Die Gartenlaube (1875)/Heft 35
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No. 35. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
Mit großer Anstrengung war es Sylvest allmählich gelungen, außer der Hütte, die keinen Schutz mehr bot, einen festen Standpunkt zu gewinnen, der es ihm möglich machte, den Zustand des Fahrzeuges näher zu beobachten; trotz seines Muthes gewahrte er mit Schaudern, daß es eigentlich durch nichts mehr zusammengehalten wurde, als durch die Wucht der eigenen Schwere, jeder verstärkte Windstoß, jeder dadurch gesteigerte Wellenanprall konnte es völlig auseinander treiben und das schauerliche Grab unter seinen Füßen öffnen.
Aber diese Verstärkung, diese Steigerung schien ausbleiben zu wollen.
„Was ist denn das?“ rief Sylvest und richtete sich hoch auf, wie um zu horchen. „Das ist ja gar, als wenn der Wind umspringen wollt’. Es ist wahrhaftig so; die Scheer’ fangt auf einmal schneller zu treiben an. Wir müssen in die Ammergüsse hineingekommen sein. Wenn es uns vielleicht dem Gestad’ zutreiben thät! Heiliger Gott! Wenn wir vielleicht doch noch hinaus kommen sollten!“
Behutsam ließ er das noch immer halb bewußtlose Mädchen am Thürgerüste nieder und schwang sich mit der Schnellkraft erneuter Lebenshoffnung auf das schwankende Hüttendach, um einen weiteren Ausblick zu gewinnen, sofern dies bei der herrschenden Dunkelheit möglich war.
Ein Freudenschrei entrang sich unwillkürlich seiner Brust, als er die Warte erreicht hatte; dort in grauem Dunkel, wohl noch weit entfernt, aber seinem scharfen und geübten Auge vollkommen erkennbar, ragten schwarze Gestalten in lang gedehnter Reihe empor; es waren Bäume, und die Reihe, die sie bildeten, war das Gestade, das sie besäumten. Sturm und Gestöber hatten nachgelassen. Der erst gegen Mitternacht erscheinende Mond erhellte unsichtbar das Gewölk, und in seinem matten Scheine trieb die lecke Scheere zwar langsam, aber entschieden den Bäumen zu.
Ein Stück Brett, von der Hütte losgerissen, diente Sylvest dazu, den Gang zu beschleunigen und wie mit einem Steuer zu leiten – noch einige bange Minuten – da verrieth ein starker Stoß, daß das seichte Wasser erreicht war und das Fahrzeug den Grund berührt hatte; es krachte und schütterte in allen Fugen, aber es hielt. Wenige Augenblicke noch, und Sylvest hatte, die Strandfuhrt durchwatend, seinen Schützling an’s Ufer getragen.
Es war in der Nähe eines Dorfes. Ueber die schwarzen Baumgerippe stieg ein uralter Kirchthurm finster empor; unter denselben verkündete das erhellte Fensterchen einer Hütte, daß dort ein wachend Menschenauge den vorigen Tag noch nicht beschlossen oder den neuen bereits begonnen habe.
Es währte geraume Zeit, bis Kuni sich ganz zu sammeln vermochte und die volle unglaubliche Wirklichkeit der unerwarteten Rettung begriff. Dann hatte sie keinen Ausdruck für das Glück, das in ihre Seele einzog, als dieselben Thränen, welche die Boten ihrer Verzweiflung gewesen. Sie fiel auf die Kniee nieder; sie faßte den sicheren festen Boden mit beiden Armen an, um sich zu vergewissern, daß nicht mehr das entsetzliche Fahrzeug unter ihr schwanke, daß nicht mehr ein dünnes schwankes Brett sie vom Abgrunde trenne. Dann hob sie die Arme zum Himmel empor und stammelte nur ein paar Mal ein halblautes „Dank, Dank!“ in denselben empor. Sie fand keine Worte für all die Gedanken und Gefühle, die mit Einem Mal auf sie einstürmten. Es war dunkel und feierlich in ihr wie eine Sommernacht, aber erhebende Vorsätze durchfunkelten, schöne Entschlüsse durchblitzten sie, hell und klar wie die Gestirne derselben. Thränen erleichterten ihr endlich die Brust, als sie des Vaters gedachte, dem sie wiedergegeben war, und der unsäglichen Freude des Wiedersehens.
„Freust Dich, Mädel?“ fragte Sylvest, der indeß den Floß so gut wie möglich befestigt hatte und eben wieder zurückkam. „Hast auch alle Ursach’ dazu. Die Fahrt macht uns so leicht Niemand nach; es ist schier ein Wunder, daß wir so davon gekommen sind. Du mußt gut steh’n mit Deinem Schutzengel, Mädel, denn mit mir, glaub’ ich, hätt’ sich Keiner so viel Müh’ gegeben.“
Kuni’s Brust war voll bis zum Zerspringen. Sie wollte überströmen von Dank, aber es war etwas in ihr, was den Strom hemmte, daß er nur innen wie gefangen auf- und niederwallte und nicht nach außen zu dringen vermochte. Verwundert und wie erwartend, sah Sylvest sie einige Augenblicke an, dann deutete er nach dem erleuchteten Fenster und fuhr gelassen fort:
„Ich mein’, Du solltest dort in das Haus geh’n und eine warme Nachtherberg’ suchen. Ich sorge, Du könntest sonst krank werden von dem Schrecken, von der Nässe und Kälte; es sind ordentliche Leute, bei denen Du gewiß gut aufgehoben bist. Kannst ja sagen, daß Du Dich verirrt hast und in einen Graben [582] gefallen bist. Es braucht Niemand zu wissen, wo wir heute Nacht miteinander gewesen sind.“
„Und Du, Du?“ brachte Kuni endlich mühsam hervor.
„Ich? Ho, mir schadet’s so leicht nicht – ich bin’s gewöhnt,“ sagte er, „ich will noch nach dem Scheerfloß umschau’n, damit es ihn nicht wieder losreißt, dann will ich auf den Schlösselhof geh’n, will beim Bauern an’s Fensterl klopfen und ihm sagen, wo er Dich finden und abholen kann morgen in der Früh’.
Er schritt während dieser Worte vor ihr her dem Hause zu; sie folgte schweigend.
Auf sein Klopfen erscholl bald Antwort; eine Stimme wurde laut und fragte, wer zu so ungewohnter Zeit noch Einlaß begehre; er flüsterte ihr zu, selbst zu antworten, damit Niemand wisse, daß sie einen Begleiter gehabt und wen. Sie that es, halblaut und unsicher, und bald kam von innen der Bescheid, daß rasch geöffnet werden solle. Kuni hatte ihren Namen genannt, und die Stimme konnte sich schon jetzt nicht genug verwundern, daß „ein solches Leut“ zu solcher Zeit an die Hütte komme.
Sylvest und Kuni standen vor der Thür nebeneinander. Jedem war es um’s Herz, wie wenn noch etwas unter ihnen besprochen werden müsse, ehe sie, wer weiß auf wie lange, auseinander gingen. Aber Keines vermochte den rechten Anfang zu finden, und als Sylvest endlich doch den Mund öffnen wollte, um ihr zu sagen, daß die Feindschaft, die sie beide im Angesichte des Todes aufgegeben, auch aufgegeben sein solle gegenüber dem neugewonnenen Leben – da knackte der Holzriegel an der Thür und scheuchte ihn hinweg.
Er sprang seitwärts in’s Dunkel und hatte nur noch eben Zeit, Kuni ein flüchtiges „Behüt’ Dich Gott!“ zuzurufen.
„Behüt’ Dich Gott!“ sagte Kuni leise. „Behüt’ Dich Gott – und …“
Der Nachsatz blieb ungesprochen. Die Frau des Hauses erschien auf der Schwelle und ließ, um sich zu vergewissern, daß keine Täuschung obwalte, den vollen Schein des hoch emporgehobenen Spahnlichtes auf Kuni fallen, daß sie wie in einer verklärenden rothen Beleuchtung stand, welche alle Zeichen und Erinnerungen der ausgestandenen Schrecknisse verschwinden machte. Mit angehaltenem Athem lauschte Sylvest in seinem Verstecke, bis mit dem Verschwinden des Lichtes das schöne Bild verflog, gleich einem vom Himmel zuckenden Sternschuß.
Eine Weile wartete er noch und lauschte den Stimmen, die er drinnen murmeln hörte. Da sich bald nichts mehr regte, mochte der Gast wohl gute Aufnahme gefunden haben. Da ging auch er langsamen Schrittes unter den dürren Bäumen dahin, dem Lande und der Richtung zu, wo die Straße sich hinziehen mußte. Als er zurücksah, blinkte noch Licht in dem Hause, aber nun kam es von einem anderen Orte her, offenbar aus dem Fenster der Kammer, welche Kuni zur Nachtherberge angewiesen worden war.
Er stand und schaute und sann einen Augenblick – ihm war, als habe er etwas Wichtiges vergessen und müsse noch einmal umkehren. Zufällig glitt ihm das Tuch, das ihm Kuni umgebunden hatte, von der Stirn und schien ihm den Grund dazu recht buchstäblich in die Hand zu geben; er bedurfte des Verbandes nicht mehr. Das Blut hatte die Wunde verklebt und vertrat dessen Stelle. Schon erhob er den Fuß zur Umkehr, als er das am Tuche klebende Blut gewahrte. „So kann ich das Tüchel doch nicht zurückgeben,“ sagte er, wie entschuldigend zu sich selbst, indem er es sorgsam in die Tasche schob, „ich muß es doch erst waschen lassen.“
Eilend verschwand er in der Nacht; je weiter er aber kam, je langsamer wurde sein Schritt; die Gedanken und Erinnerungen der durchlebten Nacht hefteten sich daran, wie sich dem Waldwanderer eine Dornhecke anhakt und ihn zwingt, daß er still stehen und sich von ihr ablösen muß. Auch der Abend vom Erlinger Loostanze kam ihm in den Sinn und die Weise des Liedes, das dort erklungen war. Er konnte die Töne nicht aus dem Sinne bringen und summte sie halb unbewußt vor sich hin. Das bittere Gefühl, daß nach einem solchen Zusammentreffen das Auseinandergehen ein anderes hätte sein müssen, hatte die Oberhand behalten –
„Wo die Brennnessel wachsen,
Ist für’s Grasel kein Platz,
Und der Hund thut halt bellen
Und miau schreit die Katz’.“
Auf dem Schlösselbauernhofe war es schön.
Es war so schön, wie damals, als der alte Hochzeitlader geritten kam, nur war es eine Schönheit anderer Art; damals war der Sommer in letzter Pracht zur Neige gegangen, jetzt quoll des Frühlings erste Herrlichkeit aller Enden hervor. Die ältesten Leute besannen sich kaum, jemals einen so schönen „Auswärts“ erlebt zu haben und einen so baldigen obendrein. Obwohl erst der Hornung zu Ende ging, war auf den Hängen und Breiten überall der Schnee bereits gewichen und hatte nur noch in Hohlwegen oder an schattigen Waldrändern einzelne verlorene Posten zurückgelassen. Ueber Bäumen und Sträuchern lag jener zarte Schimmer von Grün, der überall das Hervorbrechen und theilweise Aufgehen der Blattknospen verkündet; an den Weidenzweigen krochen die wollenen Kätzchen hinan, und hier und da, an besonders sonnigem Bühel lugten schon einzelne Kirschblüthen vorwitzig in die gleich ihnen aufknospende Frühlingslandschaft. Der Ammersee spiegelte einen kühlen, aber lichtblauer Himmel ab, durch welchen oben zarte weiße Duftwölkchen schwammen, während unten die Möven und Geier mit blitzenden Schwingen dahin schossen, als wollten sie ersetzen, was jenen an Schnelligkeit abging. Das Gebirge freilich trug noch die Eiskronen um den Scheitel, aber darüber wob sich ein kaum durchsichtiger Schleier, jener weiche wonnige Duft, der das Geheimniß eines neuen Werdens verkündet, indem er es verhüllt.
Um den Hof, der trotz des hohen Standortes eine wohlgeschützte warme Sonnenlage hatte, war es besonders freundlich; die Linden an der Rückseite hatten schon dicke Knospen, und die Schlehenhecke, welche sich darunter als Umzäunung hinzog, begann ihre Zweige mit den weißen Silberstiften ihrer Blüthenaugen zu beschlagen; der Schafbub aber, der eben aus dem Hause auf die Gräd kam, hatte um seinen alten verblichenen Hut einen Kranz goldiger Schlüsselblumen von der Weide heimgebracht.
Der Bub trug einen Teller mit Brod und Gläsern und eine Flasche Kranewitter, denn auf der Gräd saß der Schlösselbauer wieder bei einem Gaste und vor derselben stand wieder das Wägelchen bereit, wie damals zur Fahrt nach dem Diessener Markte; der Gast aber war Niemand anders, als der kundige Bader, der von dem besorgten Vater um die Gesundheit und den Gemüthszustand seiner Tochter befragt worden war und längst den unfehlbaren Heiltrank aus den Frühjahrskräutern gebracht hatte, die noch niemals so frühzeitig, aber eben deshalb auch niemals so kräftig zu haben waren, wie diesmal. Jetzt im Auswärts hatte er alle Hände voll zu thun, denn die Landleute halten darauf, daß ein Aderlaß zu dieser Zeit die größte Wohlthat sei, die man sich selber anthun könne; auf einer seiner Wanderungen mit Schnepper, Blutschüssel und rother Binde hatte der Bader auch wieder beim Schlösselbauer vorgesprochen, um sich nach dem Erfolge seiner Arznei zu erkundigen.
„Wir müssen das Beste hoffen,“ sagte der Bauer, indem er die Gläser füllte, „bis jetzt hat sich noch nicht viel spüren lassen von einer Besserung; ich bin schon zufrieden, weil es nur nicht ärger geworden ist. Sie ist noch die alte Sinnirerin wie zuvor und noch stiller, wenn’s möglich ist, aber im Ganzen kommt sie mir doch ein wenig frischer vor, und wie neulich das Ladschreiben gekommen ist, daß es nun doch noch etwas wird mit der Heirath von dem Zachariesel, dem ewigen Hochzeiter, mit der Grubenmüllertochter, da ist es mir schier vorgekommen, als wenn sie lachen wollte.“
„Wird schon noch kommen, das Lachen,“ entgegnete der Bader wichtig und versteckte das Kinn in dem hohen Halstuche, das er trug, „meine Mixtur ist gerade besonders auf das Lachen berechnet. Wird schon noch kommen; das Lachen sitzt eben im Zwerchfelle, und so lange die Milz nicht frei ist von betrübten Dünsten, und so lange die Galle die Oberherrschaft hat, kann das Zwerchfell nicht erschüttert werden – ergo! Aber wo ist denn die Patientin? Ich möchte sie wohl sehen, ihr den Puls fühlen und auch linguam, zu deutsch: die Zunge betrachten.“
„Ich glaub’ nit, daß sie sich vor Euch sehen läßt,“ sagte der Bauer kopfschüttelnd, „sie will von Euch und Eurer Medicin nichts wissen, und ich hab’ ihr zureden müssen mit Teufelsgewalt, daß sie sie nur eingenommen hat. Wie sie Euch vorhin hat kommen sehen, ist sie in ihre Kammer hinauf und hat gesagt, [583] sie müßt’ sich anziehen und will heut’ recht lang dazu brauchen; ich soll Euch nur sagen, daß sie unter anderthalb Stunden nicht herunter kommt.“
„So lange kann ich freilich nicht warten,“ rief der Bader ärgerlich, „sie ist menschenscheu. Hm, ein auffallendes, ein bedenkliches Symptoma! Wird wohl nöthig sein, daß ich ein ander Mal wiederkomme und den visum rupertum einnehme.“
„Jetzt seid Ihr auf den rechten Tupfer gekommen,“ entgegnete rasch der Bauer. „Leutscheu ist sie und darum bin ich ihr auch nicht entgegen gewesen. Es hat mich ohnehin genug gewundert, daß sie mit auf die Hochzeit fahren will. Wenn ich ihr jetzt zureden wollt’, daß sie zu Euch herunterkommen sollt’, ich glaub’ sie wär’ im Stande und thät’ noch im letzten Augenblicke umsatteln, sperrt’ sich in ihre Kammer ein und blieb daheim.“
„Da will ich ja nicht aufhalten und mich auch wieder auf den Weg machen,“ sagte der Bader und schickte sich an, sein Gläschen auszuschlürfen. „Gute Unterhaltung brauch’ ich Euch nicht erst zu wünschen, denn bei der merkwürdige Hochzeit ist schon dafür gesorgt, daß es an Unterhaltung nicht fehlt.“
„Mir ist immer noch, als wenn’s nicht wahr wär’,“ rief der Bauer, indem er sich anschickte, seinem Gaste das Geleit zu geben, „es ist schon gar zu oft wieder zurückgegangen – ich glaub’s nit, bis ich die zwei mit einander vor’m Altare stehen seh’.“
„Nein, diesmal wird’s doch schon richtig werden,“ meinte der Bader, „diesmal haben sie’s ganz fest gemacht. Erst hat’s freilich geheißen, sie sind ganz auseinander, weil die Braut ohne den Bräutigam in die Stadt hinein gereist ist und einen Faschingstanz mitgemacht hat und weil der Bräutigam mit demselbigen Geometer eifert, der im vorigen Jahre auf Vermessung da gewesen ist. Ihr kennt ihn vielleicht auch; er ist immer ganz schwefelgelb angezogen, wie ein Canarienvogel. Da haben sie es ihm ausgedeutscht, daß ja der Vater auch mit auf dem Faschingstanz gewesen ist, und weil der Zachariesel seine Heimath schon verkauft hat und in das Mad’l verschossen ist, wie ein Narr, haben sie sich wieder zusammen gebandelt. Und damit das Bandel ganz gewiß nicht reißen kann, haben sie ausgemacht, daß heute die Hochzeit sein muß, und wenn sie nicht sein sollt’, so muß derjenige, der daran schuld ist, dem Andern zweitausend Gulden Reugeld zahlen – ergo!
„Das ist freilich ein anderes Kraut,“ rief der Schlösselbauer, „das Bandel wird wohl halten, bild’ ich mir ein. Ich will froh sein für den Grubenmüller, wenn er seine Tochter glücklich unter die Haube gebracht hat, ich sag’s, wenn man so ein Dirnl im Haus’ hat, da kann Ein’ sein Leben freuen.“
Die einmal angeschlagene Saite wollte nachklingen und ein paar benachbarte mitschwingen machen, da stand der Bauer plötzlich, wie von einem Zauberstabe berührt, mit offenem Munde still; auch der Bader hielt auf den Stufen des Antritts im Fortschreiten inne. Starr blickten Beide nach einem Fenster im oberen Stocke empor, das zwar geöffnet, aber durch Töpfe mit grüner Hauswurz und überwintertem Rosmarin verdeckt war.
Eine singende Mädchenstimme klang glockenhell in den Frühlingsmorgen hinein; was sie sang, war nicht verständlich, aber es war eine muntere Weise, die nur zu munteren Worten und Empfindungen stimmen konnte.
„Ja, wie geschieht mir denn eigentlich?“ sagte der Bauer unsicher, „das ist ja die Stimm’ von der Kuni – ich glaub’ gar, meinem Dirnl ist der Gesang wieder ’kommen … Bader, wenn das wär’, wenn da Dein Tränkl d’ran schuld wär’ – im Feuer lass’ ich Dich vergolden.“
„Was sollte es sonst sein,“ entgegnete der Bader stolz und ließ das Kinn abermals in die Halsbinde untertauchen. „Ich hab’ es ja gesagt: das Lachen wird noch kommen – ich kenne meinen extractus herbaricus, der ist unwiderstehlich … ergo –!“
Droben klang die singende Stimme fort; es war wirklich Kuni, welche so frisch sang, als habe sie selber Freude daran, daß der so lange gesungene Ton noch in alter Fülle vorhanden sei. Nicht die Beiden allein horchten darnach; auch der Schafbub’ sah in die Höhe und suchte, woher das Klingen komme; aus dem Kuhstalle aber guckte der Kopf einer Magd, die mit der Milchgelte in der Hand vom Melkstuhle aufgesprungen war. „Sie ist es wirklich,“ jubelte der Bauer, griff in die schon zum Hochzeitsbesuche gefüllte Tasche und drückte dem Bader in die Hand, was ihm eben selbst in die seinige kam. „Bader, Du bist ein Tausendsakra – da trink’ Dir einen Rausch und komm’ auch auf die Hochzeit! Der Schlösselbauer zahlt Alles.“
Er rannte in’s Haus und der Treppe zu, um sich auch durch den Anblick der Sängerin zu überzeugen, welch’ günstige Veränderung mit ihr vorgegangen sei. Der Bader trat seine Wanderung an, indem er die empfangenen Geldstücke prüfend in die Tasche gleite ließ. „Drei Kronenthaler,“ murmelte er vergnügt, „das ist nobel, aber mein extractus herbaricus, ist es auch. Ergo!“
Dem Bauer wurde der Weg erspart, denn als er die Treppe erreichte, kam ihm Kuni schon auf den letzten Stufen entgegen, vollständig und in den höchsten Staat gekleidet, im reich mit Silberketten und Silbermünzen verschnürten Mieder, buntem Halstuch und zierlicher Spitzenschürze, auf dem Kopfe aber, statt des Pelzmützchens, einen Zweig von Rosmarin, gleich einem Kranze durch die lichtbraunen Flechten gezogen. Offenbar hatte sie ungewöhnliche Sorgfalt auf den Anzug verwendet: sie wollte schön sein, und sie war es auch, daß der Vater aus der ersten Verwunderung in eine zweite fiel und darüber die Hände zusammenschlug.
„Ja, Dirnl,“ rief er. „Was ist denn mit Dir? Was hast denn im Sinne? Du bist ja aufgeputzt, als wenn Du selber die Hochzeiterin wärst.“
„Ich wüßt’ nit, daß ich anders wär’ als sonst,“ entgegnete sie zurückhaltend, aber nicht unfreundlich, „wenn ich einmal eine Kranzeljungfer sein soll, so muß ich mich doch anlegen darnach.“
„Gewiß, gewiß,“ sagte er hastig, „ich möcht’ auch nit, daß Du es anders machen thätst. Aber das alte schwarze Betbuch, das Du in der Hand hast, schickt sich zu dem Gewand’, wie die Faust auf’s Aug’. Warum nimmst nit das schöne himmelblaue, silberbeschlagene, das ich Dir gekauft hab’?“
„Nein, nein,“ erwiderte Kuni und drückte das unscheinbare Buch an das prunkende Mieder, „das alte Buch ist von der Basl – das ist mir lieber als aller Geschmuck.“
„Da freut mich mein Leben,“ sagte er. „Wenn man’s nur weiß, daß man sich darnach richten kann. Aber wie ist es denn? Bist Du’s wirklich gewesen, die gesungen hat, oder hat mir geträumt? Ich hab’ schon den Ofen einschlagen wollen, hab’ mich aber gerad’ noch besonnen, weil man nie weiß, wie man mit Dir dran ist.“
„Warum fragst, Vater? Warum sollt’ ich nit gesungen haben?“ fragte sie entgegen, und ein schelmisches Lächeln spielte um ihre Lippen und zeigte die Zähne dahinter.
„Ich glaub’, Du willst Deinen leiblichen Vater zum Narren haben,“ rief der Alte. „Warum Du nit gesungen haben sollst? Weil das etwas ganz Neues ist bei Dir und Du schon so lange nimmer gesungen hast, daß ich’s schier nimmer denk’ …“
„Hab’ ich nimmer gesungen, Vater?“ fuhr Kuni in derselben Weise fort. „Schau’, das weiß ich gar nicht, aber wenn Du es sagst, wird’s wohl so sein – dann wird mir halt nit singerisch um’s Herz gewesen sein.“
„Du bist wie ein Wetterfahn’l,“ entgegnete der Vater. „Aber meinetwegen! Ich bin schon zufrieden, weil Du nur wieder singst und nit mehr den Kopf hängen laßt, wie ein krank’s Hähn’l. Mehr verlang’ ich nit zu wissen um meine drei Kronthaler – der Bader hat seine Sach’ doch gut gemacht.“
„Der Bader, sagst? Dem hast Du drei Kronthaler gegeben? Ja, für was denn?“
„Für was denn – wie Du nur so in den Tag hinein reden kannst! Für was denn sonst als für die Medicin, für das Kräutertrank’l, das er Dir verschriebem hat.“
Das Lachen zuckte stärker um des Mädchens Mund. „Vater,“ sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter, „geh’ dem Bader wieder nach und laß Dir Deine drei Kronthaler wiedergeben! – Verschrieben hat er mir das Tränk’l wohl, aber – eingenommen hab’ ich’s nit.“
„Was? Nit eingenommen?“ rief der Alte verblüfft. „Hast Du mir nit versprochen …“
„Aber Vater, Du wirst doch nit im Ernste glauben, daß ich solches Zeug einnehm’? Ich hab’s zum Fenster hinaus geschütt’t. Hast nit gesehen, daß die Brennnesseln, die unten waren, alle abgestanden sind von dem Gifte?“
[584] „Das muß ich schon sagen, da freut mich mein Leben,“ rief der Bauer und wollte ärgerlich werden, weil er sich so überlistet sah, weil ihn die Thaler wurmten und weil Kuni über seinen Aerger in lautes herzliches Lachen ausbrach. Er fand sich aber nicht recht in den Unwillen hinein, denn die Freude über Kuni’s Lachen war zu groß, als daß nicht alle unangenehmen Regungen vor dem lange entbehrten heitern Lachtone verstummt wären. „Da möcht’ man schon gleich in den Hut steh’n mit dem Mädel, aber sie lacht, und sie singt wieder; sie lacht wahrhaftig, und das ist die Hauptsach’ – wenn es auch ausgelacht ist und über mich selber hergeht. Am End’ hat Dir gar nichts gefehlt, Du bist nit einmal krank gewesen, und es ist Alles nichts gewesen, als daß Du Deine Mucken und Spergamenter mit uns getrieben hast.“
„Nein, Vater,“ sagte Kuni plötzlich ernst, faßte ihn bei der Hand und sah ihm so voll und herzlich in’s Gesicht, daß der Alte nahe daran war, feuchte Augen zu bekommen. „Ich bin wohl krank gewesen, recht krank – ich hab’ einen Stein in mir gehabt, der ist mir schwer auf dem Herzen gelegen und hat mir’s fast abgedrückt – die Bas’l hat mir davon geholfen.“
„Die Bas’l? Die feindselige Dingin? Die keinem Menschen was Gut’s gegönnt hat? Die Dir gar Nichts und Alles fremden Leuten vermacht hat?“ rief der Bauer. „Das müßt’ sonderbar zu’gangen sein.“
„Die Bas’l ist nit so gewesen, wie die Leut’ gemeint haben. Mußt ihr nichts Ungut’s nachreden, Vater, wenn’s Dich freut, daß ich wieder anfangen kann zu lachen und zu singen,“ sagte Kuni, von der Erinnerung an das Sterbebett der Base gerührt. „Es hat so kommen müssen. Auf dem Wege von ihr her – Du weißt wohl, in der bösen Nacht, wo ich mich so vergangen hab’ – da ist mir der schwere Stein vom Herzen gefallen.“
„Aber wie denn? Warum rückst Du nit heraus mit der Sprach’?“ fragte der Alte entgegen. „Warum denn lauter solche Heimlichkeiten? Ich weiß alleweil’ noch nicht recht, was Dir eigentlich geschehen ist in der Nacht, und wie Du in das Gestad’lhäusel gekommen bist, wo ich Dich geholt hab’.“
„Das wirst Alles schon einmal erfahren, Vater,“ sagte Kuni mit gewinnendem Tone, „nachher wirst Alles versteh’n.“
„Thät schon noth, denn jetzt versteh’ ich von der ganzen Sach’ so viel, wie gar nichts,“ rief er dazwischen. „War eine Nacht, daß man keinen Hund hinaus jagen sollt’. Gestürmt hat’s, daß ich ein paar Mal gemeint hab’, es nimmt mir das Dach über’m Kopfe weg. Auf einmal, schon gegen den Tag zu, kommt was an mein Fenster und klopft an und sagt, Du wärst von der Bas’l fort; das Wetter hätt’ Dich überfallen, und ich soll Dich in der Früh’ beim Gestad’lhäusler holen – weiter hätt’st Du nimmer kommen können. Ich hab’ lang’ gemeint, es wär’ nur ein Traum, und hab’ um den Namen gefragt, wer mir denn die Botschaft bringt. ‚Das brauchst nit zu wissen,‘ hat er gesagt, ‚Du thätst mich doch nit kennen.‘ Dasselbe ist aber nit wahr gewesen, denn wenn er auch die Sprach’ verstellt hat, ist sie mir doch bekannt vorkommen, und wenn’s nit gar so närrisch gewesen wär’, so hätt’ ich fast geglaubt, es wär’…“
„Horch, Vater!“ unterbrach ihn Kuni, „der Bub’ schnalzt mit der Peitschen; er hat also schon eingespannt. Machen wir uns auf den Weg, damit wir nit zu spät kommen!“
„Hast Recht,“ sagte er, indem er sie verwundert betrachtete und sich dann gegen die Thür wandte; aber, wie sich eines Bessern besinnend, hielt er inne. „Das ist auch wieder was Neues, daß es Dir zu so was eilt. Aber wie wird’s denn nachher sein;“ begann er wieder, fast wie verzagt? „auf der Hochzeit werden gar viel Leut’ sein – da könnt’s leicht geschehen, daß man Jemand begegnen könnt’, der Einen nit besonders freut …“
„Brauchst Dich deswegen nit zu fürchten, Vater,“ unterbrach sie ihn fest, aber sich rasch abwendend, damit er ihr Erröthen nicht gewahren solle, „ich will den Leuten zeigen, daß ich mich nicht vor ihnen scheu’, und denk’, wenn ich tanzen will, wird’s wohl noch einen Burschen geben, der mich holt, wenn’s auch nicht zum Loostanz ist. Derselbige aber, den Du meinst,“ setzte sie etwas zögernd hinzu, „der wird nicht da sein. Du weißt ja, daß er sich nirgends blicken lassen darf.“
Kuni hatte schon den Wagen erstiegen. Der Vater setzte sich neben sie. „Auf das ist kein Verlassen,“ sagte er, Zügel und Peitsche ergreifend. „Derselbige kann wohl kommen, wenn es ihm darum zu thun ist; es heißt, der König hat den Flüchtling begnadigt, weil seine Mutter einen Fußfall vor ihm gemacht hat; da wird man dem, der ihm durchgeholfen hat, auch den Kopf nicht abreißen.“
Die letzten Worte verloren sich etwas im Geräusche des dahinrollenden Wagens; das tiefere Roth, das Kuni’s Wangen überflog, verrieth jedoch, daß ihr dieselben nicht entgangen waren – sie schwieg aber und machte sich mit dem Sitze zu schaffen, als ob sie es sich auf demselben erst bequem machen müsse.
Der Vater sah sie nach einer Weile von der Seite an. „Nun,“ sagte er, „ist Dir die Stimm’ verfallen? Warum red’st Du denn nichts?“
„Es ist nicht gut reden im Fahren; es stoßt so,“ sagte sie sich zur Seite wendend.
Der Bauer aber, dessen Stolz es war, daß sein Wägelchen sich so leicht fahre, als ginge es auf einer geschlagenen Tenne dahin, ließ die Peitsche knallen, daß die Pferde ausgriffen und das Wägelchen hin und wieder flog. Wenn dasselbe denn doch einmal stieß, kam es auf ein paar Püffe mehr oder minder auch nicht an. –
In dem Dorfwirthshause, in welchem das Hochzeitmahl gerüstet wurde – es wird wohl das in Utting gewesen sein – wurde indessen aller Orts schon tüchtig gearbeitet, besonders in der Küche; es war auch keine Kleinigkeit, für eine zahlreiche Gesellschaft eine so ausgiebige Mahlzeit herzustellen, als es der Landesbrauch erforderte – war es doch eine sogenannte „große Hochzeit“, die gefeiert werden sollte, und außer den achtzig oder neunzig Personen, welche mit in die Kirche gingen und an dem Essen Theil nahmen, also „in die Hochzeit“ gingen, waren mindestens ebenso viel andere Gäste zu erwarten, welche „auf die Hochzeit“, also erst gegen Abend kamen und deren Bedürfnisse also auch befriedigt sein wollten. Obendrein mußte auch dafür gesorgt werden, daß jeder Mahlgast noch einen angehäuften Teller voll „Bescheidessen“ zurückstellen und in ein Tuch gebunden, seinen Angehörigen heimbringen konnte. In der Küche sott und briet, brodelte und qualmte, rauchte und duftete es bunt durcheinander, und eine kundige Nase hätte bereits vermocht, einige der landesüblichen „Hauptrichten“ zu unterscheiden, wie das mit Knoblauch gespickte Brühfleisch und das unerläßliche „Ehrenkraut“.
Nicht minder emsig ging es im obern Stockwerke, in dem langen, aber niedrigen Saale zu, in welchem die Tafel in langer schmaler Reihe aufgestellt war, während eine ausgeräumte Stube nebenan zum Tanzboden umgeschaffen war, damit die Gäste keinen weiten Weg zu machen hätten, denn es ist Sitte; daß der Tanz nicht bis zuletzt verspart, sondern in Abtheilungen zwischen den einzelnen „Richten“, deren jede aus mehreren Speisen besteht, eingeschaltet wird. In Ermangelung anderen Grüns waren die Fenstersimse und Thürgerüste mit Tannengewinden verziert, an welchen breite Streifen bunten Papiers sich emporringelten; hinter dem Platze des Brautpaares war ein für den Abend bestimmtes Transparent angebracht, in welchem ein M und ein F in geschliffenen Glassteinen flimmerte. Die Braut hatte es durchgesetzt, daß auch hier der mißtönende Zachariesel vermieden worden war.
In der Tanzstube war der alte Trompeterfranzel mit der Herrichtung des Musikantensitzes beschäftigt, auf welchem bereits der Brummbaß sich, wie in grämlicher Erwartung der seiner harrenden Strapazen, mit dem Gesicht in die Ecke gelehnt hatte. Der Alte hatte zwar den abermaligen Hochzeitsritt ausgeschlagen, aber bei der Hochzeit selbst wollte er doch seines gewohnten Amtes walten, die verschiedenen Sprüche thun, die „Abdankung“ halten und mit seinem kräftigen Geigenbogen die Musik in Ordnung halten, wenn sie etwa mit der vorrückenden Zeit und der wachsenden Steigerung des Vergnügens in’s Schwanken gerathen sollte.
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Zu den in neuerer Zeit unseren Landwirthschafts- und Gartenbau ernstlich bedrohenden Feinden, der Reblaus und dem Coloradokäfer, hat sich in der Wanderheuschrecke (Oedipoda migratoria) ein dritter eingefunden. Schon 1873 zeigten sich Spuren dieses Ungeziefers im Teltower Kreise auf den Gütern Genzhagen und Lövenbruch; in der Jugend, wenn auch fremdartig, so doch unscheinbar, wurden sie damals wenig beachtet, und da auch ihre Anzahl nur gering, ward nicht viel Aufhebens davon gemacht. 1874 erschienen diese Plagegeister schon in größerer Anzahl, verschwanden aber bald wieder und mit ihnen auch die Bedenken, welche bereits hie und da laut geworden waren. In diesem Jahre nun aber traten sie auf den genannten Gütern und dem benachbarten Kerzendorf Anfang Juni in so bedenklicher Menge auf, daß man – leider etwas zu spät – nun an eine ernstliche Vertilgung dieser gefräßigen
Thiere dachte. Feldmarken, zwanzig und mehr Morgen groß, auf denen sich die Gesellschaft zeigte, wurden mit Gräben von fünfzig Centimeter Tiefe umgeben und in diesen noch alle vier bis sechs Meter ebenso tiefe Fanggruben gegraben; das Aufwerfen dieser Gräben erforderte viele Arbeitskräfte und ging doch noch zu langsam von Statten; die scheuen Thiere waren schon groß genug, um sich dem Geräusche der Arbeiter durch die Flucht zu entziehen, und ehe der Grabenring geschlossen war, hatte sich wenigstens der Hauptschwarm nach einer andern Feldmark begeben; die ganze Arbeit war somit vergebens. Wirksam ist dieses Mittel nur dann, wenn es gelingt die Thiere in so jugendlichem Zustande zu entdecken, daß sie sich noch nicht durch weitere Sprünge so schnell entziehen können, und wenn man sie dann, vielleicht durch einen Pflug und Untergrundspflug, dessen Fahre noch mit der Schippe regulirt wird, schneller umgehen kann. Ist das Insect erst soweit ausgebildet, daß es wie jetzt fliegt, so dürfte es wohl kein Mittel zu seiner augenblicklichen Vertilgung mehr geben.
Je nach der Witterung, Ende Mai oder Anfang Juni, aus dem Ei geschlüpft, sind diese Heuschrecken großen schwarzen Ameisen nicht unähnlich und leben von jetzt ab, wie in allen späteren Entwickelungsperioden, schwarmweis beisammen; es ist dies der gebräuchliche und richtige Ausdruck, denn in der That gleichen sie in dieser Beziehung einem Bienenschwarm, der aber einige Morgen Landes bedeckt; man findet erst einzelne, dann mehrere, bis man endlich in einen dichten, oft in mehreren Schichten übereinander gehäuften Heuschreckenschwarm hineinkommt. Am Tage, während des heißen Sonnenscheins, verbergen sie sich unten in den Getreidefeldern; gegen Abend steigen sie hinauf und sitzen oft zu vier bis sechs und mehr an einem Halme, so daß sich dieser umbiegt und das ganze Feld wie von einem grauen Tuche niedergedrückt erscheint; sie vollbringen hier ihr Zerstörungswerk in der Art, daß jede den Halm da annagt, wo sie gerade sitzt, die oberste dicht unter der Aehre, welche dann abbricht; ein solcher Halm sieht aus, als sei er von Hagelschloßen angeschlagen, und das ganze Feld macht am anderen Morgen ungefähr den Eindruck eines großen Haufens Krummstrohs.
Man hat nun solche Felder schließlich abgemäht und die Bestien in die Erde hineinpflügen wollen, aber keiner der Schnitter sah mehr eine von ihnen; sie flohen theils hüpfend, theils fliegend vor der Sense her, und gelangten sie, von den Mähern immer weiter und weiter zurück gedrängt, an die Grenze des Schlages, so machten sie sich auf und zogen in die erste beste andere Feldmark, ganz gleich, ob sie Getreide oder Kartoffeln fanden. Von den letzteren nagen sie, wie behauptet wird, die Blumenstiele ab. Also, auch mit diesem Vertilgungsmittel ist es nichts.
In dem jetzigen Stadium seiner Ausbildung, also nach der vierten und fünften Häutung, wo dieses Insect an Stelle der Getreidefelder fast nur noch Stoppeln findet, erhebt es sich oft zu dichten Schwärmen und zieht fliegend, etwa in Manneshöhe, nach den benachbarten Feldern. Die Bahnwärter der von dieser Landplage heimgesuchten Gegend konnten uns z. B. genau sagen: „Da und da finden Sie die Heuschrecken nicht mehr; sie waren gestern dort und dort und sind heute da- und dahin gezogen.“ Wenn dieses Ungeziefer die Wege überfliegt, kommt es häufig vor, daß die Pferde der Landleute scheu werden.
Die Grenzen der genannten Güter sind jetzt schon längst von diesen unheimlichen Gästen überschritten, und man findet sie, wenn auch noch einzeln, doch schon in der ganzen Umgegend verbreitet, so daß in der That eine allgemeinere Landplage zu befürchten ist, thut die Natur ihrer Weiterverbreitung nicht Einhalt. Sehr nachtheilig scheint nasses Wetter, besonders in der Häutungsperiode der Thiere, auf sie einzuwirken. Wir untersuchten an einem trüben regnerischen Tage einige Stoppelfelder, auf denen das Getreide noch in Mandeln stand, und fanden auf demselben keine einzige Heuschrecke, als wir indeß die Mandeln lüfteten, sprangen sie uns zu Tausenden entgegen. Die einzelnen Bunde, bis tief in das Stroh hinein, wimmelten förmlich von diesem Ungeziefer, aber wir fanden hier auch unendlich viel todte, und an jedem Halme hingen mehrere eben verlassene Häute. Regen und kühles Wetter würden ihnen, namentlich in dieser Periode, bald ein Ende machen.
Uebrigens steht dieses Auftreten der Wanderheuschrecke in Deutschland durchaus nicht vereinzelt da, es ist dasselbe vielmehr sporadisch schon öfter beobachtet worden; so erschien sie Anfang der fünfziger Jahre einige Male in der Mark Brandenburg, 1856 bei Breslau und 1859 in Hinterpommern. Die Nordlinie ihrer Verbreitung geht nach Brehm: von Spanien durch Südfrankreich, die Schweiz, Baiern, Thüringen, Sachsen, die Mark, Posen, Polen, Volhynien, Südrußland, Südsibirien bis Nordchina. Vereinzelte Züge wurden auch in Schweden, England und Schottland beobachtet.
Es seien uns zum Schlusse noch ein paar Worte über die Naturgeschichte des Thieres gestattet.
Der Name Heuschrecke kommt her von schrecken, was ursprünglich schreien, schwirren, knarren bedeutet, ein Geräusch, welches diese Insecten durch schnelles Reiben der dicken Springschenkel an den lose gehaltenen, pergamentartigen Flügeldecken hervorbringen. Man unterscheidet Feld-, Laub- und Grabheuschrecken.
[586] Zu den ersteren gehört die eben besprochene Wanderheuschrecke, zur zweiten Art unsere große grüne Buschheuschrecke, zur dritten die Hausgrille oder das Heimchen, der Rietwurm oder die Maulwurfsgrille etc.
Die Feldheuschrecken sind die bedeutendsten Springer der ganzen Familie; sie schnellen sich ungefähr das Zweihundertfache der eigenen Länge fort. Die Färbung dieser größten europäischen Art ist nicht bei allen ausgebildeten Individuen die gleiche und scheint dunkler zu werden, je weiter die Jahreszeit vorrückt. Im Allgemeinen herrscht auf der Oberseite Graugrün vor, es kommt indeß auch häufig Grasgrün und bräunliches Grün, unten dagegen mehr röthliche oder gelbliche Fleischfarbe vor; die Flügeldecken und dunkel gefleckt; eben aus dem Ei geschlüpft, sind die Thiere ganz schwarz; später bis zur vierten Häutung werden sie meist dunkel okergelb und oben schwarz. Die Fühler sind kurz, fadenförmig, nicht zugespitzt. Das größere Weibchen hat keine hervorragende Legröhren, legt im Herbste zwei Eierklümpchen mit je sechszig bis hundert Eiern in lockere Erde und stirbt alsdann. Ein warmer trockener Herbst und ein eben solches Frühjahr sind dem Gedeihen auch dieses Ungeziefers besonders günstig. Das eigentliche Vaterland dieser Thiere soll die Tatarei sein, obgleich sie sich überall fortpflanzen, wo sie vorkommen.
Nicht nur, daß die Gründer bei Beginn ihrer Thätigkeit von der Presse in jeder Weise unterstützt und gefeiert wurden: selbst heute, wo ihr Treiben gerichtet ist und ihre Werke zum Himmel schreien, selbst heute finden sie hie und da noch muthige Vertheidiger und begeisterte Lobredner. So lasen wir neulich in einem Berliner Blatte folgende Verherrlichung: „Trotz aller Uebergriffe und Auswüchse, die alle großen Zeiten mit sich bringen, war es doch eine erhebende Sache, als sich endlich das Capital der Industrie zuwandte, als endlich das Gefühl der deutschen Nationalität und des Weltstädters große Dinge erdachte und in solcher Weise ausführte, daß sie bestehen werden für lange Zeit.“
Dieses Dictum soll heute unser Thema bilden. Wir wollen reden von der „großen Zeit“, und von den „großen Dingen“, die „das Gefühl der deutschen Nationalität und des Weltstädters erdachte“; wir wollen betrachten eine Reihe von Gründerwerken, die ausschließlich den Interessen des Publicums dienen sollten, und zunächst auch allgemein angesehen und begrüßt wurden als verdienstliche Thaten und gemeinnützige Schöpfungen; und wir wollen untersuchen, ob diese „großen Dinge“ „bestehen werden für lange Zeit“, oder ob sie nicht bereits schon wieder verfallen und zerbröckeln, sich vor unsern Augen auflösen in eitel Dunst.
Ein chronisches Uebel, an dem Berlin seit Menschengedenken leidet und das sich auch dem Fremden sofort fühlbar macht, sind die mangelhaften Verkehrsmittel im Innern der Stadt, ist namentlich das altehrwürdige Institut der Droschke. Wagen, Pferd und Kutscher ringen mit einander um den Preis. Der Wagen ist ein unförmlicher, enger, unsauberer Marterkasten, das Pferd ein lebensmüder, traurig stimmender Invalide, der Kutscher der geborene Feind des Fahrgastes, mit dem er fast regelmäßig Händel anbindet. Da hatten die Gründer ein Einsehen und sprachen: Diese Droschke ist der Hauptstadt des neuen deutschen Reiches unwürdig, und überdies ist sie nicht einmal in genügender Anzahl vorhanden. Auf, laßt uns ein Gefährte schaffen, das der Kaiserstadt zur Ehre und dem Publicum zur Wollust gereiche!
Heinrich Quistorp, allezeit voran, verwandelte im Juni 1872, mit Hülfe des Banquiers Moritz Goldstein und des Betriebsdirectors Julius Lestmann, das Fuhrgeschäft der Gebrüder Ernst und Wilhelm Besckow in eine Actiengesellschaft und nannte sie – höre es und staune, Europa! – Central-Bazar für Fuhrwesen. Dieses Fuhrgeschäft nebst Firma(!) kostete den Actionären circa 550,000 Thaler. Trotzdem wurden die Actien wie eine Gunst gegeben und empfangen: auf 5 Actien der Vereinbank Quistorp gewährte man 1 Actie des „Central-Bazar“. Mit 105 kam das Papier an die Börse; heute steht es circa 20.
Allein Quistorp und der „Central-Bazar“, die es beide mit ihren Versprechungen nicht so genau nahmen, machten die Droschken nicht besser, eher schlechter und theurer. Die Droschkenkutscher, welche gleichfalls den Geist der „großen Zeit“ verspürten und die Gründer immer fetter und schwerer werden sahen, erhöhten täglich die Taxe und die Trinkgelder, und verfuhren mit dem Publicum nach dem Wahlspruch der französischen Könige: car tel est notre plaisir. Die Polizei ließ ein neues Reglement erscheinen, und die Droschkenkutscher antworteten mit einer Revolution. Am 1. März 1873 stiegen an 3000 Rosselenker vom Bocke und gingen, wie der Berliner sagt, „zu Muttern“, setzten sich auf die Ofenbank und überließen sich den Freuden der Häuslichkeit und der Familie, indem sie ihre Kinder im Striken unterrichteten und in den Busen der unschuldigen Kleinen glühenden Haß ergossen gegen Madai, den neuen Polizeipräsidenten. Verschiedene Tage war Berlin ohne Droschken, und an allen Straßenecken hörte man Rufen und Jammern. Ein großer Theil der Feiernden suchte das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und meldete sich zur Verbüßung der Polizeistrafen, von denen der Berliner Droschkenkutscher jeder Zeit ein halbes Dutzend auf dem Kerbholz hat. In jenen Tagen waren die Gefängnisse mit strikenden Rosselenkern vollgestopft, die hinter ihren Gitterfenstern hohnlachend auf die in Schaaren vorbeipilgernden Fußgänger blickten.
Da traten als rettende Engel wieder die Gründer auf. Inmitten des Droschkenstrikes erließen die Herren Gustav Thölde, Karl Stöter, Ferdinand Strahl, Directoren der „Centralbank für Genossenschaften“, Kaufmann Gustav Röhll, Director Wilhelm Horn und Rechtsanwalt Ewald Hecker den Prospect der Actiengesellschaft für öffentliches Fuhrwesen“, worin sie erklärten: „Eine radicale Reform ist auf dem Wege der polizeilichen Intervention nicht erreichbar; hierzu bedarf es anderer Mittel. Es muß der Betrieb des öffentlichen Fuhrwesens in die Hände der Großindustrie gelegt werden, die allein befähigt ist, wirklich bedeutende Resultate zu erzielen.“ Der Prospect verhieß 1200 neue Droschken und forderte dafür ein Actiencapital von – zwei Millionen Thaler, das heißt viermal mehr als „Central-Bazar“. Da man an Dividende mindestens 15½ Procent heraus rechnete, „mit Sicherheit“ aber „einen weit höheren Ertrag“ erwartete, war es nur in der Ordnung, wenn der 40procentige Interimsschein mit 50 aufgelegt wurde, was einem Course von 125 entspricht. Leider hat sich diese Rentabilitätsberechnung als nichtig erwiesen. Zu einer Dividende kam es nicht, vielmehr schloß das erste Geschäftsjahr mit einem Deficit von 73,000 Thalern. Aber der „Aufsichtsrath“ weiß sich zu helfen. Um die Unterbilanz aus der Welt zu schaffen, beschloß er, die Actien zusammenzulegen und so das Capital zu reduciren – ein nach dem „Krach“ sehr beliebtes und in der That auch ganz probates Verfahren. Es wird einfach so und so vielen Actien der Hals umgedreht. Trotz dieser sinnreichen Manipulation gilt der einst mit 50 bezahlte Interimsschein nur noch circa 10.
Die Gesellschaft eröffnete ihren Betrieb erst im Juni 1873, kam also für den Strike viel zu spät, und statt der verheißenen 1200 Droschken stellte sie etwa 200, die sie zu hohen Preisen angeschafft hatte, und die sie nun auch zu hohen Preisen wieder vermiethen wollte. Die Pächter fanden ihre Rechnung nicht, kündigten in Masse, oder sie fahren die Pferde erbarmungslos zu Schanden. Abgesehen von den großen Verlusten, die dadurch die Gesellschaft erleidet – jeder Kutscher bestellt nur eine Caution von 25 Thalern – müßte hier der Verein gegen Thierquälerei einschreiten, und die Herren Aufsichtsräthe sollten sich einmal die Lehre von der Seelenwanderung erklären lassen.
[587] Auf den Strike und das Droschkenwesen überhaupt hatte weder Quistorp’s „Centralbazar“, nach Thölde’s „Oeffentliches Fuhrwesen“ den geringsten Einfluß. Zwischen den Droschkenkutschern und dem Polizeipräsidenten kam ein Friedensvertrag zu Stande; der Tarif wurde bedeutend erhöht, und im Uebrigen blieb Alles beim Alten. Die „große Zeit“ der Gründungen hat Berlin mit Droschken erster Classe beschenkt, die aber auch inzwischen stark auf den Hund gekommen sind, indem sie sich von denen zweiter Classe in Betreff des Angespannes nicht mehr unterscheiden. Die Pferde sind ebenso miserabel und erwecken in dem Fahrgaste dieselben bösen Ahnungen.
Verwandte und ganz ähnliche Gründungen sind:
Actiengesellschaft für Möbeltransport und -Aufbewahrung. Ging gleichfalls aus einem Fuhrgeschäft hervor, das den Actionären mit 220,000 Thalern berechnet wurde. Emissionshaus: Moritz Ed. Meyer. Heutiger Cours circa 20.
Berliner Spediteurverein. Actiencapital 550,000 Thaler. Emissionshaus: Alwin Philipp. Sechs Spediteure: Rosenberg u. Löwe, Borchardt u. Sachs, Herm. Cohn u. Comp., Arnheim, Isaak u. Comp., Moreau Vallette, R. Bergemann u. Comp. warfen ihre Geschäfte zusammen und ließen sie sich, das heißt blos die Kundschaft, mit 400,000 Thaler bezahlen. Das eingebrachte Inventar[WS 1] wurde besonders vergütet, und aus der Reihe der Verkäufer mehrere Directoren mit hohem Gehalte und Tantième angestellt. 16½ Procent Dividende wurden versprochen, und 6 Procent für die drei ersten Geschäftsjahre garantirt, auch bisher bezahlt, indem die früheren Inhaber die nöthigen Zuschüsse leisteten. Cours noch circa 30.
Allgemeine Transportgesellschaft. Wahrscheinlich von denselben Spediteuren gegründet und geleitet. Weiteres nicht bekannt.
Außer der Droschke hat Berlin den Omnibus und die Pferdebahn nach Charlottenburg; neuerdings auch die Große Pferdebahn mit einer Anzahl von Linien außerhalb und innerhalb der Stadt. Omnibus und Charlottenburger Pferdebahn sind Actiengesellschaften, die schon aus der Zeit vor der Schwindelperiode datiren, und daher menschliche Gründungen. Bis 1870 rangen sie auch um ihre Existenz; mit dem Anwachsen und steigenden Verkehr der Hauptstadt haben sie sich, trotz mancher Mängel, ziemlich gut entwickelt und in den letzten Jahren hohe Dividenden vertheilt.
Die Große Berliner Pferdebahn constituirte sich im November 1871, eröffnete die erste Linie im Juli 1873 und schreitet seitdem ununterbrochen und ziemlich rasch vor. Die ersten Zeichner waren: Banquier Joseph Pincuß, Dr. Martin Ebers, Assessor a. D. Plewe, Consul Kreismann und Dr. Georg Kurs. Schon die Namen dieser Herren, die sämmtlich noch bei verschiedenen anderen Gesellschaften betheiligt sind, bürgen dafür, daß es keine billige Gründung war. Das Actiencapital ist neuerdings auf 3 Millionen Thaler erhöht worden. Dennoch gehört die Große Berliner Pferdebahn zu den wenigen Schöpfungen der Gründungsperiode, die einem wirklichen Bedürfnisse entsprechen und die eine Zukunft haben. Wiewohl die Dividende pro 1874 nur 4¾ % betrug und solch’ hohe Dividenden wie bei der Charlottenburger Pferdebahn, aus mehrfachen Gründen, nicht zu erwarten sind – notirt das Papier 115.
Daneben gebar die „große Zeit“ aber noch andere Pferde-Eisenbahn-Gesellschaften, die sich nicht besonders lebensfähig erwiesen haben:
Continental-Pferdebahn, mit Linien in Dresden und Hannover. Gründer, respective Aufsichtsräthe: Ingenieur von Etlinger, Fabrikbesitzer Gustav Schöpplenberg und Karl Egells, Banquiers M. J. Levinstein, Paul Gravenstein, Volkmar und Bendix, J. Mamroth, Julius Grelling, Alfred Wolff (M. Schie Nachfolger in Dresden). Cours circa 30.
Große Internationale Pferdebahn, mit Linien wo? Gründer: Hermann Geber, Ed. Stahlschmidt, Hermann Leubuscher, Stadtrath Harnecker und Banquier Ferd. Jaques. Cours?
Deutsche Pferdebahn, mit Linien in Elberfeld-Barmen. Gründer: Heinrich Quistorp, Regierungsrath a. D. Albert Bühling, Ingenieur Johannes Büsing. Die Gesellschaft ist in Concurs; die Bahn kam kürzlich unter den Hammer, fand jedoch keinen Bieter. Quistorp, der Unsterbliche, wollte sie zurückkaufen, seine Propositionen scheinen jedoch vom Gerichte abgelehnt worden zu sein.
Die Gründer, immer besorgt für das Gemeinwohl, und daneben auch bedacht auf den Comfort ihrer Mitbürger, riefen ferner noch zwei ganz besondere Institute in’s Leben: Admiralsgartenbad und Flora.
Im September 1872 verbanden sich die Herren Kreisgerichtsrath a. D. und Banquier Rudolf Parrisius („Deutsche Genossenschaftsbank“), Bureauchef R. Bensemann, Baumeister Walter Kyllmann, Dr. med. Engmann, Dr. Alexander Jürgens und Dr. Bodinus, – zur Errichtung einer eleganten Badeanstalt mitten in der Stadt, auf der Friedrichstraße. Das Grundstück hat die Gesellschaft sehr theuer erworben, und noch theurer hat sich der Bau gestellt. Das ursprünglich ausgeworfene Capital von 600,000 Thalern (500,000 Thaler Actien und 100,000 Thaler Hypothek) war gewiß hoch bemessen; trotzdem ist es um circa 90,000 Thaler überschritten, und neuerdings wurde wieder ein „Betriebsfonds“ von 40,000 Thalern gefordert. Die Einnahmen im „Admiralsgartenbad“ betrugen vom 1. Januar bis 1. Juni 1875 circa 12,500 Thaler, die Ausgaben circa 11,000 Thaler, was also einen überaus winzigen Reingewinn ergiebt. Wenn die Einnahmen nicht noch ganz erheblich wachsen[WS 2], was bei der sonstigen Nützlichkeit des Unternehmens wohl zu wünschen wäre, kann bei der außerordentlichen Belastung der Anstalt auf eine angemessene Dividende nicht gerechnet werden. Das Papier notirte in der letzten Zeit 25 Brief.
Noch trüber und grauer sind die Aussichten für die Actionäre der „Flora“, die eine lange ununterbrochene Leidensgeschichte hat.
Der im Sommer 1871 veröffentlichte Prospect enthält Folgendes: Es soll ein der Kaiserstadt würdiges großartiges Vergnügungslocal mit Sommer- und Wintergarten, Palmenhaus etc. errichtet werden. Zu diesem Zweck ist in Charlottenburg der prächtige von Eckardtstein’sche Park nebst Schloß angekauft worden. Rentabilität mindestens 12 Procent, und freier Eintritt für die Actionäre, respective deren Familien. Unterzeichnet: Fürst zu Putbus, Polizeipräsident von Wurmb, Hofgartendirector Jühlke, Director Noodt, Geh. Commerzienrath F. W. Krause, Consul H. Kreismann, Legationsrath Freiherr von Steffens, Rittergutsbesitzer Ludwig Ellers[WS 3], Assessor a. D. G. A. Plewe.
Dieser Prospect wurde nicht durch die Zeitungen veröffentlicht, sondern couvertirt und über Stadt und Land versandt, den Leuten in’s Haus geschickt.[WS 4] Ein wohl zu beachtender Beitrag zur Unterbringung der Actien! Personen, die an ein Börsenpapier nie gedacht hatten, wie Pensionäre, alleinstehende Frauen etc., kauften jetzt Flora-Actien wegen des freien Eintritts in das Vergnügungslocal und wegen der stolzen Unterschriften, die der Prospect trug.
Es soll hier gleich bemerkt werden, daß gewisse Unterzeichner, wie Herr von Wurmb und Director Jühlke, als Mitgründer wohl kaum einen pecuniären Nutzen gezogen haben, daß sie nur um der Sache willen beitraten und an die Sache glaubten; aber immerhin ist es zu bedauern, daß sie ihre Namen hergaben und dadurch Tausende täuschen und schädigen halfen. Mit Recht brachte Ludolf Parisius die Angelegenheit im Abgeordnetenhause zur Sprache. Er tadelte, daß Herr von Wurmb, der Polizeipräsident von Berlin, zum Gründungscomité der „Flora“ gehöre, daß Herr von Brandt, der Polizeipräsident von Hannover, im Verwaltungsrathe der beide Vergnügungslocale „Tivoli“ und „Bella Vista“ sitze, und Herr von Gerhard, der Polizeipräsident von Magdeburg, als Aufsichtsrath einer Bade- und Waschanstalt fungire. Graf zu Eulenburg, der Minister des Innern, hat denn auch die drei Herren Polizeipräsidenten zum Austreten veranlaßt.
Wie bei der „Berliner Nordbahn“, so hat man auch bei der „Flora“ das ganze Odium auf den Fürsten Putbus zu wälzen gewußt. Die eigentliche Schuld des Fürsten aber besteht darin, daß er bei der „Flora“ und verschiedenen Eisenbahn-Concessionen sich vorschieben ließ, daß er sich mit Gründern und Börsianern einließ, denen er in keiner Weise gewachsen war, für die er die goldenen Aepfel herunterholte. Die eigentlichen Urheber der „Flora“ sind Herr J. A. W. Carstenn und Rittergutsbesitzer Ludwig Ebers, welche das Parkgrundstück wieder vorgekauft hatten und es der Gesellschaft zu dem kolossalen Preise von 550,000 Thalern – die Quadratruthe Gartenland über 100 Thaler! – abtraten.
Von besonderem Interesse ist das Verzeichniß der Personen, welche am 26. September 1871 die General-Versammlung „der in Gründung begriffenen Actiengesellschaft Flora“ bildeten. Wir finden darunter: Vereinsbank Quistorp, Banquier Jean Fränkel, Weißbierdirector Emil Gericke, Max Meyer (Louis Pollack), Rentier Moritz Eisner, Dr. Ludwig Eisner, „Volkswirth“ David Born, „Volkswirth“ Dr. Ed. Wiß, Hofapotheker Holtz etc. –
[588] Als ärztliche Banquiers behandelten die von Geburt an sieche „Flora“ nach- und nebeneinander: Robert Thode u. Comp., Heinrich Quistorp, Julius Grelling und, wohl zu merken! Herr Jean Fränkel, dessen Methode und dessen Honorar-Rechnung in der letzten General-Versammlung großen Anstoß erregte.
Der Lucca-Cultus, hauptsächlich betrieben von Gründern und Börsianern stand 1871 bis 1872 noch in einer Nachblüthe. Das verwöhnte Theaterprinzeßchen, erbost über die ihrer Collegin Mallinger gespendeten Beifallsbezeigungen, erlaubte sich auf offener Scene dem Publicum das Wort „Ungezogenheiten“ in’s Gesicht zu werfen, und dasselbe Publicum beklatschte diese Unverschämtheit. Damals wurde die Reclame verbreitet: die göttliche Primadonna werde sich herbeilassen, in der „Flora“ regelmäßig zu singen, und so das Local eine außerordentliche Anziehungskraft üben. Erster Director wurde Herr von Rhaden, der Gemahl der Lucca, und neben ihm Dr. Martin Ebers. Erster Cassirer war Dr. Albert Jausel, später, an Stelle von David Born, Director des „Landerwerb- und Bauverein“.
Der Bau des Etablissements schleppte sich ungebührlich lange hin, stockte mehrfach, da die Mittel ausgingen, und verschlang unglaubliche Summen. Wahrscheinlich in Folge des schlechten Materials und der mangelhaften Arbeit, stürzte im März 1873 – in demselben Monate, in dem die Droschkenkutscher strikten – der Dachstuhl des großen Saales ein, und die unglücklichen Actionäre sollen den ohnehin beträchtlichen Schaden noch doppelt haben bezahlen müssen. Zum Frühjahre 1873 hatte man die Eröffnung des Locals verheißen, aber erst im Mai 1874 fand sie theilweise statt, waren die ersten Gartenanlagen fertig. Die Presse war zu einer kalten Collation geladen, und etliche ihrer Vertreter versetzten sich, wie ein Localblatt ausplauderte, in stürmische Begeisterung. Im November 1874 wurde der großartig angelegte Concertsaal eingeweiht, aber vollendet ist er noch heute nicht. Das ganze Etablissement ist noch unfertig und überhaupt unsolid aufgeführt. Ueberall, wo man schärfer hinblickt, Flick- und Stückwerk, Lücken und schäbige Surrogate. Die Hauptsache, der Park mit den alten hohen Bäumen, war vorhanden, und im Uebrigen hat der Obergärtner, Herr Glatt, geschaffen, was er konnte. Namentlich das „Rosenparterre“ erntete allgemeinen Beifall.
Die „Flora“, im Prospect auf 1,130,000 Thaler veranschlagt, kostet den Actionären bereits über zwei Millionen. Die Prioritätsanleihen und die gekündigten Hypotheken konnten nur mit ungeheuren Verlusten angeschafft, respective neubesorgt werden. Dazu fehlt es der Gesellschaft nicht nur immer wieder an „Betriebsfonds“ – sie befindet sich auch ewig in Wechselverlegenheiten. Der Executor ist ihr Hausfreund, und eine Version behauptet, daß man ihr im letzten Winter bereits die Palmen(!) abgepfändet hatte. Auch der Vorstand wechselt beständig, und ein Director folgt rasch dem andern. Einer der letzten, Herr Dr. med. Alexander Jacobinus, mußte sich wegen seiner Geschäftsführung, die mit einer Unterbilanz von 267,000 Thalern schloß, in der diesjährigen Generalversammlung herbe Worte sagen lassen und legte, wie es im Berichte sehr lakonisch heißt, „schließlich sein Amt nieder“. Die „Flora“ schwebt täglich in der Gefahr des Concurses, und Keiner vermag ihr zu helfen, denn nie ist ein Weib, und noch dazu eine Göttin, so rücksichtslos behandelt worden. Auch die allergrößte Theilnahme des Publicums kann sie, bei einer Passivlast von über zwei Millionen Thaler, nicht wieder auf die Beine bringen; darum stehen die Actien etwa 15 und selbst die 6procentigen Prioritäts-Obligationen nur circa 25!!
„Central-Bazar“ und „Oeffentliches Fuhrwesen“, „Möbeltransport“ und „Spediteurverein“, „Deutsche“, „Continental“- und „Große Internationale Pferdebahn“, „Admiralsgartenbad“ und „Flora“ – das sind die Früchte der „großen Zeit“, und wie Jedermann sehen kann, lauter faule Früchte. Darum fragen wir: Wo sind die „großen Dinge“?
Jetzt, wo die jährlich wiederkehrende Zeit der Reiselust und der Lustreisen in voller Blüthe steht, wo so Mancher, seinen Bädeker oder Berlepsch in der Hand, alle Sorgen und Arbeit hinter sich lassend, in die weite blühende Welt hineinzieht, jetzt ist ein Wort vom Reisen und Wandern wohl am Platze.
Allen Respect vor Bädeker, vor seiner Brauchbarkeit und Unentbehrlichkeit! Aber etwas so ganz Neues, eine specifisch moderne Erscheinung ist der „Bädeker“ keineswegs. Der Name ist neu; das Wesen ist alt, Jahrhunderte alt. Es existirte schon im siebenzehnten Säculum. Freilich nicht in der freundlichen rothleinenen Gestalt und der gefälligen Ausstattung, die es im Zeitalter des Dampfes angenommen, sondern in ungelenkem Schweinsleder mit ungefügen Buchstaben auf vergilbtem Handpapiere. Nicht in dem „geliebten Deutsch“ des Doctor Martin Luther, sondern in steifem Lateinisch. Ein gewisser Herr „Rantzovius“, ein gewisser „Julius Bellus“, ein gewisser „David Frolichius“ – Anderer zu geschweigen –, das waren die Bädeker, Berlepsch und Meyer ihrer Zeit.
Da kam nun der Martin Zeiller, ein Mann, wohlbekannt den Geographen und Historikern, der sagte: „Wenn der Deutsche auf Reisen geht, so soll er auch ein deutsches Buch zum Reiseberather und Reisegefährten haben.“ Und so schrieb er im Jahre 1650 seinen „Fidus Achates oder getreuer Reisgefert“. Das Buch kam 1651 „In Verlag Georg Wildeisens zu Ulm“ heraus. Wie Alles uns anzieht, was uns unmittelbar in die Zeit unserer Voreltern versetzt, so hat es auch seinen großen Reiz, das Büchlein zu durchblättern.
Vornan eine Karte von Deutschland, sechs Zoll breit, drei Zoll hoch. Da läßt sich denn freilich nicht viel Detail anbringen. So hat der Rhein alle seine Nebenflüsse bis auf vier eingebüßt; am Main sind nur vier Städte verzeichnet (unter ihnen Nürnberg!); der Thüringer Wald ist durch eine Pappelallee dargestellt etc. Die Karte führt die Umschrift: „Ich will dir den Weg zeigen, den du wandeln solt; Ich will dich mit meinen Augen leiten. Psalm 31.“
Die Angaben sind nichts weniger als eingehend und genau. Von Berlin weiß Zeiller nichts weiter zu sagen, als: „Dies ist die churfürstlich Brandenburgische Hofstadt und das Haupt der Mark Brandenburg, an der Spree gelegen; und ist doppelt, deren einer Theil eigentlich Berlin, der eine aber Cöln an der Spree genannt wird, in welchem auch der Dom oder Stiftskirchen, und das churfürstliche Schloß sammt den zugehörigen Gebäuden, der Schloßkirchen, Canzley, Apotheken, Marstall, Rüstkammer und dergleichen zu besichtigen.“
Aber außer diesen „unterschiedlichen Reisen nach dem ABC“ enthält der fidus Achates eine Einleitung, und die ist das eigentlich Anziehende an dem Buche; sie giebt des Verfassers „unvorgreifliches Bedenken (das heißt: Gedanken), wie die Reisen insgemein wol und nützlichen angeordnet und verrichtet werden mögen“.
Zu näherem Verständnisse ein kurzes Wort über das Reisen in jenen Zeiten. Man reiste meistens mit eigenem Gefährte, auch wohl mit einer Miethskutsche. Der Kostenersparniß wegen schlossen sich wohl Mehrere zusammen. Auch Postvorspann wurde benutzt; doch, wie es scheint, seltener. Auch zu Pferde unternahm man große Reisen in’s Ausland; freilich in jener Gemächlichkeit, wie sie die Epoche des noch schlummernden Dampfes kennzeichnet. Und daß man, unverwöhnter als heutiges Tages, sehr häufig große Reisen zu Fuß antrat: wer, der von fahrenden Schülern und wandernden Handwerksburschen gelesen, wüßte das nicht!
Paßscherereien existirten schon früher, und die Visitationen und Controlirungen an den Stadtthoren gehörten „trotz Regen, Sturm und Schnee“ zur Tagesordnung.
Eine genaue Charakteristik des damaligen Wirthshauslebens würde hier zu weit führen. Die „Herberge“ sollte des Reisenden Heimath in der Fremde sein. Er sollte sich in ihr wohl fühlen. Von all jenen Prellereien und Uebervortheilungen – von den siebenundeinhalb Silbergroschen für Beleuchtung bis zu den hundert oder mehr Procent Profit des Wirths am Wein, von [589] dem ganzen Raubbau der trinkgeldfordernden Kellner, Hausknechke, Portiers, Kutscher etc. – keine Spur dazumal. Das verhinderten schon die ausdrücklichen Erlasse der Landesherren über die „Herbergen, Gasthöfe und Garküchen“, deren uns aus dem siebenzehnten Jahrhunderte eine ganze Anzahl vorliegen. Statt aller weiteren Bemerkungen über diese für jeden Reisenden aller Zeiten so brennende Gasthausfrage mögen die kursächsischen Bestimmungen von 1623 hier ihre Stelle finden.
„In Wirthshäusern und Gasthöfen soll von denen von Adel und anderen vornehmen Leuten für eine Mahlzeit von 4 oder 5 guten Essen, nebst Butter und Käse und einheimischem Bier, so lange das Tischtuch liegt, 4 bis 6 Groschen bezahlt werden. Was außer dem Bier getrunken wird, soll besonders bezahlt werden.
Das Gesinde, Kärrner und Fuhrleute zahlen nur 3 bis 4 Groschen. Und sollen die Wirthe dem Gesinde unter der Mahlzeit ohne Vorbewusst ihres Herrn von Getränk nichts verabfolgen, bei Verlust der Bezahlung.
Wenn sich der Gast mit mehrern Gerichten, Confect und Anderem besser tractiren lassen will, so hat er sich mit dem Wirth besonders zu vergleichen. Ebenso wegen der Stube, wegen Holz und Licht. Und soll der Wirth dem Gast die Sachen jedesmal specificiren ‚und nit überhaupt rechnen‘.“
Auch was der Wirth für „Hafer und Rauchfutter“ anrechnen darf, ist genau bestimmt, und jedem Reisenden erlaubt, in den Wirthshäusern die Fütterung seiner Pferde selbst zu übernehmen. Was die „Garküchen“ betrifft, so sollen sie „für die durchreisenden Fußgänger jederzeit etwas in Vorrath haben und denselben auf Begehren folgen lassen:
- eine Suppe mit ½ Pfund Rindfleisch pro 1 Gr.
- eine Bratwurst ½ Elle lang um 1 Gr. etc.“
Und nun die Gedanken Zeiller’s. Ich theile sie in einer Auswahl mit, ohne viel Zuthaten. Es hat seinen eigenen Reiz, die Vergangenheit durch sich selber reden zu lassen.
In einem ersten Abschnitte handelt Zeiller von den Vorbereitungen zur Reise.
Wer reisen will, lesen wir da, muß „eines guten, starken Leibes, auch nicht zu alt, noch zu jung sein“, wenn anders er alle Strapazen aushalten und von der Reise den gehörigen Nutzen haben will. Er erhole sich zuvor guten Raths bei Anverwandten und verständigen und gelehrten Leuten, besonders aber bei denen, welche die gleiche Reise schon früher gemacht haben. Auch suche er sich aus Reisebüchern und anderen Schriften zu unterrichten, lese fleißig die Geschichte des Volks, zu dem er sich begeben will, und studire die Landkarte! Ferner übe er sich durch tägliche Spaziergänge in die Nachbarschaft, damit er, wenn er aus Armuth oder Mangel an Reit- oder Fahrgelegenheit zu Fuß wandern muß, „nicht auf dem Wege erliege, oder Blasen an den Füßen bekomme“. Auch ist es gut zuvor das Schwimmen und etwas Kochen zu lernen. (Wenigstens „etliche geringe Speisen anzufertigen, als eine Suppe zu machen, Eier, Fisch, Fleisch zu sieden, auf daß, wenn er in eine schlechte Herberge kommt und des Kochens unerfahrene Leute antrifft, er sich durch übel zugerichtete Speisen nicht eine Krankheit an den Hals esse, sondern selbst zur Küche sehen möge“.) Und nützlich ist es, wenn er „was Wissenschaft vom Regiment und Zustand seines Vaterlandes und den vortrefflichsten Leuten in demselben hat“, damit er in der Fremde die darauf bezüglichen Fragen beantworten kann. Zu dem Ende empfiehlt es sich, sich ein „geschmeidiges Standbüchlein“ (Stammbuch) anzulegen, in das man die auch in der Fremde bekannten Landsleute sich einschreiben läßt. Das weist man dann in der Fremde bei seinen Besuchen vor. Man hat deshalb darauf zu sehen, daß nicht ärgerliche und widerliche Sachen in das Stammbuch geschrieben oder gemalt werden.
Von Gepäck („Fahrniß“ heißt es dazumal) nehme man, in einem „wohl verschlossenen Reistrühlein, Rantzen, Felleisen oder Vellis“ (vellis) nur das Nöthigste mit, denn die Menge des Gepäcks ist einem hinderlich und lockt nur die Räuber an. Nun aber höre man und staune, was als derartiges Unentbehrlichstes gilt: Von Büchern nur ein Gebet- und Gesangbuch, das erwähnte Standbüchlein, ein Schreibtäflein, ein Reise- und kleines Tagebüchlein (für die täglichen Aufzeichnungen), einen Kalender und etwa „ein historisches lustiges, oder anderes zu seinem Vorhaben nützliches Tractätlein“. Ferner: Etliche Bogen weißes Papier, ein paar Federn, Tintenfaß und Streusand, ein kleines Feuerzeug, Nadel, Faden, „Klöblein und Schlößlein, etwa an einer übelverwahrten Thür eines Zimmers anzumachen“.
Die Kleider, die man mitnimmt, sollen weder zu stattlich sein, damit man nicht durch sie in Gefahr komme, noch gar zu schlecht, damit einem nicht vornehmer Leute Haus und Gespräch verschlossen bleibe. Es empfiehlt sich, sie nach der Mode des Landes, in das man reist, anfertigen zu lassen. Sehr nützlich ist ein „Regenmantel“ und ein breiter Hut; gegen die Kälte auch „neue Kappen, Nasenfutter und Ueberstrümpfe mit Knöpfen“ (Gamaschen). Sonst nehme man mit: drei oder vier „saubere Leib- oder Unterhemden“, ebenso viele „Ueberschläg oder Krägen“, ein „Oberhemd“, etliche „Schnäutz- und Handtüchlein“, auch zwei „Haupttücher“, etliche Paar Ober- und Unterstrümpfe, Socken, Schlafhosen, Schlafhauben, Handschuhe, ein übriges Paar Schuhe und ein Paar Pantoffeln. Die Schuhe muß man etliche Tage vor der Abreise tragen, auch ihnen, damit man sanfter gehe, zartes Tuch oder Filz unterlegen. Beyfuß in den Schuhen getragen, soll vorzügliche Dienste gegen die Müdigkeit thun.
Wer zu Wagen oder zu Schiff reist, thut wohl, einen Bettsack und einen Schlafpelz mitzunehmen. Kein Reisender soll ohne Waffen sein, Keiner, der zu Fuß reist, ohne einen guten Stecken wider die Hunde und zum Bergsteigen und Grabenüberspringen. Aber einen Hund mitzunehmen, ist nicht rathsam. Von sonstigen Sachen nehme man mit: „ein Perspectiv oder Fernglas, item Augenbrillen wider den Staub, einen Spiegel, Kreide, Räucher- und Wachskerze oder -Stöcklein, ein Petschaft (so aber wohl zu verwahren), ein Messer sammt einem Gäbelein, einen Kamm oder Strehl, einen Eßlöffel, Ohrlöfflein, Zahnstörer, Compaß, Sonnenweiser, Zeig- (aber kein Schlag-) und Sandührlein, so in Möß (Messing) eingefaßt, auch einen Quadranten etc. Item etwas von Gewürz, eingemachte Sachen, Oel, Hirschenunschlitt, Wachs, gemeinen Zucker, Rosenzucker, Pillen und etliche andere Arzneien wider das Schweißen aus der Nasen, Durchfluß und Stopfung des Leibes, Harnwinden, den Sod, den Wolf vom Reiten, Blasen an den Füßen, Erbrechung auf dem Meere, die Pest, Gift, böse Lüfte, Kopfweh, Bräune, Schlangen und Skorpionen und wüthenden Hundsbiß, die Läuse, Schrunden an den Lefzen und andere Umstände mehr.“ Das alles führt man am besten in einer kleinen „Feldapotheke“ bei sich.
Wer zu Wagen oder zu Schiff reist, verproviantire sich mit etwas an Speise und Trank, „als gebratenes Fleisch, Schinken, Brod, Käse, Butter, Knoblauch und etwas weniges gebrannten Wein“. Denn man findet nicht aller Orten etwas zu essen und trinken; auch kommt man manchmal des Tages viel weiter, wenn man nirgends „abstehet“ (absteigt), sondern seine „kalte Küche“ bei sich hat. Wohlhabende nehmen wohl ihre „Hof- und Lehrmeister“, auch einen oder zwei Diener mit. Aber sind die Diener nicht treu, wachsam, nüchtern, verschwiegen und unverdrossen, so läßt man sie lieber zu Haus. Denn sie kosten unterwegs fast so viel als der Herr. Man findet übrigens häufig, zumal in den „Kosthäusern“, Leute, die Einem die nöthigen Dienste verrichten. Ohnedem darf man sich in der Fremde nicht schämen, selber Hände und Füße zu brauchen: seine Kleider zu reinigen, die nöthigen Einkäufe zu machen. Man lernt so desto eher die Sprache und sich in die Leute schicken. Anders ist’s mit den Hof- und Lehrmeistern. Die sind für junge, vornehme Personen unentbehrlich. Namentlich in Kriegszeiten ist auch ein „Paßport“, Geleitsbrief und bisweilen sogar persönliche Begleitung (Geleite) von nöthen; in Sterbensläuften ein beglaubigtes Zeugniß, daß man von gesunden Orten herkommt.
Wenn nun Alles so weit wohl bestellt ist, so bleibt nur noch übrig, auf den „Zehrpfennig“ bedacht zu sein. Die Hauptsumme muß womöglich in Gold bestehen, und zwar in solchen Sorten, wie sie in dem Lande, wohin die Reise geht, gäng und gäbe sind; von kleinem Gelde soll man nur etwa den täglichen Bedarf bei sich haben. Man verwahre das große Geld sorgfältig „in dem Vellis oder Trühelein, im Beutel, Büchlein, Wachs, Stück Brodts, ausgehöhltem Stecken, in den Schuhen, Hosen, Wamms oder sonst, auch wohl an unsauberen Orten“.
Vor Allem aber soll man sich, bevor man abreist, mit Gott versöhnen, und den himmlischen Zehrpfennig (also das Abendmahl) zu sich nehmen, seine Schulden bezahlen, wenn man mündig ist, sein Testament machen und sonst all seine Sachen wohl bestellen, „weil man wohl ausreiset, aber nicht wieder
[590] heimkommet“. Darum soll man auch „von allen Verwandten, Wohlthätern, Freunden und Bekannten Urlaub nehmen, sich ihnen befehlen und sie bittlich ersuchen, ihn in ihrem Gebete zu haben und in guter Gedächtniß zu erhalten“.
Ist Geld genug vorhanden, so macht sich’s gut, wenn man (oder bei Unmündigen die Eltern oder Vormünder) ein oder zwei Tage vor der Abreise ein „Valet- oder Abschiedsgastunglein“ anstellt, zu welchem man die Freunde und etliche der Reisegefährten einladet. –
Der zweite Abschnitt behandelt das Verhalten auf der Reise.
Naht der Moment der Abreise, so rufe man Gott demüthig um seinen Schutz und Segen an! Zu empfehlen und dafür besonders der 91., 126., 127. und 139. Psalm und die zu diesem Zwecke besonders verfertigten schönen Gebete und Gesänge in den Gesangbüchern. Auch auf der Reise soll man zum Oefteren beten, besonders alle Morgen, Mittags, Abends und zur Nacht. Die Nachtreisen soll man meiden „wegen allerhand Ungelegenheiten, auch der Irrwisch oder Nachtlichtlein wegen, die Manchen verführet“. In den Wäldern soll man „wegen der wilden Thiere, Räuber und Gespenster“ nicht über Nacht bleiben.
Bei eintretender Kälte legen Einige etliche Hemden an, waschen die Füße mit gebranntem Weine, der auch, mit Gewürz getrunken, den ganzen Leib erwärmt. Doch muß man damit behutsam sein. Einige thun Sauborsten, item warme Kleie in die Schuhe und Stiefel. Muscatnuß, Ingver, Calmus, Knoblauch, Nuß (namentlich die beiden letzteren in einer Fleischbrühe zerstoßen) werden als Mittel gegen die Kälte gelobt. Ebenso behütet „ein Sälblein von Nessel und Oel mit ein wenig Salz“ vor Kälte und dient gegen Frostbeulen. Wer aber von der Kälte bereits erstarrte Glieder bekommen, der bringe sie nicht durch Feuer oder warmes Wasser, sondern durch kaltes zurecht! Einige streuen die Asche von einem verbrannten Hasenbalge, Andere legen eine gebratene Rübe oder Apfel darauf; Einige schmieren sie mit Schweinsgalle; Andere brauchen andere Mittel. Auch spreche man nicht viel, wenn man heiß ist, denn das verursacht Durst, und man trinkt dann kaltes oder schmutziges Wasser. Einige thun einen Knoblauch oder ein wenig Theriak in’s Wasser, ehe sie es trinken. Leimicht Wasser wird durch ein wenig Salz gereinigt, trübes durch Alaun geläutert; kaltes wird auf ein wenig Zucker und Brosam geschüttet und so allgemach getrunken. Einige nehmen einen Krystall, Korall, Silber, weißen Zucker, einen Kieselstein, der eine Zeitlang in kaltem Brunnenwasser gelegen, Pfefferkörner (so viel Feuchtigkeit herzuziehen) oder ein wenig grob Salz unter die Zunge. Andere machen sich einen „Julep“ von Rosen- und Veilchensaft mit Wasser, Andere eine kalte Schaale (wie man’s nennt). Andere essen Süßholzwurz und Saft, oder frische Feigen, Erdbeeren, Birnen, Pflaumen, Kirschen, Quittenkerne u. A. dgl., so wider den Durst ist. Auch lobt man dafür Brod, in kaltem Wasser geweicht, mit etwas Wein genommen.
Was das Essen betrifft, so lebe man auf Reisen mäßig und gewöhne sich allgemach an die fremden Speisen und Getränke! Die Hauptmahlzeit aber fällt auf den Abend. Kommt man an Gärten oder Weinbergen vorüber, so soll man keine Kirschen, Aepfel, Trauben oder dergleichen Früchte abbrechen. Man hüte sich, unterwegs zu erkranken! „So aber einem dergleichen, auch Schiffbruch und anderes Widerwärtiges begegnet, soll man’s herzhaft ertragen.“
An Sonn- und vornehmen Feiertagen soll man still liegen. Verlangt aber die Noth oder die Reisegesellschaft, daß man die Reise fortsetzt, so „soll man bei sich der göttlichen Sachen eingedenk sein, mit seiner Gesellschaft davon reden, auch, sofern es die Gelegenheit zuläßt, andächtig singen, wiewohl es nicht allwegen sein kann.“
In der Wahl seiner Reisegefährten sei man vorsichtig! Reisegefährten sollen nicht um geringer Ursache willen miteinander zanken, sondern getreulich zusammenhalten, und wenn einer von ihnen des Morgens früher erwacht, soll er die Andern wecken und nicht heimlich davon ziehen. Für gute Reisegesellschaft empfiehlt es sich, etwas Geld zusammenzuschießen und einen zum Verwalter dieser gemeinsamen Casse zu wählen, der dann den Andern Rechnung abzulegen hat.
Auch Verhaltungsmaßregeln gegen verfolgende Bären und Wölfe werden gegeben. „In Gegenwart eines Bären lege man sich auf die Erde und halte den Athem stark an sich, als ob man todt wäre.“ In fremden Ländern will es sich schicken, daß man andern, besonders vornehmen Leuten ausweicht, oder wohl gar vom Pferde und aus dem Wagen steigt und „ihnen die Ehr’ anthut“. Insgemein aber gebührt es sich, jeden Begegnenden freundlich zu grüßen und ihm Glück zu wünschen, daß man vor Jedem den Hut recht abziehe und ihn nicht nur anrühre, als ob man Spatzen oder Anderes darunter hätte. Bettlern soll man sich „gutherzig erzeigen“, vor „starken Bettlern“ aber sich – namentlich wenn man allein reist – wohl in Acht nehmen.
Sehr genau sind die Anweisungen für das Verhalten des Reisenden am Stadtthore. Sie laufen darauf hinaus, daß er, wenn man ihm Schwierigkeiten wegen des Einlasses macht, in die Tasche greifen und der „Wache“ ein Stück Geld in die Hand drücken soll. Unter dem Thore erkundigt man sich sofort nach ehrlichen und guten Wirthshäusern und wählt das seinem Stande und Geldbeutel entsprechende. Man pflegt insgemein den Wirth oder die Wirthin um die Herberge anzusprechen und nach Gewohnheit jedes Landes sich gegen sie, ihre Töchter und Angehörigen bei der Ankunft und der Abreise „gebührend zu erzeigen“. Im Gasthause muß man alle Abende seine Sachen fleißig verwahren, sie beim Ausgehen in seinem Zimmer wohl verschließen, oder sie den Wirthsleuten zum Aufheben geben. Namentlich beim Essen soll man „schamhaft“ sein, wenig reden, vollends nicht von sich, seiner Geschicklichkeit, seinem Geschlechte und desgleichen, nicht von Religionssachen disputiren, dagegen sich bescheiden nach den Sehenswürdigkeiten erkundigen. Vor Allem hat man auf ein sauberes Bett zu sehen. Die Thür der Schlafkammer nehme man wohl in Acht, setze eine Bank oder desgleichen davor! Man vergesse nicht Degen und Feuerzeug neben das Bett zu legen! Vor Allem vergesse man vorm Einschlafen nicht des Gebets!
Der dritte Abschnitt, „was in Besichtigung der Länder und Oerter zu beobachten“, ist viel weniger eingehend, als die beiden ersten. Und so wollen auch wir nur weniges aus ihm erwähnen.
Zeiller räth, sich bei längerem Aufenthalte an einem Orte mit vornehmen Ortsangehörigen bekannt zu machen, „und sie um ihre Handschrift und so es sich füglich schicket, um ihr Wappen in sein Handbüchlein zu ersuchen.“
Man nehme sich einen erfahrenen Führer, besteige mit ihm die höchsten Thürme, gehe um den Ort von innen und außen herum, und nehme Alles wohl in Acht! Man lasse sich berichten in welchem Lande man sei, wie es früher genannt worden, wie es jetzt genannt werde, frage nach Größe, Grenzen, politischer Eintheilung etc. etc.! Man soll ebenso wohl nach der Zahl der im Lande gelegenen Städte, Klöster und dergleichen, wie nach dem verbreitetsten Ungeziefer in ihm, nicht weniger nach der Zahl und Art der Sauerbrunnen und Gesundbrunnen, als nach der geographischen Länge und Breite und nach dem himmlischen Zeichen, unter dem der Ort gelegen fragen. Auch in Bezug auf die Zahl und Art der in dem Lande ansässigen Künstler, Fecht- und Tanzmeister, „Roßbereiter“ und „allerhand Unterweiser auf musikalischen Instrumenten“ soll man seinen Wissensdurst zu befriedigen suchen. Und nicht minder gründlich als die Unterweisung soll die Besichtigung sein. Zeiller zählt im Allgemeinen alles möglicherweise in irgend einem Orte Sehenswerthe auf. Für das an jedem einzelnen Orte Sehenswerte verweist er auf die verschiedenen Reisebücher, die er über die Gegenden Europas verfaßt hat.
„Wenn nun Einer seine Zeit in der Fremde erstrecket, solche wohl angelegt und etwas gelernet hat“, so soll er an die Heimkehr denken. Von ihr handelt der letzte Abschnitt.
Man zeige seine bevorstehende Abreise seinen Landsleuten in der Fremde an, damit sie einem ihre Aufträge mitgeben oder sich ihm anschließen, nehme von den Zurückbleibenden und anderen Bekannten Abschied, kaufe allerhand Dinge ein, die in der Heimath theuer oder selten sind, theils mit sie als Geschenke den Seinigen mitzubringen, theils um sie als Andenken zu behalten; und so reise man dann ab! Womöglich auf einem anderen Wege, als man auf der Hinreise eingeschlagen, um desto mehr zu sehen.
Zu Haus angekommen, soll man seine lieben Eltern, wenn [591] sie noch leben, desgleichen die Geschwister, auch seine gewesenen guten Gönner, Lehrmeister und alte Freunde gebührend grüßen und sie heimsuchen, auch die alte Kund- und Freundschaft erneuern, seiner alten Schulgesellen nicht gar vergessen. Man soll sich „auch wieder in seines Vaterlands ehrliche, löbliche und zulässige Sitten und Gewohnheiten schicken, dagegen die fremden, den Seinigen ungewohnten, lächerlichen Gebehrden, die seltsame fremdländische Kleidung und Haartracht abthun“, sich die Muttersprache wieder „angewöhnen“, von seinen Reisen und Reiseerlebnissen nicht viele und große Worte machen. Mit den in der Fremde gefundenen Freunden und Bekannten soll man in Briefverkehr bleiben. Und was man draußen erlebt, soll man mit den Erzählungen und Schriften Anderer vergleichen und Alles in eine ordentliche Beschreibung bringen. Ueberhaupt aber soll man in seinem Thun sich so verhalten, daß man bald „zu einem Amte und guten Heirath befördert werde, und soll hernach seinen Stand und Beruf mit aufrichtigem Wandel, Treu, Fleiß, Freundlichkeit, Verstand, Weisheit, Nüchternheit und guten Tugenden wohl verwalten, also daß man die Unkosten, Mühe und Gefahr und anderes, so man an seine Reise gewendet und ausgestanden, Gott zu Ehren, dem Vaterlande, sich und den Seinigen zum Besten wohl anlege“.
So der brave Zeiller – etwas ungelenk im Ausdruck und weit hergeholt, aber gut gemeint. Wenn eine Reise – fügen wir hinzu – diese Folgen hatte, dann paßte auf den glücklich Heimgekehrten nicht der alte Vers:
Eine Gans über Meer,
Eine Gans wieder her;
Eine Gans über’n Rhein,
Eine Gans wieder heim.
Die Collectenbrüder sind eine so eigenartige Erscheinung innerhalb des deutschen Komödiantenlebens, sie leisten so viel in wehmüthigem Humor und unfreiwilliger Komik, daß es immerhin lohnend ist, ihre nähere Bekanntschaft zu machen.
Gehen wir zunächst ein wenig auf das eigentliche Wesen – oder richtiger Unwesen – der Collectenbrüder ein. Der Collectenbruder ist nur noch Schauspieler „der Collecte wegen“. Man darf keineswegs annehmen, daß er ursprünglich ein talentloser Schauspieler gewesen sei. Im Gegentheile, die Collectenbrüder bestehen meist aus zu Grunde gegangenen Talenten. Dagegen fehlt ihnen vollständig der Charakter, der dem Talente erst seinen Werth verleiht und es entfaltet. Schwache, haltlose Genußsucht, beim Edleren beginnend, um beim durchaus Unedlen zu enden, machte diese Leute meist zu Dem, was sie sind. Nebenbei hassen sie Alles, was man irgendwie mit dem Namen Arbeit bezeichnen könnte. Die Arbeit ist ihr furchtbarster Feind. Außerdem und sie Communisten von reinstem Wasser. Ein wahres Glück, daß ihre angeborene Gutmüthigkeit sie verhindert, das Verlangen nach Theilung anders als in sehr gemüthlicher Weise auszudrücken.
Der Collectenbruder reist immer, findet aber sonderbarer und unglücklicher Weise niemals Engagement. Einzelne unter ihnen capriciren sich auf bestimmte Länder oder Provinzen, die sie für besonders lohnend halten. In regelmäßiger Wiederkehr beglücken sie alle Bühnen dieser Provinz. In ihrer Sprache nennen sie das „eine Gegend abklappern“. Sie haben an alle Bühnen Bekannte oder behaupten wenigstens mit liebenswürdiger Unverschämtheit, solche dort zu haben. „Erinnerst Du Dich nicht, mein Sohn? Wir waren ja vor zwei Jahren in Panken an der Passarge bei dem Galgen-Lindner engagirt.“ – Dieser mit apodiktischer Bestimmtheit auftretenden Anrede fällt der junge Nachwuchs der Mitglieder gewöhnlich zum Opfer, und die, welche den ungläubigen Thomas spielen wollen, werden von dem hartgesottenen Sünder angedonnert: „Aha, merke schon, bist arrogant geworden, Bengelchen – willst einen alten Collegen, der Dir Gehen und Stehen beigebracht hat, nicht mehr kennen – pfui Teufel!“ – Das unglückliche Opfer wankt, um Aufsehen zu vermeiden, so schnell als möglich mit dem „alten Collegen“ in das nächste Wirthshaus, macht für ihn die Collecte, zahlt mehr als jedes andere Mitglied, um sich nicht den donnernden Vorwürfen des „Freundes“ auszusetzen, und athmet erleichtert auf, wenn der Collectenbruder am andern Morgen die Stadt verläßt. Die Nacht über hat es sich der Brave natürlich bei seinem junge Freunde bequem gemacht, und die bescheidene, mit unwiderstehlicher Liebeswürdigkeit vorgetragen Bitte um „ein Hemd, diesen Shlips und jenen Ueberzieher, der Dir ja gar nicht paßt, mein Junge,“ – hat er ihm auch nicht abschlagen können.
Nicht alle Collectenbrüder gehen so energisch auf ihr Ziel los. Die gewöhnliche Art, Collecte zu machen, ist weniger keck. Der Eingewanderte läßt sich im nächsten Wirthshause Papier, Tinte und Feder geben und verfaßt eine mehr oder weniger herzbrechende Epistel an „die hochgeehrten Mitglieder dieser Bühne“. Mit der devoten Bitte nur „Circulation“ wendet er sich dann an den Director, Regisseur oder Inspicienten, findet sich während des letzten Actes wieder ein, um die „unterschriebene Collecte“ in Empfang zu nehmen, überfliegt mit geübtem und prüfendem Blicke die gezeichnete Beiträge, präsentirt die Liste dem Cassirer mit dem tiefen Seufzer eines Armen und Elenden, streicht das Geld mit zitternden Händen ein, thut sich sofort einige Seidel, respective Liqueure an und verschwindet dann spurlos bis – „zum nächste Male“.
Nicht selten findet man unter den Collectenbrüdern Leute, die früher zu den Berühmtheiten gehörten, den Directoren die Cassen gefüllt und Tausende selbst eingestrichen haben. –
Im Jahre 1862 standen wir, eine Anzahl jüngerer Mitglieder des Leipziger Stadttheaters, während einer Opernprobe vor dem alten Theater. Da nahte sich uns mit unsicherem Schritte und einknickenden Beinen eine höchst fragwürdige Gestalt.
„Was mag der Jude hier wollen?“ begann Einer von uns, auf den Herannahenden deutend. „Die Messe ist doch längst vorüber.“
Der Näherkommende schien allerdings zu den Glaubensgenossen aus Jaroczyn oder Schrimm zu gehören, welche in oft unglaublicher Toilette zur Meßzeit Leipzigs Brühl frequentiren. Er trug einen in den letzten Zügen liegenden, ehemals grauen Ueberzieher, ein buntes, baumwollenes Halstuch, zu kurze, jeder Farbe spottende Beinkleider, an dem rechten Fuße einen absterbenden Stiefel und am linken einen halb genesenen gestickten Hausschuh. Den beulenbedeckten Zylinder trug er im Nacken. Das Gesicht zeigte unverkennbar den jüdischen Typus.
Die Gestalt war an uns herangetreten und fixirte uns mit einem halb listigen, halb verworrenen Blicke. Dann fragte sie mit einem leichten Anfluge jüdelnder Sprechweise:
„Ich hab’ die Ehr’, meine Herren. Sie sind gewiß Collegen?“
Wir schauerten.
„Collegen?!“ fragte Einer zweifelnd.
„Mein Name ist Gädemann.“
Gädemann! Da stand er vor uns, von dem uns die Tradition schon so viel erzählt hatte, der berühmte „Heymann Levi“ in Angely’s Posse: „Paris in Pommern“. Er war nur durch diese Rolle berühmt. Er hatte sie „geschaffen“, und sie hatte ihn zu einem gesuchten Virtuosen gemacht, der Deutschlands Städte triumphirend durchzog und Tausende von Thalern einheimste. Die beleidigte Kunst, die Denjenigen, der virtuosenhaft nur eine oder einige Rollen „cultivirt“, niemals zu ihren wahren Jüngern zählen wird, wurde gerächt durch den Menschen Gädemann. Nach einer an Geld und Triumphen reichen Periode sank der schwache, haltlose Mann tiefer und tiefer und gehörte schon seit geraumer Zeit zu den ausgesprochenen Collectenbrüdern. So stand er vor uns.
„Mein Name ist Gädemann. Sie werden mich kennen – ich bin im Unglück – ich komme nirgends mehr zum Spielen,“ und mit einer Art Galgenhumor setzte er halb wehmüthig hinzu: „Man will den Heymann Levi nischt mehr sehen.“
Wir schwiegen und hatten wohl Alle die gleichen Gefühle.
[592]
[594] „Ich möcht’ bitten um eine Collecte,“ fuhr er dann ruhig fort, als sei ihm diese Bitte schon eine sehr geläufige.
„Wollen Sie sich an den Secretär L. wenden!“
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
„Faul! Ich hab’ mir sagen lassen, der Secretär ist grob und giebt höchstens zwanzig Groschen. Seien die Herren Collegen so freundlich und nehmen Sie die Sach’ in die Hand!“
Er überreichte uns einen Collectenbogen. Wir bedeuteten ihm, er möge in der nahe gelegenen Restauration warten. Wir brachten in aller Eile mehrere Thaler zusammen. Zwei von uns übergaben sie ihm. Er dankte oberflächlich und handwerksmäßig.
„Was gedenken Sie jetzt zu beginnen?“
„Weiß ich’s? Ich werd’ mich nach Magdeburg durchschlagen.“
Wir entfernten uns. Er mag einen guten Gebrauch von seiner Collecte gemacht haben. Am andern Morgen hörten wir, er sei in später Nachtstunde sinnlos betrunken von der Polizei aufgegriffen worden und habe immer gerufen:
„Lassen Sie mich los! Ich bin Gädemann – aber ich kann meinen Gasthof nicht finden!“
Jetzt ist er schon lange todt, der berühmte Heymann Levi, elend verdorben, gestorben. –
Einen mehr heiteren Eindruck machte ein Collectenbruder, den ich etwas früher, während meines Engagements am Stadttheater in H., kennen lernte. Dieser Collectenbruder bereiste vorzugsweise die Provinz Sachsen und Thüringen. Das Stadttheater in H. stand damals, 1861, unter der Leitung eines Directors W. Er war ein geborener Kleinpariser, ein sehr tüchtiger Musiker, aber ein sehr schwacher, allzu gutmüthiger Director. Sein Regisseur und Schwiegersohn war das directe Gegentheil. Eine gallig-giftige, eckige Natur, welcher nur Derjenige ein tüchtiger Regisseur war, dem fortwährend donnernd grobe Ausdrücke zu Gebote standen. Die Proben waren unter diesen Umständen sehr ergötzlich. Der Director hielt es nämlich für seine Pflicht, jeder Stückprobe mindestens eine Stunde beizuwohnen, das heißt schlafend. Sein Armstuhl stand links vom Souffleur. Der Regisseur und Schwiegersohn saß rechts. An die vielen „Donnerwetter!“ seines Eidams war der Director schon gewöhnt; sie störten ihn nicht mehr in seinem Probenschlafe. Nur ein Kraftausdruck ließ ihn stets emporfahren. Rief nämlich der Regisseur-Schwiegersohn im höchsten Zorne aus: „Verfluchte Zucht!“ so sprang a tempo der Director-Schwiegervater aus dem Schlafe empor, stieß einige Male mit seinem Stocke auf das Podium, gab seinem gutmüthigen Gesichte ein möglichst bösartiges Aussehen und rief in hoher Tenorlage: „Aufpass’n müss’n Se, meine Herrschaften, sonst lass’n mer die Sache lieber noch ansteh’n.“
Doch zurück zu meinem Collectenbruder. Eines schönen Tages hatten wir wieder Probe. Wir waren mitten im zweiten Acte eines Benedix’schen Lustspiels, und der Regisseur hatte sich eben das Soufflirbuch geben lassen, um „noch ein Stück zu setzen“. Während einer todtenstillen Pause ließen sich plötzlich die donnernden Worte eines kräftigen Basses vernehmen:
„Jutten Marrrgen!“
Der Donnergruß kam aus dem dunklen Hintergrunde der Bühne. Alles lenkte seine Blicke dahin, den Frevler zu erspähen. Der Regisseur-Schwiegersohn wirft das Buch wüthend hin und schreit:
„Verfluchte Zucht!“
A tempo springt der Director-Schwiegervater empor und ruft pflichtgetreu:
„Aufpass’n müss’n Se, meine Herrschaften –“
Weiter kam er nicht. Langsam und feierlich entwickelte sich aus dem Dunkel des Hintergrundes ein kurzer, dicker Mensch. Der kleine, robuste Jupiter tonans trat gemessenen Schrittes bis in die Mitte der Bühne, zog den Hut, strich mit einem baumwollenen, blauen Taschentuche sorgfältig einige spärliche Haare der vorderen Glatzengegend zurecht, suchte dem allzu engen, unmodernen, braunen Frack vergebens etwas Taillenfaçon zu geben und sprach dann mit kräftiger Würde:
„Ich brauche nicht um Entschuldigung zu bitten, Herr Director, da Sie mich kennen. Meine Herrschaften – mein Name ist Hugo Köhler – Baßbuffo und Heldenvater. Ich bin auf der Durchreise und etwas in Verlegenheit. Herr Director,“ fuhr er fort, diesem nähertretend und den Collectenbogen überreichend, „Sie kennen mich von früher. Darf ich auf Sie rechnen? Vielleicht gastire ich einmal bei Ihnen. Drüben bei Pippert werde ich das Resultat erwarten. Lassen Sie sich nicht stören, meine Herrschaften!“
Sprach’s und verschwand majestätisch wie langsam verrollender Donner. Allgemeine Verblüffung, dann herzliches Lachen. Aber unser Director und sein „artistischer Leiter“ kannten den kurzen, dicken Mann schon.
„Gehen wir nur weiter! ’s ist Hugo Köhler – der kommt alle Jahre zweimal.“
Die Collecte wurde gemacht, und ich begleitete den Inspicienten zu Pippert. Hugo saß beim Seidel. Mit milder Herablassung empfing er uns.
„Setzen Sie sich, meine Herren, und lassen Sie sehen, was Sie mir bringen!“ Er nahm die Collecte entgegen. „Kellner – zwei Seidel für die jungen Leute!“
„Aber Herr –“
„Junger Mann, Sie werden doch einem alten Komödianten keinen Korb geben?“
Ich schwieg resignirt. Der Inspicient, eine durstige Natur, liebäugelte bereits mit dem gebrachten Gerstensafte. Hugo studirte die Liste der Geber. Seine Züge wurden düster, und mit verhaltenem Grimme grollte er:
„Ein Thaler zweiundzwanzig und ein halber Silbergroschen – das ist wenig – sehr wenig! Ich hätte dem Stadttheater in H. mehr Mitgefühl für einen Künstler meines Ranges zugetraut. – Doch – legt’s zu dem Uebrigen! – Prost, Ihr Herren!“
Der schlagflüssige Heldenvater wurde redselig. Er erzählte uns Räubergeschichten aus „seiner guten Zeit“.
„Seht Ihr, Kinder – die Natur, die Natur – das ist die Hauptsache! Ich bin noch in der Iffland’schen Schule gebildet – Goethe war mein Regisseur; die Natur ist mir Alles. Ihr solltet mich als Oberförster in den ‚Jägern‘ sehen! – na, vielleicht gastire ich einmal bei Euch. – Der neuen Schule fehlt die Natur. Das habe ich vor zwei Jahren dem Hendrichs in’s Gesicht gesagt; nur niemals hinter dem Rücken, daran halte ich fest, immer in’s Gesicht! Hendrichs gastirte bei uns in – na – in – wie heißt denn das Nest gleich? Na, ’s ist ganz egal – ich glaube beim ‚Aenne‘ war’s. Ich war dort als erster Vater engagirt. Hendrichs wollte den Tell spielen. Wollte, sag’ ich, denn er hat ihn nie spielen können. Ich spielte den Stauffacher. Macht der Mensch den Blödsinn und betont auf der Probe:
‚Mit diesem zweiten Pfeil durchschoß ich‘ – fünf Minuten Aufenthalt – ‚Euch‘ etc.
Aber, lieber Hermann, sag’ ich, welcher Unsinn! Einen Pfeil hast Du bereits verschossen; den zweiten hast Du in’s Wamms gesteckt. Diesen Pfeil ziehst Du bei diesen Worten hervor und rufst:
‚Mit diesem zweiten Pfeil durchschoß ich Euch etc.‘
So mußt Du den Vers sprechen, mein Junge, denn Geßler ist ja gerade darum so wüthend und läßt Dich dann gefangen nehmen, weil Du, der Tell, ihn hast erschießen wollen. Ist das nicht psychologisch richtig?!“
Hugo sah uns triumphirend an. Wir waren starr. Er weidete sich an unserem Staunen und hauchte dann mit glückseligem Lächeln:
„Ja, ja, Kinder, das ist Iffland’s Schule. Hendrichs hat mir auch nicht ein Wort erwidert. Prost, Ihr Herren!“
Der dicke Hugo ruht wohl schon lange in Frieden. Ebenso sein für das Königreich Sachsen concessionirter Kumpan, Namens Loose. Dieser behauptete allen Ernstes, eine Concession zu besitzen, wonach er „an allen sächsischen Bühnen Collecte machen dürfe“. Auch dieses Original war ein Freund des Wanderns und des Liqueurs. Wurde ihm gesagt: „Loose, fragen Sie doch bei dem und dem Director um Engagement an!“ so hatte er immer dieselbe Geschichte in Bereitschaft.
„Zu allen Directoren – nur nicht zu diesem, mein Sohn! Dieser Mensch ist der Mörder meiner Tochter.“
„Aber –“
„Höre, mein Sohn! Ich bin mit meinem braven Weibe und meiner vierjährigen Tochter bei diesem Menschen in
[595] Engagement. Wir reisen von Tirschtiegel nach Wüstegiersdorf. Es war im Winter und bitter kalt. Unterwegs brechen wir die Achse und müssen in einem Dorfe übernachten. Der Wirth kann uns nur ein heizbares Zimmer geben. Dieses eine heizbare Zimmer nimmt dieser Mensch, dieser Director mit seiner Frau in Beschlag. Ich sage zu ihm: ‚Director, seien Sie human! Sehen Sie, wie mein braves Weib mit den Zähnen klappert und meine Tochter vor Frost zittert – geben Sie uns, Ihren besten Mitgliedern, das heizbare Zimmer!‘ – ‚Nein,‘ antwortet der Schinderhannes. Wir übernachten also in sibirischer Kälte. Am andern Tage bekommt mein armes Kind die Masern.“
„Und stirbt?“
„Nein – Gott sei Dank! – aber sie hätte sterben können, und dann wäre dieser Bandenchef ihr Mörder gewesen. Lieber auf der Landstraße, als in’s Engagement zu solch einem Menschen!“ –
Die Collectenbrüder werden immer seltener. Wenn der Realismus und die auf das Materielle gerichtete Zeitströmung ein Gutes gewirkt haben, so ist es namentlich ein energisches Zusammenfassen der Kräfte, auch des Einzelnen, innerhalb des Standes der Bühnenkünstler. Diese Errungenschaft wird auch die Collectenbrüder wegfegen. Für das unverschuldete Unglück sind ja die „Einigkeit“ und die „Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger“ helfend einspringende Institutionen.
Schließlich noch einen heitern Beweis, daß auch die Collectenbrüder mit der Zeit fortschreiten. Ein herumreisender Collectant hat sich die nachfolgende Epistel fein säuberlich in eleganter Ausstattung auf einen Bogen Velinpapier drucken lassen. Hat er sich eine Bühne zum Opfer erkoren, so sendet er aus einem nahegelegenen Orte die Epistel portofrei unter Kreuzband an die betreffende Direction. Am folgenden Tage oder Abende erscheint er höchst persönlich, um die Moneten in Empfang zu nehmen. Die traurige Historie – denn eine solche ist es – lautet wörtlich und buchstäblich:
„Hochgeehrter Herr!
Ein fünfundachtzigjähriger Bühnenveteran wagt es, Derenselben dieses Gesuch gedruckt zu übergeben, da eine Verwundung der Hand ein solches Zittern zurückgelassen, daß mir das Schreiben fast beinahe unmöglich wird.
Durch den Krieg 1866 bin ich in einen so hülflosen Zustand gekommen, daß ich mich oft selbst frage, warum ich ein so trauriges Leben noch trage. Ich wollte damals von Coburg nach Dresden, wo ich früher engagirt war, konnte aber nicht mehr des ausgebrochenen Krieges wegen durch. Nun reiste ich über Elster-Eger und kam nach Waldsassen in Baiern. Mein langjähriges Ersparniß war durch eine fünf Monate lange Cur der Hand und auf der Reise d’raufgegangen, und ich mußte meine beste Garderobe veräußern, um mich gegen den nachschleichenden Hunger zu schützen, denn Herrmann mein Rabe kam nicht. Dafür kamen in der Nacht drei Gensdarmen, nahmen meine Sachen in Beschlag und brachten mich in ein Gefängniß. Den Tag darauf vor den Landrichter geführt, sagte dieser: ‚Sie sind der Spionage verdächtig und bleiben hier in Haft, bis von der betreffenden Behörde, an welche Ihre Papiere abgesendet worden, ein Bescheid ankommt!‘ Da half kein Protestiren; ich dachte, wie Talbot in der ‚Jungfrau von Orleans‘ sagt: ‚Unsinn, Du siegst, und ich muß untergehen.‘ – Also zurück in den Thurm, alter Moor! Die Sache hatte aber auch ihre ernste Seite – ich kenne das; mußte ich doch in dem spanischen Kriege 1809 selbst die tödtliche Kugel auf einen vermeintlichen Spion absenden, der nicht überwiesen war. Im Kriege macht man mit einem Menschenleben nicht viel Umstände.
Mein Gefängniß war ein kleines, feuchtes Gewölbe – ein Fensterchen hoch oben, etwas Stroh, keine warme Nahrung etc. Wie nun aber in unseren Operetten und Lustspielen ein Gefängnißwärter gewöhnlich eine hübsche Tochter hat, so auch hier. Die etwa Sechszehnjährige kam immer mit, wenn mir der schweigsame Vater Brod und Wasser brachte. Einmal trat sie eine Minute vor ihm in meine Zelle. Das schien mir ein günstiger Augenblick, mich mit ihr zu verständigen wegen einer Tasse Kaffee, nach der sich mein mißhandelter Magen sehr sehnte. Ich sprach zu ihr; keine Antwort – ich wiederholte – sie sah mich groß an – auch diese Hoffnung war umsonst – das arme Kind war taub – der Alte kam.
Die Folgen dieser Kerkerhaft waren für mich schrecklich. Ich hatte mich erkältet, das fiel auf mein Gehör. Ich blieb drei Jahre ganz taub und höre jetzt nur wieder gedämpft auf dem linken Ohre. – Elendes Künstlerleben! Ueber fünfzig Jahre an der Bühne; immer, sowohl in der Oper wie im Schauspiel, auch auf größeren Bühnen stets in ersten Fächern beschäftigt, muß ich jetzt darben, oft hungern. – Viele leidende Collegen habe ich gern unterstützt, und nun bin ich selbst ein Bittender. Ich wage nun den schweren, demüthigenden Schritt, dieselben ergebenst zu bitten, mein Gesuch um Unterstützung mittelst Collecte den geehrten Herren und Damen mit einigen wohlwollenden Worten an ihr theilnehmend Herz zu legen. Es wird Ihnen Segen bringen. Ich will ja gern den Diener, welchen Sie etwa damit beauftragen, entschädigen. Mit dero Genehmigung werde ich die Ehre haben, mich morgen bei Ihnen anzumelden und mich mit Paß etc. legitimiren. Hochachtungsvoll Dero gehorsamer Diener
Was sagt der geneigte Leser hierzu? Der Mann annectirt ja den ganzen Pomp eines Colportageromans, um zum Ziele zu kommen. Und portofreie Zusendung! Elegante Ausstattung in Papier und Buchstaben! Wenn die Collectenbrüder sich so veredeln, darf man da nicht hoffen, daß sie mit der Zeit ganz verschwinden werden? –
Eine Geschichte der letzten österreichisch-ungarischen Nordpol-Expedition in Bildern. (Mit Abbildungen S. 592 und 593.) Hinter der großartigen Wasser- und Felsenscenerie des Nordens liegt eine Welt voll geheimnißvoller Reize verborgen, gleich wichtig für den wissenschaftlichen Forscher wie für den denkenden Menschen überhaupt. Seit Jahrhunderten ist der Nordpol das Ziel kühner und in ihren Erfolgen oft bedeutungsvoller Unternehmungen gewesen, aber noch immer sind die höchsten arktischen Regionen uns geblieben, was sie schon den alten Deutschen waren, der unentweihte Sitz der Götter, irdischem Trachten unerreichbar; denn noch keine unter den Forschungsexpeditionen hat ihre Aufgabe völlig gelöst; noch keine hat jenen äußersten und letzten Erdpunkt gefunden, der, den Berechnungen der Geographen zufolge, die höchste nördliche Breite, aber gar keine Länge repräsentirt.
Einen Schritt weiter in die nordische Eiswüste als die früheren Unternehmungen hat indessen die letzte österreichisch-ungarische Expedition gethan. Sie hat an mehr als einer Stelle den Schleier gelüftet, der uns die Wunder jener geheimnißvollen Erdregionen verhüllte; sie hat diese Erfolge errungen durch eine Reihe der schwersten Gefahren und Drangsale, welche in ihrer fast übermenschlichen Größe und Furchtbarkeit den Hörer beinahe wie ein Märchen gemahnen.
Der Gang dieser Nordpolfahrt und die Schicksale ihrer Mitglieder sind allbekannt. Für fast drei Jahre ausgerüstet, ging die Expedition am 13. Juni 1872 mit dem Schraubendampfer „Tegetthoff“ von Bremerhafen in See, erreichte Mitte August die Barents-Inseln und gerieth schon am 21. desselben Monats auf eine riesige, zuerst nach Nordosten, dann nach Nordwesten treibende Scholle, auf welche sie, von Eis ringsum eingeschlossen, für die Dauer von zwei Jahren festgebannt war. Am 28. Oktober brach die arktische Nacht über die willenlos dahin Treibenden herein. Der blaßgrünen Dämmerung folgte die lange schwarze Polarnacht von hundertneun Tagen. Wehmüthig blickten die hülfelosen Schiffer den gen Süden ziehenden Vögeln nach – dann schien jede Spur des Lebens vertilgt, und über dem stillen Reiche lagerte undurchdringliche Finsterniß. Fünf bange Monate waren die Lampen in der Kajüte des „Tegetthoff“ die einzigen Lichtspender in dieser Wüste der Nacht; nur wenn der Mond schien, schimmerten die Taue gleich silbernen Strahlen über das Schiff hin.
Am 16. Februar 1873 endlich ging die Sonne wieder auf, und am 31. August sahen die verwegenen Segler etwa vierzehn Meilen vor sich im Norden – Land. Ein erhabener Augenblick! Es waren die nachher als Kaiser-Franz-Joseph-Land bekannt gewordenen Eisregionen. Aber erst Ende Oktober betraten die Entdecker, über geborstenes und hoch gethürmtes Eis drei Meilen hinwegschreitend, eine öde, traurige Insel, die Wilczek-Insel. Dann wieder, vom 22. Oktober an, tiefe Polarnacht, diesmal hundertfünfundzwanzig Tage dauernd. Der 24. Februar brachte das lang ersehnte Sonnenlicht zurück, und nun begann mit den Schlittenreisen zur Erforschung des Kaiser-Franz-Joseph-Landes eine für die Resultate der Expedition überaus wichtige Zeit. Auf diesen höchst gefahrvollen Schlittenexcursionen traten alle Schrecken des Landes den unverzagten Forschern in der drohendsten Gestalt entgegen: Kälte, Hunger und Nässe mußten ertragen, gefährliche Eisspalten und von Meereswasser überfluthete Landesstrecken überschritten, Schneestürme und alle Unbilden des Wetters erduldet werden. „Allen Lebens bar lag das Land vor uns,“ heißt es in Julius Payer’s Mittheilungen, „überall starrten ungeheure Gletscher von den hohen Einöden des Gebirges herab, dessen Massen sich in schroffen Kegelbergen kühn erhoben. Alles war in blendendes Weiß gehüllt, und wie
[596] candirt starrten die Säulenreihen der symmetrischen Gebirgs-Etagen.“ – Da die Abbringung des „Tegetthoff“ von der Eisscholle unmöglich war, der Mangel an Proviant und der geschwächte Gesundheitszustand der Mannschaft aber eine Rückkehr nach Europa dringend erheischten, so wurde der Entschluß gefaßt, das Schiff zu verlassen und mit Schlitten und Booten die Heimkehr anzutreten.
Am 20. Mai 1874 wurde der „Tegetthoff“ seinem Schicksale überlassen, nachdem die Flaggen an seine Masten genagelt worden. Die Rückkehr in die Heimath begann. Die Ausrüstung war eine sehr karge. Niemand nahm mehr mit sich als die Kleidung, die er gerade trug, und eine Decke. Anfangs drei, dann vier Boote, auf Schlitten ruhend, drei große Schlitten mit Gepäck, Proviant, Munition etc. daneben – das war die ganze Karawane des Nordens. Am 14. August langten die Unverzagten an der Eisgrenze an und sahen den offenen Ocean vor sich. In der Dunenbai nahm der russische Schiffer Voronin die Schiffbrüchigen auf und führte sie nach Varolö in Norwegen, von wo sie in die Heimath zurückkehrten.
Das in kurzen Zügen die bekannten äußeren Schicksale der letzten österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition – ein äußerst reichhaltiger Stoff nicht nur für die nacherzählende Feder, sondern vielleicht noch mehr für den nachbildenden Stift. Der letztere ist gefunden. Der schon oben erwähnte Julius Payer, einer der Führer der Unternehmung und durch seine Theilnahme an zwei früheren Polarexpeditionen und seine Forschungen in der Hochalpenwelt längst bekannt, hat unter dem Titel „Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition 1872–1874“ soeben bei Bruckmann in München und Berlin und G. Capellen in Wien zwölf vortreffliche photographische Landschaftsbilder aus jenen höchsten arktischen Gegenden erscheinen lassen und denselben einen erläuternden Text, der uns bei Abfassung obiger Mittheilungen vorgelegen, beigefügt. Die beiden von uns wiedergegebenen Landschaften gehören zu den vorzüglichsten der Sammlung. Großartig ist der Gegenstand der einen – ein Schneesturm im Packeise während des Winters von 1873, eine Scene, welche im Leben unserer kühnen Nordpolfahrer nicht zu den Seltenheiten gehörte: zwei Männer verfolgen im fürchterlichsten Schneeorkan einen Eisbären, welcher einen Schiffshund fortgeschleppt hat. Die Naturstimmung dieses Bildes ist erhaben und in hohem Grade bezeichnend für den düsteren Charakter des Nordens. Auf der anderen Darstellung sehen wir (eine oben schon angedeutete Scene) die Mannschaft des „Tegetthoff“ das Schiff verlassen, um die Rückkehr in die Heimath anzutreten. Der wehmüthig ernste Augenblick, wo es hieß, den treuen Retter aus Noth und Tod, den sicheren Beschützer gegen all die harten Angriffe des rauhen nordischen Klimas, das schirmende und bergende Schiff zu verlassen, – dieser Augenblick war vielleicht der traurigste der ganzen Fahrt; ohne Frage war er der entscheidendste; denn es handelte sich nicht nur um die zweifelhafte Rettung des Lebens der viel umhergeschleuderten kühnen Seefahrer, es galt auch mit der Rettung der Männer selbst die Bergung der gesammten Resultate der Expedition. Mit welchen Gefühlen mochten die Tapferen von ihrem „Tegetthoff“ scheiden! Alles stand auf dem Spiele, und viel wahrscheinlicher als ein glückliches Umarmen von Weib und Kind in der fernen, sonnigen und warmen Heimath war den Verwegenen ein nasses Grab in der Nacht und dem Eise des Nordens. Der Moment ist anschaulich und lebhaft wiedergegeben und bringt eine der wichtigsten Episoden der Expedition mit greifbarer Lebenswahrheit zur Anschauung.
Zum Schlusse erübrigt uns noch, der trefflichen Ausführung rühmend zu gedenken, mit welcher der mit der höchsten Alpen- und Gletscherwelt vertraute Landschaftsmaler Adolf Obermüllner in Wien die nach den Skizzen Payer’s wiedergegebenen Landschaften hergestellt hat. Mit Recht rühmt Payer ihm in einem Briefe nach, daß er in seinen grandiosen Landschaftsbildern das feine künstlerische Empfinden mit treuer Wiedergabe der arktischen Natur habe zu vereinen gewußt.
Das Payer-Obermüllner’sche Prachtbilderwerk verdient seines interessanten Gegenstandes und seiner genialen Ausführung wegen den besten Landschaftswerken, die wir besitzen, beigezählt zu werden.Erlösung der Last- und Omnibuspferde durch eherne Rosse. Mit keinem Dinge der Welt – es müßten denn die Kanonen sein – wird gegenwärtig mehr herumprobirt, als mit der Straßenlocomotive. Aus Nordamerika, dem Geburtslande derselben, kommen alle Wochen Nachrichten über neue Einrichtungen, aber auch in London, Edinburg und jüngst in Paris und Kopenhagen hat man bezügliche Probefahrten angestellt, die alle mehr oder weniger befriedigend ausfielen. Die meisten mit der Sache beschäftigten Erfinder sind darüber einig, daß die Straßenlocomotive keine Feuerung haben dürfe, und der Eine füllt deshalb ihren Unterleib – denn der Wagenraum dient als Omnibus – mit überhitzten Wasserdämpfen, der Andere mit zusammengepreßter Luft, ein Dritter mit zahlreichen gespannten Stahlfedern; ein Vierter will scharf erhitztes Oel und ein fünfter soeben aufgetauchter Mitbewerber (der Amerikaner Keely) sogar „kalten Dunst“ als Triebkraft anwenden. Die betreffende Kraftladung würde jedesmal an einer der beiden Endstationen aus einem dort befindlichen Dampfkessel entnommen, respective mittelst einer Dampfmaschine erzeugt, zusammengepreßt oder gespannt werden. Das geht in allen Fällen viel schneller als Umspannen, Füttern und Tränken der Pferde; die Maschine kann, da sie der Ruhe nicht bedarf, sofort ihre Stundenfahrt wieder beginnen. Die Meister des aufgespeicherten Dampfes, der comprimirten Luft und der gespannten Federn haben längst Proben von der Verwendbarkeit ihrer Erfindungen abgelegt, und Jeder von ihnen lobt natürlich sein System als das beste. Der Bändiger des überhitzten Dampfes führt an, daß er gleichzeitig im Winter die Wagen warm erhalte, der Luftverdichter, daß er im heißen Sommer kostenlos und herrlich die Wagen kühlen könne, der Federmann, daß bei ihm keine Kesselexplosionen eintreten könnten, der Entdecker des „kalten Dunstes“ verspricht einstweilen den Actionären seiner sehr heiß bezweifelten Erfindung goldene Berge. Auf alle Fälle sehr nachdenklich ist die Idee eines sechsten Erfinders, dessen Modell vor etlichen Wochen zu Paris seine ersten Probefahrten angestellt hat, des Ingenieurs Fortin Hermann, der sich nicht ohne Berechtigung gesagt hat: „Geht doch mit Eurer Unnatur! Wenn Ihr eine Zugmaschine haben wollt, so gebt ihr Füße und nicht Räder, die nur auf Schienen vorschriftsmäßig laufen und zu gleiten anfangen, sobald die angehängte Last im Verhältnisse zum Maschinengewichte nur mäßig groß wird oder sobald die Steigung des Weges ein wenig zunimmt.“ Es ist nämlich ein eigenes Ding mit der Reibung am Boden, welche die Räder bekanntlich zu vermindern bestimmt sind. Bei zu wenig Reibung geht’s schlecht, wie wir bei Glatteis merken, und bei zu vieler noch schlechter, wie wir im tiefen Sande verspüren. Herr Hermann construirte also ein ehernes Thier mit vier Gelenkfüßen, bekleidete deren Sohlen mit Guttaperchaplatten, um ihre Haftfähigkeit am Boden zu vermehren, und setzte diese Füße durch eine kleine Dampfmaschine in entsprechende Bewegung. Das eiserne Thier lief vortrefflich, konnte viel größere Lasten ziehen als eine gleichstarke Räderlocomotive, trabte auf Pflaster und Landweg gleich gut und erklomm Anhöhen, die eine Locomotive nur mit Zahnradbetrieb oder magnetischen Rädern und ähnlichen Vorrichtungen erstiegen hätte. Nur die Schnelligkeit ließ vorläufig zu wünschen übrig, denn das Dampfroß legte nicht mehr als eine Meile in der Stunde zurück, und das ist offenbar zu wenig. Inzwischen ist aber der Erfinder beschäftigt, seinen Vierfüßler in einen Sechsfüßler, vielleicht gar in ein Thier, das „hundert Gelenke zugleich regt“, zu verwandeln, und hofft von diesen Dampflaufkäfern und Dampfasseln, daß sie mindestens die dreifache Schnelligkeit erreichen werden als das Roß. Natürlich wird nichts hindern, diese Thiere ebenfalls mit überhitztem Dampf, eingepreßtem Wind, kaltem Dunst und ähnlichen Kraftextracten und comprimirten Futtersorten zu speisen, und wir sehen hier wieder einmal, daß wir mit unserem Beförderungswesen noch kaum aus den Kinderschuhen heraus sind. Wie ganz anders muß es aussehen, wenn auf so einer Zukunftsstraße eine sechsbeinige Postkutsche daher trabt und ein zwanzigbeiniger Omnibus, stolz wie eine Galeere, mit unzähligen Rudern durch die Straßen einer Großstadt rast!
Ein religiöser Kartenspieler. Ein Soldat, Namens Richard Lee, wurde in Glasgow vor Gericht geladen, weil er während des Gottesdienstes Karten gespielt hatte. Der Vorgang war folgender:
Ein Sergeant hatte die Soldaten der Compagnie eben zur Kirche geführt. Der Geistliche verlas, wie üblich, die Gebete und den Text, wozu auch jene ihre Gebetbücher aufgeschlagen hatten und andächtig folgten; nur Lee legte anstatt des Buches ein Spiel Karten vor sich aus und betrachtete sie abwechselnd mit großer Aufmerksamkeit.
Der Sergeant traute seinen Augen kaum und flüsterte ihm zu:
„Richard, stecke die Karten ein! Hier ist nicht der Ort für solche Dinge.“
„Was schadet’s?“ sagte Lee und ließ sich nicht stören.
Als die Andacht beendigt war, trat ein Constabler auf ihn zu, erklärte ihm, daß er sein Gefangener sei, und brachte ihn vor den Mayor.
„Was hat der Mann begangen?“ fragte dieser den Constabler.
„Er hat in der Kirche Karten gespielt, Herr.“
„Was hast Du zu Deiner Vertheidigung zu sagen?“ fragte der Mayor den Soldaten.
„Sehr viel, mein Herr.“
„Das ist sehr gut, sonst wartet Deiner eine harte Strafe.“
Richard Lee: „Ich bin seit sechs Wochen auf dem Marsche, hatte kein Gebetbuch mit, aber ein Spiel Karten; diese brachte ich nun auch in die Kirche mit, und wenn Sie mich hören wollen, theile ich Ihnen mit, wie andächtig ich dabei gewesen bin.“ Er legte die Karten auf dem Tische auseinander und sagte: „Das Aß erinnert mich daran, daß es nur einen Gott giebt; die Zwei deutet auf den Vater und den Sohn. Bei der Drei denke ich an die heilige Dreieinigkeit. Wenn ich die Vier betrachte, erinnere ich mich der vier Evangelisten. Die Fünf ruft mir die fünf klugen Jungfrauen in’s Gedächtniß, die ihre Lampen schmückten; zwar waren deren zehn, aber nur fünf waren klug, die anderen waren thöricht und wurden abgethan. Bei der Sechs denke ich daran, wie Gott in sechs Tagen Himmel und Erde gemacht hat. Die Sieben sagt mir, daß Gott am siebenten Tage von seiner Arbeit ruhte und diesen Tag heiligte. Die Acht ruft mir die acht Gerechten in’s Gedächtniß, welche vor der Sündfluth gerettet wurden, nämlich Noah und sein Weib, seine drei Söhne und Schwiegertöchter. Bei der Neun denke ich an die neun Aussätzigen, die Christus heilte; es waren Undankbare, denn von zehn Geheilten kehrte nur einer zurück, seinem Wohlthäter zu danken. Bei der Zehn – woran könnte ich da anders denken, als an die heiligen zehn Gebote? Der König erinnert mich an den König des Himmels, die Königin an die Freundin Salomo’s, die eine weise Frau, wie er ein weiser Mann war. Als sie seinem Hofe einst einen Besuch machte, brachte sie in ihrem Gefolge fünfzig Knaben und fünfzig Mädchen, sämmtlich in Knabenkleidern, mit und stellte ihm die Aufgabe, die letzten von den ersten zu unterscheiden. Der König hieß einem Diener Wasser bringen und forderte die hundert Kinder auf sich zu waschen. Die Knaben benetzten die Hände knapp bis zum Handgelenk, während die Mädchen auch die Arme bis zum Ellenbogen geschäftig wuschen, wodurch die Aufgabe bald gelöst war. – Wenn ich nun sämmtliche Zeichen der Karten zusammenzähle, erhalte ich die Zahl 365, mithin die Tage eines Jahres.“
„Nun gut,“ sagte der Mayor lächelnd, „Du hast mir jede Karte bis auf eine erklärt –“
„Es fehlt nur noch eine, ich weiß es,“ rief der Soldat mit Eifer, „es ist der Bube. Wenn der Richter es nicht übel nimmt, will ich auch den noch bezeichnen.“
„Wenn Du mich damit nicht beleidigst, laß hören!“ sagte der Mayor.
„Der größte Bube, den ich kenne, ist der Mann, der mich herbrachte,“ sagte der Soldat mit einem ergrimmten Blicke nach der Thür, an welcher der Constabler stand.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Mobiliar, vergl. Berichtigung in Heft 37
- ↑ Vorlage: nicht noch wachsen, vergl. Berichtigung in Heft 37
- ↑ Vorlage: Ellers, vergl. Berichtigung in Heft 37
- ↑ vergl. Berichtigung in Heft 37