die Oper von ihm, ein Anderer solche für’s Karl-Theater – er hat Alles.

Bald stellt er einen improvisirten Schreibtisch her für einen fliegenden Brief- oder Artikelschreiber; bald schwebt er durch die Säle und sucht einen begehrten Partner zu den Karten, zum Schach oder zum Billard, und so geht es vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein fort, und nie wird man ihm die leiseste Spur einer Verdrossenheit oder der Ermüdung anmerken. Ist dann das Jahr um, so giebt ihm gern jeder Gast für den niedlichen Kalender, den er als Neujahrsangebinde seinen Clienten verehrt, den üblichen Gulden.

Ueber der imponirenden Gestalt des Kellners dürfen wir der reizenden Cassirerin nicht vergessen, die in ihrer „Kredenz“ voll Hoheit thront, als säße sie in einem Heiligenschreine. Sie nimmt kein Geld entgegen und giebt nur Obacht auf das, was die Kellner an die Gäste verabfolgen. Das ist nicht schwer, weil es doch immer dieselbe Geschichte ist; weiter hat sie auch die Huldigungen zahlreicher Schwärmer zu quittiren, doch auch das macht ihr nicht viel Kopfzerbrechen – es ist ebenfalls immer dieselbe Geschichte.

Bisher habe ich versucht, die Physiognomie der Kaffeehäuser im Allgemeinen zu schildern, jedes hat aber noch für sich seinen besonderen charakteristischen Zug, der ihm von seinem Stammpublicum aufgedrückt wird. Fast jeder Zweig des Kaufmannsstandes hat sein besonderes Kaffeehaus; es giebt Kaffeehäuser, die veritable Börsen bilden. Die Edelsteinhändler sowohl wie die Fruchthändler gehen in ihr Kaffeehaus, wie zu ihrer Börse; die officielle Wiener Waarenbörse führte vor ihrer Vereinigung mit der Effectenbörse nur ein Scheinleben, weil sie gegen die Concurrenz einiger Kaffeehäuser nicht aufzukommen vermochte; ja es giebt auch Kaffeehäuser, in welchen „Schlüsse in Effecten“ genau so ernst genommen werden, als wären sie auf der Effectenbörse gemacht worden. Geldverleiher, Agenten für Waaren, Gründe und Häuser, Schauspieler, Journalisten, Maler, Musiker, Künstler aller Art haben ihre bestimmten Kaffeehäuser, wo sie zu jeder Zeit ihre Geschäftsfreunde und Collegen zu finden wissen, und ganz natürlich haben auch die verschiedenen Nationalitäten und Landsmannschaften je ihr bevorzugtes Stammkaffeehaus.

Wer das Publicum der Kaffeehäuser zu schildern unternehmen wollte, dem würde unversehens eine förmliche culturgeschichtliche Studie aus Wiens Gegenwart unter der Feder entstehen. Die Kaffeehäuser sind sich so ähnlich, wie die Rohre der Kaleidoskope; sieht man in verschiedene Kaffeehäuser oder verschiedene Rohre hinein, so wird man zwar ganz ähnliche, nie aber ganz gleiche Bilder sehen. – Sollen wir zuletzt ein Gesammturtheil über das Wiener Kaffeehausleben abgeben, so werden wir es gern in ein Sprüchwort zusammenfassen, das mit besonderer Vorliebe von jungen englischen Damen angewendet wird: „It’s naughty, but it’s nice“ (es ist garstig, aber es ist nett). Nicht leicht wird sich in Wien Jemand der eigenthümlichen Anziehungskraft des immer bewegten, bunten und immer, selbst beim Müßiggang, geschäftigen und fröhlichen Lebens und Treibens in den Kaffeehäusern erwehren können. Die grimmigsten Feinde der Kaffeehäuser sind die Frauen, vielleicht weil sie sich, mit geringen Ausnahmen, noch keinen Platz in denselben erobert haben, vielleicht auch aus anderen und sehr berechtigten Gründen. Was die Herren der Schöpfung betrifft, so kommt es allerdings auch vor, daß Einer oder der Andere über das Kaffeehausleben seine sehr gewichtigen Bedenken hegt, allein es passirt dennoch wohl kaum, daß einer von diesen strengen Moralisten nicht doch sein Stammkaffeehaus hätte.

Balduin Groller.




Blätter und Blüthen.


Eines „Kriegsheilkünstlers“ Ehrentag. (Mit Portrait S. 220.) Wenn ein geehrter und geliebter Greis mit strahlendem Auge auf Jahre zurückblickt, die er die glücklichsten seines Lebens nennt, so wird man an einem Tage, für welchen eine Staffel seiner Laufbahn mit Jubelkränzen geschmückt wird, ihm zu Liebe gern dem Winke seines freudigen Rückblickes folgen und ihn zuerst dort begrüßen, wo er am glücklichsten war.

So gehen wir denn nach Freiburg im Breisgau und sehen uns in den mittleren vierziger Jahren dort um. Damals wirkte im blühendsten Mannesalter, von seinem achtunddreißigsten bis vierundvierzigsten Lebensjahre als Professor der Chirurgie an der Universität Georg Friedrich Ludwig Stromeyer, dessen Namen bereits ein hoher akademischer Ruf auszeichnete. Seine selbst in England berühmt gewordene Ausführung des Sehnenschnitts, sowie die wissenschaftlichen, in der von ihm in seiner Vaterstadt Hannover begründeten orthopädischen Anstalt gewonnenen Resultate, die er in gediegenen Schriften niederlegte, hatten ihn zu einem gesuchten Manne in der akademischen Welt erhoben. Am meisten hatten dazu geholfen seine 1838 erschienenen „Beiträge zur operativen Orthopädik oder Erfahrungen über die subcutane Durchschneidung der Muskeln und deren Sehnen“, eine Schrift, die durch die darin gegebene Anregung zur Schieloperation die weittragendste Bedeutung gewonnen hat. Und in Freiburg war es auch, wo er für dieses Werk einen Ehrenpreis der Académie des sciences zu Paris empfing. Erhebender Erfolge froh und rüstig wirkend im Verein mit nach- und mitstrebenden Schülern und Collegen, war er eine Zierde der Freiburger Hochschule.

Es thut wohl, sagen zu können, daß der Weg zu diesem Glück unserm Jubilar vom Schicksal nicht zu schwer gemacht worden war. Er, der seit dem 6. März im dreiundsiebenzigsten Jahre steht und dennoch aufgerichteten weißen Hauptes geistig und körperlich wohlbehalten der Zerbröckelung des Alters trotzt, war als so schwächliches Kind zur Welt gekommen, daß die Heranerziehung desselben zu einem strammen Jungen als ein Meisterstück seines Vaters gepriesen wurde. Dieser Vater war ebenfalls ein ausgezeichneter Chirurg und Mitglied des Comités für das hannöverische Militär-Medicinalwesen; er erkannte schon in seinem Knaben den künftigen Wundheilkünstler und ließ ihn noch in Hannover am Unterricht in der Anatomie theilnehmen und mehrere Jahre die Chirurgische Schule besuchen, ehe er ihn nach Göttingen auf die Universität schickte. Promovirt hat unser Stromeyer in Berlin am 6. April 1826, und das fünfzigjährige Doctorjubiläum ist das Fest, zu dessen Ehren die „Gartenlaube“ durch das Bildniß des Gefeierten und diese Worte das Ihrige beitragen will.

Nach längeren Studienreisen kehrte er in seine Vaterstadt zurück und begründete daselbst (1829) die orthopädische Anstalt, die er von da an [223] zehn Jahre leitete. Nachdem er als Professor der Chirurgie in Erlangen und München gewirkt hatte, folgte er seinem besten Stern nach Freiburg, wohin wir heute unseren Jubiläumsgruß zuerst getragen haben.

Warum nicht der schöne Breisgau seine zweite Heimath für immer wurde? Der Krieg war in seine Wissenschaft gefahren und hatte ihr und ihm neue Pflichten auferlegt. Schon der badische Revolutionskrieg im Frühjahr 1848 hatte seine kriegschirurgischen Erfahrungen vermehrt. Von diesem Jahre an wurde die Entwickelung der Kriegschirurgie ihm Gewissenssache. Es war ein glücklicher Blick und Griff Langenbeck’s, der an Dieffenbach’s Stelle nach Berlin berufen war, daß er Stromeyer auf seinen Posten nach Kiel empfahl.

Von Freiburg aber war es ein schweres Scheiden; der edle Mann nahm dort „Abschied von der Poesie des Lebens“. Stromeyer fand durch den Krieg von 1848 seinen Beruf erhöht, denn zu seiner Professur der Chirurgie wurde ihm auch die Stelle eines Generalstabsarztes der schleswig-holsteinischen Armee übertragen. Glücklicher, als die deutsche Politik, war in diesem Kriege die deutsche Wissenschaft. Vielleicht das werthvollste Resultat desselben waren Stromeyer’s „Maximen der Kriegsheilkunst“, ein Werk, „das in der kriegschirurgischen Literatur aller Völker stets mustergültig bleiben wird“.

Im Frühjahre 1854 trat Stromeyer als Generalstabsarzt an die Spitze des königlich hannöverischen Militär-Medicinalwesens. Zu einem zweiten Hauptwerke, dessen ersten Band wir noch seinen schönen Tagen von Freiburg verdanken, vollendete er in dieser Zeit den zweiten Band: zu seinem „Handbuch der Chirurgie“. Es versteht sich von selbst, daß auch sogenannte kleinere Schriften eines solchen Meisters für den Fachmann und die Förderung seiner Wissenschaft von hoher Bedeutung sind; davon sei hier nur seiner „Erfahrungen über Schußwunden“ als Nachtrag zu den „Maximen der Kriegsheilkunde“ und seiner mit Anmerkungen versehenen Uebersetzung der „Notizen und Bemerkungen eines Ambulanz-Chirurgen von W. Mac Cormac“ gedacht, dieser als seiner letzten wissenschaftlichen Arbeit.

Was insbesondere Stromeyer’s hohe Bedeutung als praktischer Chirurg betrifft, so liegt sie namentlich darin, daß er, bei ungewöhnlicher Anlage zum Beobachten, gestützt auf eine umfassende Kenntniß der Physiologie und Pathologie und auf eine reiche Erfahrung, in der Diagnose vorsichtig und scharf, die Indicationen zu seinen Operationen nie in der Lust am Operiren, sondern stets in der reiflich überlegten Aussicht des Erfolges fand und mit einer Gewissenhaftigkeit und einem Geschick, wie sie nur Wenigen beschieden sind, die Nachbehandlung leitete; hiernach ist es natürlich, daß die heute in der Kriegschirurgie herrschende Richtung, welche bemüht ist, die verwundeten Glieder so viel wie möglich zu erhalten, gerade in Stromeyer ihren bedeutendsten Vertreter gefunden hat.

Wenn Stromeyer im Jahre 1866 sich auch bereit erklärt hatte, in den preußischen Staatsdienst überzutreten, so geschah das doch nur unter der Voraussetzung, daß man ihn, gleich den Generalstabsärzten der hessischen und badischen Armeen, an dem Orte seiner früheren Thätigkeit belassen würde. Als jedoch diese Hoffnung nicht in Erfüllung ging, sondern er im Frühjahre 1867 zum Generalarzte des vierten Armeekorps (Magdeburg) ernannt werden sollte, erbat und erhielt er seinen Abschied und blieb in seinem traulichen Heim in der Marienstraße zu Hannover. Wie lieb ihm aber auch diese Heimstätte in der alten Heimath geworden, dennoch riß er sich, wie aus seinem Freiburger Familienparadiese, los, als, wie einst dort, auch hier das Kriegshorn ihn rief. Trotz seines grauen Hauptes zog er 1870 als consultirender Chirurg der dritten Armee mit in das Feld, und so hat auch diese große Zeit eine Stelle gefunden in den „Erinnerungen eines deutschen Arztes“, dem erst im vorigen Jahre erschienenen Buche, in welchem Ludwig Stromeyer uns sein eigenes Leben schildert und so uns selbst den Mann zeigt, dessen Ehren-Fest am 6. April Tausende seiner Collegen, Kriegsgefährten, Schüler und durch ihn von ihren Wunden und Gebresten im Kriege und Frieden Geheilte und Genesene freudig mitbegehen werden. Möge der Glanz dieser Feier noch einen langen, schönen Lebensabend schmücken!




Sogenannte Lichtmühlen, die von den Sonnenstrahlen getrieben werden, wie die Windmühlen von der bewegten Luft, bilden seit einiger Zeit das Hauptanziehungsstück der Schaufenster optischer Läden. Eine senkrechte, sehr leicht bewegliche Welle aus Glas oder Metall, die in einem vorher luftleer gemachten und dann zugeschmolzenen Glascylinder eingeschlossen ist, trägt an vier zierlich gebogenen Kreuzarmen aus dem leichten Metall der Thonerde (Aluminium) vier pfenniggroße Scheibchen aus Hollundermark, die alle in derselben Folge auf einer Seite schwarz berußt sind. Der Unbefangene und Uneingeweihte, welcher an dem Schaufenster stehen bleibt, glaubt in diesem ruhelos umtreibenden, wenn auch federleichten kleinen Rade das lange gesuchte Perpetuum mobile verwirklicht zu erblicken: er sieht in dem durchsichtigen Apparate keine Kraft einströmen, keine Feder oder sonstige Triebkraft wirken. Erst wenn er der kleinen Maschine in’s Licht tritt, wird ihm die treibende Ursache klarer werden; das Rad geht dann mit einem Male auffallend langsamer und scheint ihn durch sein Zögern, wie weiland Diogenes den Alexander, zu bitten, doch aus der Sonne zu treten. Kaum ist dies geschehen, kaum strömt der helle Strahl hernieder, so läuft das Rädchen wieder wie toll vor Freude.

Und so empfindlich ist es, daß es selbst an den trübsten Decembertagen im Schaufenster nicht müßig steht und daß am Abend ein Kerzenlicht, nahe an den gläsernen Schrein gehalten, genügt, die Flügel zum langsamen Kreisen zu bringen. Da nun zwei, drei oder zehn Kerzen das kleine Rad zwei, drei oder zehn Mal so schnell herumdrehen und die Wirkung, wie bei allen strahlenden Kräften, mit dem Quadrate der Entfernung abnimmt, so hat man das Maschinchen auch einen Strahlenmesser (Radiometer) genannt. Der letztere Name ist entschieden der Volksbenennung „Lichtmühle“ vorzuziehen, denn die Untersuchung hat ergeben, daß es nicht die Lichtstrahlen sind, welche das Rad in Bewegung setzen, sondern die dieselben meistens begleitenden Wärmestrahlen; eine klare Alaunplatte, welche die ersteren, aber nicht die letzteren durchläßt, raubt dem kleinen Rade seinen Bewegungsantrieb, während es hinter einer dunklen Schicht Jodtinctur, welche sich gerade umgekehrt verhält und also die Wärmestrahlen allein durchläßt, munter weiter kreist.

Die kleine Maschine ist eine Erfindung des verdienten englischen Naturforschers William Crookes, desselben, dessen kürzlich in diesen Blättern wegen seiner Untersuchungen über sogenannte spiritische Erscheinungen in nicht gerade liebenswürdiger Weise gedacht worden ist. Durch eine Reihe höchst sorgfältiger Versuche hat dieser gewiegte Forscher endlich die schon seit langen Jahren von vielen Naturforschern behauptete, aber niemals klar bewiesene Thatsache festgestellt, daß die Wärmestrahlen eine meßbare anziehende oder abstoßende Wirkung auf Körperoberflächen ausüben, je nachdem sich dieselben in einem lufterfüllten oder mehr und mehr luftleeren Raume befinden. Dieselbe Thatsache ist fast gleichzeitig (1874) von einem deutschen Physiker, A. Bergner, festgestellt worden. Wie diese Anziehung oder Abstoßung zu Stande kommt, darüber sind die Physiker noch sehr im Unklaren, aber mit der seit undenklichen Zeiten bekannten Anziehungs- und Abstoßungskraft der Magneten ist es nicht viel besser, und jedes Professorkind, dem sein Vater einen Magneten mit anhänglichen Fischen und Schwänen zum belehrenden Weihnachtsgeschenke bescheert hat, kann seinen gelehrten Vater mit der einfachen Frage auf den Pfropfen setzen: „Aber wie macht es denn der Magnet, lieber Vater? Hat er denn unsichtbare Arme?“ Wir müssen uns begnügen, bei solchen Dingen die Gesetze festzustellen, ohne uns über das innere Wesen der Kräfte allzu sehr zu beunruhigen. Und auch bei unserer Wärmeanziehung und Abstoßung sind die Wirkungen, wie schon oben angedeutet, vollkommen regelmäßig in ihrer Zu- und Abnahme, und ein Stückchen Eis, also ein kälterer Körper, bringt in allen Fällen die umgekehrte Wirkung hervor, würde das kleine Rad in entgegengesetzter Richtung treiben, weil er, statt Wärme auszuströmen, Wärme entzieht. Das muntere Fensterspielzeug, bei dessen Anfertigung Alles auf thunlichste Verminderung der Reibung, starke Luftverdünnung, sehr dünne Glaswandungen ankommt, wird in vorzüglichster Empfindlichkeit von dem in solchen Künsten unübertroffenen Mechaniker Geißler in Bonn, dem Urheber der weltbekannten Geißler’schen Röhren, angefertigt. Ohne Zweifel wird gar Mancher künftig neben das Thermometer an der Fensterwand sein Radiometer hinhängen, wäre es auch nur der geheimnißvollen Bewegung wegen, und nicht um zu messen, wie viel helle Wärme einstrahlt.




Das Stammbuch der Post. Stammbuchblätter, wo seid ihr geblieben, ihr duftigen Blättchen voll zierlicher Verse, in denen verwegene Reime, wie: Thränen und Sehnen, wie: Liebe und Triebe, wie: Herzen und Schmerzen, auf dem Altar der Empfindsamkeit geopfert wurden, in denen „ewige Freundschaft“ scheffelweise ausgetheilt war? Wo seid ihr hin, längst vergilbte Zeugnisse aus vergangenen Tagen der weltschmerzlichen Romantik? Vorbei, vorbei, hinuntergetaucht in den Strom der Alles verzehrenden Zeit, geflohen vor dem schrillen Pfiff der Locomotive, welcher die mondbeglänzte Zaubernacht der Sentimentalität für immer verscheucht hat.

Auch die Stammbuchblätter, welche sich die Post von ihren Freunden hat schreiben lassen, sind meistens Zeugnisse längstvergangener Zeiten. Ihre Zahl ist groß, sehr groß, und „nennt man die besten Namen“, so sind es eben die Freunde der Post, der freundlichen Botin des Völkerfriedens, der treuen Vermittlerin des Verkehrs der Menschen.

Benvenuto Cellini giebt den bewährten Rath: man solle als Vierzigjähriger sein Leben beschreiben. Hier in unserem Stammbuche haben Freunde der Post die Geschichte einer Vierzighundertjährigen in Sage und Lied, in Dichtung und Prosa verherrlicht. Wer in solchem Alter noch „ewig jung“ fortblüht, der muß doch wohl eine vortreffliche Gesundheit besitzen. In der That zieht eine Reihe von vier Jahrtausenden an unseren Blicken vorüber, wenn wir dieses Stammbuch durchblättern: es ist der Entwickelungsgang der Menschheit selber, dargestellt an einem hochwichtigen Lebenselemente der Cultur.

Die Post, möchte man sagen, kam mit dem Menschen zugleich auf die Erde. Wenigstens war sie zur Zeit der Sündfluth schon da; denn Noah’s Taube mit dem Oelblatte des Friedens bezeichnet jedenfalls die ersten, freilich schüchternen Anfänge eines regelmäßigen Postdienstes. Daß auch schon „die Götter Griechenlands“ ein tiefgefühltes Bedürfniß nach Briefen und Neuigkeiten hatten, bezeugt uns Vater Homer im Stammbuche. Die schnellfüßige Iris war es, welche die postalischen Beziehungen zwischen den idäischen Höhen, den Wohnsitzen der seligen Götter, und Ilion vermittelte:

„Wie wenn der Schnee aus Wolken daherstürmt oder der Hagel,
Also durchflog hineilend den Weg die geflügelte Iris.“

Zu anderen meist unangenehmen Aufträgen verwendete Zeus, der Wolkensammler, den Götterboten und Argostödter Hermes. Ihm widmet Horaz die schöne Ode „An Mercur“, den Bringer der Götterbotschaft.

Von den ältesten Botenanstalten erzählt die Bibel im Buche Esther. Ahasver sandte reitende Boten aus,

„schnell und eilend nach des Königs Worten.“

Auch die Pharaonen in Aegypten plagten sich, nach Diodor’s Nachrichten, schon bei Tagesanbruch mit dem Lesen der eingegangenen Briefe, was auf einen mit Hülfe der Posten centralisirten Gang der ägyptischen Regierungsmaschine hindeutet. In Persien waren schon in früher Zeit Couriere (Angaroi) zum Depeschendienste bis auf dreißig Tagereisen, von Susa ab, aufgestellt. Herodot und Xenophon erzählen, daß diese Reiter – gleichviel „ob schönes Wetter, ob Regen war“ – ihren Dienst thaten und schneller als „Kraniche“ dahineilten.

Der Orient ist überhaupt reich an poetischer Auffassung des Postwesens; [224] er schuf die Feuerzeichen, welche, die Vorläufer der Telegraphen, einst Trojas Fall meldeten:

„Denn hergesandt hat – als der Feuer Wechselpost –
Ein Brand des andern Botschaft;“ (Aeschylos.)

sodann verdankt auch die Brieftaube ihre Verwendung als Botin dem nachdenklichen Orientalen:

„Gleich, als käm’ aus fernsten Gefilden
Aengstliche Botschaft herbei, unter flüchtigem Fittig geborgen.“

Und was die guten Pariser 1870 und 1871 mit der Absendung von Brieftauben versuchten, hatte schon 44 vor Christo Decius Brutus mit Erfolg in Mutina angewendet, von wo er durch Tauben, zum Aerger des Antonius, der die Stadt belagerte, Botschaft an die Consuln sandte. In Hellas besorgten schnellfüßige Hemerodromen (Tagesläufer) den Postdienst; sie eilten von Olympia mit der Nachricht, wer Sieger in ritterlichen Spielen geblieben war, nach Hause; sie dienten als Botschafter im Kriege, wobei als Geheimschreibmittel die Skytale, der Riemenstab, benutzt wurde. Dann schreitet Rom über die Bühne. Wie in Hellas, so benutzte man auch in Rom zum Briefschreiben hölzerne Wachstäfelchen, die doppelt zusammengefaltet wurden (Diptychen). Elegante Damen Roms sandten sich zierliche Täfelchen von Elfenbein zu.

Zu allen Zeilen hatten die vornehmen Römer eine zahlreiche Menge von Clienten, welche bei festlichen Gelegenheiten mittelst kleiner Karten eingeladen wurden. Ebenso sandten die neu ernannten Consuln und Prätoren durch den Briefsclaven an Freunde und Bekannte zierliche Diptychen-Karten. Da haben wir also bereits die ersten Anfänge der Postkarte (chartion, charta). Juvenal erzählt sehr anschaulich, wie eine junge römische Dame aus den Kärtchen und dem „Tagblatt“ die neueste Chronik Roms herausliest. Die römische Feldpost, mittelst deren Cäsar aus Gallien dem Senate die Siegesnachrichten mittheilte, wurde von Augustus später zur Staatspost erweitert; dieselbe blieb bis etwa 457 nach Christo bestehen, wo sie in den Stürmen der Völkerwanderung unterging. Erst Karl der Große versuchte 807 wieder Staatscouriere einzurichten, die aber unter seinen Nachfolgern keinen Bestand hatten.

Nach langem Zwischenraume wurden im dreizehnten Jahrhundert die Botenanstalten des Mittelalters von den Universitäten, kaufmännischen Verbänden und Städten begründet; der Taxis’schen Postfamilie endlich gebührt das Verdienst, die modernen Posten in Deutschland errichtet zu haben.

Damit sind wir bei dem im eigentlichen Sinne poetischen Elemente der Post, bei den Posthornklängen, angelangt. Mit Recht singt von Thümmel:

„Wer sagt es mir, was doch im Schalle
Des Posthorns – – für ein Zauber liegt!“

Das ist mit Worten nicht zu schildern; es liegt tief in der Seele; es ist der Hauch der Freiheit, der uns in Gottes herrlicher Natur erhebt, das Schweifen in die Ferne, die Loslösung von „der Straßen quetschender Enge“, endlich die Wirkung der Musik. Wem ist eine solche Fahrt durch Waldesrauschen, bei Sonnenschein, über Berg und Thal nicht unvergeßlich eingeprägt?

„Weit, hoch, herrlich der Blick,
Rings in’s Leben hinein,
Vom Gebirg zum Gebirg –“

singt Goethe. Hell und jubelnd klingt das Posthorn die Straße entlang; bunte Bilder schweben farbenprächtig vorbei. Das Leben blühet in vollem Drange:

„Wald und Flur im schnellen Zug,
Kaum gegrüßt – gemieden;
Und vorbei, wie Traumesflug,
Schwand der Dörfer Frieden.“ (Lenau.)

Tiefinnig schildert W. Müller’s Lied die Empfindungen der wartenden Geliebten:

„Von der Straße her ein Posthorn klingt,
Was hat es, daß es so hochaufspringt,
 Mein Herz?“

Den Epilog bildet J. V. Scheffel’s „letzter Postillon“:

„Jetzt rennt der Dampf; jetzt brennt der Wind;
     Jetzt gilt kein Fruh und Spat.
Die Sonne malt, und blitzgeschwind
     Briefschreibt der Kupferdraht.

O neues Rüstzeug, alter Kampf,
     Wo treff’ ich Glück und Ruh’? –
O Erdenphosphor, Gas und Dampf,
     Fahr’ zu, mein Schimmel, fahr’ zu!“ –

Allerdings deuten diese elegischen Verse ganz richtig das Erlöschen manches Restes von Romantik der „alten guten Zeit“ an. Aber, bei aller Würdigung der Arbeit vergangener Jahrhunderte, lenkt sich der Blick doch mit vollem Rechte auf die Ausgaben und Fortschritte der Neuzeit. Was Lichtenberg von den rothen Taxis’schen „Marterpostwagen“ klagte, was Börne mit geistreicher Ironie der „Reichspostschnecke“ zur Last legte – es ist heute nicht mehr möglich.

„Das Alte stürzt; es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“

An die Stelle der hemmenden Vielköpfigkeit im Postwesen ist eine lebensvolle Einheit: der „Weltpostverein“ getreten, ein Culturwerk, das im Gebiete des Postwesens alle früheren Jahrhunderte hinter sich läßt. Dieser friedliche Sieg ist, wie der Begründer des Weltpostvereins treffend gesagt hat, allein durch die Waffe des Gedankens errungen und daher um so bedeutsamer. G. T.     


Noch ein paar Worte über den blauen Gummibaum. Wir sind in der glücklichen Lage, die mehrfachen Anfragen, welche hinsichtlich des Aufsatzes „Ein riesiger Wohlthäter“ an uns gelangt sind, durch Hinweis auf eine soeben erschienene Broschüre erledigen zu können. „Der Fieberheilbaum oder Blaugummibaum (Eucalyptus globulus), dessen Anbau und seine Eigenschaft der Gesundmachung von Sumpfländereien. Von Dr. Wilh. von Hamm. Mit Abbildung. Wien, bei Faesy und Frick 1876“ enthält Alles, worüber Auskunft gewünscht wird. Nur den durch Weglassung des botanischen Namens entstandenen Irrthum einzelner Abonnenten, die Pflanze sei identisch mit dem langgepflegten „Gummibaum“ unserer Zimmer, müssen wir berichtigen. Der letztere gehört dem Geschlechte der indischen Feigen an und wird in seiner Heimath auf Kautschuk angezapft. Ferner können wir die in obigem Artikel offengelassene Frage, ob der blaue Gummibaum auch bei uns seine im Alter nicht mehr paarweise stehenden Blätter, wie fast alle australischen Bäume, senkrecht richtet, nunmehr mit Ja beantworten. Aus der obigen Publication wollen wir außerdem nachtragen, daß die österreichische Regierung im laufenden Jahre mit größeren Anpflanzungen bei Pola und an der dalmatischen Küste, sowie auf den Quarnerischen Inseln und an anderen Orten vorgehen wird, sowie ferner, daß, nachdem ein kleines Eukalyptus-Wäldchen die Umgebung des Camaldolenser-Klosters in Tivoli bei Rom gesund gemacht hat, die italienische Regierung mit weiteren Anpflanzungen vorgeht, und unter Anderem im vergangenen Jahre fünftausend junge Stämmchen an Bewohner der römischen Campagna vertheilt hat. Samen sind durch die größeren Samenhandlungen in Erfurt oder London zu beziehen; über die Zucht giebt die genannte Quelle genaue Auskunft. Es ist merkwürdig, daß diese Samenkörner, in denen doch die Idee eines unter günstigen Umständen drei- bis vierhundert Fuß erreichenden Baumes schlummert, so winzig sind, daß fünftausend Stück auf ein altes Loth gehen. C. St.     


Das Rothkehlchen als Concurrent der Katze. Aus Roßwein wird uns geschrieben: „Ich bin im Besitze eines Rothkehlchens, welches erst im vorigen Herbste eingefangen wurde und meistens frei in meinem Zimmer herumflattert. Und in diesem scheinbar harmlosen Thierchen steckt eine Katzennatur. Da sitze ich neulich auf meinem Sopha – plötzlich vernehme ich ein eigenthümliches Geräusch unter mir. Ist das mein geflügelter Stubengenosse? Wirklich, da kommt das Rothkehlchen unter dem Sopha herausgehüpft und trägt – sollte man es glauben? – eine Maus im Schnabel. Mitten im Zimmer macht es Halt, und hier läßt es die Beute los. Die Maus entflieht; das Rothkehlchen ist schnell hinterdrin, packt den Flüchtling abermals und tödtet ihn, indem es ihm das Fell mit dem Schnabel zerhackt. Dieser Fall hat sich in meinem Zimmer binnen kurzer Zeit zweimal wiederholt. Ist so etwas erhört? Ich verbürge die Wahrheit des Obigen mit meinem Ehrenwort und habe Zeugen für das Vorgefallene. R. C–a.“     



Für das Fröbel-Institut in Italien

gingen neuerdings wieder ein: Von Ernst Rosenberg, im Auftrage der Freimaurerlogen „Einigkeit“, „Socrates“ und „Frankfurter Adler“ in Frankfurt a. M. 156 Mk.; Eugen Gutmann, italienischer Consul in Dresden 100 Mk.; F. A. Brockhaus in Leipzig 100 Mk.; F. H. in Würzburg 5 Mk.; Frau Friederike O. in Gera 10 Mk.; Doctor Ludwig Herrman in Aschaffenburg 21 Mk.; Superintendent Moeller in Kösen 6 Mk.; Frau Fr. Th. in Rostock 10 Mk.; Carl Ulbricht in Dresden 5 Mk.; Frau Guido Schmidt in Bremen 30 Mk.; von Löwenfels in Coburg 50 Mk.; Doctor Wentz in Weihenstephan bei Freising 20 Mk.; aus Betsche (Posen) mit dem Motto: „Der Pfaffen Feind und aller Menschen Freund“ 5 Mk.; C. Seidel in Freiberg 3 Mk.; Fräulein Louise Löbbecke in Braunschweig 100 Mk. Die Redaction der Gartenlaube. 



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig anstatt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung. 



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Auf den Billets steht allerdings meistens „First class“, aber das ist pure Fiction.
  2. Gegen Eisenbahnunfälle kann man übrigens klagbar werden, wenn nachgewiesen ist, daß der Unfall die Schuld der Direction ist.
  3. Auch die Straßenbeleuchtung selbst der größten Städte, z. B. New-Yorks oder Philadelphias, ist trauriger, als die von Städten dritten Ranges in Europa.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: steichelte