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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[189]

No. 12.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Käthe ging schleunigst weiter. Jetzt durchschüttelte Eiseskälte ihren Körper, und das starke Mädchen mit dem sonnenhellen Geiste und den kerngesunden Nerven überschlich ein wunderliches Grauen vor der Einsamkeit, in der sie wandelte, vor dem kraftlosen Licht der bleichgoldenen Sichel am Himmel und dem monoton gurgelnden Gemurmel der vorbeischießenden Flußwellen. Hinter dem Küchenfenster sah sie die Tante neben der blanken zinnernen Küchenlampe sitzen und Gemüse für den morgenden Mittagstisch putzen – ein milder Gegensatz zu der bewegten Scene im Krankenzimmer. So friedlich und beschwichtigend das Bild auch war, dahinein durfte sie sich mit der fieberhaften Spannung in Seele und Körper, mit ihrer Angst vor dem Kommenden nicht wagen; sie hätte ihren erregten Zustand nicht verbergen können vor den klaren Augen der alten Frau.

Die Hausthür stand noch offen, die der Küche aber war geschlossen. Käthe schlüpfte auf den Zehen durch den dunklen Flur und trat in das Zimmer der Tante Diakonus. Hier wollte sie versuchen, ruhiger zu werden, in diesem dunkelnden, köstlich stillen, anheimelnden Stübchen voll Blumenathem und sanft durchwärmter, reiner Luft. Sie setzte sich in den Lehnstuhl hinter dem Nähtisch. Die Lorbeerbäume wölbten sich zur Laube über und neben ihr; die Narcissen, Veilchen und Maiblumen auf den Fenstersimsen dufteten betäubend süß, und der Canarienvogel, der sich’s eben im Dämmerdunkel zur Nachtruhe bequem gemacht, hüpfte piepend und erregt in seinem Käfig von einem Stengel zum andern – es war doch Leben neben ihr, wenn auch nur das einer erschreckten Vogelseele. Aber ruhiger wurde sie nicht. Durch diese Räume war die schöne Verlassene im Wittwenschleier gewandelt, und die lächelnden Genien, die noch an der Stuckdecke schwebten, hatten auf ihre Schmerzensausbrüche, ihre Todesnoth niedergesehen. Käthe wehrte sich vergebens gegen die Spukgestalt und den Gedanken, daß auch Bruck den Trennungsschmerz nicht überleben werde. Henriette hatte das gesagt; sie hatte seine tiefe, heiße Liebe in der ersten Verlobungszeit gesehen – sie mußte es wissen.

Die Tante kam herein, um, wie jeden Abend, die brennende Lampe auf den Arbeitstisch des Doctors zu stellen. Sie schloß die Läden, ließ die Rouleaux herab und schürte das Feuer im Ofen; dann ging sie wieder hinaus, ohne das junge Mädchen in ihrer kleinen Fensterlaube bemerkt zu haben. Ihr leiser, schwebender Tritt erlosch schon hinter der Thür, gleich darauf aber hallten feste Männerschritte durch den Flur, und der Doctor trat in das Zimmer.

Er blieb einen Moment an der Schwelle stehen und strich sich tief aufseufzend mit der Hand über die Stirn; er ahnte so wenig wie die alte Frau, daß dort hinter dem dunklen Laub ein Menschenherz in tödtlicher Angst klopfe – drückte sich doch die Mädchengestalt, athemlos, wie zu Stein erstarrt, an die Fensterwand. War Alles vorüber? Kam er verarmt, verzweifelnd, ein einsamer Mann für immer?

Rasch durchschritt er die beiden Zimmer und trat an seinen Schreibtisch. Käthe erhob sich lautlos. Mitten im Stübchen der Tante stehend, konnte sie ihn sehen. Der Lampenschein beleuchtete grell und voll sein Profil, das noch alle Symptome aufgestürmter Leidenschaft zeigte. Er war erhitzt, dunkelroth auf Stirn und Wangen, als habe er einen weiten Weg in brennender Mittagsgluth gemacht; selbst die Augenlider erschienen geröthet. Es war auch ein heißer Weg gewesen, ein Weg über Trümmer, zerstörte Illusionen und Hoffnungen – war er am Ende, am öden Ziel, wo die schöne Fata Morgana entschwebte und die ganze schreckhafte Einsamkeit kommender Zeiten ihn anstierte?

Im Stehen schrieb er ein paar Zeilen auf einen Briefbogen und steckte das Blatt in ein Couvert. Das geschah mit hastigen Händen, in fiebernder Erregung. Auch die Adresse wurde in flüchtigen Zügen hingeworfen – wessen Name war es, den er schrieb? Gab es in dieser Stunde, außer der furchtbaren Entscheidung, noch Etwas auf Erden, an das er denken mochte? Der Brief konnte nur für Flora bestimmt sein – ein letztes Lebewohl, oder der zermalmende Richterspruch eines sterbenden Mannes?

Und nun goß er aus einer Caraffe Wasser in das milchweiße Kelchglas, in welches sie neulich ihren Frühlingsstrauß gesteckt hatte, dann schloß er einen kleinen Schrank im Schreibtisch auf und nahm ein winziges Medicinfläschchen heraus; er hielt es gegen das Licht – fünf silberhelle, farblose Tropfen fielen in das Glas.

Bis dahin hatte Käthe mit dem unheimlichen Gefühl, als stehe ihr das Herz still, wie gelähmt an ihrem Platze verharrt, aber nun kam die ganze, allmählich bis in’s Maßlose gesteigerte Aufregung ihres Inneren stürmisch zum Ausbruch. Mit einigen raschen Schritten stand sie an seiner Seite und legte die Linke auf seine Schulter; mit der Rechten umfaßte sie krampfhaft seine Hand, die das Glas eben zum Munde führen wollte, und zog sie langsam nieder.

Sie war keines Lautes fähig; ihre ganze Seelenangst, der innere Jammer, das unsägliche Mitleiden, das ihr gleichsam das [190] Herz umwendete, malten sich in den braunen Augen, die in flehender Beredsamkeit die seinen suchten. Sie fuhr zurück. Gott im Himmel, was hatte sie gethan! Unter dem großen, erstaunt fragenden Blicke, der sie traf, sank sie vor Scham fast in die Kniee. Einige unarticulirte Worte stammelnd, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und brach in ein bitterliches Weinen aus.

Er begriff augenblicklich Alles. Das verhängnißvolle Glas auf den Tisch stellend, nahm er bestürzt ihre Hände und zog sie an sich. „Käthe, liebe Käthe!“ sagte er mit bebender Stimme und sah in das thränenüberströmte Antlitz, das sie mit einem sanften Neigen des Kopfes wegzuwenden suchte. In diesem Augenblicke erschien das prächtige, imponirende Mädchen vollkommen als das, was sie an Jahren, an Erfahrung, an fleckenloser Seele in Wirklichkeit war – als die Jugend in ihrem unangetasteten Glanze warmen rückhaltslosen Empfindens, aber auch in dem hülflosen Schrecken über eine ungeahnte Wendung.

Sie entzog ihm leise die Hände und trocknete in Hast ihre Augen mit dem Taschentuche. „Ich habe Sie schwer gekränkt, Herr Doctor,“ sagte sie, immer noch mit den Thränen kämpfend. „Ich habe eine Tactlosigkeit begangen, die Sie mir ganz gewiß nie vergessen werden. Ach Gott, wie konnte ich mich nur in diese wahnwitzige Vorstellung so verrennen, daß“ – sie biß sich auf die Unterlippe, um das krampfhafte Zucken ihres Mundes zu unterdrücken. „Gehen Sie nicht zu streng mit mir in’s Gericht!“ setzte sie mit sinkender Stimme hinzu. „Das, was ich heute schon durchleben mußte, genügt wohl, um auch einen stärkeren, als meinen Mädchenverstand, zu verwirren.“

Er sah sie kaum an; nur von der Seite streifte sein Blick den schönen, jugendlichen Mund, als wolle er nicht zeigen, wie leid ihm diese bittere Selbstanklage thue, und wie fassungslos er selbst sei. Nun aber glitt das seelenvolle Lächeln, das sie schon kannte, leise durch seine Züge.

„Sie haben mich nicht gekränkt,“ sagte er tröstend, „und wie sollte ich es wohl anfangen, mit Ihrem lauteren Gemüthe in’s Gericht zu gehen? Was Sie sich für eine Vorstellung von meinem Charakter, meiner Denkart, meinem Temperament gemacht haben mögen, um zu einem solchen Schlusse zu kommen – ich weiß es nicht; ich will darüber auch gar nicht grübeln, noch weniger aber widerlegen. Mir hat dieser Irrthum einen Lebensmoment gebracht, den ich allerdings nicht vergessen werde. Und nun beruhigen Sie sich, oder vielmehr, erlauben Sie mir, daß ich als Arzt meine Pflicht thue!“ Er ergriff das Glas und hielt es ihr hin. „Nicht die Ruhe, die Sie fürchteten, wollte ich in diesem Tranke suchen“ – er brach ab und hielt einen Augenblick inne. „Ich habe mich hinreißen lassen, heftig und leidenschaftlich zu werden, noch dazu am Krankenbette,“ hob er von Neuem an; „das könnte ich mir nie verzeihen, wenn ich nicht bedächte, daß ich doch auch, wie jeder Andere, Blut und Nerven habe, die mit dem guten Willen um die Herrschaft streiten. Ein paar Tropfen davon,“ er zeigte auf das Medicinfläschchen, „genügen, um die nervöse Aufregung zu dämpfen.“

Sie nahm das Kelchglas, das er ihr bei diesen Worten nochmals bot, aus seiner Hand und trank es folgsam bis zur Neige leer.

„Nun aber möchte ich Sie um Verzeihung bitten, daß Sie eine so häßliche, aufregende Scene, wie die da drüben, mit ansehen mußten,“ sagte er ernst und nachdrücklich. „Ich bin dafür verantwortlich; denn es hätte in meiner Macht gelegen, sie mit einigen zur rechten Zeit gesprochenen Worten zu verhindern.“ Er lächelte so bitter, so schneidend, daß es dem jungen Mädchen durch die Seele ging. „Mich plage der leidige Bettelstolz, sagen einige meiner Herren Collegen – die wenigen, die mich aus purer Gutmüthigkeit noch nicht ganz haben fallen lassen – sie behaupten das, weil ich nicht zu den ‚lauten‘ Leuten gehöre. Dieser ‚Bettelstolz‘ ist zu einer Art von Kassandrafluch für mich geworden. Die Welt nimmt das Schweigen für Unfähigkeit, für Mangel an Urtheil, und so hält man es gar nicht für nöthig, sich mir gegenüber einen moralischen Zwang anzuthun. Ich sehe Menschen, die sich als geniale, geistreiche Naturen äußerlich geriren, plump und täppisch vorgehen und kann ihr Handeln und die damit verknüpften Ereignisse mathematisch genau voraussagen – o, dieser Ekel!“ Er stieß leicht mit dem Fuße auf den Boden und schüttelte sich, als gelte es, ein verabscheutes Reptil von sich zu werfen.

Noch war er weit entfernt von der Herrschaft über sein empörtes Blut; noch stürmte die Bewegung heftig in ihm, und das frivole Wesen, das mit frevelnder Hand diese harmonische Natur aus den Fugen gerissen, dort sah es von der Wand hernieder, im weißen Iphigenia-Gewande an eine Säule gelehnt, mit gefalteten, lässig herabgesunkenen Händen und einem lieblich gedankenvollen Aufblicke; fast fromm sah das dämonische Mädchen aus. Damals hatte sie noch um seine Liebe, seinen Beifall geworben; damals war sie noch entschlossen gewesen, sein Ideal zu verwirklichen und dem künftigen „berühmten Universitätsprofessor“ die waltende gute Fee seines Daheims zu werden. Sie wäre es doch nie geworden; gerade das wäre der Boden gewesen für ihre Sucht, als schaffender Geist zu brilliren. Er hätte einen besuchten Salon, aber kein Daheim, eine in unbefriedigtem Ehrgeize sich verzehrende Weltdame, aber kein wahrhaft liebendes Weib, keine „mitringende, mitfühlende Gehülfin“ gehabt. Dagegen war er ja auch nicht mehr blind – und doch gab er sie nicht frei. Oder war nun doch das Band gelöst, nachdem Flora ihm so unumwunden den Ausdruck ihres Hasses in das Gesicht geschleudert hatte? Käthe wußte ja nicht, was sich nach ihrem Hinausgehen ereignet, soviel aber sagte sie sich, daß ihr längeres Verweilen hier in seinem Zimmer nicht statthaft sei, mochte der Würfel gefallen sein, wie er wollte.

Der Doctor hatte den finsteren Blick aufgefangen, den sie auf das Bild geworfen, und sah nun, daß sie sich zum Gehen anschickte.

„Ja, gehen Sie,“ sagte er. „Henriettens Kammerjungfer ist gekommen und hat bereits ihr Pflegeramt angetreten. Der Zustand der Kranken ist derart, daß Sie getrost in die Villa zurückkehren können, um der Frau Präsidentin, wie sie es lebhaft zu wünschen scheint, beim Thee Gesellschaft zu leisten; sie fühle sich so sehr vereinsamt, ließ sie herüber sagen. Ich gebe Ihnen mein Wort, Sie können unbesorgt gehen; ich wache treulich über Ihre theure Kranke,“ wiederholte er nachdrücklich, als sie lebhaft zu protestiren versuchte. „Aber geben Sie mir noch einmal die Hand!“ Er hielt ihr die seine hin, und sie legte rasch und willig ihre schlanken Finger hinein. „Und nun, was man Ihnen auch heute noch sagen mag, lassen Sie sich nicht verleiten, mich zu verurtheilen! Schon in den nächsten Tagen wird sie,“ er nannte den Namen nicht und neigte nur, ohne hinüberzublicken, bitterlächelnd den Kopf nach Flora’s Bild, „ganz anders denken, und das ist’s, was mich consequent bleiben heißt; ich darf nicht den Vorwurf auf mich nehmen, als hätte ich einen günstigen Moment – auszunutzen verstanden.“

Sie sah befremdet zu ihm auf, und er neigte bedeutsam und so sonderbar resignirt den Kopf, als wollte er sagen: „Ja, so steht es,“ aber über Beider Lippen kam kein Wort.

„Gute Nacht, gute Nacht!“ sagte er gleich darauf – er ließ mit leisem Drucke ihre Hand fallen und trat an den Schreibtisch, während sie rasch der Thür zuschritt. Unwillkürlich wandte sie sich noch einmal auf der Schwelle um – er führte eben seltsamer Weise das leere Kelchglas an seine Lippen; in demselben Augenblicke aber auch glitt es aus seiner Hand und zersprang auf dem Boden in Scherben und Splitter. – – –

Drüben im Krankenzimmer stand Flora zum Fortgehen gerüstet, sie sah aus, als bebe jede Fiber an ihr vor nervöser Ungeduld. „Wo steckst Du denn, Käthe?“ schalt sie. „Die Großmama wartet; Du bist schuld daran, daß man uns den Thee mit Impertinenzen würzen wird.“

Käthe antwortete nicht. Sie warf den Baschlik über, den ihr die Jungfer mitgebracht, und trat an das Bett. Henriette schlief sanft; die dunkle Fieberröthe auf ihren Wangen hatte bedeutend nachgelassen. Wiederholt hauchte das junge Mädchen einen Kuß auf das bleiche, schmale Händchen, das ruhig auf der Decke lag, dann folgte sie der hinausrauschenden Schwester.

Im Flure brannte eine kleine Lampe, und ein Lakai aus der Villa, der mit der Kammerjungfer gekommen war und noch Verschiedenes herübergetragen hatte, ging wartend auf und ab. Fast zugleich mit den Schwestern trat der Doctor in den Flur, [191] und jetzt fühlte Käthe abermals die Gluth tiefer Beschämung in ihre Wangen steigen; er reichte dem Bedienten das Billet, den vermeintlichen Todesgruß an die treulose Braut, zur Bestellung an einen in der Stadt wohnenden jungen Arzt.

Flora schritt an ihm vorüber, scheinbar, als wolle sie seine Instruction für den Lakaien nicht unterbrechen, und verschwand rasch draußen im Dunkel. Käthe aber ging noch einmal in die Küche und verabschiedete sich von der Tante. Die alte Frau schüttelte mit ernstem Gesichtsausdrucke den Kopf, als sie sich überzeugen mußte, daß „die Braut“ das Haus bereits verlassen habe, ohne sie auch nur eines flüchtigen Gutenachtgrußes zu würdigen, aber sie schwieg und ging dem Doctor nach in die Krankenstube, um noch einmal nach der Leidenden zu sehen, ehe sie sich in ihr Zimmer zurückzog.

Draußen vor dem Hause blieb Flora stehen, nachdem die Schritte des vorausgeschickten Bedienten auf der Brücke verhallt waren. Der durch die offene Hausthür fallende Schimmer der Flurlampe streifte schwach ihr Gesicht – es sah so ergrimmt, so leidenschaftlich beredt aus, als schwebe eine Verwünschung auf den halb geöffneten Lippen. Mit unaussprechlichem Hohne glitt ihr Blick über den rothen Ziegelfußboden und die weißen, kahlen Wände drinnen, dann fuhr er die äußere Frontseite entlang, als wolle er das Gesammtbild der kleinen Besitzung noch einmal umfassen.

„Ja, ja, das wäre so etwas nach meinem Geschmacke gewesen – eine Hütte und ein Herz!“ sagte sie mit einem steifen, drastisch ironischen Kopfnicken. „Einen Mann ohne Amt und Einfluß, über dem Kopfe eine spukhafte Spelunke, mitten im öden Felde, und ein isolirtes Zusammenleben zu Dreien, für welches die schmale Revenue meines väterlichen Erbtheils ausreichen müßte! Nie in meinem ganzen Leben habe ich empfunden, was es heißt, gedemüthigt werden – heute zum ersten Male kam mir in der bedrückend armseligen Umgebung das Gefühl, als sei ich herabgezerrt worden von dem Piedestal, auf das mich makellos gute Herkunft, vornehme Gestaltung der äußeren Verhältnisse und die eigene geistige Begabung gestellt haben. Gott mag geben, daß sich Henriettens Krankheit nicht zum Schlimmsten wendet! Ich könnte ihr kein letztes Lebewohl sagen; denn mich sieht dieses Haus nicht wieder. Wahrhaftig, schmachvoller ist nie ein Mädchen betrogen worden, als ich. – Ich möchte mich selbst in’s Gesicht schlagen, daß ich so blind, so bodenlos unbefangen in diese Verhältnisse hineingetappt bin.“

Sie stürmte wie wahnwitzig der Brücke zu. Das Mondlicht, das sich wie ein dünner Silberschleier über das glitzernde Flußbett hinbreitete, floß schwach an ihr nieder, und der Wind, schon halb und halb zum Sturme gesteigert, fiel sie heftig an; er zauste an ihren Kleidern und blies ihr den atlasglänzenden Umhang vom Kopfe, und die gelösten Locken hoben sich wehend und schlangenhaft züngelnd über der weißen Stirn.

„Er giebt mich nicht frei, trotz meines Flehens und meiner Gegenwehr,“ sagte sie, mitten auf der Brücke stehen bleibend, zu der Schwester, die ihr folgte und nun ohne Weiteres an ihr vorüber schreiten wollte. „Du bist dabei gewesen – Du hast gehört, was für entscheidende Worte gefallen sind. Er handelt ehrlos, erbärmlich, wie eine kalte Krämerseele, die den Untergang eines Betrogenen vollkommen ermißt, und doch auf der Erfüllung des unheilbringenden Contractes besteht. Mag er – mag er sich zeitlebens mit dem Gedanken sättigen, daß ihm ein Schatten von Recht verblieben ist – ich bin von diesem Moment an frei.“

Sie hatte bei den letzten Worten den Verlobungsring vom Finger gestreift und schleuderte ihn weit hinüber in die rauschenden Fluthen.

„Flora, was hast Du gethan!“ schrie Käthe auf und bog sich mit ausgestreckten Händen über das Brückengeländer, als könne sie den Ring noch erfangen. Er war versunken. Ob ihn die Wellen mit fortspülten, oder ob er liegen blieb auf dem Grunde, nahe dem Hause, in welchem das Unheil einzog, sobald warme, liebende Menschenherzen darin schlugen? Das junge Mädchen meinte, das blonde, todte Weib müsse aus dem glitzernden Wasserschwalle auftauchen und drohend das verächtlich fortgeschleuderte Symbol der Treue emporhalten. Schaudernd legte sie die Hand über die Augen.

„Närrchen, alterire Dich doch nicht, als sei ich selbst hineingesprungen mit Haut und Haar!“ sagte Flora mit kaltem Lächeln. „Manche Andere mit weniger Willens- und Widerstandskraft hätte es vielleicht gethan – ich werfe einfach den letzten Ring einer verhaßten Kette von mir.“ Sie hob die Linke und strich wie liebkosend über den befreiten Ringfinger. „Es war nur ein schmaler, dünner Goldreif, ‚einfach‘, wie es der da drin“ – sie nickte mit dem Kopfe nach dem Hause hin – „in seiner erkünstelten Spartanermanier zu lieben vorgiebt, und doch drückte er grob wie Eisen. Nun mag er rosten da unten – ich fange ein neues Leben an.“

Ja, sie hatte die Last „abgeschüttelt, abgeschüttelt um jeden Preis“, wie sie schon immer gesagt. Das Schreckbild einer verhaßten Ehe versank, und dafür ging „die Sonne des Ruhmes“ auf.

Flora flog davon, als brenne die Brücke unter ihren Sohlen. Käthe folgte ihr schweigend. In der Seele der jungen Schwester stürmte es erschütternd, sinnverwirrend; das klare, gesunde Urtheil, mit welchem sie an die Menschen und Dinge heranzutreten pflegte, war verdunkelt; sie stand völlig steuerlos zwischen Recht und Unrecht, zwischen Wahrheit und Lüge. Geberdete sich nicht das schöne Wesen da neben ihr, dieses personificirte Gemisch von eclatantem Unrecht, von Uebermuth und grausamer Willkür, so zuversichtlich und tactfest, als könne und dürfe es gar nicht anders handeln? Zertrat Flora nicht ihr gegebenes Wort, ihre Pflichten mit gutem Fug und Recht, gerade so, wie sie jetzt mit ihren raschen Füßen über die Kiesel der Allee hinschritt? – –

Im Corridor der Villa meldete der Bediente den beiden Schwestern, daß die Frau Präsidentin Besuch habe; es seien zwei alte Damen zum Thee gekommen.

„Desto besser!“ sagte Flora zu Käthe. „Ich bin wahrhaftig nicht in der Stimmung, heute noch die Scheherazade der Großmama zu spielen. Die alte Generalin hat immer die Taschen voll Klatsch und Stadtneuigkeiten; da ist man entbehrlich.“

Sie ging, wie sie sagte, für eine halbe Stande hinein, um den Thee zu besorgen und sich dann mit ihrem „übervollen Herzen“ zurückzuziehen. Käthe aber ließ sich mit Unwohlsein entschuldigen – war es doch auch, als woge ihr das fiebererregte Blut einer beginnenden Krankheit in Kopf und Herzen.




14.


Am anderen Morgen herrschte reges Leben in der Villa Baumgarten. Gegen Mitternacht hatte eine telegraphische Depesche die Rückkehr des Commerzienrathes aus Berlin gemeldet, und eine Stunde später war er angekommen. Er hatte zwei Geschäftsfreunde mitgebracht, die in den Fremdenzimmern logirten. Die Gäste waren Koryphäen der Handelswelt; sie wollten Nachmittags ihre Reise fortsetzen, und um ihnen Gelegenheit zu geben, auf der Durchreise mehrere ihrer Bekannten in der Residenz zu sprechen, hatte der Commerzienrath in der Nacht noch ein großes Herrenfrühstück für den anderen Morgen angeordnet. Köchin und Hausmamsell hatten vollauf zu thun, und die Bedienten liefen treppauf, treppab.

Käthe hatte die ganze Nacht schlaflos verbracht. Die am Tage empfangenen Eindrücke und die Sorge um Henriette hatten sie nicht ruhen lassen. An dem einen Eckfenster ihres Zimmers hatte sie stundenlang gestanden und über die windgeschüttelten Parkbäume hinweggeforscht, ob nicht wenigstens eine im Mondschein flimmernde Spitze der Wetterfahnen auf dem Hause am Flusse zu sehen sei, aber es war wie versunken gewesen, das niedrige Haus, und still geblieben war es dort auch, obgleich Käthe jeden Augenblick gemeint hatte, es müsse Jemand die Allee heraufkommen, um mit einer schlimmen Nachricht die Schlafenden in der Villa aufzurütteln.

Und vom anderen Fenster aus hatte sie dann die Ankunft des Commerzienrathes mit angesehen. Im Nu, wie aus der Erde gestampft, waren die Dienstleute der Villa mit ihren Sturmlaternen um den Wagen postirt gewesen; die hellen Lichtflammen hatten die weißen Säulen des Porticus angestrahlt, hatten sich in dem silberfunkelnden Pferdegeschirre und den glänzenden Leibern der Goldfüchse gespiegelt und waren kräftig genug gewesen, auch das bronzirte, an der Promenade hinlaufende Gitter und mehrere herrliche Marmorfiguren aus dem Dunkel [192] hervortreten zu lassen. Das Alles hatte hocharistokratisch ausgesehen. Dann war der Commerzienrath aus dem Wagen gesprungen, die stattliche, noch jugendlich elastische Gestalt in den eleganten Reisepelz gehüllt, in jeder seiner gebieterisch sicheren Bewegungen der reiche Mann, der eben noch reicher geworden, ein glänzender Komet, an dessen Fersen, magnetisch angezogen, der glitzernde Goldstrom sich hing. Er hatte seine Gäste in ihre Appartements geführt und erst gegen zwei Uhr das Haus mit dem voranleuchtenden Bedienten verlassen, um sich im Thurme zur Ruhe zu begeben. Dann war es allmählich still geworden in der Villa, aber der Wind hatte sein Pfeifen und Blasen um das Haus fortgesetzt und den Schlaf von Käthe’s Augen verscheucht. Erst mit Tagesanbruch war sie eingeschlummert, zu ihrem großen Verdruß; denn nun hatte sie sich verspätet, und statt um sechs Uhr Morgens, wie sie gewollt, das Haus am Flusse zu betreten, kam sie erst in der neunten Stunde dort an.

Es war ein schöner, klarer Morgen. Der ungestüme Nachtwind hatte sich zu jenem südlich warmen Hauche gesänftigt, der den Duft der ersten Frühlingsblumen im Athem behält, und der spröde zögernden Knospe schmeichelnd, aber beharrlich den braunen Schleier vom Gesichte zu ziehen sucht. … Auf des Doctors Hause zwitscherten die Vögel; das dunkle Geäst der Kirschbäume, das sich an die eine Hausecke schmiegte, erschien mit unerschlossenen, winzigen Blüthenköpfchen zartweiß gesprenkelt, und vor der glanzvollen Morgenbeleuchtung konnten sich die sprossenden Halme im Rasengrunde auch nicht mehr verstecken – der ehemalige Bleichplatz schimmerte in einem schwachen jungen Grün.

Als Käthe die Brücke passirte, floß das Wasser sonnendurchleuchtet und klar bis auf den Grund unter dem morschen Holzbogen dahin, fast sanftmüthig und friedlich – was Wunder! Die Wellen, die gestern den fortgeschleuderten Ring empfangen, hatten unterdeß ein weites Stück Weges zurückgelegt und strömten dem Ocean zu – nur sie konnten erzählen von den verrätherischen Frauenhänden, die so gewaltsam eine drückende Kette gesprengt.

Das Haus am Flusse hatte heute etwas eigenthümlich Feierliches. Das rothe Ziegelgetäfel im Flure war mit feingesiebtem, weißem Sande bestreut; der Duft einer feinen Räucheressenz schlug dem Eintretenden entgegen; auf dem kleinen Tische, nahe der Hausthür, lag eine frische Serviette, und darauf stand ein mächtiger Strauß von Tannenzweigen, Maikätzchen und Anemonen, in einer alterthümlichen, großen Thonvase. … Und die alte, getreue Köchin war auch angekommen; sie stand schon in voller Thätigkeit, mit aufgestreiften Aermeln, die glänzend weiße Schürze über die derben Hüften gebunden, als sei sie nie fortgewesen, am Küchentische, und das gute, rothbackige Gesicht sah zufrieden und glücklich aus. … Warum aber erschien die Tante Diakonus heute, am frühen Morgen, im kaffeebraunen Seidenkleide, auf dem vollen Scheitel eine weiße Spitzenbarbe, und auch an Hals und Handgelenk mit Spitzen umkräuselt? Käthe’s Herz zog sich zusammen vor Weh und Angst – geschah das Alles der Braut zu Ehren, die doch heute wiederkommen mußte, um die kranke Schwester zu besuchen?

Die alte Frau sagte kein Wort darüber. Sie schien nur sehr bewegt zu sein, und man sah es noch an den zartgerötheten Augenlidern, hörte es in der weichen Stimme, daß Thränen der Rührung geflossen waren. Sie theilte dem jungen Mädchen freudig mit, daß die Nacht für die Leidende gut verlaufen und der Anfall nicht wiedergekehrt sei.

Für diese beruhigende Nachricht küßte ihr Käthe die Hand, und da geschah das Seltsame, daß die sonst so zurückhaltende Frau plötzlich die Arme um die schöne, jugendliche Mädchengestalt schlang und sie wie eine Tochter zärtlich an das Herz zog. Dann führte sie die froh Erstaunte schweigend in das Krankenzimmer.

Henriette saß aufrecht im Bette, und die Jungfer ordnete ihr ein wenig das reiche Haar unter dem Nachthäubchen, der Doctor aber hatte sich vor einer Stunde zurückgezogen, um zu ruhen. … Das schmale, langgezogene Gesicht der Kranken mit den fleischlos hervortretenden Backenknochen und den verhängnißvollen schwarzen Ringen unter den Augen hatte in der einen Nacht einen scharf hippokratischen Zug angenommen, der Käthe erschreckte, aber der Ausdruck der Züge war ein glücklicher. Sie konnte nicht genug beschreiben, wie aufopfernd der Doctor sie pflege, wie unsäglich wohl sie sich in der gemüthlichen Fremdenstube fühle, und wie sie bei dem Gedanken schaudere, daß sie doch einmal wieder von da fort müsse. Sie bat Käthe, in die Villa zurückzukehren und ein Buch zu holen, das sie der Tante Diakonus versprochen habe – es sei in Flora’s Händen, die es ihr abgeborgt – dabei flüsterte sie der Schwester in das Ohr, sie möge dafür sorgen, daß Flora und die Großmama sie hier nicht allzu oft belästigten. Nicht die leiseste Ahnung hatte sie von dem, was sich gestern Abend an ihrem Bette zugetragen, und daß durch ihre Schuld das so lange schwebende Ungewitter zum furchtbaren Ausbruch gekommen sei.

Käthe konnte ihr kaum in die Augen sehen; sie athmete auf, als die Kranke schließlich die Bitte um das Herbeiholen des Buches erneute und sie beauftragte, auch noch Verschiedenes aus ihrem Schreibtische mitzubringen, zu welchem Zwecke sie ihr die Schlüssel einhändigte.

Nach einer Stunde kehrte das junge Mädchen in die Villa zurück. Sie war ganz erfüllt von dem beängstigenden Eindruck, den ihr Henriette gemacht hatte; das Krankengesicht mit der todtenhaft wächsernen Blässe und den eingesunkenen Zügen verfolgte sie und machte sie tieftraurig. Deshalb fuhr sie auch, im Innersten verletzt, zurück, als sie, die Treppe zur Beletage hinaufsteigend, schräg durch die offene Thür des Wintergartens den brillant hergerichteten Frühstückstisch mit seinem blinkenden Geschirr voll köstlicher Leckereien überblickte. Den ganzen Marmorfußboden des maurischen Zimmers bedeckte ein ungeheurer dicker Smyrnateppich; für warme Füße war gesorgt, und für heiße Köpfe auch – letzteres durch die auserwählten Flaschen aus dem Thurmkeller.

Käthe suchte in Henriettens Zimmer Alles zusammen, was die Kranke zu haben wünschte, und ging wieder hinab, um der Präsidentin pflichtschuldigst guten Morgen zu sagen. Ihre Tritte verhallten in dem weichen Treppenläufer; sie wurde nicht gestört von den zwei Bedienten, die unten im Corridor standen und von denen der eine ein Packet in der Hand hielt, welches der Briefträger eben gebracht hatte.

„Zum Kukuk auch, da kommt das Packet zum dritten Mal zurück!“ fluchte er und kratzte sich hinter den Ohren. „Ich hab’ die Geschichte satt bis an den Hals. Nun bin ich so freundlich und packe es morgen wieder ein und schreibe eine neue Adresse. Unser Fräulein muß auch denken, man hat auf der Gotteswelt nichts weiter zu thun.“ Er drehte das Päckchen unschlüssig hin und her. „Am allerbesten wäre das Ding drunten im Küchenfeuer aufgehoben –“

„Was ist denn darin?“ fragte der Andere.

Ein Haufen Papier, und das Fräulein hat mit ihren langbeinigen Krakelfüßen groß und breit d’raufgeschrieben: ‚Die Frauen‘, mag schon ’was Rechtes sein!“ er verstummte erschrocken und nahm sofort eine ehrerbietige Haltung an – Käthe kam eben die letzte Stufe herab und ging an ihm vorüber nach dem Schlafzimmer der Präsidentin.

Sie wurde nicht angenommen. Die herauskommende Jungfer berichtete, es sei früher Morgenbesuch da, eine Dame vom Hofe. Darauf hin ging Käthe in Flora’s Zimmer, um das besprochene Buch zu holen. Sie empfand eine heftige Abneigung, die Schwelle zu betreten; ihr Herz klopfte fast hörbar vor innerem Aufruhr, und bestürzt erkannte sie in diesem Augenblick, daß für diese Schwester auch nicht ein Funken von Sympathie in ihr lebe. Der ganze Grimm, den sie in der schlaflosen Nacht zu bewältigen gesucht, stieg wieder in ihr auf und nahm ihr fast den Athem.

Vielleicht fühlte Flora ähnlich. Sie stand mitten im Zimmer, neben dem großen, mit Büchern und Brochüren bedeckten Tische und sah mit einem sprühenden Aufblick nach der Eintretenden. Ach nein, der Zorn galt jedenfalls dem zurückgekommenen Packet. Dort lag es aufgerissen, und die schöne Empfängerin schleuderte einen ebengelesenen Brief mit einer verächtlichen Handbewegung in den Papierkorb. Fräulein von Giese, das moquante Hoffräulein, hätte das nicht sehen dürfen. Flora’s „kleiner Finger“ hatte sich bezüglich „der Frauen“ doch vielleicht ein wenig geirrt.


(Fortsetzung folgt.)




[193]
Ein thüringischer Volksdichter.


Schon oftmals ist darauf hingewiesen worden, daß in den Erzeugnissen der Dialektdichter die Eigenart der einzelnen Volksstämme am deutlichsten und vollständigsten sich widerspiegelt, da in jeder Volksmundart sich ein eignes inneres Leben ausspricht, aus welchem in feineren Abstufungen eine besondere Nationalcharakteristik sich ergiebt. Die Anerkennung dieser cultur- und literarhistorischen Bedeutung der Dialektdichtung war es, welche den Altmeister Goethe veranlaßte, nächst den in Nürnberger Mundart verfaßten Gedichten des Bürgers und Stadtflaschners Johann Conrad Grübel zu Nürnberg (1800) und dem in der Straßburger Mundart herausgegebenen Lustspiele des Straßburger Professors Georg Daniel Arnold, „der Pfingstmontag“ (1816), namentlich die Gedichte desjenigen deutschen Dichters rühmend zu empfehlen, welcher auf dem Gebiete des Volksthümlichen die Meisterschaft erreicht hat, die Gedichte des in ganz Deutschland und über dessen Grenzen hinaus bekannten und geschätzten Classikers oberdeutscher Dialektdichtung, Johann Peter Hebel. Von ihm, dessen „alemannische Gedichte“ Goethe „allgemein erfreuliche“, und den selbst er „unschätzbar“ nennt, rühmt der Altmeister mit Recht: „Wünschen wir dem Oberrhein Glück, daß er des seltenen Vorzugs genießt, in Herrn Hebel einen Provinzialdichter zu besitzen, der, von dem eigentlichen Sinne seiner Landsleute durchdrungen, von der höchsten Stufe der Cultur seine Umgebungen überschauend, das Gewebe seiner Talente gleichsam wie ein Netz auswirft, um die Eigenheiten seiner Lands- und Zeitgenossen auszufischen und der Menge, ihr selbst zur Belustigung und Belehrung, vorzuweisen etc.“

Anton Sommer.

Um so erfreulicher ist es, daß auch andere deutsche Volksstämme treffliche Dialektdichter aufzuweisen haben, in deren Erzeugnissen die Eigenheit des einzelnen Volksstammes sich deutlich wiederspiegelt. Die Literaturgeschichte verzeichnet als solche Dialektdichter für das plattdeutsche Gebiet Klaus Groth und Fritz Reuter, für Oberschwaben Weitzmann, für das sächsische Vogtland Wild, für das sächsische Erzgebirge Grund, für Henneberg Motz, für Coburg Friedrich Hofmann, für Oesterreich Kaltenbrunner und Castelli, für Baiern und die Rheinpfalz Kobell etc. Alle Diese haben, mit größerem und geringerem Erfolge, als Volksdichter im eigentlichen Sinne mit dazu beigetragen, die Besonderheiten der von ihnen vertretenen Volksstämme in ihrer Mundart darzustellen und ihre Sitten und ihre Denkweise den anderen deutschen Stämmen näher zu bringen. Zu dem Kreise dieser Dialektdichter gehört auch Derjenige, welchem gegenwärtiger Aufsatz gewidmet ist und welcher einen der biedersten, treuesten deutschen Volksstämme in das Gebiet dieser Dichtungsweise gezogen hat, den Stamm des Thüringer Volks.

Es sind nun schon länger als fünfundzwanzig Jahre her, als (1849) unter dem bescheidenen Titel „Bilder und Klänge aus Rudolstadt in Volksmundart“ eine kleine Sammlung von Gedichten und Erzählungen erschien, welche ursprünglich nur für den Leserkreis berechnet waren, bei welchem die Bekanntschaft mit der Mundart des Rudolstädter Volksstammes vorausgesetzt werden konnte. Daß diese Dichtungen auch in entfernteren Gegenden Interesse erregen würden, hatte der bescheidene Dichter nicht erwartet. Um so erfreulicher ist diese glückliche Erfahrung, die den Dichter zu immer frischem Schaffen ermuthigte, denn seit jener Zeit sind die „Bilder und Klänge“ auf weitere vier Hefte angewachsen und liegen bereits in mehr als sechs Auflagen dem deutschen Publicum vor.

Der Name des Dichters ist von uns (Nr. 39, 1875) bereits genannt. Anton Sommer, der am elften December seinen sechszigsten Geburtstag feiert, ist der Sohn eines Rudolstädter Concertmeisters und war zur Zeit des ersten Erscheinens der „Bilder und Klänge“ Vorsteher einer Töchterschule zu Rudolstadt, nachdem er als einer der damaligen vielen schwarzburgischen Predigtamtscandidaten sich fast zehn Jahre als Hauslehrer in der Welt herumgeplagt hatte. Erst im Jahre 1863 erhielt er die Stellung eines Garnisonpredigers, in welcher er sich noch jetzt befindet.

Der Dichter der „Bilder und Klänge aus Rudolstadt“ hat sich ohne Zweifel den übrigen deutschen Dialektdichtern würdig an die Seite gestellt. Seine Stoffe hat er in den Gegenständen der ihn umgebenden Natur, ferner in dem Thüringer Kleinleben und zwar überwiegend in dem bürgerlichen Elemente desselben gefunden; daneben hat er specifisch Rudolstädtisches an Sagen und Lieblingsgeschichten behandelt und viele ältere Scherze und Anekdoten der Vergessenheit entrissen. Er hat sich dazu mit großem Geschicke die breite, etwas ungelenke Rudolstädter Mundart, wie sie in den gewöhnlichen bürgerlichen Kreisen vor zwanzig und mehr Jahren noch fast durchweg heimisch war, dienstbar gemacht, sodaß es nicht fehlen kann, daß die „Bilder und Klänge“ mit ihrer behaglichen naiven Sprache, der Wahrheit der Schilderung, dem volksmäßigen Vordergrunde, dem mannigfachen sittlich-didaktischen Inhalte überall den wohlthuendsten Eindruck auf den Leser hervorrufen, dem Dichter aber besonders in seinem Heimathlande Thüringen die wärmste Theilnahme zuwenden. Wer in so gemüthvoller Poesie, die Eigenart seines Volksstammes in dessen Mundart zu schildern und mit so frischem, niemals verletzendem Humor in das Thüringer Kleinleben einzuführen versteht, muß ein poetisches Gemüth, eine feine Beobachtungsgabe und vor Allem das offene Auge des Humors für die belustigenden Seiten an Menschen und Dingen haben; alle diese Eigenschaften treffen aber in dem Dichter der „Bilder und Klänge“ zusammen, welcher in diesen im Grunde nur eine Schilderung seines eigenen inneren Lebens geliefert hat. Viele der darin enthaltenen Geschichten lassen sich auf Anton Sommer’s Erinnerungen aus der Jugendzeit und auf die Erzählungen zurückführen, wie er solche vor Jahren in den berühmten Rudolstädter Localen: Rathhaus, Felsenkeller, Pörze etc. von älteren Bürgern hören konnte; in diesen in Prosa geschriebenen [194] Geschichten („Raupen“, „Schnarzchen“) ist ohne Zweifel der Volkston am besten getroffen; manche solche Stücke erinnern lebhaft an J. P. Hebel’s Erzählungen im „Schatzkästlein“.

Die „Bilder und Klänge“ lassen sich unschwer in verschiedene Gruppen eintheilen. Zunächst in die Betrachtungen aus der Natur, welche zum Theile Vortreffliches enthalten. Hierher gehören namentlich: „Der erschte Staar“ und „Wie’s su erbarmlich geschneit hatte“, in welchem Gedichte Sommer die armen Vögel beklagt, die von dem schlimmen Winterwetter leiden müssen, den trauernden Spatz aber tröstet:

„Du werscht dich wul mit Sorgen trah,
He, gelle, Hans, werscht denke:
Nun war ech schmale Bössen ha,
War werd mer änn was schenke?
No, sei nur stölle, gräm dich nech,
Mer woll’n etze gleich für dich
Salt ong ä Täschchen decke.“

Ergötzlich schildert Sommer in einem seiner besten Gedichte „D’r Bimbelpeter“ die Betrachtungen des echten Philisters, „wie’s Watter gar nech annersch ware wollte“, wie dieser erst in Folge des vielen Regens ein Mißjahr prophezeit und dann, „wie’s nachen änne grausame Hötze gewasen ös“, wieder ein „bieses“ Jahr voraussagt und schließlich doch zur „Arnte“ gestehen muß: „Das ös ä Prachtsjahr heier.“

Wer jemals das wonnige Saalthal zur Zeit der Baumblüthe durchwandert hat, wird auch den Jubel des Dichters über die „Bamblihte“ zu würdigen wissen:

„De Bäme blihn! de Bäme blihn!
Su hammer’sch lange nech gesihn,
Gebammste voll un döcke;
Un off’n klännsten Knorpse läht
D’r weiße Schnie su huch un brät,
Mer denkt, ar mißt’s erdröcke.

Da hat d’r Frihling über Nacht
Aemal sei Mästerstöck gemacht
In unsern ganzen Thale;
Das ös eich doch ämal ä Mai,
Su wie ar ägentlich muß sei,
Mer kann’s nech schönner male.“

Eine fernere Gruppe in den Sommer’schen Dichtungen bilden die Darstellungen der Rudolstädter Volks- und Familienfeste, welche, was Wahrheit, Treue und volksmäßigen Ton anlangt, meisterhaft genannt werden dürfen. „De Schlachtschössel“, „De gruße Möttewoche“ (aus dem Felsenkeller Tags vor Himmelfahrt), „Bei’n Feierwarke“, „’s Vogelschießen“, „De Eisfahrt“, „D’r 18. October“, „An Pfingstheiligabend“, „Weihnachten un was su alles noch dran romm bambelt“, „’s Schittchenbacken“ sind in Wahrheit Perlen der humoristischen Volksdichtung. Ueberall ist der Dichter zugleich bemüht, die Erinnerung an alte Familiensitten lebendig zu erhalten, wie er z. B. in der Schilderung der Weihnachtszeit den „Märtensmann“ nicht vergessen hat, der nur „fromme Könner“ mit Nüssen und Aepfeln belohnt.

„Gruße Latschen hat ’r an,
Un änn langen Bart von Warche,
Fladerwische off’n Kopf
Un änn himmellangen Zopf“.

Gar köstlich sind auch in einem Gedichte „De Buzelmanner“ die Leiden und Freuden einer Rudolstädter Landpartie dargestellt.

Die althergebrachte Neigung der Rudolstädter zum Vogelfange ist in den Gedichten „Off’n Vogelharde“ und „De Mäsenhötte“ wahrheitsgetreu behandelt. Vortrefflich schildert Sommer namentlich in der Geschichte „Off’n Kugelläge“ die bekannte Lust des Thüringers am Kegelspiele; an Treue der Darstellung eines solchen Spieles übertrifft diese Geschichte vielleicht alle übrigen Erzählungen unseres Dichters. Sämmtliche nur den Eingeweihten verständliche Redensarten, alle Freuden- und Zornesausbrüche sind so drastisch wiedergegeben, daß der Leser unwillkürlich auf die Kegelbahn einer Rudolstädter Bürgergesellschaft sich versetzt sieht.

Einen beträchtlichen Theil der Dichtungen Sommer’s nehmen dann die specifisch rudolstädtischen Erinnerungen ein, welche unverkennbar die treueste Anhänglichkeit an die liebliche Heimathstadt athmen. Daß Sommer den „drei Hauptsachen“ eines Rudolstädters ein allerliebstes Gedicht widmet, ist ein Zugeständniß an die Landsleute, welches dem heitern Gesellschafter gewiß nicht schwer geworden ist; gehören doch Bier, Bratwürste und Klöße zu den Lieblingsgenüssen des Thüringers.

Wohl das Vorzüglichste unter den sämmtlichen Bildern und Klängen bietet die letzte und Hauptgruppe der Sommer’schen Dichtungen, welche fast durchweg in Prosa geschrieben sind. Diese Gruppe bilden die obenerwähnten „Raupen“ und „Schnarzchen“, wie sie in fröhlicher neckischer Stimmung am Zechtische unter Freunden und Bekannten, oftmals von der Laune des Augenblicks erzeugt, üblich sind und zur guten Unterhaltung gehören. Dabei laufen allerdings eine Menge der handgreiflichsten, aber amüsantesten Lügen mit unter, immer aber liegt auch in solchen Geschichten, die zum Theile Genrebilder von hohem Werthe sind, der Kern einer tüchtigen Volksgesinnung und gesunden Moral.

Wahrhaft classisch dürfen einige Bilder genannt werden, die an Treue der Charakteristik fast unübertrefflich sind. So läßt Sommer einen „Schröttschuhläfer“ seine verunglückten Versuche auf dem Eise sehr ergötzlich erzählen: „Nune nahm ich meine Schröttschuh ongern Arm un machte nöber. ’s kratschten nur noch ä paar Schuljong salt römm, da dacht ich: Etze ös gerade de rachte Zeit, da kannste Deine Prube mache. ’s word mer aber ludermaßig sauer, ehr ech de Racker feste brachte, de Riem hotten nech Löcher satt, un wie ’ch der su zerrte, daß mersch grin un galbe für’n Agen worde, da platzte das äne Seitenlader, daß ech se vor lauter Wuth nur su vorn Ardboden hätt’ möcht keile. Endlich hatt ’ch se doch su weit, daß ’ch konnte offstieh, ja, wie ’ch d’r aber auskratsche wollte, da merk’ ech gleich ’n Braten, ech konnt mich off künn Bäne erhalte, un wie ’ch su met ’n Armen in der Luft mußte fachte, un de Balangse nech fönge konnte, da sat ’ch stölle för mir: ‚Andres, horch, ’s werd nischt Deine Sache!‘ Ech hatt’s aber kaum raus, da waren meine Bände wack, harre, un ech sötzte mich hönn, daß ’ch de Engel in Himmel ha hier feife etc.“

Hambuchtens Gärge – er galt weit und breit als „d’r größte Frasser off Gottes Arbuden“, dem die Vertilgung von zwanzig Klößen etwas Geringes war. Nun war einmal in der Saale ein „höllenmaß’ger“ Lachs gefangen worden; zwischen zwei großen Herren wird darüber gewettet, ob Gärge den ganzen Lachs allein aufessen könne, wobei nur bedungen wird, daß der Fisch in allerlei Gerichten zurecht gemacht werden soll. Gärge sitzt, als er die Einladung empfängt, gerade bei einem Napfe mit sauren Linsen; er sagt: „‚Wenn’s weiter nischt ös, da will ech äweile ’n Grund läh.‘ Un zur röcht’gen Zeit war ’r off’n Flacke, un als wenn ’r ’n Heißhonger hätte, fiel ar öber das Zeich har, das ’n nach änanner vörgesetzt worde, un de Leite konnten nech fix satt offtrah. Etze, wie ar met ’r zahnten Schössel beinah fert’g war, driht ’r sich ämal omm un sate hämlich fer’n Bedienten: ‚Horch, Gottlieb, wenn aber nune ’s Föschchen nech bald kömmt, nachen werd’s doch bedenklich.‘ D’r Lachs war aber schonne nönger, un de Wette war gewonnen.“

Daß Gottlob wirklich „in Dussel“ gewesen ist, als er nicht unterscheiden kann, ob das aus dem Schlitten „herausstarzende Bän“ sein eigenes Bein oder das seines Cameraden ist, und erst durch einen Hieb mit der Peitsche davon überzeugt werden muß, daß „’s Bän seine“ ist, wird wohl auch Niemand bezweifeln. Ebenso drastisch ist das Bild des Bauern „bei der Parade“, der dem Hautboisten zusieht, wie dieser mit der großen Posaune sich abarbeitet und „das Döng ömmer noff un nonger wärcht“, bis er die Sache länger nicht ansehen kann, die Jacke auszieht und dem „Hobisten“ zuruft: „Herre, etz gab ’r mir ämal das Döng, da soll doch ä Donnerwetter drönne sötze, wenn das nech rab zu bröng wär.“

In sehr treffender Weise wird von Sommer in diesen Erzählungen auch die alte, gute Zeit, die „Grußmutterzeit“ charakterisirt und die übertriebene Hinneigung der heutigen Generation zum Luxus und zur Vergnügungssucht gegeißelt. Er fragt, „wu das nur noch naus soll,“ und kommt zur Schlußbetrachtung: „War kann’s änn nune än jong Karl verdenke, wenn ’r druchst met ’n Heirathen? ’s missen ’n ju de Haare zu Barge stih, wenn ’r dann Bresch siht, ar kann’s ju nech ertämmele, un wenn ar sich schindt un plagt ’s ganze Jahr, was Zeich halte will. Gab Achtgen, wenn das su fortgiht, da war’n de Ehemanner gerade su rar, wie de Hasen in etz’ger Zeit.“

[195] So hat der Dichter, dessen wohlgetroffenes Bild den Lesern in der gegenwärtigen Nummer der „Gartenlaube“ dargebracht wird, überall den echten Volkston getroffen und unzweifelhaft unter den deutschen Dialektdichtern einen der ersten Plätze und unter den Freunden deutscher Volksdichtung in Thüringen und ganz Deutschland zahlreiche Freunde sich erworben. Möchte Anton Sommer’s heitere Muse noch lange nicht schweigen und der Kreis der Freunde deutscher Volksdichtung innerhalb Thüringens und über dessen Grenzen hinaus noch oftmals durch neue Bilder und Klänge erfreut werden, wie Sommer dies selbst in dem Abschiedsgedichte seines Buches in Aussicht gestellt hat!

Richard Keil.




Menschenaffen.


Von Brehm.


II. Häusliches und geselliges Leben.


(Schluß.)


Abweichend von fast allen Ordnungsverwandten sind die Menschenaffen wenig gesellig. Ausnahmsweise nur begegnet man einmal einer starken Gesellschaft, solche hat sich aber, wie behauptet wird, immer blos dann zusammengefunden, wenn irgend eine günstige Gelegenheit, beispielsweise ein der Fruchternte entgegenreifender Baum, die Vereinigung vieler veranlaßte. Wie unter Menschenkindern geschieht es dann, daß die jungen Affen, während die alten ernsterer Beschäftigung sich widmen, gegenseitig Bekanntschaften anknüpfen und munter und lustig mit einander spielen, niemals aber läßt sich unter einer solchen Heerde ein ebenso inniges Verbandsverhältniß wahrnehmen wie unter anderen Affen, welche, streng geschlossen, unter der Leitung eines in allen Lagen des Lebens geprüften, erfahrenen, weisheitsvollen Männchens ihre Geschäfte betreiben, wochen-, monate-, vielleicht jahrelang fest zusammenhalten und unter Umständen gemeinschaftlich eintreten für das Wohl der Gesammtheit oder zu Gunsten des Einzelnen. Der Menschenaffe erinnert in dieser Beziehung mehr als an die übrigen Affen an den ungesitteten, noch in seiner ursprünglichen Rohheit verharrenden Wilden, welcher ein paarweises Zusammenhalten dem Verbandsleben vorzieht. Wie unter Säugethieren die Regel, leben die alten Männchen der Menschenaffen wahrscheinlich einsam, alten, mürrischen Junggesellen vergleichbar, welche ebenfalls vorgeben, den Freuden der Welt entsagt zu haben. Gesellen sich einzelne, so sind es Weibchen mit ihren Jungen, welche vielleicht von einem Männchen geführt werden. Daß zwei alte Männchen gelegentlich mit Wuth und Ingrimm um die Weibchen kämpfen, und daß unter Umständen dabei einer den andern tödtet, scheint durch glaubwürdige Beobachtungen erwiesen zu sein: die Angabe würde übrigens auch kaum zum Zweifeln herausfordern können, da sie ja mit dem, was wir an anderen Thieren und selbst an dem hochstehenden Menschen beobachten, durchaus übereinstimmt.

Wie alle übrigen Affen und ebenso die wilden Menschen haben unsere Thiere keinen bestimmten Aufenthaltsort, sondern schweifen von einer Oertlichkeit zur anderen. Finden sie an einer Stelle Lieblingsnahrung in Menge, fruchttragende Bäume, erntereife Felder oder Pflanzungen z. B., so verweilen sie wohl auch tagelang an einer und derselben Oertlichkeit; wird die Nahrung knapp, so machen sie sich auf den Weg und ziehen weiter. Am Morgen gehen sie auf Nahrung aus; Mittags ruhen sie, und die Nacht verbringen sie auf einen bestimmten Lager. Der Orang-Utan verläßt letzteres erst, wenn die Sonne schon ziemlich hoch steht und den Thau auf den Blättern getrocknet hat; er frißt daher in den mittleren Stunden des Tages.

Falls die vorliegenden Berichte als erschöpfend betrachtet werden dürfen, besteht die Nahrung der Menschenaffen in Fruchtstoffen: Knospen, Blättern, Gras, Kraut, Sämereien und Getreide, zumal aber in Früchten. Nach Reade liebt der Gorilla eine in kleinen Büschen wachsende Grasart so, daß man seine Anwesenheit da, wo dieses Gras vorhanden ist, fast mit Sicherheit annehmen darf, nach Savage nährt sich der Schimpanse wahrscheinlich mit denselben Pflanzenstoffen, welche der Gorilla frißt: mit Früchten, Nüssen, Blatt- und Blüthenschößlingen, vielleicht auch mit Wurzeln und dergleichen; nach Wallace verzehrt der Orang-Utan mit Vorliebe Obst, und in Ermangelung desselben Blätterknospen und junge Schößlinge, zieht, wie es scheint, unreife Früchte den reifen vor, ißt auch sehr saure und stark bittere, genießt zuweilen nur den kleinen Samen einer großen Frucht und zerstört dann weit mehr, als er bedarf, bevorzugt aber vor Allem die köstliche Durian, eine ausgezeichnete, fast kopfgroße, mit furchtbaren Stacheln bewehrte, für den Menschen nur mit Hülfe eines starken Messers theilbare Frucht, deren fünf Zellen mit einem rosenfarbenen, äußerst wohlschmeckenden Brei und einigen Samenkörnern angefüllt sind. Nur der letztgenannte Menschenaffe scheint die Pflanzungen des Menschen nicht zu besuchen. Alle übrigen fallen bei passender Gelegenheit raubend und plündernd in sie ein und richten dann oft großen Schaden an, werden auch aus dem Grunde besonders lästig, weil sie dem sie angreifenden Menschen häufig als grimmige und gefährliche Gegner sich stellen.

Bei allen Raubzügen, welche Menschenaffen unternehmen, bei dem Erwerbe ihrer Nahrung überhaupt, in ihrem Auftreten dem Menschen und anderen Thieren gegenüber, in ihren Sitten und Gewohnheiten, ihrem Wesen und Gebaren, mit einem Worte in jeder ihrer Handlungen bekunden sie einen außerordentlich hohen Verstand, nämlich ebenso viel Ueberlegung wie List und Schlauheit, ein vortreffliches Gedächtniß, eine überraschende Fähigkeit, von Einem auf Anderes zu schließen etc. Ich glaube jedoch die Schilderung des geistigen Wesens der Affenmenschen besser für den letzten Abschnitt aufsparen zu dürfen, weil gefangene Menschenaffen ungleich mehr Gelegenheit zu diesbezüglichen Beobachtungen geben, als die freilebenden. Von diesen mag jetzt noch das Eine erwähnt sein, daß sie sich Nester errichten, welche als der erste Entwurf oder erste Gedanke einer Hütte im menschlichen Sinne angesehen werden müssen, also, streng genommen, nicht mit den Nestern anderer Thiere verglichen werden dürfen, weil sie, wie es scheint, nicht allein als Lager, sondern mehr noch als Schatten- oder Regendächer dienen. Einen Schutz gegen Regen oder Sonnenstrahlen schafft sich aber nur der Affe, kein anderes Thier. Diese sogenannten Nester sind nichts weniger als ordentliche Bauten; die Zweige werden abgebrochen oder geknickt und kreuz und quer über einander geschichtet. Ein von Wallace angeschossener Orang-Utan kletterte zur Spitze des Baumwipfels empor, begann ringsum Zweige abzubrechen, griff außerordentlich schnell mit seinem unverwundeten Arme nach jeder Richtung hin, brach mit der größten Leichtigkeit starke Aeste ab und legte sie rückwärts quer über einander, sodaß er in wenigen Minuten eine geschlossene Masse von Laubwerk um sich gebildet hatte, welche ihn den Blicken gänzlich entzog. Nach Versicherung der Dajaks soll sich derselbe Affe bei Regenwetter mit Blättern bedecken.

Ueber die Fortpflanzung der Menschenaffen sind wir noch nicht genügend unterrichtet und wissen eigentlich nur so viel, daß das Weibchen ein Junges, in seltenen Fällen Zwillinge zur Welt bringt, besagtes Junge auf oder in den Armen trägt, dasselbe außerordentlich liebt und seinetwegen ohne Bedenken und Zögern ersichtlicher Todesgefahr entgegentritt. Das Junge wächst unter so treuer Pflege annähernd mit derselben Schnelligkeit heran wie ein Menschenkind, wechselt etwa zwischen dem fünften und sechsten Jahre die Schneidezähne und vollendet sein Wachsthum ungefähr in derselben Zeit wie der Mensch. Wie lange das Leben eines solchen Affen währt, wissen wir noch nicht, dürfen aber dreist annehmen, daß es dem des Menschen annähernd gleichkommt.

Die alten Geschichten von Liebesverhältnissen zwischen Menschenaffen und Malaiinnen oder Negerinnen werden heutigen Tages noch überall ziemlich übereinstimmend erzählt, stoßen auch kaum auf Widerspruch bei demjenigen, welcher größere Affen [196] kennt, welcher erfahren hat, wie genau sie Männer und Frauen unterscheiden, wie bestimmt sie ihre Zuneigung zum anderen Geschlechte bekunden, wie männliche Affen Frauen entschieden Männern, weibliche dagegen Männer den Frauen vorziehen. Auch die noch in neuester Zeit wiederholten Angaben, daß die Menschenaffen, wenn sie können, Kinder stehlen, mit ihnen in den Armen einen Baum erklettern, sich mit der Betrachtung des jungen Menschenvetters vergnügen, durch ihnen vorgehaltene Leckerbissen sich aber wieder vom Baume herablocken lassen und dann das Kind hier niederlegen, halte ich nach den von mir an anderen Affen gemachten Beobachtungen für glaublich. Anders verhält es sich mit den Geschichten, welche über grimmige Zweikämpfe zwischen Eingeborenen wie Weißen und Menschenaffen gegeben werden. Daß ein Gorilla im Stande ist, einen Menschen zu tödten, wird Niemand bezweifeln, welcher die ungeheuere Stärke, erstaunliche Gewandtheit und grenzenlose Wuth eines erregten Affen überhaupt kennen gelernt hat; daß selbst der verhältnißmäßig harmlose Schimpanse oder der furchtsame Orang-Utan, angegriffen, sich ihrer Haut wehren und im Zweikampfe mit dem Menschen letzterem sehr ernsthafte Verwundungen beibringen können, geht aus übereinstimmenden Berichten gewissenhafter Beobachter zur Genüge hervor; daß jedoch irgend ein Menschenaffe, und namentlich der Gorilla, aus angeborener teuflischer Böswilligkeit beim Anblicke eines Menschen unter allen Umständen zum angreifenden Theile werden sollte, wie Du Chaillu, Ford und Savage behaupten, muß nach Reade verneint werden.

Alle die in grellen Farben aufgetragenen Erzählungen Du Chaillu’s über seine und Anderer Kämpfe mit dem Gorilla, welche gerade ihrer Schauerlichkeit halber in die verschiedensten Blätter übergegangen und dadurch in weiten Kreisen bekannt geworden sind, erledigen sich wohl am besten durch die auf fast unantastbare Gründe sich stützende Behauptung Reade’s, daß Du Chaillu niemals einen Gorilla erlegt hat. „Laßt ihn allein, so läßt er Euch auch allein,“ sagten die von dem letztgenannten Forscher befragten Jäger, unter denen er keinen einzigen fand, welcher erzählen konnte, daß seit Menschengedenken ein Mann von einem Gorilla wirklich umgebracht worden wäre. Und unter diesen Jägern befand sich einer, welcher einst mit einem Gorilla gekämpft, von ihm verwundet worden war und eine gänzlich verkrüppelte Hand davongetragen hatte. Der Leopard gilt allgemein für ein gefährlicheres Thier als der Gorilla.

Alle Menschenaffen, mit denen wir engeren Verkehr pflegen und in ein näheres Verhältniß treten können, sind als Säuglinge eingefangen und mehr oder minder mühselig aufgezogen worden. Alte Thiere werden nirgends gefangen und zwar aus dem einfachen Grunde, weil weder die Neger, noch die Bewohner der früher genannten Sundainseln Mittel besitzen, sich der Thiere zu bemächtigen. Selbst die Niamniam, welche die Jagd auf Schimpansen in höchst eigenthümlicher Weise betreiben, machen hiervon keine Ausnahme. Wie diese gewandten und fleischgierigen Jäger unserem trefflichen Schweinfurth mittheilten, gehören zur Jagd auf den Schimpanse zwanzig bis dreißig entschlossene Männer, denen die heikle Aufgabe zufällt, in den verschiedenen Laubschichten, welche die Wälder über Wäldern aufbauenden Bäume darstellen, mit den Menschenaffen um die Wette umherzuklettern und dabei die gewandten und kräftigen Thiere in Fangnetze zu locken, in denen sie sich verwickeln, ohne wie sonst im Stande zu sein, kräftigen Widerstand zu leisten. Trotzdem wagt man es nicht, sie zu fesseln, sondern bringt sie einfach mit Lanzenwürfen vom Leben zum Tode.

Wer gleich mir den Ingrimm und die außerordentliche Stärke größerer Affen aus eigener schlimmer Erfahrung kennen gelernt hat, begreift dies vollständig. Alle in die Enge getriebenen Menschenaffen wehren sich verzweifelt, gebrauchen ihr furchtbares Gebiß in gefährlicher Weise, sollen sich sogar zur Abwehr des ihrem Angreifer entrissenen Speers bedienen und wüthend um sich schlagen. Die überraschende Gewandtheit der Thiere, die Schnelligkeit und Behendigkeit ihrer Angriffe wird vielleicht von kaum einem Raubthiere überboten, vielleicht noch nicht einmal erreicht. Der Besitz der kräftigen, gebrauchsfähigen, klammernden Hand verleiht ihnen außerdem Vortheile, welche kein anderer thierischer Gegner des Menschen im Kampfe mit diesem zur Geltung zu bringen vermag. Meine Ansicht stützt sich auf eine lange Reihe von Beobachtungen, welche ich an Pavianen gemacht habe. Du Chaillu’s Schilderung des angreifenden Gorilla verdient daher in dieser Beziehung Glauben. Schon Schimpansen von zwei bis drei Jahren überwältigen dreifach so alte Knaben ohne sonderliche Anstrengungen und machen selbst einem Manne zu schaffen. Ich glaube deshalb, daß man nur in seltenen Fällen ein oder zwei Jahre alte Menschenaffen einfängt, vielmehr sich einzig und allein an Säuglinge hält und dieser sich bemächtigt, indem man ihre Mutter tödtet.

Wären die Negerinnen oder Dajakinnen ebenso thierfreundlich wie die Indianerinnen Südamerikas, welche jungen Thieren mit gleicher Mutterlust die Brust reichen wie ihren eigenen Kindern und um so stolzer sind, sich um so gehobener fühlen, je mehr junge Thiere sie neben ihren eigenen Kindern nähren können, so würden wir wahrscheinlich weit kräftigere und gesündere Menschenaffen für unsere Käfige erhalten, als dies bis jetzt leider der Fall ist. In der Regel begnügt man sich, den unter die Gewalt des Menschen gelangten Affensäugling einfach mit verschiedenen Waldfrüchten oder mit der Nahrung erwachsener Menschen zu füttern, behandelt ihn nebenbei, nach Negerart, so gleichgültig als möglich und bereitet so dem beklagenswerthen, der Mutterpflege noch höchst bedürftigen Affenkinde ein jammervolles Schicksal. Wie dankbar es später jede ihm erwiesene Zärtlichkeit anerkennt, mit welcher Zuneigung und Hingabe es an einem auf seine Wünsche eingehenden Pfleger hängt, beweisen uns alle verständnißvoll gepflegten Menschenaffen zur Genüge; wie bald es sich nach Kinderart über den Verlust der Mutter tröstet, an das ihm fremde Wesen sich anschließt und in die Rolle eines verhätschelten Lieblings sich einspielt, beweist jeder gefangene Menschenaffe.




Allerlei Lichter im Botendienst.


Es werden demnächst zwei Jahre, daß mir an einem Fenster meines Straßen-Gegenüber ein gar seltsamer Umstand aufgefallen war. Allabendlich zwischen zehn und elf Uhr wechselte ein Fenster des dritten Stockes zeitweise unaufhörlich zwischen Licht und Dunkelheit so schnell, daß es in der Minute wohl dreißig Mal finster und dreißig Mal hell erschien. Als ich die vorher niemals wahrgenommene Erscheinung zum dritten oder vierten Male bemerkte, fing sie an, mich lebhaft zu beschäftigen und ich nahm ein Opernglas, um zu sehen, was denn da drüben eigentlich los sei. Aber das Opernglas machte mir die Sache erst recht unklar. Da saß im Hintergrunde der einfenstrigen kleinen Stube ein junges Mädchen vor einem Tische und senkte ein Hohlgefäß – wie es schien, ein ausgedientes blechernes Quartmaß – alle Augenblicke über die brennende Kerze, so daß sie selbst fortwährend verschwand und wieder auftauchte. In gewissen Pausen ergriff sie den Leuchter mit der Hand und hob ihn in die Höhe. Dieses seltsame Spiel dauerte eine Viertelstunde und länger, erlitt Unterbrechungen und begann oft nach längeren Pausen von neuem.

Nachdem ich mich mehrere Tage mit der Frage herumgeschlagen, was denn das eigentlich zu bedeuten habe, trieb mich eine jedenfalls noch unklare Ahnung zu meinem Zimmernachbar, einem jungen Telegraphenbeamten, mit dem ich auf dem Nachbarfuße stand, um ihn zu fragen, ob das merkwürdige Licht- und Schattenspiel drüben auch bereits seine Aufmerksamkeit erregt habe. Meine Frage jagte eine flüchtige Röthe in seine Wangen; er schüttelte indessen den Kopf und sagte, er werde darauf achten. Mir war bei seinem Erröthen die dunkle Ahnung plötzlich zu einem hellen Lichte aufgeflammt: ihm selbst galt der Licht- und Schattenwechsel; die jungen Leute bedienten sich desselben als einer Sprache, um über die Köpfe der brausenden Menge unten sich mit einander zu unterhalten und ohne Zweifel ihre gegenseitigen Empfindungen auszutauschen.

Mit einer noch lebhafteren Theilnahme stand ich am Abend [197] zur gewöhnlichen Stunde auf meinem Beobachtungsposten, aber siehe da, das Licht- und Schattenspiel blieb ganz aus; vermuthlich hatte mein vorsichtiger Herr Nachbar nach altem Brauch das Gespräch eröffnet und gebeten, ihm gar nicht zu antworten, da ein Lauscher in der Nähe sei. Das Fenster blieb heute und an den folgenden Abenden ununterbrochen hell, an dem Tische aber saß das junge Mädchen und stützte den Kopf in die Hand. Ich erkundigte mich, da die Neugierde nun einmal erregt war, wer da drüben wohne, und erfuhr, daß es eine Wittwe sei, deren einzige Tochter zu den in Berlin angestellten „Blitzmädels“ gehöre, von denen die letzte Nummer des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ Näheres mitgetheilt hat.

War ich nun einerseits sehr befriedigt über meine Combinationsgabe, die mich so schnell auf die richtige Spur gebracht, so war ich andererseits höchlichst unzufrieden mit meiner Aufführung, sofern ich nämlich durch meine unvorsichtige Frage das Vergnügen der jungen Leute, sich, wenn Mutter zu Bette gegangen war, noch an einer kleinen Plauderei zu erfreuen, gestört hatte. Der Nachbar war ein so liebenswürdiger, offen blickender Blondkopf, daß ich ihm gewiß nichts Schlechtes zutrauete, und die schlanke Brünette drüben sah viel zu selbstständig aus, um etwas für sich fürchten zu lassen. Die mit ihren Händen Blitze schleudernden Mädchen sind schon von Amtswegen viel gefesteter, als solche, die nur mit den Augen blitzen. Der Gedanke, daß ich ein Bündniß für einander passender Herzen, wie es sich ja aus solchen offenen Heimlichkeiten unfehlbar entwickeln mußte, gehindert haben könnte, verstimmte mich; er ließ mir keine Ruhe, und nach zwei Tagen sprach ich mit einem festen Entschlusse bei meinem Nachbar vor, sobald er Abends aus dem Dienst gekommen war. Er empfing mich so kühl und gemessen, wie ich es verdiente. Ich mußte gleich mit der Sprache heraus und ihn bitten, sich doch ja nicht meinetwegen stören zu lassen; ich verstünde die Lichtsprache nicht und würde, auf Ehrenwort, künftig mit keinem Blicke mehr darauf achten.

Der junge Mann lächelte und sagte, nachdem er sein Erstaunen darüber ausgedrückt, wie ich hinter das Einverständniß gekommen sei, nicht ohne doch wieder dabei zu erröthen:

„Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß ich mit Fräulein X…. andere als collegialische Gespräche geführt habe. Als guter College habe ich ihr das Morse-Alphabet eingepaukt, das war der ganze Zweck der Sache. Kurzes Licht bedeutete einen Punkt, längeres Licht einen Strich, längere Dunkelheit, daß ein aus Strichen und Punkten zusammengesetzter Buchstabe beendet sei, Licht aufheben, daß ein neues Wort anfange.“

„Ausgezeichnet,“ bemerkte ich, „aber diese Strich-Punkt-Sprache verstehe ich nicht, werde sie auch gewiß nicht lernen, um Sie etwa zu belauschen; also nehmen Sie ruhig Ihre Uebungsstunden wieder auf.“

„Das wäre überflüssig,“ erwiderte er schnell. „Fräulein X…. hat jetzt das Morse-Alphabet ebenso fest im Kopfe, wie ich selbst; es bedarf der Uebungen nicht weiter. Uebrigens bin ich Ihnen dankbar, daß Sie mich gewarnt haben. Der Scherz würde auch anderen Leuten aufgefallen sein, und wenn man der Sache heimlich weiter nachgeforscht hätte, wäre vielleicht ein Schatten oder ein übles Licht auf die junge Dame, welche die Ehrbarkeit selbst ist, gefallen, und ich wäre ganz untröstlich darüber gewesen.“

Wie sagt doch das Sprüchwort, aus dem Putlitz ein so hübsches Lustspiel gemacht? Mein Nachbar und sein Gegenüber hatten die Warnung unbeachtet gelassen; sie hatten mit dem Feuer gespielt und – Feuer gefangen. Nach wenigen Wochen erhielt ich eine kleine Karte: Emmeline X…., Adolph Y….., Verlobte. Ein halbes Jahr später habe ich die Hochzeit mitgefeiert, bin als Ehestifter bei Tafel öffentlich belobigt worden, ja sogar mitbesungen in dem Hochzeitscarmen eines eingeweiheten Poeten, der sehr rührend schilderte, wie Adolph und Emmeline nach kurzem Zusammenarbeiten auf demselben Bureau weit von einander getrennt wurden, wie Adolph aber eine Chambregarnie-Wohnung ihr gegenüber ausfindig gemacht, wie sich der Fernverkehr ausgebildet und wie mein plötzliches Dazwischentreten bei der nächsten Zusammenkunft zu dem Geständnisse getrieben, daß man nicht mehr ohne einander leben könne. So wurde Herrn Stephan eines seiner geschicktesten „Blitzmädel“ entführt.

An diese wahre Geschichte, die ich mit Erlaubniß des glücklichen Paares mittheile, wurde ich lebhaft erinnert, als ich vor einigen Tagen den Auszug eines Vortrages von Sir Will. Thompson über Leuchtthürme las, in welchem vorgeschlagen wird, diese Thürme möchten sich in Zukunft derselben Licht- und Schattensprache bedienen, wie unser Ehepaar, welches sie nun nicht mehr nöthig hat. Farbige Lichter zu Signalen, wie sie auf Eisenbahnen, Leuchtthürmen, Schiffen etc. bisher üblich waren, anzuwenden, schließt einen doppelten Nachtheil in sich. Einmal nämlich vermögen, wie die Erfahrung zeigt, nicht alle Menschen mit gleicher Sicherheit verschiedene Farben von einander zu unterscheiden, und die es vermögen, können diese Fähigkeit vorübergehend einbüßen, sodaß das Leben Tausender von einer keineswegs leicht controlirbaren Fähigkeit abhängig gemacht wird. Zweitens nehmen die farbigen Gläser, die man bisher vielfach auch auf Leuchtthürmen anwendete, dem Lichte mehr als die Hälfte, zuweilen fast zwei Drittel seiner Helligkeit, sodaß es höchstens halb so weit gesehen werden kann, wie das ungeblendete, weiße Licht, sei es nun elektrisches Kohlenlicht, wie es meist angewendet wird, oder ein anderes. Um nun aber auch ohne Anwendung farbiger Blendschirme das Licht verschiedener Nachbarleuchtthürme sicher von einander unterscheiden zu können, was ja, wie der Untergang des „Deutschland“ in lebhafte Erinnerung gebracht hat, in allen Meeresstraßen und Küstengewässern von höchster Wichtigkeit ist, haben schon vor einer Reihe von Jahren Major Bolton und Capitain Colomb das Strich-Punkt-System der Morse-Schrift vorgeschlagen, und zwar ganz in der Weise, die wir kennen gelernt haben, indem der Punkt durch eine augenblickliche, der Strich durch eine längere Lichterscheinung dargestellt wird. Man kann dies auf Leuchtthürmen leicht erreichen durch eine um das elektrische Licht langsam rotirende dunkle Trommel mit schmaleren und breiteren Ausschnitten.

Die allgemein eingeführte Morse-Schrift bezeichnet mit einer Kürze und einer Länge (· −) den Buchstaben A, mit einer Länge und drei Kürzen (− · · ·) den Buchstaben B, mit Länge, Kürze, Länge, Kürze (− · − ·) das C, mit einer Länge und zwei Kürzen (− · ·) das D etc. Durch Anwendung dieses internationalen Alphabetes könnte man also leicht jedem Leuchtthurme seinen besonderen Buchstaben geben, der dann auf den Karten als Chiffre eingetragen stünde, und, um dem Gedächtnisse zu Hülfe zu kommen, die aufeinander folgenden eines gefährlichen Ufers in alphabetarischer Reihenfolge aufführen, um dann jeden von ihnen in Lichtschrift die ganze Nacht wiederholen zu lassen: Ich heiße A, oder: ich bin der berüchtigte B, neben dem es so viele Klippen giebt – oder ich bin der bewußte C; komm’ mir Keiner zu nah’! etc.

Dieselbe Zeichensprache haben die Genannten vorgeschlagen, damit die sich begegnenden Schiffe miteinander aus der Ferne sprechen können, wobei des Nachts eine aufziehbare Laterne, des Tages eine Trommel, die sich verbreitert und zusammenlegt, die Strichpunktzeichen geben können. Natürlich muß hinter jeder zu einem Buchstaben gehörigen Zeichengruppe eine kleine Pause gemacht werden, damit die Zeichen nicht ineinander fließen. Diese Methode soll sich in der Praxis bereits so vortrefflich bewährt haben, daß man einzig bedauert, nicht auch über eine internationale Sprache, wie über ein internationales Schriftsystem zu verfügen.

Der Wunsch, durch Lichtsignale in die Ferne sprechen zu können, ist zu allen Zeiten durch kriegerische Unternehmungen wachgerufen worden. Man bediente sich derselben seit den ältesten Zeiten. Wir lesen in dem Agamemnon des Aeschylos, wie die Niederlage von Troja, durch Feuerzeichen von Vorgebirge zu Vorgebirge telegraphirt, noch im derselben Nacht den harrenden Argivern bekannt ward. Zu einer förmlichen Fackelschrift war dieses System bei den Medern und Persern ausgebildet. Bis zu den Grenzen des Reiches zogen sich von der Hauptstadt Reihen hoher Warten, auf denen durch Fackeln von bestimmter Zahl und Anordnung Zeichen von Station zu Station gegeben wurden. Während der Kriege legten sie in den eroberten Landestheilen ähnliche Feuerposten an, und so konnte, wie Herodot erzählt, Mardonius dem noch in Sardes weilenden Xerxes schleunig mittheilen, daß er Athen eingenommen. Die Rothhäute Amerikas, wie die alten Gallier bedienten sich derselben Feuersprache. Durch Zahl und Anordnung auf weitsichtbaren Höhen [198] angebrachter Feuer fragten sie einander: „Ist der Feind nahe oder verschwunden? Welchen Stamm sieht man?“ und wechselten Frage und Antwort.

Niemals in der Geschichte mag der Wunsch, durch Feuertelegraphie miteinander sich zu verständigen, lebhafter empfunden worden sein als in dem belagerten Paris. Alle Drähte und Leitungen, die nach außen führten, waren durchschnitten; wie herrlich wäre es gewesen, wenn man durch elektrisches Licht hätte mit den Umwohnenden in Verkehr treten und sich gegenseitig über die Köpfe der Belagerer hinweg seine Pläne, Fragen, Antworten, Verabredungen etc. mittheilen können! In der That bediente man sich damals elektrischer Lichtblitze zur Verständigung der Fortscommandanten unter einander, noch mehr freilich, um die nächtlichen Arbeiten des Feindes zu erkennen und den Geschützen ein sicheres Ziel aufzuspüren. Aber um unter den Augen der Belagerer und diesen unverständlich mit der Ferne zu correspondiren, hätte es einer verabredeten Geheimschrift bedurft, die den Morse-Zeichen auf Grund eines sogenannten Schlüssels fortlaufend eine andere Bedeutung gab, damit die Unterhaltung vor Aller Augen und doch einem Jeden unverständlich geführt werden konnte. Auf diesen schlauen Gedanken war man damals noch nicht gekommen, sonst wäre eher Aussicht gewesen, ein gemeinsames Vorgehen der eingeschlossenen und der Entsatzarmeen zu planen.

Aber die Erfahrungen dieser Belagerung haben hüben und drüben den Werth der Lichttelegraphie schätzen gelehrt, und seit jener Zeit haben besonders Siemens in Berlin und C. Léard in Algier Versuche über ein neues System der optischen Telegraphie angestellt, die zum Theil bereits zu werthvollen Ergebnissen geführt haben. Um von zwischenliegenden Bergzügen und Wäldern möglichst ungehindert in weite Ferne sprechen zu können, ist man beiderseits auf die Idee gekommen, den Himmel gleichsam als Schreibtafel zu benutzen und das elektrische Licht in Strahlenform durch parabolische Spiegel gegen den dunkeln Nachthimmel zu werfen. Namentlich wenn die Luft etwas dunstig ist, erscheint der Strahl des elektrischen Lichtes wie ein intensiv leuchtender Kometenschweif, und bei den Versuchen, die im vergangenen Jahre in der Siemens’schen Fabrik angestellt wurden, mag gar Mancher anfangs über den plötzlich zu Häupten der guten Stadt Berlin aufgetauchten Kometen erschreckt sein. Es ist nun klar, daß, wenn man einen solchen Lichtstrahl mittelst einer Blendklappe bald nur aufzucken und bald dauernder erscheinen läßt, daraus leicht eine Morse-Schrift hergestellt werden kann, wobei noch eine Vereinfachung der Zeichen durch Spiegeldrehung und wechselnde Richtung des Strahles herbeigeführt werden könnte. Das elektrische Licht für diese Versuche erzeugt man in ausnehmender Stärke mittelst der durch Dampf getriebenen magnetelektrischen Maschinen des Herrn Gramme in Paris oder des Herrn von Hefner-Alteneck in Berlin.

Die Versuche, welche Léard zu einer derartigen Verständigung zwischen dem Fort national und Algier anstellte, gelangen, obwohl sich zwischen beiden fünfundzwanzig Lieues von einander entfernten Orten ein zweihundert Meter hoher Bergzug erhebt, bei dunstigem Wetter ausgezeichnet; der von einem drehbaren Spiegel unter einem Winkel von vierzig bis fünfzig Grad gegen den Horizont aufwärts geworfene Strahl wurde bei jedem Aufzucken sofort auf der andern Station wahrgenommen. Bei hellem Wetter und Mondscheine war das Erkennen schwieriger und gelang dann mit wünschenswerther Sicherheit nur noch in einer Entfernung von zehn bis fünfzehn Lieues.[1]

Die feinen Nebeltheile, welche bei feuchter Luft auf dem Wege des Lichtstrahls vertheilt sind, machen sein Licht intensiver, ebenso wie der Sonnenstrahl, der durch ein Astloch in einen dunstigen Viehstall fällt, sich scharf im umgebenden Dunkel abzeichnet. Man darf daher wohl annehmen, daß sich dieses System besonders gut auf der See, über welcher meist eine feuchte Dunstschicht schwebt, wird anwenden lassen, z. B. zur Verständigung zwischen zwei Flottenstationen. Man hat auch versucht, das elektrische Licht zu färben, z. B. purpurroth durch Einstreuen pulveriger Strontiumsalze zwischen die Kohlenspitzen, und dabei sehr günstige Resultate erzielt, da sich solche Strahlen schärfer hervorheben, ohne an Helligkeit einzubüßen, wie sie thun würden, wenn man das Licht durch farbige Gläser gehen ließe.

„Da wären wir also,“ jubelt ein Archäologe, „richtig wieder zu der Feldtelegraphie der alten Meder und Perser zurückgelangt; die Schlange der Erfindungen beißt sich in den Schwanz; es giebt nichts Neues unter dem Monde.“ Und doch welch’ ein Abstand zwischen der alten Fackel-Telegraphie und den künstlichen Kometen, die als Kriegsboten dienen sollen! Schon in den Maschinen, die zur Erzeugung dieses Lichtes dienen, liegt ein solcher Berg menschlichen Scharfsinns und menschlicher Arbeit verwerthet, daß ich mir nicht getrauen würde, ihre Wirkung dem Leser deutlich zu machen, auch wenn ich noch ebensoviel Seiten zu meiner Verfügung hätte.

Im Uebrigen wird die Nacht-Telegraphie mit elektrischem Lichte immer nur ein Auskunftsmittel beschränkter Anwendung bleiben, für solche Fälle nämlich, in denen die elektrischen Telegraphen den Dienst versagen, weil man keine Drähte und Kabel haben kann. Aber die eigenthümliche Lage des belagerten Paris, in der nichts so hart empfunden wurde, wie die Abgeschlossenheit von der übrigen Welt, hat gezeigt, daß dieses Verständigungsmittel für belagerte Festungen immer von Werth sein kann, und daß man allerseits wohl daran thut, Versuche anzustellen.

Carus Sterne.


  1. Ich brauche die in dem französischen Berichte enthaltene Bezeichnung, weil ich nicht feststellen kann, ob die alte französische Meile (gleich viertehalb Kilometer) oder das einfache Kilometer, welches auch Lieue genannt wird, gemeint ist.




Bis zur Schwelle des Pfarramts.


IV. 4. Die Dogmatik und die moderne Weltanschauung.


Von Heinrich Lang in Zürich.


Unter den Vortheilen, die man aus dem Studium Lessing’s zieht, ist nicht der geringste der, daß man über die schwierigsten und verwickeltsten Fragen so rasch und sicher orientirt wird. Das gilt ganz besonders von den theologischen Dingen. Wie klar ist hier Lessing’s Stellung nach allen Seiten! Er achtete und haßte die Orthodoxie. Er achtete sie als ein Kunstwerk, welches die Frömmigkeit und der Scharfsinn vergangener Jahrhunderte in großem Stile aufgeführt, kein Werk von Pfuschern, sondern von Denkern, das verdiene gründlich studirt zu werden; er haßte sie als ein „Gebäude voll Unsinn“, soweit sie den Anspruch erhob, die Glaubensüberzeugung der gegenwärtigen Welt zu sein; er arbeitete daher mit allen seinen Mitteln an ihrem Sturze und begrüßte Alles, was diesen beförderte.

Aber nicht weniger als die Orthodoxie haßte er jene unter dem Einfluß der Aufklärung aufgenommene Gläubigkeit, die bei all’ ihrem Selbstruhm von Wissenschaft und Vernunft doch nur eine „schielende, hinkende, sich selbst ungleiche Orthodoxie“ ist und in dieser schwächlichen Halbheit „so ekel, so widerstehend, so aufstoßend“; er haßte die „neumodischen Geistlichen, die Theologen viel zu wenig und Philosophen lange nicht genug sind“, jenes vernunftgemäße Christenthum, bei dem man nur eigentlich nicht wisse, weder wo ihm die Vernunft, noch wo ihm das Christenthum sitze. Aus dieser doppelten Antipathie ergiebt sich von selbst die Forderung, welche Lessing an die Theologie stellt: Es geht nicht, an der Orthodoxie im Einzelnen zu flicken und äußerlich zu repariren, um dadurch das alte Gebäude für das jetzt lebende Geschlecht wieder wohnlich zu machen. Das giebt nur elende Halbheiten, schlechte grundsatzlose Vermittelungen, wobei immer beide, das Denken wie der Glaube, zu kurz kommen, weil sie einander auf allen Punkten abschwächen. Die Orthodoxie ist ein in sich zusammenhängendes, einheitlich ausgeführtes, wohldurchdachtes System, aber auf der Grundlage einer Vorstellungswelt, die nicht mehr die unsere ist, die morsch und faul geworden ist. Man muß sie deswegen ganz abtragen und an ihre Stelle ein ganz neues Gebäude setzen, in einem Styl, der aus dem Genius der neuen Zeit entspringt, ebenso [199] einheitlich, mit sich übereinstimmend im Ganzen und in den Theilen, wie es das frühere gewesen war. Lessing’s Forderung war nicht: keine Theologie mehr! So weit, wie die Aufklärung von heute, war er nicht. Seine Forderung war: eine neue Theologie, welche alle Fragen des Verstandes, die sich auf dem Grunde unserer religiösen Erfahrung im Zusammenhang mit unseren übrigen Welterkenntnissen erheben, von einer neuen Grundanschauung aus ebenso einheitlich, klar und bestimmt beantwortet, wie es die frühere von ihren Kenntnissen und Voraussetzungen aus gethan hatte.

Ich habe Lessing erst später, nach den Studienjahren, eingehender und gründlicher studirt, aber das war wenigstens die Richtung, in der ich lief, als in unserem Studiengang die Reihe an die Dogmatik kam. Zuerst wollte ich die Orthodoxie genau kennen lernen, nicht die verdünnte, abgeschwächte, verschämte, wie sie mir in den sich rechtgläubig oder positiv rühmenden Theologen meiner Zeit entgegentrat, sondern jene echte, ungebrochene, selbstbewußte, die mit Luther sprach: „Alles geglaubt oder nichts geglaubt; ist die Glocke an Einem Orte geborsten, so taugt sie überhaupt nicht mehr“, oder mit Quenstedt: „wenn in den canonischen Büchern Einiges nach Menschenart oder mit menschlicher Bemühung, nicht durch die Eingebung des heiligen Geistes geschrieben wäre, so käme das ganze Ansehen der Bibel in Gefahr; wenn ein einziges Verslein ohne den unmittelbaren Einfluß des heiligen Geistes geschrieben ist, so wird der Satan gleich bei der Hand sein, dasselbe vom ganzen Capitel, vom ganzen Buch, zuletzt von der ganzen Bibel zu sagen.“

Ich las die wahrheitsgetreue Darstellung der lutherischen Dogmatik von Schmid und legte daneben die großen, schweinsledernen Folianten von Calov und Quenstedt, um die Belegstellen aus den Quellen zu schöpfen. Das war freilich ein barbarisches Latein, durch welches man sich hindurcharbeiten mußte; das war eine Scholastik, so gräulich und ungenießbar, wie je die mittelalterliche gewesen war, so unfruchtbar für das Leben, wie für die Wissenschaft, weil diese Lehrer der Kirche, ihren Kopf auf ein altes Buch gedrückt, nichts von Allem sahen und sehen wollten, was rechts und links vorging, aber es war eine Ganzheit des Standpunktes, eine Tapferkeit des Glaubens, eine Folgerichtigkeit des Denkens, die sich Achtung erzwang. Man gebe mir nur zwei Dinge: das Weltsystem, welches die Phantasie des auf die Reformation folgenden Geschlechts trotz Copernicus und Galilei noch erfüllte, die in Himmel, Erde, Hölle dreigetheilte Welt und daneben das einzige Factum, den Fall des ersten Menschen im Paradiese mit seinen schrecklichen Folgen, und ich will die ganze Kirchenlehre, Dogma für Dogma, nachconstruiren. Die Welt hatte so schön begonnen, hervorgequollen aus Gottes Hand; der Geist schwebte über den Wassern, und des Ewigen Wort ertönte: es werde Licht! und aus der Reihe der Welten und Wesen, die diesem Rufe folgten, trat zuletzt der Mensch hervor, nach Gottes Bilde geschaffen, schön und gut, wie die ganze neuerschaffene Welt, der Herr der Erde und der Träger der göttlichen Gedanken. Aber unglücklicherweise fällt er in einer schwachen Stunde, verführt von dem Geist der Hölle, der auf die Erde züngelt. Mit einem Male verdunkelt sich die Welt. Das Paradies verschwindet; die Erde trägt Dornen und Disteln; mit der Sünde kommt der Schmerz, seitdem das Loos des Sterblichen, und am Ende der traurigen Bahn steht der Tod, der leibliche, und noch schrecklicher, der geistige, die Verdammniß, die der erzürnte Gott über das ganze kommende Geschlecht verhängt um der Sünde des Einen willen. Das Herz ist böse; die Vernunft ist verfinstert, der Wille verkehrt, und ein Geschlecht um das andere eilt der Hölle zu.

Aber während der Mensch sich hierunten vergeblich abringt mit seinem Loose, hebt im Herzen der Gottheit selbst ein Kampf an; die Liebe ringt mit der Gerechtigkeit. Die Liebe ruft Rettung; die Gerechtigkeit verlangt Sühne für die ganze, in’s Unendliche abgelaufene Sündenschuld. Wer soll die Sühne bringen? Der Mensch nicht, denn alle Menschen stehen ohne Ausnahme unter dem Bann der Sünde und des Fluches. Nur ein Gott kann es thun, aber ein Gott in Menschengestalt, damit, was er thut, den Menschen seinen Brüdern gutgeschrieben werden könne. Gott entschließt sich, Mensch zu werden, genügt dem Gesetze, das Adam verletzt hatte, durch ein schuldloses Leben, nimmt die Strafe der Sündenschuld auf seinen Rücken und schlägt sie an’s Holz in seinem Kreuzestode. „Es ist vollbracht,“ ruft er, „Satan, der Fürst der Welt, ist verurtheilt. Sünde, Fluch und Tod sind gerichtet; der Himmel ist wiedergebracht,“ und der Gottesheld steigt zuerst in die Behausungen der Todten, erbricht die Riegel der Hölle und kündigt den gefangenen Geistern die frohe Botschaft an, dann schwingt er die Siegesfahne über seinem Grabe und erhebt sich triumphirend wieder in den Himmel. Seitdem ist der Himmel wieder offen über dem sterblichen Geschlecht; die Gnade kann sich wieder in vollen Strömen ergießen, aber natürlich nur über diejenigen, welche die dargebrachte Sühne als eine auch für sie geschehene anerkennen, welche, verzweifelnd an sich selbst im Gefühle ihrer Schuld, das Verdienst jener erlösenden Gottesthat im Glauben ergreifen.

Das ist der phantasievolle Rahmen, in welchen die Kirche Dogma um Dogma eingefaßt hat, in welchen unsere Völker über anderthalb Jahrtausende ihre tiefsten Betrachtungen über Gott und Welt, ihre heiligsten Gefühle und erhabensten Stimmungen, ihr Hoffen und Lieben und Leiden hineingelegt haben – das größte Drama, das sich denken läßt, denn sein Schauplatz ist der weiteste: er umfaßt Himmel und Erde und Hölle, und sein Thema ist das größte: es ist der Mensch in seinem Ringen um sich und seinen Gott. Das größte Drama – und doch nur wie ein verklungenes Märchen aus der Jugendzeit für den gegenwärtigen Menschen, wie eine Göttergeschichte, der er sich erinnert in der Kindheit einmal mit begierigem Ohre und mit leuchtenden Augen gelauscht zu haben, die aber mit allen seinen jetzigen Welterkenntnissen und sittlichen Einsichten im grellsten Widerspruche steht. Mir machte es keine Mühe, sie abzuschütteln; ich war aus ihr hinausgewachsen, lange ehe ich sie zum Gegenstande des gelehrten Studiums machte; alles, was ich gelesen und getrieben hatte, fast die ganze neuere Literatur in Prosa und Poesie, athmete einen anderen Geist. Fast alle meine Studiengenossen hatten ihr Zweifeljahr; wie sie’s angriffen, die Vernunft zu geschweigen und zum „Glauben“ zurückzukehren, war mir unklar.

Aber ich wollte nicht blos überhaupt fertig sein mit der Orthodoxie. Der Theologe mußte sich Rechenschaft geben, warum er damit fertig sei und was er an die Stelle zu setzen habe. Ich nahm daher „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, dargestellt von Dr. David Friedrich Strauß. Zwei Bände, 1840“ vor mich. Das war einmal grüne Weide nach dem unfruchtbaren Acker der altkirchlichen Dogmatik. Ich kann mit Worten nicht ausdrücken, wie viel ich diesem Buche verdanke. Man sollte Keinen zum theologischen Examen zulassen, der sich mit demselben nicht gründlich auseinander gesetzt hat. Hier wird Dogma für Dogma von der Weltschöpfung an bis zum Weltuntergang, von dem Paradiese an, von welchem das menschliche Leben ausgeht, bis zu Himmel und Hölle, in welche es mündet, durch alle Stufen seiner Entwickelung, in seinen schüchternen biblischen Anfängen bis zu seinem Abschluß in der katholischen und altprotestantischen Kirchenlehre verfolgt; dann wird jeder Widerspruch, der sich gegen dasselbe erhoben hat, jeder Aufschrei der Vernunft, jede Klage des Gemüthes, jede Auflehnung des sittlichen Bewußtseins einzeln abgehört und zuletzt zusammengefaßt in der gewaltigen Stimme einer auf neuen Grundlagen ruhenden Wissenschaft und Bildung. Das ist nicht die Kritik des einzelnen Mannes, die dem Brunnenrohre gleicht, das jeder Knabe eine Weile zuhalten kann; das ist die Kritik der Jahrhunderte, der Geschichte selbst, die als ein brausender Strom heranstürzt, gegen den alle Schleußen und Dämme nichts vermögen.

Und dieses Geschäft, das wohl jeden Andern durch seine Einförmigkeit ermüdet hätte, wird hier mit einer immer gleichen Geistesfrische, mit stets wechselnden Darstellungsformen, mit so viel Geist und Geschmack, mit so viel künstlerischer Virtuosität zu Ende geführt, daß das gelehrte Werk der Wissenschaft fast zur angenehmen und erquickenden Unterhaltungslectüre wird. Ich las mit Lust und Aufmerksamkeit bis zu Ende. Das alte Götterbild lag zertrümmert zu meinen Füßen; ich hatte mit der Orthodoxie, und zwar nicht nur mit diesem und jenem an ihr, sondern mit der ganzen Weltanschauung, welche ihr zu Grunde liegt, für immer gebrochen, und ich wußte warum.

[200] Aber was an die Stelle? Die eine Forderung, welche Lessing gestellt hatte, war erfüllt: „Das unreine Wasser der alten Orthodoxie war völlig ausgegossen“, aber war nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet?

Das Wunderkind. Nach seinem eigenen Gemälde auf Holz übertragen von Gabriel Hackl.

Oder wo war das reine Wasser, in welchem es hinfort gebadet werden konnte? Mit anderen Worten: wo war die reinere Glaubensform, in welcher ein anders denkendes, von anderen Weltbegriffen beherrschtes Geschlecht demselben religiösen Triebe unserer Natur, denselben frommen Empfindungen, demselben Ringen des Gemüthes nach Heil und Versöhnung, welchem die Väter durch die Bilder und Vorstellungen der Orthodoxie genügt hatten, einen neuen, der Zeit entsprechenden Ausdruck gab? Lessing hatte gerathen, die alten Lichter fortbrennen zu lassen, bis die Sonne aufgehe. Strauß hatte die alten Lichter alle ausgelöscht, aber wo war die Sonne, die nicht nur den Geist erhellte, sondern auch das Gemüth erwärmte? Die, wie oft sie auch den Weg glücklich andeuteten, doch mageren, oft sterilen und abstracten Formeln aus der Hegel’schen Philosophie, welche Strauß am Schlusse eines jeden Abschnittes an die Stelle des zertrümmerten Glaubens setzte, konnten dafür nicht gelten.

Treffend hat ein neuerer Schriftsteller über Strauß geurtheilt: „Talentreicher, gelehrter, scharfsinniger, geschmackvoller ist Lessing nicht gewesen, aber er war gleichwohl die höher und origineller angelegte Natur. Es fehlte Strauß jene letzte Vertiefung des Geistes und Gemüthes, die volle Mitempfindung des menschlichen Wesens und Geschickes, die den Weisen, den Geschichtschreiber, den großen Forscher, den Gründer einer Schule, den Führer einer geistigen Genossenschaft kennzeichnet.“ Demjenigen, was die Völker suchen in ihren Religionen und Confessionen, oft im Lichte, oft auf dunkeln, verworrenen Wegen, ist Strauß, eine vorherrschend kritische und ästhetische Natur, nicht gerecht geworden.

Aber war denn jene zweite, positive Aufgabe, welche Lessing in Aussicht gestellt, Strauß nicht gelöst hatte, nicht anderwärts bereits gelöst? Alles wies auf Schleiermacher, der die Innigkeit und Wärme des religiösen Gefühls mit der Kraft und Freiheit der Wissenschaft in einem so seltenen Grade verbunden, der in seinem grundlegenden Werke aus den Jahren 1821 und 1822 „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“ den Versuch gemacht hatte, Religion und Christenthum im Einklange mit den Anforderungen der Wissenschaft der Zeit darzustellen. Es kostete viel Schweiß, durch das umfangreiche Werk sich durchzuarbeiten. Nach der anschaulichen Plastik des Straußischen Styles diese schwere Sprache, diese gewundene Darstellung, diese künstlichen Gedankenwege, diese spintisirende Reflexion! Aber der Gewinn war groß. Hier erschienen Religion und religiöse Gemeinschaft als wesentliche Factoren der menschlichen Natur und als weltbewegende Mächte in ihrer ganzen Tiefe und Bedeutung, aber [201] abgelöst von all den äußerlichen Uebernatürlichkeiten, durch welche die Orthodoxie sie ungenießbar gemacht hatte, und gleichsam vom Himmel auf den natürlichen Boden der Erde verpflanzt. Man

WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


befand sich in der tiefsten Berührung mit einem Unendlichen und hatte doch nicht nöthig, auf den natürlichen Zusammenhang der Dinge, auf die Gesetzmäßigkeit der Weltordnung zu verzichten.

Wohl versicherte der Theolog, daß sein Glaube mit der Philosophie nichts zu schaffen habe; er wolle nur das fromme Gefühl belauschen, seine Aussagen aufschreiben und in einen Zusammenhang bringen, aber zum Glücke lauschte er mit dem Ohre eines Philosophen, der an den großen Aufgaben der Wissenschaft selbstständig gearbeitet hatte. Das Universum, in das hier der Mensch gestellt wird, ist die Eine ungetheilte Welt des Copernikus, in der es kein Oben und Unten, kein Hüben und Drüben, daher auch keinen außerweltlichen Gott giebt. Der Gott, der hier regiert, kennt keine Wunder und keine vereinzelten Handlungen, wird ihm ja sogar das Prädikat der Persönlichkeit abgesprochen; seine Wirksamkeit erscheint nur in der Gesammtheit des endlichen Seins und der natürlichen Ursachen, so daß nie von einer Begebenheit die Rede sein kann, die ihren Grund nicht in dem von Gott gesetzten Zusammenhange der natürlichen Ursachen und Wirkungen hätte. Aus diesem Zusammenhange sucht der Theologe auch die Erscheinung Jesu Christi natürlich zu begreifen. Dieser ist ihm kein Wesen, das vom Himmel kommt und zum Himmel fährt, das vor seiner menschlichen Geburt schon irgendwie existirt hat und auf übernatürlichem Wege zur Welt kommt, sondern ein Erzeugniß der Schöpferkraft der gottbefruchteten Menschennatur, und sein einziger Titel ist: Mensch, der seiner Idee angemessene Mensch. So ist auch die Kirche nichts anderes, als eine Gemeinschaft von Menschen, welche den gottinnigen Geist Jesu Christi durch das Wort, durch gewisse sinnbildliche Handlungen, durch die Selbstdarstellung ihrer Persönlichkeit fortzupflanzen suchen.

Wie ängstlich auch Schleiermacher bemüht war, seine Ansichten den altkirchlichen Lehren anzunähern, was ohne Gewaltsamkeiten, Künsteleien, Widersprüche nicht abging, so hat er doch für Den, welcher einige Nebel und Schleier auf die Seite schieben kann, die sämmtliche Begriffswelt der überlieferten Theologie in dem einheitlichen Geiste einer neuen Welterkenntniß radical umgestaltet, und was einem Lessing als die Aufgabe der Zukunft vor Augen geschwebt hatte, das war hier in einem großartigen Versuche angestrebt worden. Ich schied von dem Meister, dem ich oft genug um seines Schaukelsystems willen böse geworden war, doch mit innigem Danke und großem Respecte. Das Urtheil über Schleiermacher steht heute noch nicht fest. Man liebt es, seinen Namen als ominös zu betrachten, und Strauß insbesondere war in seinen Urtheilen sehr unfreundlich gegen den auf dem Wege von den „Reden“ zur „Glaubenslehre“ zum Diplomaten umgewandelten Mystagogen, wie [202] er ihn nennt, und wandte auf ihn das sarkastische Wort aus Schiller’s Wallenstein an: „Und wer ihn eine falsche Katze schilt, der hat’s mit mir zu thun.“ Gewiß mit Unrecht. Der Briefwechsel (Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Berlin 1858) zeigt eine zwar sehr complicirte, aber lautere und gegen sich treue Individualität, und seine Handlungsweise in der gefährlichen Zeit der kirchlichen Reaction in Preußen offenbart einen Charakter, der mannhaft für seine Ueberzeugungen einsteht und immer der Freiheit dient. Die Zweizüngigkeit seines theologischen Systems ist nicht die Schuld seines Charakters, sondern die Folge seiner geistigen Ausrüstung und seiner Zeit.

Unter solchen geistigen Einflüssen – Strauß durch Schleiermacher ergänzt und Schleiermacher durch Strauß corrigirt – bildete sich der jugendliche Geist seine eigene Glaubenslehre, die freilich zum Glück bis auf den heutigen Tag noch nicht abgeschlossen ist; denn die Wahrheit hat das Vorrecht, immer noch einige Geheimnisse für sich zu behalten. Als ich meine erste Stiftspredigt gehalten hatte, nahm mich der mit ihrer Beurtheilung beauftragte Repetent (Staib) auf seine Studirstube und sprach die lakonischen Worte: „Das war keine Predigt – das ist ein Programm der modernen Weltanschauung.“




Bühnen-Erinnerungen.


5. Auch etwas aus alten Theaterzeiten.


Von W. Marr.


Nichts widerstrebt einem modernen Schriftsteller so sehr, als eine Arbeit mit einem Gemeinplatze zu beginnen. Es ist das so billig, so bequem, aber es klingt in unseren Tagen für jeden feingebildeten Leser doch oft geradezu unschön. Wüßte ich daher nur, wie ich mit guter Manier den sich mir gewaltsam in die Feder drängenden Gemeinplatze: „dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“ los würde! – Aber – da steht er ja schon auf dem Papiere. – Lassen wir ihn stehen, und verzeihe ihn mir der Leser!

Er drängte sich, wie gesagt, mir auf, der Gemeinplatz, als ich unlängst im Conversationslexikon von Brockhaus (ja wohl! von Brockhaus!), Ausgabe 1866, einige Daten, die mir entfallen waren, über den Sänger Julius Cornet nachschlagen wollte. Er stand nicht darin, der größte „Masaniello“ seiner Zeit, größer noch als Nourrit in Paris, für den Auber den Part componirt hatte. Sein derzeitiger Rival Bader, weit unter Cornet stehend in allen französischen charakterisirenden Opernpartien, erfreut sich eines ziemlich ausgedehnten Raumes. Cornet, die Zierde des Hamburger Stadttheaters, später dessen Director mit Mühling zusammen, dann artistischer Director der Wiener Hofoper – die in Rede stehende Ausgabe des Conversationslexikons schweigt über ihn. Es ist nicht die Schuld des Verlegers, sondern mehr die der Redaction. Wir von der Journalistik wissen ja, „wie’s gemacht wird“, wie die Virtuosen und Reclamehelden nie blöde sind, wenn es gilt, sich vorzudrängen, wie unzählige schon bei Lebzeiten „berühmt“ werden, während die Altmeister der Kunst warten müssen, bis sie eine mitleidige Feder nach dem Tode wieder zu Ehren und der Nachwelt in’s Gedächtniß bringt, was sie bei Lebzeiten waren. Ein gesanglicher und schauspielerischer Darsteller von Partien, wie Masaniello, Zampa, Fra Diavolo, Maurer, ein Opernregisseur, wie es keinen Zweiten gab, das war Julius Cornet, der halbe Welschtiroler, denn irre ich nicht, so ist Meran seine Heimath.

Bader z. B. sang die Schlummerarie in der „Stummen von Portici“ hinreißend schön, zehnmal schöner als Cornet, allein in dem ganzen dramatischen Theile der Rolle überragte ihn Cornet bedeutend. In der Wahnsinnsscene wurde Bader geradezu komisch. Georges Brown in der „Weißen Dame“ ist nur von Roger nach Cornet erreicht worden. Es giebt aber einen pietätvollen Bruchtheil im Publicum, und diese alten Herren und alten Damen werden mir freundlich zulächeln, wenn ich den Namen Julius Cornet nenne.

Aber ich nenne ihn gerecht und füge hinzu: er war abscheulich in allen Bellinischen Opern, das gesprochene Recitativ stand ihm, wie „Manschetten unserem Kater“, und die guten Braunschweiger irrten gewaltig, wenn sie sagten: „Wenn unser Cornet mäl keine S-t-imme mehr hat, dann wird er noch ein guter Schau-s-pieler.“ Nein! die gesprochene Rede stand ihm nicht zu Gebote, aber wo er singen konnte, da sang er darstellerisch. Nicht wahr, Ihr alten Theateronkel und Theatertanten, ich habe Recht?

Als er, es war in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, in Braunschweig engagirt war, hatte er natürlich die Opernregie. Es existirten damals vier Regisseure: Cornet für die Oper; für die Tragödie, Schau- und Lustspiel Heinrich Marr, Kettel und Gaßmann. Eigentlich aber nur zwei, Cornet und Marr, denn der heißblütige Marr, der keine Arbeit scheute in seinem Berufe und in diesem oft zum Fanatiker wurde, war – Dank der Bequemlichkeit seiner Collegen – das Factotum der nicht musikalischen Regie. Anfangs standen Cornet und Marr in dem zärtlichen Verhältniß zu einander, in dem Katze und Hund zu stehen pflegen. Der etwas sehr gallige Cornet bildete sich steif und fest ein, Marr wolle die Oper unterdrücken, zumal die Casseneinnahmen in jener Zeit dem Schauspiele günstiger waren als der Oper.

Wie es aber bei allen ganzen und vollen Charakteren zu gehen pflegt, wurden die Beiden, nachdem sie sich eine Zeitlang angeknurrt hatten, die besten Freunde. Diese Freundschaft ging zuletzt so weit, daß Marr Cornet half, die Oper zu insceniren, und Cornet sich nicht nur herbeiließ, für Immermann’s Trauerspiel in Tirol das reizende Lied:

„Ein Franzose wollte jagen
Eine Gemse silbergrau“

zu componiren, sondern auch in der Tragödie selber mit agirte und das Liedchen sang. Diese seltene Freundschaft zweier künstlerischer Extreme dauerte bis zum Tode Cornet’s. Sie gab in der Theaterwelt Gelegenheit, die beiden Dioskuren, deren Verbissenheit in ihrem Berufe bekannt war, „Barbarino“ und „Malvolino“ zu nennen, und zwar nach den beiden Banditen aus „Stradella“.

Ein seelensguter Schriftsteller in Hamburg hatte den Witz gemacht, und die Getroffenen waren die Ersten, die ihn belachten. Plaudern wir uns jetzt in das Jahr – ich weiß nicht, war es 1836 oder 1837 – zurück. Die genaue Jahreszahl thut in einer Unterhaltungslectüre auch nichts zur Sache. Cornet sowohl wie Marr waren bei Hofe „mißliebig“ geworden. Warum? Sehr einfach, wenn man bedenkt, daß sich das Hofleben jener Zeit wesentlich um das Theaterleben herum concentrirte. Herzog Wilhelm von Braunschweig ist einer der redlichsten Fürsten, welche je auf dem Thron gesessen haben. Ein Charakter ohne Falsch, das Beste seines Landes erstrebend, aber durch eine unglückliche metternich’sche Erziehung scheu und mißtrauisch gemacht. Da begab sich folgender Vorfall. Der Herzog war ein großer Theaterfreund und protegirte die Frau des Capellmeisters Methfessel, die Sängerin dieses Namens.

Während er sich im Zwischenact einer Oper mit dieser auf der Bühne unterhielt, ging der Vorhang in die Höhe, und das Publicum erblickte Fürst und Sängerin in der Conversation. – Aus diesem Zufall, der eine Mücke war, machte die Chronique scandaleuse einen Elephanten. Cornet, so hieß es, habe das Aufgehen des Vorhangs absichtlich zu früh angeordnet. Doch dies war noch nicht Alles. Einige Wochen darauf erschien dieser Vorfall in einer Pariser Zeitung auf das Gehässigste und Obscönste entstellt als „Correspondance de Brunsvic“. Der Verdacht der Autorschaft fiel auf Marr, weil dieser – o Kleinstädterei! – einige Jahre zuvor in Paris gewesen war und mit dem Kammerherrn von Bitter, seinem persönlichen Freunde und Famulus des Exherzogs Karl, verkehrt hatte. Umsonst protestirte Marr gegen diese Insinuation. Der Braunschweiger Hof ließ es sich nicht nehmen, daß Cornet und Marr unter einer Decke gegen den Herzog spielten, daß Jener das zu frühe Aufgehen [203] des Vorhanges im Zwischenact veranlaßt, Dieser die gehässige Correspondenz in das Pariser Journal geschickt habe.

Ich selbst, als Sohn Heinrich Marr’s, nahm bei einer späteren Anwesenheit in Paris (1845) Anlaß, der Sache auf den Grund zu kommen. Meine damaligen politischen Verbindungen erleichterten mir diese Mühe zwar, dennoch blieb dieselbe ohne positives Resultat. Eine Spur ließ mich auf den Grafen M. W. in Braunschweig schließen, der zu den Häuptern der „Carlisten“ des Herzogthums zählte. Eine andere schien anzudeuten, daß der bekannte diplomatische Consulent K. der Sünder gewesen sei. Eine dritte, nach journalistischer Anschauung wahrscheinlichste Spur besagte, daß irgend welche Privatbriefe aus Braunschweig an Herrn von Bitter gelangt seien, und daß dieser in Form einer Correspondenz die harmlose Scenerie ausgebeutet und entstellt habe. So viel kann ich beschwören: Mein Vater, Heinrich Marr, hatte nicht den mindesten, weder directen noch indirecten Antheil an der ganzen Affaire, und diese Affaire, daß der Herzog mit Frau Methfessel im traulichen tête-à-tête erblickt worden sei, ist von A bis Z erlogen. Dennoch lag es in den kleinstaatlichen Verhältnissen der damaligen Zeit, daß man ein concretes Etwas haben mußte für seinen Zorn. Dieses Etwas wurden Cornet und Marr. Die „Haupt- und Staatsaction“ des Hofes spitzte sich in Ermangelung zu lösender großer politischer Fragen in die allerhöchste Ungnade gegen die beiden Regisseure des Theaters zu.

Der Anlaß, wo sie zum Ausbruch kam, trat bald ein. Die Auber’sche Oper „Fra Diavolo“ war neu einstudirt worden. Cornet, zu dessen unerreichten Glanzpartien die Titelrolle gehörte, hatte die Inscenirung mit dem ganzen Eifer seines Wesens bewerkstelligt, und auf den Proben ging Alles, wie es in der Theatersprache heißt, „wie am Schnürchen“. Der Abend der Aufführung war da. Der Beifall des Publicums war stürmisch. Da, am Schlusse des letzte Actes, als Cornet als Fra Diavolo aufgetreten war, schoß ein Statist, der einen der Dragoner darzustellen hatte, sein Gewehr einige Minuten zu früh auf ihn ab. Das Publicum lachte; die ganze Illusion der Scene war zerrissen. Unser Cornet – nach einem hörbaren, nicht wiederzugebenden Kernfluche – wirft sein Gewehr wüthend auf den Boden und geht ab. Tumult auf der Bühne und im Auditorium. Der Vorhang muß fallen; die Vorstellung ist gestört. Die ganze Residenz, in welcher das Theater den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens bildete, war in Erregung.

Jetzt kommt von oben der Cabinetsbefehl, die Sache auf’s Strengste zu untersuchen und nach der ganzen Strenge der Gesetze zu ahnden.

Guter Rath war theuer. Der damalige Intendant des braunschweigischen Hoftheaters, Herr Baron Kammerherr von Münchhausen, schätzte Cornet seiner große Verdienste wegen und sah ihm manche Ausschreitungen seines heftigen, leidenschaftlichen Temperamentes nach. Diesmal aber war es zu stark. Die Unmöglichkeit, ihn nach dem Vorgefallenen zu halten, war eine allgemeine Ueberzeugung geworden. Außerdem war auf Specialbefehl des Hofes die Niedersetzung einer Commission befohlen worden, die den Sänger und Opernregisseur richten sollte. Die Commission bestand aus den Regisseuren Marr, Kettel und Gaßmann, sowie aus noch zwei anderen Mitgliedern der Bühne, deren Namen mir entfallen sind.

Es liegt bekanntlich in der menschlichen Natur, daß Hervorragung des Talents und der Arbeitskraft das Gefühl bewußten und unbewußten Neides erregt, und die völlig selbstlosen Charaktere sind an den Fingern herzuzählen. So war die Commission, welche über Cornet zu Gericht zu sitzen beordert war, mit Ausnahme Marr’s, aus instinctiven Gegnern des Verbrechers zusammengesetzt. Selbst der gutmüthige, joviale „alte Gaßmann“, mit seinem untermischten Plattdeutsch in der Unterhaltung, hätte schon aus Behäbigkeit keine Lanze für den Angeklagten gebrochen. Mit einer gewissen steifen Feierlichkeit empfing der Intendant die Jury und den Angeklagten im Intendanturbureau. Der Baron von Münchhausen trug den alten bekannten Fall nochmals objectiv vor; der Theaterconsulent, Dr. Duroi, ergriff die Feder zur „Führung des Protokolls“. – In jener Zeit grassirte die morbus parlamentaris noch nicht wie heute. Die Formalitäten, wo Einer um’s Wort bittet, ein Andrer Anträge, ein Dritter ein Amendement dazu, ein Vierter ein Subamendement zum Amendement stellt etc., waren ausgeschlossen. Alles geschah mehr en famille und patriarchalisch. Als der Intendant daher seinen Vortrag geendet hatte, erschöpften sich die Herren Geschworenen in Versicherungen des Bedauerns, daß sie über den „so lieben und werthen Collegen“ richten sollten.

„Mien leewe Cornet! Wenn der Herzog nur nicht –“ sagte Gaßmann.

„Seine Durchlaucht zwingt uns –“ meinte Kettel.

„Daß die Geschichte doch nur ganz am Schlusse der Vorstellung passirt wäre!“ rief ein anderer College.

„Oder lieber auf der Probe!“ brummte Marr ironisch vor sich hin.

So ging es fünf Minuten fort, bis Münchhausen die Herren ersuchte, sich formell auszusprechen.

Neues Bedauern. Neue Betheuerungen collegialischer Gesinnungen gegen den Angeklagten. Keiner wollte definitiv mit der Sprache heraus.

Da nahm Marr das Wort und verlangte, daß man zur Sache kommen sollte. Er schlug vor, daß Jeder der Reihe nach seine Meinung zu Protokoll gebe, und forderte Gaßmann als den Aeltesten auf, zu reden. Der Intendant machte den Vorschlag zu dem seinigen, und der Rechtsconsulent erklärte ihn als correct und geboten.

„Papa Gaßmann“ aber und die Uebrigen protestirten dagegen.

„Ich bin der jüngste Regisseur und das zweitjüngste Mitglied des Theaters hier,“ sagte Marr, „die Reihe ist an dem Aeltesten.“

Einstimmig forderte man jetzt Marr auf zu sprechen, und die Herzlichkeit der Collegialität wurde abermals mit einem fensterklirrenden Pathos betont.

„Schreiben Sie!“ sprach Marr zu Dr. Duroi.

Athemlose Stille.

Marr dictirte: „Ich erkläre hiermit, daß ich die Handlungsweise des Herrn Julius Cornet in der ††† Scene des dritten Actes der Oper ‚Fra Diavolo‘ unbedingt strafbar – – Haben Sie ‚strafbar‘?“ wandte er sich an den Protokollführer.

„Ja.“

„Strafbar, aber in jeder Beziehung erklärlich finde, indem der darstellende Künstler auf der Bühne nicht nur ein anderer Mensch als im gewöhnlichen Leben sein soll, sondern, wo er dazu noch Regisseur ist und sein künstlerisches Werk auch als solcher durch eine von ihm nicht verschuldete Handlung Anderer zusammenbrechen sieht, sehr wohl von seiner künstlerischen Stimmung fortgerissen werden kann. Ich füge hinzu, daß, so strafbar an sich ich die Handlungsweise des Herrn Cornet finde, ich keinen Anstand nehme zu erklären, daß ich in einem analogen Falle als Künstler und Regisseur nicht für mich einstehen könnte, ebenso – allerdings straffällig – zu handeln, wie es Herr Cornet gethan hat.“

Allgemeines Perplexsein.

„Ja, wenn man die Sache so auffaßt!“ verrieth Kettel seine geheimsten Gedanken.

„Ja, richtig is dat woll, aber –“ meinte Gaßmann.

„Mit dieser Erklärung wird sich Seine Durchlaucht nicht begnügen,“ sagte ein Dritter.

„Es ist meine persönliche Ansicht als Künstler und Regisseur,“ erklärte Marr. „Ich denke, wir sollen hier als Künstler urtheilen.“

„Sie haben es gehört, meine Herren,“ sagte der Intendant. „Herr Gaßmann, an Ihnen ist jetzt die Reihe.“

Gaßmann sah nach rechts und links, dann sprach er: „Als Künstler und Regisseur schließe ich mich dem Urtheile des Herrn Marr an.“

„Dann bitt’ ich, für mich dieselbe Erklärung abzugeben,“ sprach Kettel.

Die anderen zwei Collegen bequemten sich als „Künstler“ ebenfalls beizustimmen.

Dem Intendanten fiel ein Stein vom Herzen. Cornet war für dieses Mal gerettet. Der Baron dankte den Herren und wollte sie entlassen.

„Wir sind noch nicht fertig.“ nahm Marr das Wort.

„Wie so?“ fragte der Baron.

„Nach Paragraph (?) unserer Theatergesetze ist Herr Cornet [204] in eine Strafe verfallen, wegen Störung einer Vorstellung. Diese Strafe besteht, da sie zum ersten Male bei Herrn Cornet in Anwendung kommt, in einer Geldbuße von achtzehn Gutegroschen.“

„Soll das in’s Protokoll hinein?“ fragte Münchhausen erstaunt.

„Allerdings,“ versetzte Marr. „Der Herzog verlangt von uns streng sachliches Urtheil. Wir haben das Benehmen des Herrn Cornet für strafbar befunden und es nur als begreiflich erklärt. Dieser mildernde Umstand für den Künstler und Regisseur schließt die Strafbarkeit nicht aus. Dem Gesetze muß sein Recht werden, und ich verlange als Regisseur, der für die Aufrechthaltung der Theatergesetze mit verantwortlich ist, daß Herr Cornet die Strafe zahlt und daß im Protokoll davon Erwähnung geschieht. Gerade weil Seine Durchlaucht unser Protokoll verlangt hat.“

„Summum jus summa injuria.“ Correct in der Sache, ja, nach formellen Rechtsbegriffen unumgänglich nothwendig, mußten jene achtzehn Gutegroschen noch zu einer ‚Maus‘ der Ironie des ‚geschwollenen Berges‘ der Ungnade des Hofes werden. Man wollte Cornet mit Eclat stürzen und ‚achtzehn Gutegroschen Strafe‘ war die Antwort, welche dem Hofe einstimmig ertheilt wurde.

Kopfschüttelnd bequemte sich der Intendant diese Procedur protokolliren zu lassen. Dann hob er die Sitzung auf.

„Sie, Herr Intendant!“ sagte Cornet, der mit Marr bis zuletzt geblieben war, „das müssen’s doch sagen: Der Marr und ich, mir sein die einzigen G’scheidten bei der ganzen Bande.“

Diese Aeußerung kam allerdings nicht „in’s Protokoll“. Die Stimmung, welche dasselbe ohnehin bei Hofe erregte, kann man sich denken.

Wenige Jahre darauf nahm Marr ein Engagement beim Hoftheater in Weimar an, und Cornet übernahm mit Mühling zusammen die Direction des Hamburgischen Stadttheaters.

In den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts sah man Cornet’s Bild als „Masaniello“ auf Bonbons-Umhüllungen, auf Seifen- und Parfümerie-Cartons, auf Taschentüchern etc. Er hatte in seinem Fache einen Ruhm, wie ihn Wenige besessen haben. Er war weder ein Virtuose noch Reclamemacher und mit den Herren Recensenten lebte er auf einem nichts weniger als freundschaftlichen Fuße. – Und heute? – Schier vergessen ist er. Nicht einmal in der Ausgabe des obenerwähnten Conversations-Lexikons hat sein Name einen Platz gefunden. Aber es giebt gewiß noch hier und da manchen „alten Komödianten“, der sich seiner erinnern wird, manchen braven invaliden Capellmeister, der desgleichen thut, und manche alte Herren und ditto Damen, welche über die gute neue Zeit das Gute aus der „alten Zeit“ noch nicht vergessen haben und bei dieser „alten Zeit“ auch noch an Julius Cornet denken. Ihnen drücke ich diese Plauderei freundlich in die Hände.




Der Chamsihn in Kairo.


Von Adolf Ebeling.


Ueber den Chamsihn[1] – mit diesem arabischen Worte, das Fünfzig bedeutet, bezeichnet man gemeinhin den sogenannten „Wind der fünfzig Tage“, nämlich jenen heißen Wüstenwind in Aegypten, der mit Unterbrechungen fünfzig Tage lang weht, und zwar regelmäßig von Ende März bis Mitte Mai – sind vielfach die seltsamsten und widersprechendsten Gerüchte und Beschreibungen verbreitet worden, theils von Schriftstellern, die nicht an Ort und Stelle beobachtet, sondern nur aus älteren und keineswegs immer zuverlässigen Quellen geschöpft haben, theils von Reisenden selbst, die allerdings als Augenzeugen berichten und somit eine größere Glaubwürdigkeit beanspruchen. Aber gerade die Mittheilungen der Letzteren sind zumeist rein individueller Natur und deshalb oft zur Verschönerung der Situation übertrieben, obwohl auch wiederum nicht zu leugnen ist, daß die einzelnen den Chamsihn begleitenden Phänomene überaus verschiedene sind und nur höchst selten vereinigt auftreten. Da ferner den Erzählungen Anderer, in Bezug auf so Vieles im Oriente und also auch hier, nie recht zu trauen ist, so werde ich in meiner heutigen Arbeit mich einfach auf Dasjenige beschränken, was ich nun schon in zwei Chamsihnperioden selbst gesehen und mitgemacht habe.

Der Chamsihn kommt aus Südwesten von der Libyschen Wüste, und da diese mit der Sahara zusammenhängt, auch aus dieser. Der Samum ist ein ähnlicher Wind, aber der arabischen Wüste angehörend, der Syrien und Palästina heimsucht und während der ganzen heißen Jahreszeit weht, also nicht an bestimmte Monate gebunden ist, wie der Chamsihn. Mit Anfang März hört gewöhnlich der sogenannte ägyptische Winter auf, der übrigens diesen Namen gar nicht verdient, denn selbst in den kältesten Januartagen hält sich das Thermometer noch immer 3,4 Grad über Null, und auch das nur Morgens und Abends. Von zehn Uhr an wird es warm, und Nachmittags ist es geradezu heiß, wie bei uns in Deutschland im Juni, und der Europäer darf auf seinen Spaziergängen den Sonnenschirm nicht vergessen. Der Himmel ist fast durchweg heiter und wolkenleer, und Regentage gehören zu den Seltenheiten. Sie fallen aber gerade in die Monate Januar und Februar, doch sind es immer nur einzelne Schauer, die freilich manchmal zu einem halbstündigen Platzregen werden. Im Jahre 1874 hatten wir sogar zwei ganze Regentage, etwas Unerhörtes, was mich indeß, ehrlich gestanden, sehr anheimelte, denn man konnte sich wirklich nach Deutschland versetzt glauben. Bei dieser Gelegenheit kam auch der wichtige Punkt zur Sprache, daß es in den letzten Jahren in Kairo weit häufiger regnet, als früher, und daß der Grund hiervon hauptsächlich im Suezcanal zu suchen sei. In Oberägypten regnet es bekanntlich fast niemals, wohingegen in Alexandria die Regengüsse, wenigstens im Winter, ziemlich häufig sind.

Ist nun für Kairo die sogenannte Regenzeit vorüber, was stets gegen Ende März der Fall ist, so folgt ununterbrochen schönes Wetter, aber die Hitze ist während der nächsten zwei Monate noch immer erträglich, denn das Thermometer steigt im Schatten selten über 25 Grad Réaumur. Nur die Chamsihntage machen eine Ausnahme und zwar eine sehr lästige und manchmal sogar eine entsetzliche. Für den Araber und namentlich für den wüstenkundigen Beduinen giebt es verschiedene Erscheinungen, die dem Chamsihn voraufgehen und die im Allgemeinen untrüglich sind. Dahin gehört zunächst Abends vorher ein dunkelrother Sonnenuntergang, wobei die Sonne selbst als eine auffallend große, scharfgezeichnete goldgelbe Kugel in der Gluth steht, und alsdann während der Nacht ein seltsam verschleierter Himmel, der sogenannte afrikanische Höhennebel, durch den die Sterne nur mit ganz mattem Glanze hindurchschimmern. Finden sich diese beiden Symptome zusammen, so kann man für den nächsten Morgen mit Sicherheit auf den Chamsihn rechnen. Der Wind beginnt mit Sonnenaufgang und in der Regel bei ganz heiterm Himmel; er weht auch in den ersten Stunden nicht besonders stark (in Deutschland würde man einfach sagen: es ist diesen Morgen ziemlich windig), aber was das Eigenthümliche und zugleich Befremdliche ist: dieser Wind ist nicht kühl, sondern lauwarm.

Mit jeder Stunde steigt die Wärme um einige Grade, manchmal sogar um zwei Grad in der Viertelstunde, so daß gegen Mittag der warme Wind zu einem heißen geworden ist. Dann ist es hohe Zeit, namentlich für den Europäer, sich zurückzuziehen und zu Hause das Ende der Naturkrisis hinter dichtgeschlossenen Fenstern und Jalousien abzuwarten. Das Letztere ist schon deshalb nothwendig, weil der Wind in großer Menge seinen Wüstenstaub mit sich führt, der überall eindringt und sich nicht allein auf, sondern auch in alle Möbel legt, was, beiläufig gesagt, eine sorgsame deutsche Hausfrau in Verzweiflung bringen könnte, an das wir uns hier aber längst mit Resignation gewöhnt haben. Der Himmel hat jetzt eine bleigraue Farbe angenommen, die nur in der Gegend der Sonne einen großen, etwas lichteren Kreis zeigt; oft brechen auch einzelne Strahlenbündel [205] durch, etwas glanzlos und fahl; sie flattern minutenlang hin und her und verschwinden dann wieder in dem allgemeinen Grau.

Die Hitze ist draußen mittlerweile auf dreißig und zweiunddreißig Grad Réaumur gestiegen, wohlverstanden auf einem dem Winde nicht direct ausgesetzten Thermometer; hängt man es auf die Windseite, so erreicht man leicht siebenunddreißig und sogar vierzig Grad Réaumur. Um Alles zu versuchen und aus eigener Erfahrung berichten zu können, ließen wir uns einst an einem starken Chamsihntage nur einige Minuten vor die Stadt fahren, und zwar in südwestlicher Richtung nach der Wüste hin, von wo der Wind kam. So lange wir durch die Häuserreihen von Fagalla geschützt waren, fanden wir die Luft nur drückend schwül, aber als wir bei einer Wendung des Weges in’s Freie gelangten, schlug uns eine trockene heiße Luft erstickend entgegen, wie aus einem Dampfbade. Die Pferde schnaubten und beugten sich instinctiv zur Erde; kleebeladene Kameele, die zufällig vorüberzogen, thaten dasselbe, und die auf ihnen sitzenden Treiber hatten sich mit ihrem blauen Baumwollenhemde den Kopf dicht verhüllt. Die Wüste selbst, sonst so heiter und licht, dehnte sich wie ein unabsehbarer dunkelgelber Ocean aus und im Hintergrunde ragte das Mokkatamgebirge, das sonst gleichfalls immer so farbenhell herüberleuchtet, wie eine düstere Schattenwand. Wir machten Kehrt, denn wir hatten an dem Erlebten genug, und zu Hause angekommen, mußten wir uns noch mit dem arabischen Kutscher zanken, der für die viertelstündige Fahrt zehn Franken verlangte. Länger als zwölf Stunden weht aber der Chamsihn niemals, denn er hört stets mit Sonnenuntergang auf und fängt oft erst Nachmittags an. Der Vollmond zeigt manchmal nach einem Chamsihntage einen außerordentlich großen Hof von intensiver Helle, der gegen Mitternacht mehr als die Hälfte des ganzen Himmelsgewölbes einnimmt, ein prächtiges Phänomen, wie es in unseren nördlichen Gegenden niemals vorkommt. Ueber Nacht kühlt sich alsdann die Luft um wenigstens zehn Grad und mehr ab, und am andern Morgen ist Alles wieder in seinem normalen Zustande.

Das ist mit wenigen Worten der gewöhnliche Verlauf eines Chamsihntages; in der Stadt selbst, vorzüglich in den engen Straßen der arabischen Viertel, spürt man, außer der Hitze und dem Staube, davon wenig, und die Eingeborenen lassen sich auch dadurch in ihrem täglichen Verkehre nicht weiter abhalten. Sie rauchen, trinken Kaffee, schwatzen und machen ihre großen und kleinen Geschäfte, ab wie immer, und in der Muskih, der Hauptstraße von Kairo, herrscht dasselbe bunte orientalische Gewühl wie sonst, nur daß man keinem Europäer sieht.

Etwas Anderes ist es freilich, wenn der Chamsihn mit außergewöhnlicher Gewalt losbricht, wo alsdann alle ihn begleitenden Erscheinungen ebenfalls in höchster Potenz auftreten. Gottlob sind diese Tage äußerst selten, aber sie sind dafür auch um so furchtbarer. In dieser Beziehung wird uns der vorjährige griechische Charfreitag (30. April 1875) unvergeßlich bleiben. Der Morgen zeigte nichts Ungewöhnliches und ließ den gewaltigen Chamsihnsturm des Nachmittags gar nicht ahnen. Auch die obenerwähnten Vorzeichen waren ausgeblieben: ein Beweis, daß dieselben nicht nothwendig bedingt sind. Gleich nach Mittag verfinsterte sich plötzlich die Luft, die bis dahin ganz rein und heiter gewesen, und nach wenigen Minuten brauste bereits ein heftiger Wüstenwind über Kairo. Bald darauf fand ein seltenes und sehr eigenthümliches Phänomen statt: es wurde nämlich wieder hell, aber von einer unheimlichen schwefelgelben Helle, die mit jeder Viertelstunde zunahm und zuletzt so intensiv wurde, daß die geblendeten Augen davon schmerzten. Mittlerweile war der Wind zum Sturm gewachsen, und gegen drei Uhr wüthete ein entfesselter Orkan.

Unser hoch- und freigelegenes Haus schien in seinen Grundvesten zu beben, wobei ich allerdings bemerken muß, daß hier zu Lande überaus leicht und ohne eigentliche Fundamente gebaut wird (wenigstens nach unseren deutschen Begriffen), schon weil man im Orient keine Keller hat. Ich stand am Fenster, das so sehr schütterte, daß ich alle Augenblicke fürchtete, die Scheiben würden zerdrückt werden, und schaute, wirklich nicht ohne Angst, in den Aufruhr der Natur hinaus. Die hohen Dattelpalmen bogen sich dergestalt, daß ihre gefiederten Kronen fast die Erde berührten, und von den platten Dächern wehten die großen und kleinen Holzgerüste, die zum Wäschetrocknen, zu Verandas und Lauben dienen, wie Spreu umher. Und dabei immer der schwefelgelbe, gespensterhafte Schein, der sich sogar auf den Gesichtern der Menschen widerspiegelte, so daß man, wenn man sich gegenseitig ansah, meinte, alle Welt habe die Gelbsucht. Natürlich nur wir Europäer, denn die braunen und schwarzen Gesichter der Aegypter blieben, wie sie waren.

Die Sonne stand wie ein Mond am Himmel, matt und glanzlos, was ich schon deshalb erwähne, weil ich in vielen Chamsihnschilderungen immer die Sonne als eine dunkelrothe, glühende Scheibe geschildert gefunden habe, eine Form, welche niemals beobachtet worden sein soll, wenigstens nicht in Kairo. Vielleicht kommt sie in Ober-Aegypten und in der Wüste selbst vor. Entschieden war aber die ganze Luft elektrisch, obwohl es weder blitzte noch donnerte, aber einzelne leuchtende Funken schienen dann und wann tropfenweise aus der Höhe herabzufallen. Daß übrigens der Chamsihn oft von elektrischen Erscheinungen begleitet ist, haben neuere Forschungen constatirt. Auffallender Weise war es diesmal nicht außergewöhnlich heiß, wie sonst an Chamsihntagen, denn das Thermometer zeigte während der ganzen Katastrophe nicht über 25 Grad Réaumur. Allerdings war auch der März in diesem Jahre so kalt gewesen, wie man sich dessen kaum erinnerte.

Gegen fünf Uhr Nachmittags hörte der Orkan plötzlich auf und zwar so plötzlich, daß schon zehn Minuten später die Natur vollständig beruhigt erschien. Außerhalb der Stadt hatte der Chamsihn, wie wir am nächsten Tage erfahren, entsetzliche Verheerungen angerichtet. Viele der großen Nilakazien und Sykomoren, mit denen die nach den Pyramiden von Gizeh führenden Dämme besetzt sind, waren entwurzelt, die Dämme selbst an vielen Stellen unterwühlt und zerrissen; glücklicher Weise war der Nil längst in sein normales Bett zurückgetreten, sonst hätte man ein noch weit größeres Unglück zu beklagen gehabt. Die am Fuße der Pyramiden zerstreut liegenden Dörfer hatten gleichfalls sehr gelitten, und nicht wenige Fellahwohnungen waren buchstäblich fortgeweht. An den Pyramiden selbst war freilich auch dieser Orkan spurlos vorübergegangen; sie mögen im Laufe ihres fünftausendjährigen Bestehens wohl noch ganz andere Schrecknisse erlebt haben. Jedenfalls gehört für Kairo dieser Chamsihntag vom 30. April zu den schlimmsten seit langer Zeit.

Soviel über den Chamsihn als Wüstenwind, aber es giebt noch eine andere, ziemlich häufig vorkommende Erscheinung, die ganz in dasselbe Gebiet gehört und die wir zur Vervollständigung unserer Arbeit nicht mit Stillschweigen übergehen dürfen: das sind die Chamsihntage ohne Wind, und gerade in diesem Jahre haben wir deren schon mehrere gehabt. Bestimmte Vorboten eines solchen Tages fehlen, soweit ich in Erfahrung bringen konnte, gänzlich. Die Sonne geht heiter und schön auf, wie fast immer in Kairo, und die Temperatur ist durchaus normal. Aber nach einigen Stunden bedeckt sich der Himmel, nicht mit Wolken, sondern mit einem halb durchsichtigen, mattgelben Schleier, der die Sonne nicht ganz verhüllt, sondern nur ihre Strahlen bricht, daß alle Gegenstände wie im Dämmerlichte erscheinen und nur einen schwachen Schatten werfen, ähnlich etwa wie bei einer Sonnenfinsterniß. Bei vollkommen ruhiger Luft steigt nun die Temperatur äußerst schnell, oft in einer Stunde um 10 Grad, bis auf 30 und sogar auf 35 Grad Réaumur, aber diese Wärme hat seltsamer Weise nichts eigentlich Drückendes und Schwüles; man möchte sie am passendsten mit derjenigen eines starkgeheizten Zimmers vergleichen. Bei leichter Kleidung und wenn man sich keine starke Bewegung macht, erträgt sie sich sehr gut, und da sie nur höchstens sechs bis acht Stunden dauert, so kann sie auch nicht in die Häuser dringen.

Am interessantesten ist an einem solchen Tage die Wüste. Sie dehnt sich in verschiedenen Farbenabstufungen, vom zarten Lichtgelb bis zum dunkeln Braun, unermeßlich hinaus zum fernsten Gesichtskreise; tausende von Wüstengeiern schweben in sanften Kreisen über ihr, und die beladenen Kameele durchziehen sie in langen Reihen, wie dunkle Schatten. Plötzlich entsteht ein leiser Staubwirbel; erst zierlich und kaum bemerkbar, wächst er mit jeder Secunde, und nach wenigen Minuten führt er als eine gigantische Dampfsäule dahin: eine Windhose. Manchmal, wenn sie recht groß ist, reißt sie plötzlich mitten aus einander, und der obere Theil steigt wie ein ungeheurer Ballon in die Lüfte, wo er alsdann noch meilenweit als eine dunkelbraune Sandwolke [206] fortgetragen wird. Dieses Schauspiel kann man an solchen Tagen oft sehen, und es ist im Ganzen ungefährlich, da man den Wirbeln leicht ausweichen kann. Sie ziehen auch paarweise und manchmal sogar zu mehreren dicht neben einander, aber alsdann in kleineren Dimensionen, über die weite Fläche und verleihen der sonst so todten und einförmigen Wüste ein eigenthümliches Leben. Abends ist dann der Himmel wieder schleierartig bedeckt, und rund um den Horizont zieht sich ein breites violettblaues Band, im Westen wegen der untergegangenen Sonne von brandrothen Streifen durchzogen, ein wunderschöner Anblick, der namentlich die Landschaftsmaler entzückt, obwohl

Die eingestürzte Elb-Eisenbahnbrücke bei Riesa. Nach einer photographischen Aufnahme.

diejenigen, die es nicht mit eigenen Augen gesehen, ein solches Bild übertrieben und unnatürlich nennen würden.

Nach dem 15. Mai weht kein Chamsihn mehr; der Wüstenwind, der sich nach dieser Epoche oft erhebt, ist kühl und deshalb sehr willkommen, wie überhaupt die Luft der Wüsten an sich niemals schwül und drückend ist.

Ist die Chamsihnzeit vorüber, so kommt der eigentliche Sommer mit seinen ununterbrochen heitern Tagen, so ununterbrochen, daß das ewig schöne Wetter nicht allein monoton, sondern fast langweilig wird, und daß man mit Sehnsucht der heimathlichen Gewitter und ihrer erfrischenden Regengüsse gedenkt. Doch unveränderlich steht immer, Tag für Tag bis Ende October, dieselbe strahlende Sonne am wolkenlosen Himmel und bannt uns für die Mitte des Tages unerbittlich an das Haus. Freilich läßt sie dafür die köstlichen Südfrüchte reifen: Datteln Bananen, Feigen und Orangen, und wenn man daheim in Deutschland die Oefen zum Einheizen herrichtet, beginnt für uns hier in Kairo ein herrlicher Frühling mit frischbelaubten Bäumen und grünenden Saaten.




Der Einsturz der Riesaer Eisenbahnbrücke.


Noch nie ist der deutsche Eisenbahnbau von einer Katastrophe betroffen worden, wie derjenigen des Einsturzes der Riesaer Elbbrücke. In den vierzig Jahren, die seit der Erbauung der ersten Eisenbahn in unserem Vaterland verflossen sind, ist noch kein größeres Bauwerk in einer Weise beschädigt oder zerstört worden, daß Zweifel darüber entstanden wären, ob die ausführenden Techniker alle das Bauwerk sichernden Vorsichtsmaßregeln getroffen haben.

[207] Die Leipzig–Dresdener Eisenbahn, die erste größere Bahn, welche in Deutschland für den Dampfbetrieb vollendet wurde, war von Anfang an so gut gebaut worden, daß die Gesellschaft mit Recht bei der Feier ihres fünfundzwanzigjährigen Bestehens den Umstand hervorheben konnte, daß bis dahin noch kein Passagier sein Leben auf der Bahn verloren habe. Die Elbe wurde von dieser Eisenbahn etwas unterhalb Riesa überschritten. Die Brücke, welche zu dem Zwecke erbaut werden mußte, wurde schon im Jahre 1836 begonnen. Sie hatte zwei Land- und elf Flußpfeiler, also zwölf Brückenöffnungen von zusammen einer Länge von sechshundertvier Ellen oder circa dreihundertvierzig


WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


Meter. Diese zwölf Brückenöffnungen wurden durch einen hölzernen Oberbau überspannt, welcher im Jahre 1866 von den Sachsen durch Feuer zerstört wurde. Man beabsichtigte dadurch den anrückenden Preußen das Vordringen zu erschweren. Die Erfahrung, das heißt die nachfolgenden Ereignisse, haben seitdem zur Genüge bewiesen, daß die Zerstörung ein eitles Beginnen und keineswegs im Stande war, den „Feind“ aufzuhalten.

Nachdem eine provisorische Brücke die Verbindung für den Eisenbahnverkehr sofort wieder hergestellt hatte, befaßte sich die Direction der Leipzig–Dresdener Eisenbahn ernstlich mit der Aufgabe, die alte Brücke durch eine unzerstörbare eiserne Construction zu ersetzen. Außer den Brücken für den Bahnbetrieb stellte die Eisenbahngesellschaft auf Verlangen der Regierung aber gleichzeitig eine Fahrstraßenbrücke her. Die zwei Eisenbahngleise lagen je in einer besonders erbauten Construction, während die Straßenbrücke ebenfalls dicht an diese ersteren herangerückt wurde, sodaß nun drei Brücken, dicht neben einander gelegt und doch voneinander getrennt, den Strom überspannten. Die Straßenbrücke lag stromaufwärts, die beiden Eisenbahnbrücken stromabwärts. Die Anlage dieser dreifachen Brücke hatte natürlich zur Folge, daß die alten noch stehenden Brückenpfeiler der verbrannten Brücke nicht mehr Auflager genug lieferten, um sie alle drei gleichmäßig zu tragen. Die Pfeiler mußten daher, wo deren Stellung für den Neubau überhaupt passend war, erweitert werden. Die alten Brückenpfeiler waren auf Pfahlrost fundirt und hatten, als der Bau der neuen Brücke begann, über vierunddreißig Jahre gestanden, manchen Eisgang, manches Hochwasser gesehen, ohne auch nur eine Spur von nachtheiligen Folgen solcher Naturereignisse zu zeigen.

Ob aber diese bewährten Pfahlroste sich noch als fest und unverletzt erweisen würden, wenn unmittelbar neben denselben Pfähle zu neuen Rosten, um die verlängerten Pfeiler zu tragen, eingerammt werden würden, war eine sehr zweifelhafte Sache. Außerdem war ein freies Handeln für Ramm-Maschinen durch die auf den alten Pfeilern ruhende Interimsbrücke sehr gehindert, wenn stellenweise nicht unmöglich gemacht. Aus diesen Gründen wahrscheinlich entschloß man sich, statt neue Pfahlroste neben [208] den alten einzurammen, die verlängerten Pfeiler auf ein Betonfundament zu stellen. Das Mauerwerk der alten Pfeiler wurde schichtenweise ausgestemmt, um eine enge Verbindung der anzubauenden Pfeiler mit einander zu ermöglichen, und daß dies gelang, beweisen die Trümmer der geborstenen Pfeiler. Die die verlängerten Pfeiler umgebenden Spundwände sollten außerdem das Betonfundament unter denselben gegen Unterwaschungen schützen. Der Brückenbau schritt rüstig vor; die Brücke wurde im Herbst letzten Jahres dem Verkehr definitiv übergeben. Während des Baues, welcher jahrelang andauerte, zeigte sich nie ein Merkmal von schwacher Fundirung, sondern die Brücke schien sicher und fest auf ewig erbaut.

Die Elbe beschreibt in ihrem Laufe unterhalb Riesa einen großen Bogen, in dessen Scheitel etwa die Brücke den Strom überschreitet. Die Folge von diesem Umstande ist, daß die Elbe ihre Wasser mit mehr Macht dem linken (Riesaer) Ufer zutreibt, als dem rechten. Daher auch zieht sich die Schifffahrtsstraße daselbst näher dem linken Ufer entlang, und es stellte sich heraus, daß es eine sehr große Erleichterung für die Schifffahrt sein müßte, wenn die zwei ersten (linksuferigen) alten Brückenpfeiler aus dem Strome entfernt werden könnten, wenn also an dieser Stelle statt drei Brückenöffnungen eine einzige das Schifffahrtswasser überspanne.

Deshalb wurden die beiden ersten alten Pfeiler nicht mehr dazu verwendet, die neue Brücke zu tragen. Statt der zwölf Brückenöffnungen der alten Brücke erhielt die neue nun am linken Ufer zwei gemauerte Brückenbogen mit etwa je fünfzehn Meter Spannweite, dann eine Oeffnung von zweiundneunzig Meter und am rechtsuferigen Ende der Brücke drei Oeffnungen von je dreißig Meter. Dieser schloß sich ein durch steinerne Bogen hergestellter Viaduct von ferneren drei Oeffnungen an. Die Spannweite von zweiundneunzig Meter überschritt die beiden ersten Flußpfeiler, welche entfernt werden sollten, sowie die Brücke fertig wäre; diese Pfeiler lagen etwa ein und ein Viertel Meter unter der neuen eisernen Brücke. – Am 19. Februar dieses Jahres war zu Riesa eine Conferenz der Betriebs-Ingenieure der Leipzig–Dresdener Bahn, um den Fahrplan für den kommenden Sommer zu berathen. Die Techniker der Bahn benutzten aber zugleich auch die Gelegenheit, den wild unter der Brücke durchbrausenden Eisgang der Elbe zu beobachten. Keinem von Allen zeigte sich nur das kleinste Merkmal von Senkungen an den Brückenpfeilern. Mag es nun sein, daß der Eisgang, welcher zur Weihnachtszeit von 1875 oder in den ersten Tagen des eben stattfindenden Eisganges zwischen den zwei ersten alten Brückenpfeilern einen vorübergehenden Eisschutz gebildet hatte, oder daß der Strom selbst, wilder als sonst im Bogen dahinbrausend, sich stärker dem Riesaer Ufer zugewandt hatte, – um neun Uhr Abends des 19. Februar hörte der Weichensteller zunächst der Brücke plötzlich ein seltsames Klingen, und bevor er nur sich erdenken konnte, was das Klingen und Reißen bedeuten könnte, prasselte die stromaufwärts gelegene Straßenbrücke am linken Ufer nieder, und gleich darauf stürzte die ganze zweiundneunzig Meter lange Brückenspannung in den wild schäumenden Strom. Ein Zug, welcher auf dem nächst der Brücke gelegenen Riesaer Bahnhof eben nach Dresden abfahren wollte, konnte noch bei Zeiten von der eingetretenen Katastrophe benachrichtigt und dadurch ein vielleicht schreckliches Unglück und hundertfacher Tod verhindert werden.

Die Fahrbahn und das Trottoir der gestürzten Straßenbrücke war aus Bohlen fest auf die eisernen Träger angebolzt, sodaß sogar durch den Sturz nur wenig Bohlen sich lösten, die meisten aber noch mit dem Eisenwerke eng verbunden blieben. Diese Bohlen nebst den Eisentheilen bildeten plötzlich quer durch den Strom hindurch einen acht Meter hohen Damm, über welchen sich die braunen Wasser des Stromes nur theilweise wie über ein hohes Wehr hinabwälzten. Theilweise drängte dieser eiserne Damm den Strom nach der Stelle, wo er allein einen Ausweg finden konnte, nach dem rechten Ufer zu, und erzeugte gegen den Pfeiler, welcher dort die zweiundneunzig Meter langen doppelten Eisenbahnträger trug, einen ungewöhnlich starken, gurgelnden, wühlenden Strom. – Dieses Stürzen der Wassermassen über den im Strome ragenden Brückentheil, dieses Hinüberdringen ungewöhnlicher Wassermengen gegen den einen Pfeiler, spülte und untergrub das Fundament desselben in solcher Weise, daß nicht nur die neue Betongründung des verlängerten Pfeilers vollständig unterwaschen, sondern daß der Pfahlrost des alten Pfeilers selbst wahrscheinlich vollständig losgespült wurde.

Zu diesen Arbeiten des Wassers gehörte natürlich Zeit, und so ging es auch bis zum Abend des 22. Februar, wo der bedrohte Pfeiler borst und zusammenbrach und die eine zweiundneunzig Meter lange Eisenbahnconstruction ebenfalls prasselnd, ächzend und zuckend in den Strom hinunterstürzte, während die andere Brückenspannung sich auf die zwei noch stehenden alten Flußpfeiler niederließ, so daß sie jetzt aussieht, wie ein verwundetes Ungeheuer, welches sich auf ein Knie niedergelassen hat. Fast jeden Augenblick glaubt man zu sehen, daß auch die letzte Kraft dasselbe verläßt und es ebenfalls das nasse Grab seines Genossen aufsucht. Beim Hinuntersinken dieses jetzt auf den alten Brückenpfeilern schief ruhenden Brückentheiles verlor das rechtsuferige Ende desselben den Stützpunkt und knickte daher am zweiten Brückenpfeiler steil ab, wie solches auf unserer bildlichen Darstellung des zerstörten Prachtbaues sich richtig darstellt. Die wilden Wassermassen arbeiten und spülen nun immer noch weiter und bedrohen auch die bisher unversehrt gebliebenen Pfeiler, sodaß die Direction der Bahn sich veranlaßt sah, mit Hülfe der Genie- und Pionierabtheilungen der Armee die angestrengtesten Versuche zu machen, den ferneren Verheerungen zu steuern.

Dem Ingenieur ist nun nicht nur die Aufgabe gestellt, die Brücke durch eine neue zu ersetzen, sondern vor Allem die kolossalen Eisenmassen, die wild durcheinander gemischt im Strome liegen, theilweise auch noch mit dem auf den alten Pfeilern ruhenden Brückentheile in verhängnißvollem Zusammenhange stehen, aus dem Flusse zu entfernen. Gerade der Theil des Stromes, in welchem die Brückentheile liegen, ist, wie wir im Eingange nachgewiesen, derjenige, in welchem die Schifffahrt sich bewegt; er sollte also möglichst rasch geräumt oder der Strom provisorisch abgeleitet werden.

Die ganze Brücke hatte folgendes Gewicht: die zwei Eisenbahnbrücken von zusammen zwei Oeffnungen zu je 92 Meter und sechs Oeffnungen zu je 30 Meter hatten ein Gewicht von 19,500 Centner; die Straßenbrücke von einer Oeffnung zu 92 Meter und drei zu 30 Meter wog 11,719 Centner, im Ganzen also belief sich das Gewicht der sämmtlichen Brückentheile auf 31,219 Centner. Von diesen Eisenmassen liegen circa 19,000 Centner über- und untereinander geschoben im Strome und hängen etwa 2,500 Centner auf den alten Pfeilern.

Den eigentlichen Grund der Katastrophe wird wohl erst eine genaue Untersuchung des Flußbettes ergeben, wenn die tiefen Kolke, welche der Strom gewühlt hat, nicht alles Erforschen von vornherein unmöglich machen. Die Erfahrungen, welche man an der Elbe in einer Reihe von über fünfunddreißig Jahren bei der alten Riesaer Brücke gemacht, ließen nicht auf eine solch außergewöhnlich wühlende Thätigkeit des Stromes schließen, wie er sie dieses Frühjahr entwickelt; wäre eine solche Erfahrung auch aus grauer Vorzeit bekannt gewesen – wir sind fest davon überzeugt – die technische Leitung der Eisenbahn hätte alle Mittel zu Hülfe gezogen, um ihr theures Bauwerk dauernd gegen jede solcher Möglichkeiten zu sichern.

Rich. Bl–.




Ein Wunderkind. (Zur Illustration Seite 200 und 201.) Gabriel Hackl, der Schöpfer des heute von uns mitgetheilten reizenden Bildes, ist ein geborener Oesterreicher, erhielt aber seine Ausbildung in dem Atelier des ausgezeichneten Malers Professor Piloty in München, dessen feine Auffassung und Compositionsgabe auf ihn übergegangen zu sein scheint. Dafür spricht unser „Wunderkind“. Man betrachte die äußerst gewandte Gruppirung des Bildes! Der kleine Virtuos hat die Ehre, sich vor den versammelten Vettern und Basen produciren zu dürfen, seine Kunst scheint aber in den Zuhörern sehr getheilte Empfindungen hervorzurufen. Während die Mutter nicht ohne Selbstgefühl mehr auf das Urtheil der Verwandten, als auf die von dem jugendlichen Geiger hervorgezauberten Töne zu lauschen scheint, giebt sich der Onkel, rechts vom kleinen Künstler, dem stillen Genusse der Klänge hin, die jüngere Generation am andern Ende des Tisches aber ist mit dem Lobe des talentvollen Musikers weniger karg und ermuntert ihn durch anerkennende Zurufe. Einen humorvollen Contrast hierzu bilden die gleichgültig dreinschauenden Kindergestalten.




Kleiner Briefkasten.


A. R. in Brünn. Daß der Chef-Redacteur unseres Blattes zur Abwendung der in Oesterreich über die Gartenlaube verhängten Postdebit-Entziehung persönlich in Wien gewesen und sogar bei Ministern und anderen hohen Herren antichambrirt habe, wie Wiener Blätter mit Angabe höchst komischer Einzelheiten berichten, ist nichts als ein eitel Märchen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Aussprache ist eine doppelte: Schamsihn und Kamsihn.