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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 34.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.


Hund und Katz’.
Eine Geschichte aus dem bairischen Oberlande.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


„Es ist schon hübsch awer (schneefrei) gewesen,“ flüsterte die Kranke in ihrer Erzählung fortfahrend, „nur diemalen in den Gräben und Gähwinden ist noch der Schnee gelegen, und wie ich von der Alm heruntergeh’, da lauft mir der Bursch in aller Hitzen und in vollem Rennen schier in die Händ’ hinein und an mir vorbei, als wenn er mich seiner Lebtag’ nie gesehen hätt’. In mir ist es heiß aufgestiegen, daß es ihm nit einmal der Müh’ werth gewesen ist, mich nur zu grüßen; er hat sich mit seinem Springstock über eine kleine Klamm in die Felsen hinein geschwung’, und eh’ ich mich recht besonnen hab’, sind schon die Jäger vor mir gestanden, die ihn versprengt und gesucht haben. Ob ich den Holzermartl nit gesehn hab’? haben sie mich gefragt; ich hab’ nichts geantwortet drauf, aber die Achseln hab’ ich hinaufgezogen und nach dem Gewändt hingeschaut und bin meiner Weg gegangen. Am andern Tag hat’s geheißen, daß der Holzermartl am Fuß von einem Gewändt ist todt gefunden worden. Die Jäger haben ihn dahin versprengt; da muß er auf einer Eisglaben ausgerutscht und abgefallen sein. Ich hab’ ihn nit verrathen,“ schloß sie nach kurzem Innehalten, „ich bin nit schuld daran und doch kann ich’s nit verwinden. Ohne mich lebet’ er vielleicht noch heut’ und hätt’ nicht Knall und Fall fortgemußt in die Ewigkeit und weg von Weib und Kind.“

Kuni schauderte und schluchzte laut auf.

„Um wen weinst so bitterlich?“ rief die Kranke wild. „Um ihn oder mich? Er hat doch den bessern Theil, Du weichherzig’s Ding; ich bin seither herumgegangen wie im Traum und habe keine gute Stund’ mehr gehabt. Ich bin inwendig versteint und verbeint worden, wie das Gewändt von dem er abgefallen ist.“

„Und die Feindschaft und den Haß habt Ihr mit herumgetragen, Basl?“ fragte Kuni entsetzt. „Habt Ihr Euch nie nach der Wittib und den armen Waiseln erkundigt?“

„Die sind Alle längst gut aufgehoben in der Ewigkeit,“ sagte die Kranke kaum hörbar.

„Und die Feindschaft und den Haß,“ begann Kuni wieder, „wollt Ihr auch mitnehmen in die Ewigkeit?“

Die Alte faßte nach ihrer Hand und sah ihr lange in’s Gesicht; in ihren Augen ward es helle, wie lange nicht mehr. Ein Gedanke sank wie ein Lichtstrahl in ihre todesumnachtete Seele. „Ich will es nicht thun,“ sagte sie dann, „Dir zu Liebe, Kuni, will ich es nicht thun; mache dort das alte Wandkästle auf und gieb mir die Schachtel her, die Du darin findest! Da sieh her!“ fuhr sie fort, als Kuni ihr das Verlangte gereicht hatte, „das da ist mein Gebetbuch; es ist wohl schon alt; die Blätter sind schon abgegriffen und braun, und die großen Buchstaben hat man jetzt auch nicht mehr, aber es ist ein Erbstück von meiner Mutter und soll ein Andenken an mich und sie sein, weil Du doch sonst nichts von mir annehmen willst.“

Kuni nahm mit dankbarer Regung das alte unscheinbare Buch – dabei fiel etwas aus demselben, was sie nicht sogleich zu erkennen vermochte.

Es war ein halbverrostetes, an beiden Enden etwas eingebogenes Stückchen Eisendraht, an welchem einige Kügelchen wie Betkorallen angefaßt waren.

„Wunderst Dich, was das vorstellen soll?“ fragte die Kranke, mit sichtbarer Erschöpfung und in mühsamen Absätzen. „An dem Weg, wo’s zu dem Gewändt hinein geht, wo er abgefallen ist, da steht ein Marterl an der Straß, wie’s Brauch ist. Unter dem Bild war der Draht mit den Rosenkranz-Korallen, damit die Leut’, die vorbeigehn, für den Verunglückten beten können. … Ich hab’ sie weggemacht – ich hab’ nicht haben wollen, daß die Leut’ beten sollten für den Menschen, der so schlecht war und dem ich so feind gewesen bin. … Willst mir ’was versprechen, Kuni, und willst es halten?“

„So gewiß, wie ich meine Mutter selig in Ehren halte.“

„So nimm den Draht – sobald Du kannst, geh’ in die Berg – suche das Marterl auf – mach’ die Korallen wieder hin – bet’ für ihn ein Vaterunser – und für mich auch!“

Die seltene Gabe entglitt der Hand der Zurücksinkenden. Kuni faßte dieselbe und drückte sie zum Zeichen des Gelöbnisses an den Mund.

Die Kranke lächelte. „Jetzt wird mir erst leicht,“ hauchte sie, „jetzt spür’ ich gar nicht mehr, daß mir noch etwas weh’ thut. … Oh … so leicht.“

Und es wurde ihr leicht – sie wandte sich etwas zur Seite und schloß die Augen, wie zum Schlafe. Sie vernahm und gewahrte nicht mehr, daß Kuni erschreckt die Hausgenossen rief, daß man der Sitte gemäß die Sterbekerze anzündete und Alles in der Stube niederkniete, um der sich befreienden Seele ein Gebet zum Geleit zu geben. –

Mit diesem Tode hatten alle Verhältnisse der Umgebung und insbesondere Kuni’s Stellung zu derselben eine ebenso plötzliche wie durchgreifende Umgestaltung erfahren – was sie

[566] an den Ort gefesselt hatte, war gelöst, und das Betragen der so unerwartet zum Besitze gekommenen lachenden Erben war nicht darnach angethan, sie durch neue Verbindungen festzuhalten. Obwohl der Vorsteher ihnen mit Nachdruck begreiflich machte, daß sie den unerwarteten Wohlstand eigentlich nur Kuni’s günstigem Einfluß auf die Verstorbene schuldeten, fanden sie sich doch keineswegs zu besonderer Dankbarkeit verpflichtet – hatten sie doch nur, was ihnen nach ihrer Meinung ohnehin gebührte, und die reiche Base, meinten sie, habe nicht mehr als ihre Schuldigkeit gethan, wenn sie die armen Vettern nicht beraubte. Sie ließen sogar ziemlich deutlich merken, daß sie an solche unbegreifliche Uneigennützigkeit nicht glaubten und fest überzeugt wären, Kuni habe sich durch heimliche Vorwegnahme irgend einer Kostbarkeit entschädigt, welche mehr werth sei, als der ganze übrige Plunder zusammengenommen. Wie ein einfallender Ameisenschwarm drangen sie in alle Räume und Behältnisse und durchwühlten, was der Fleiß und die Sorge so vieler Jahre aufgehäuft hatten. Immer unzufrieden mit dem Gefundenen, fingen sie untereinander zu schelten, zu theilen und zu feilschen an, unbekümmert darum, daß die Spenderin alles dessen, noch kaum erkaltet, in der Kammer nebenan unter dem Leintuche auf dem Schragen lag. Mißtrauisch besah und durchblätterte der Haupterbe das mit Neugier beobachtete Gebetbuch Kuni’s, und vor Allem betrachtete er den Eisendraht mit den Korallen und verständigte sich durch Augenwinken mit seinen Genossen, daß das wohl nichts Anderes sein könne, als irgend ein Zaubermittel, wie der Erdspiegel oder der Schlüssel von Sanct Apollonia.

Kuni wartete daher eben nur den dritten Tag ab, und als die Glocken verklungen waren, die dem Basl zu Grab geläutet hatten, machte sie sich auf den Weg nach Hause. Sie ward in ihrem Vorsatze durch die Ankunft eines Leichengastes bestärkt, der in die Stadt fuhr und mit dem sie daher bequem und sicher bis an den Anfang des Sees gelangen konnte. Wohl war sie ohne weitere Nachricht vom Schlösselhofe und wußte nicht, ob der Vater nicht doch das Fuhrwerk schicken werde, sie abzuholen, sie gedachte aber jedenfalls schon Tags vorher daheim einzutreffen und ihm die Ueberraschung des Wiedersehens zu bereiten. Dazu kam noch weiter, daß der Morgen des Begräbnißtages nach vielem Wehen und Stöbern hell und klar anbrach und daß ein leichter Frühfrost Wege und Stege wieder gehärtet hatte – es war also nicht schwer, wenn es nöthig werden sollte, ein gutes Stück Weges zu Fuße zurückzulegen.

Durch kleine Umstände, gegen die sie nichts ausrichten konnte, verzögerte sich aber die Abfahrt bis zur Mittagszeit; gleichwohl blieb Kuni bei ihrem Vorsatz; es war noch immer früh genug, um an den See und dann wenigstens nach Sanct Alban oder Diessen gelangen zu können. Nach einigen Stunden war der Scheideweg erreicht, wo sie sich von dem Gefährten trennen und auf der Landstraße ihre gesonderte Richtung einschlagen mußte. Sie schritt tapfer die breite und frostharte Bahn dahin, mitten durch lange Waldstrecken, denen das erweichende Thauwetter das winterliche Aussehen noch weniger abzustreifen vermocht hatte, als den flacheren Gegenden. Es war ein trübes Bild, das so ganz zu den Gedanken und Empfindungen stimmte, welche Kuni’s Herz und Sinn befangen hatten, so daß sie, der Umgegend nicht viel achtend, auch kaum gewahr wurde, daß mit dem herannahenden Abend das Wetter sein Aussehen abermals zu ändern begann. Grauweiße Wolkenmassen, welche wieder Schneegestöber im Schooße zu bergen schienen, sammelten sich im Süden und warteten nur des Sturmwindes, der sie als Steuermann über die Lande führen sollte. Wo eine Lichtung zwischen den Tannenwipfeln sich aufthat, zeigte ein mattes Rothgelb am Himmel, daß die Sonne sich bereits zum frühen Untergange rüste.

Der Tod der Base und wohl noch mehr, was sie aus deren Leben erfahren, hatte auf Kuni gewaltigen Eindruck gemacht – war doch in dem Ereigniß mit dem verunglückten Wildschützen und dem tiefgründigen Haß der Base gegen ihn etwas gelegen, was an die dunkle Stelle in ihrem eigenen Gemüthe erinnerte. Sie war vom tiefsten Mitleid für den Unglücklichen erfüllt und konnte die Gemüthshärte der Base nicht billigen, doch auf die Feindschaft, die sie selbst im Busen trug, übten diese Regungen nur einen sehr untergeordneten Einfluß. Ihr Fall war ja offenbar ein ganz anderer. Der Mann, den sie haßte, hatte außer der unvernünftigen Kinderzeit niemals in Beziehungen zu ihr gestanden, und ihre Abneigung gegen ihn war nur gerecht – hatte er sie nicht vor einer Unzahl Zeugen mit unerhörter Schmach bedeckt? Wenn sie auch durch ihren Schrei den Verfolgten wieder in die Hände seiner Feinde geliefert hatte, sie hatte keine Schuld daran. Es war unwillkürlich geschehen beim vermeintlichen Anblick ihres Gegners, wie selbst das bewußtlose Thier instinctmäßig erschrickt und aufschreit, wenn es sich plötzlich seinem Feinde gegenüber sieht. Wenn es auch dazu gekommen, daß Sylvest selbst zum Flüchtling geworden wie der Holzer-Martl, war sie vielleicht die unfreiwillige Veranlassung dazu, aber die Schuld traf ihn selber, warum hatte er sich eines flüchtigen Verbrechers angenommen? Und während sie das dachte, regte sich in ihr das Wohlgefallen, daß er es gethan und daß er sein Vorhaben so muthig und klug durchgesetzt hatte – wäre der Thäter ein anderer gewesen, wie hätte sie sich der That gefreut! Während so Gedanken und Gefühle wechselnd in ihr hin und wider flutheten, war es fast dämmerig geworden. Sie blickte um sich und gewahrte nichts, als hinter und vor sich die Straße, rings um sich her den Wald. „Es wird ja fast schon Zwielicht,“ sagte sie vor sich hin, „der Weg zieht sich doch länger, als man meint; ich denk’, ich werde da vorn am Brückel den Gangsteig einschlagen: auf dem ist’s fast eine Stunde näher, sonst wird’s finster, eh’ ich aus dem Wald draußen bin.“

Der Fußpfad war bald erreicht. Er sah stark betreten und kenntlich aus, so daß sie, mit Ort und Richtung ziemlich wohl vertraut, ihm unbedenklich folgte. Von ferne wurde es zwischen den Fichtengipfeln hell und ließ die Nähe des freien Landes erkennen.

Ebenso wurde es allmählich auch heller in Kuni’s Gedanken; sie war fest entschlossen, nicht wie die Base den Gifttropfen des Hasses in der Brust bis an’s Sterbelager mit sich zu tragen; sie schleuderte ihn von sich und dazu gab es ja ein einfaches Mittel; sie durfte nur an den Gegenstand desselben nicht mehr denken, durfte ihn einfach vergessen, dann war jede Beziehung zwischen ihnen zerrissen; es war so gut, als ob der Mensch gar nicht auf der Welt wäre, und wenn er wider Willen und Vermuthen ihr doch noch einmal vor die Augen käme, konnte sie gelassen bleiben, als wenn ihr der wildfremdeste Mensch begegnete. Wie sie sich aber dieses Vergessen und ihr Benehmen bei einer solchen Begegnung ja recht ausmalte, brach trotz aller Vorsätze die Gluth des alten Grolles wieder aus der dünnen Friedensasche hervor – sie sah ihn vor sich stehen, wie er sie mit den funkelnden Augen maß und sie vor Allen als eine Person hinstellte, welche verdiene gehaßt zu werden, und ein unverkennbares Etwas bäumte sich in ihr auf, als ob sie das niemals vergessen könne und dürfe, ehe er nicht für seinen Uebermuth gestraft und sie in der Meinung Aller wiederhergestellt sei.

Ein plötzlicher Windstoß schreckte sie aus ihren Träumereien auf, indem er ihr beinahe das Tuch vom Halse riß und sie zwang, besser des Weges zu achten, auf dem sie eilend und unbekümmert fortgeschritten war. Beklommen gewahrte sie, daß sie sich an einem Orte befand, der ihr, mindestens im winterlichen Gewande, völlig unbekannt war. Der Weg hatte an Spuren öfteren Betretenseins verloren und theilte sich überdies in geringer Entfernung in zwei Pfade, deren einer sich wieder in den Wald wendete, während der andere sich gegen eine offene, aber wieder durch einen buschigen Hügel abgeschlossene Niederung hinzog.

„Schau, schau!“ sagte sie, „da muß ich mich unter lauterm Denken und Sinniren vergangen haben; dort in den Wald darf ich nicht mehr zurück; ich schlag’ mich dorthin gegen das Freie, dort von der Anhöh’ muß ich ja eine Aussicht haben; es kann doch nimmer weit sein bis an den See.“

Der Entschluß wurde sogleich in’s Werk gesetzt, aber die Ausführung war schwieriger als sie geschienen. Das Gewölk, das sich immer tiefer und tiefer niedergesenkt, begann endlich sich in einem dichten Schneegestöber zu entladen, welches der Wind durcheinander trieb, so daß Kuni die nassen Flocken in’s Gesicht schlugen und sie kaum die Augen offen zu halten vermochte. Darüber schwand das letzte matte Tagesgrauen, und das Mädchen hatte kaum die Niederung durchschritten und die Anhöhe, an welcher aller Pfad sich verlor, erreicht, als die Nacht völlig hereingebrochen war und einen undurchdringlichen schwarzgrauen Schleier auf die ganze Gegend breitete.

[567] Rathlos, bereits empfindlich durchnäßt, starrte Kuni in die Finsterniß hinaus; sie glaubte eine weite grauweiße Fläche zu erkennen, die nichts anderes sein konnte, als der Ammersee; tiefschwarz lag der Hügelabhang da und am Fuße desselben ein nicht minder dunkler Streifen, der an’s Ufer führen konnte. Sie hatte Ziel und Richtung vollständig verloren.

Da blitzte es in nicht großer Entfernung auf; ein Licht wurde sichtbar und blieb ruhig an derselben Stelle haften. Das war der Schein aus einem beleuchteten Fenster; dort mußte eine menschliche Wohnung sein. Der Ort war nicht zu entfernt, als daß man ihn trotz des Dunkels und der Pfadlosigkeit nicht hätte erreichen können.

Aber die Nacht ist das Reich der Täuschungen und keines Menschen Freund. Mühsam, oft ausgleitend auf nassem Boden oder glattem Gesteine, gelangte Kuni den Abhang hinunter; die Hände waren ihr wundgerissen von den Aesten und Dornranken, an denen sie sich halten mußte, um sich vor dem Sturze zu sichern, und der schmelzende Schnee troff ihr von Stirn und Haar; dennoch waren die Mühseligkeiten, die ihrer harrten, noch größer als die überstandenen. Beim ersten Schritt auf den Boden vor ihr erkannte sie, daß sie auf Moorland getreten war, das, nur leicht überfroren und nur hier und da mit Grasbüscheln oder kümmerlichen Legföhren bestanden, jeden Augenblick unter ihr einzubrechen drohte. Ein Gefühl des Schreckens und zugleich so vollständiger Ermüdung überfiel sie, daß sie mit jedem Schritte in die Kniee zusammenbrechen zu müssen fürchtete.

Aber vor ihr brannte und lockte, nicht weichend, der Lichtschein.

Endlich war der Rand des Moores erreicht. Sie erkannte einen Streifen festen Landes unter ihrem Fuße, an dessen anderer Seite windbewegte Wellen anschlugen und die schwimmenden Schollen der geborstenen Eisdecke unheimlich rauschten.

Sie stand am Ufer des Sees. Eine hier und da mit Schnee bedeckte unkenntliche Masse lag dort im Wasser oder vielmehr im Ufereis; nur seitwärts ließen sich daran übereinander geschichtete Stöße von Holzscheitern unterscheiden. Es war eine sogenannte Scheere, eine eigenthümliche Einrichtung, wie sie kaum an einem andern Bergsee Oberbaierns in gleichem Umfange gebräuchlich ist. In den Bergen wird das Jahr über vieles Holz gefällt und in große Scheiter gespalten, die dann in die Ammer geworfen und von dieser, wenn auch mit unwilligem Gebrause, doch sicher in den See getragen werden. Damit sie sich in diesem nicht zerstreuen, werden sie übereinander geschichtet und in ein Balkengerüst eingefangen, das Scheere genannt wird. Tausende von Klaftern bilden dadurch eine Art von schwimmendem Holzfloß, der sich oft tief in den See versenkt. Kommt dann die offene Jahreszeit, so wird auf dem Flosse ein Mastbaum aufgerichtet, und wenn es gelungen ist, den Stoß festzufügen und ein günstiger Wind in’s Segel bläst, schwimmt der Holzriese an einem einzigen Tage bis zum andern Ende des Sees. Dort wird er zerlegt und die Scheiter wieder der Amper übergeben, um sie in die Münchener Holzgärten zu vertriften. Zur Sicherung der Scheere gegen die Elemente wie gegen etwaige Holzfreunde war den Winter über ein Wächter dahin gesetzt worden und hatte sich auf dem schwimmenden Koloß, den ein starkes Bastseil am Ufer hielt, aus Brettern eine leichte Hütte gebaut.

Aus ihrem Fensterchen schimmerte das Licht, das Kuni zum Leitsterne geworden war. Mit den letzten Kräften schleppte sie sich auf den von dem Lichte beschienenen Zugang des Scheerflosses und klopfte an die Hüttenthür; der Bewohner schien zu schlafen. Es währte eine Weile, bis Antwort erfolgte.

„Was giebt’s?“ rief er dann. „Wer ist da?“

„Eins, das sich vergangen hat,“ antwortete Kuni, „und in dem Wetter nicht mehr weiter kann.“ Sie brachte die Worte nur mühsam hervor, weil ein Schauder sie schüttelte, vor Frost und vor dem Klange der Stimme, die ihr wie nicht fremd an’s Ohr schlug. Der Mann in der Hütte zog den Holzriegel zurück und öffnete die Thür, die sich nach innen aufthat und dadurch ihn selbst, sowie einen großen Theil des kleinen Raumes deckte. Auf einigen aufgeschichteten Steinen verglimmten die letzte Reste eines Herdfeuers; ein schlechtes Oellämchen, das der Floßwächter in der Hand empor hob, gab eben genügend Licht, um die verschwommenen Umrisse der Hütte, sowie des Wirths und seines Gastes erkennen zu lassen.

Kuni war wie versteinert. Sie brachte keinen Laut hervor. Die Gewalt der Ueberaschung benahm ihr Ton und Wort; denn sie erkannte den Wächter augenblicklich, obwohl er, um sich zu verunstalten, das Haar geschoren und das Gesicht durch einen ganzen Wald von Bart hatte verwildern lassen – es war Sylvest, der vor ihr stand.

Auch er war betroffen und fand erst nach einigen Augenblicken ein Wort der Begrüßung oder Anrede.

„Grüß’ Gott!“ sagte er, „mußt Dich in dieser dunkeln Nacht arg vergangen haben, daß Du daher zu mir kommst. Wie ist denn das möglich?“

In abgebrochenen Worten berichtete Kuni, was ihr widerfahren war, während sie auf einen Holzstock niederglitt, der am Herde statt des Stuhles dienen mußte. Sylvest sah sie wie staunend an. „Da bist Du noch gut weggekommen,“ sagte er, „auf dem Weg’, den Du gemacht hast, kann Eins am hellen Tage und bei gutem Wetter zehnmal den Tod haben. Es ist schier, als wenn es so sein müßt’,“ setzte er mit bitt’rem Lachen hinzu, „daß wir uns überall in den Weg kommen …“

„Ich will nit lange bleiben,“ sagte sie gepreßt, aber sich der Einwirkung der Feuers mit sichtbarem Behagen hingebend, „ich will mich nur ein wenig ausrasten und wärmen, dann zeigst Du mir wohl den Weg, daß ich nach Sanct Alban hinüber komm’.“

„Das thu’ ich nicht,“ entgegnete er schroff, „Du thätst Dich zum zweiten Male und noch ärger vergehen, und das Wetter bricht auch immer wilder los. Wenn Du aber durchaus die paar Stunden nit mit mir unter ein’ Dach sein willst, so laß ich Dir das Nest allein, aber erst nimm da ein Glasel Kirschgeist, daß Dir die Verkältung nit schadet! Da ist auch noch ein Stück Brod, wenn Du Hunger hast; ich will noch ein Bissel Holz nachlegen, und dann will ich fortgehen und Dir die Hütten lassen für heut’ Nacht; mir macht der Wind und der Regen nichts; ich bin schon wetterhart.“

„Nein, Du darfst nicht hinaus,“ rief Kuni entschieden, „ich will Dich nicht von Deiner Hütten vertreiben; eigentlich bin ich ja doch daran schuld, daß Du flüchtig geworden bist und Dich so elend verbergen mußt.“

„Das Elend wird nicht ewig dauern,“ entgegnete Sylvest, indem er Kuni die erwähnten Erfrischungen reichte und das Feuer anschürte, „aber die Schuld liegt eigentlich doch nicht bei Dir. Was kannst Du dafür, daß ich Dir so zuwider bin, daß Du, sobald Du nur mich oder das Ulanenkollak siehst, aufschreien mußt, wie eine Andere, wenn sie etwa eine Kreuzspinn’ sieht? Was liegt auch daran? Jetzt sind wir einmal bei einander die Nacht, und wann’s die Leut’ auch erfahren thäten, es gäb’ doch kein Gered’ wegen uns Zweien. Die Leut’ wissen ja, wie’s beschaffen ist mit uns. Wenn es einmal Spieß’ und Hackel regnet, kriechen wohl Hund und Katz’ auch miteinander in Einer Hütten unter. Brauchst Dich aber nit zu sorgen, Mädel! Es erfährt Niemand was davon, es müßte nur sein, daß Du morgen hingingst und erzähltest, wer sich auf dem Scheerfloß eingehäuselt hat.“

Kuni drängte es, ihm auf seine höhnenden und aufreizenden Reden nach Gebühr zu erwidern, aber sie sah ein, daß ihr in vernünftiger Weise nichts Anderes übrig blieb, als in der Hütte zu übernachten. Sie zwang sich zu schweigen und lehnte sich wie schlaftrunken mit dem Kopfe an die Wand zurück; sie war es wohl auch. Die furchtbare und ungewohnte Anstrengung, die ausgestandene Angst und nun die sie umgebende behagliche Wärme, wie die genossene Nahrung, zogen ihr die Augenlider gleich Vorhängen zu, welche die Aussicht zurück wie vorwärts verhüllten.

Als Sylvest ihren Zustand gewahrte, zog er sich in die andere Ecke zurück, wo ein Haufen Streu und Stroh ein sehr ungastliches Lager bildete. Er kauerte darauf zusammen, und den Blick auf das schlafende Mädchen gerichtet, versank er bald in allerlei Betrachtungen über ein so außerordentliches Zusammentreffen, bis auch ihn der Schlaf überwältigte und die Seele hinaussteuern ließ in’s hohe Meer der Träume.

Bald war es todtenstill in der Hütte, nur mitunter rüttelte ein zorniger Windstoß an dem knarrenden Gebäude. Vom Flußbette der Ammer brauste die hochgehende Fluth, und manchmal rauschten die Eisschollen aneinander, die im See wie riesige Spielbälle des Sturmes durcheinander trieben.

Plötzlich fuhr Sylvest mit einem leichten Schrei aus dem Schlafe auf; es war ihm im Traume gewesen, als sitze er in

[568] einem reich verzierten Schiffe; auch Kuni befand sich in demselben; eine schöne Musik ertönte, und das Schiff schwamm heiter und beglückt zwischen reizenden Ufern dahin. Da weckte ihn ein Gefühl plötzlicher Angst: er fuhr auf und wußte im ersten Augenblicke nicht zu erkennen, ob er wach geworden, denn wenn ihn auch die gewohnte Hütte umgab, ein Theil des Traumes schien dennoch Wirklichkeit geworden zu sein.

„Was ist geschehen?“ rief Kuni ebenfalls erwachend, und starrte Sylvest an, der schon an der Hüttenthür stand, um sie zu öffnen.

„Es wird wohl nichts sein,“ sagte er, „im Schlafe ist es mir nur vorgekommen, als wenn der Floß schwimmen thät.“

„Heilige Mutter von Andechs!“ schrie Kuni in plötzlichem ungeheurem Schrecken auf, „es ist ja wahr: der Floß schwimmt.“

Es war nicht daran zu zweifeln: das Holzgebäude schwankte sichtbar von der Bewegung der Wellen, die es von hinnen trugen; nach wenigen Augenblicken kam Sylvest von draußen zurück; trotz des Bartes war erkennbar, daß auch er bleich geworden. „Es ist wahrhaftig so,“ sagte er, „es muß ein Stück vom Gestade eingebrochen sein. Das Wasser hat das Seil und den Pflock und Alles mitgenommen; wir sind schon ein paar Büchsenschuß’ vom Ufer entfernt und schwimmen mitten im Treibeis.“

Ein Schrei aus Kuni’s Munde antwortete der entsetzlichen Nachricht. Sie sank beinahe zusammen, und Sylvest sprang hinzu, sie in den Armen aufzufangen: seine Annäherung gab ihr Kraft und Besinnung wieder, daß sie sich am Herde zu stützen vermochte. „Nimm Dich zusammen, Mädel!“ sagte er, „zu früh verzagt ist auch verspielt; noch sind wir nit ganz und gar verloren. Wenn wir nur ein Ruder hätten, fahret’ ich uns wohl hinaus, und wenn’s noch so arg stürmt, aber die Ruder sind noch nicht hergerichtet. Vielleicht kann ich die Maststange los machen, dann hat’s keine Gefahr. Bleib’ Du nur drinnen!“ rief er im Hinauseilen, da Kuni folgen wollte, „da draußen ist kein Geschäft für Dich.“

Bebend, mit angstverschlungenen Händen folgte ihr Ohr dem Schalle seiner Thätigkeit; sie zählte jeden der Beilhiebe, mit denen er den Segelbaum sich loszumachen mühte, und fühlte mit Grausen, wie jeder Schlag den schwanken Boden unter ihren Füßen erschütterte und wie die Wellen und Schollen immer höher und enger das dröhnende Fahrzeug bedrängten; plötzlich ertönte ein minutenlanges Gerassel und dann ein stärkerer Schlag, als wäre eine starke Last hernieder gestürzt, die das Bretterdach der Hütte streifte, daß es an der Ecke aus den Fugen ging. Ein Windstoß drang herein, mit schrillem Pfiffe aufjauchzend, daß es ihm endlich gelungen war, einen Eingang zu finden. Im nämlichen Augenblicke erschien Sylvest auf der Thürschwelle, an der er sich wie taumelnd anhielt; er war ohne Hut; aus einer Stirnwunde schoß ihm das Blut über Gesicht und Bart. „Heilige Mutter!“ rief Kuni und sprang ihm entgegen. „Was ist Dir geschehen?“

„Es wird nicht viel zu bedeuten haben,“ entgegnete er eintretend, und schloß die Thür, um den Sturm wenigstens von dieser Seite abzuhalten. „Der Segelbaum ist auf die unrechte Seiten gefallen und weit hinaus geschossen in’s Wasser. Wie ich schon gemeint hab’, ich könnt’ ihn ganz still niederlassen, hat es ihn seitwärts geschlenkt. Ich bin nur froh, daß er mich nicht auch mitgerissen hat.“

„Aber Du blutest ja über und über. Du mußt einen Verband haben,“ rief Kuni und riß ihr Tuch vom Halse; mit zitternden Händen legte sie es zusammen, tauchte es in das von unten aufquellende Wasser und band es Sylvest um die Stirn; schweigend verrichtete sie das Geschäft; schweigend neigte er ihr den Kopf entgegen und ließ sie gewähren, dann kehrte Jedes an seinen Platz zurück. Todtenstille war einen Augenblick in dem Gemache, nur der Wind heulte, unten aber rauschte das Wasser und knirschten die Eisschollen, als nagten sie an dem Scheitergefüge, um es auseinander zu reißen.

„Mit dem Ruder ist es also nichts,“ sagte Kuni nach einer Weile schüchtern, „wie wird’s aber jetzt werden mit uns?“

Sylvest sah ernst zu Boden und schwieg; das wachsende Getöse unter ihren Füßen antwortete für ihn. Mit steigendem Entsetzen betrachtete ihn Kuni. „Du sagst nichts,“ rief sie, „also wär’ wirklich keine Hülf’ mehr? Wär’s wirklich, daß wir zu Grund’ geh’n müssen?“

„Es scheint so,“ erwiderte er gelassen, indem er über den Knieen die Hände wie zum Gebete ineinander faltete, „ich glaub’, wir liegen oder sitzen schon in unserer Todtentruhen.“

Ein Schrei Kuni’s antwortete ihm noch greller, noch wilder, noch entsetzenvoller als zuvor. Sie hatte vor wenigen Tagen dem Tode in das ernste Angesicht geschaut und war davor zurückgebebt wie vor dem Hingange in eine geheimnißvolle Ewigkeit, über deren abgründlich klaffenden Eingang nichts hinwegträgt als die Brücke des Glaubens, und jetzt hatte sich das düstere Antlitz gegen sie selbst gewendet; wie das Haupt eines Ungeheuers tauchte es plötzlich aus den Wogen vor ihr auf und winkte sie zu sich, mitten aus der vollen Kraft und Schönheit des kaum entfalteten Lebens, unvorbereitet und mitten aus den flüchtigen Gedanken und Empfindungen desselben. Ein unsäglicher Schauder erfaßte sie, daß sie in die Kniee sank und sich an den Herd wie an einen Altar anklammerte. Ein Guß von Thränen brach aus den weitgeöffneten Augen, und eine an Verzweiflung grenzende Angst schlug ihr die Zähne zusammen. Sie stammelte verwirrte Worte durcheinander, halb Anfänge von Gebeten, halb Klagelaute, abgerissen und unverständlich, aber eben deshalb desto ergreifender. Mit einem Blicke voll Mitleid betrachtete sie der Bursche eine Weile:

„Entsetz’ Dich nit gar so, Kuni!“ sagte er dann, „damit machen wir’s nit besser. Es soll kein harter Tod sein, das Ertrinken. Geben wir uns d’rein und denken, einmal muß es doch gestorben sein.“

„Ja, fürchtest Du Dich denn nicht?“ rief sie und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

„Fürchten?“ sagte er. „Ich kann nicht Nein sagen, daß ich nicht gern noch eine Weil’ hätt’ leben mögen, und ein anderer Tod wär’ mir auch nicht zuwider gewesen. Ich hätt’s auch ganz gern gehabt, wenn meinem alten Vater und meiner Mutter und meinem Bruder ein solches Leidwesen erspart worden wär’. Aber vor dem Sterben mich fürchten? Nein, das thu’ ich nicht.“

„Mein Vater, mein armes Vaterl!“ wimmerte Kuni dazwischen; jetzt erst war vor ihrer Seele das ganze Bild des Jammers aufgetaucht, der über den Alten hereinbrach, wenn er sie verlor, wenn er sie so früh und auf so furchtbare Art verlor. „Er überlebt’s nit, dazu hat er mich viel zu gern gehabt.“

Als ob er sie dadurch auf andere Gedanken bringen wollte, fuhr Sylvest fort: „Ich bin nicht umsonst in Griechenland gewesen und im Krieg. Hat’s auch keine großen Schlachten gegeben, wenn wir so in der Maina in die Schluchten hineingeritten sind, ist man doch keinen Augenblick sicher gewesen, daß einem nicht eine heimtückische Klephtenkugel das Licht ausbläst. Da lernt man’s wohl, seinen Mantelsack gepackt zu halten, und wenn der Trompeter zum Einhauen bläst, da schaut man noch einmal in den blauen Himmel hinaus, macht Reu’ und Leid und reitet in Gottes Namen in die Kugeln hinein.“

„Reu’ und Leid,“ flüsterte Kuni wie von einem beruhigenden Gedanken erfaßt und stützte die Arme mit den gefalteten Händen auf den Block vor dem Herde; heiße, inbrünstige Worte flossen leise von den bebenden Lippen. Die Gestalten und Begebenheiten ihres Lebens schwebten wie ein fliehender Wolkenzug an ihrer Erinnerung vorüber; mit der Erregung wurde auch die Stimme lauter, und vernehmlich klang es von ihren Lippen: „Vergieb uns uns’re Schulden!“

„Wie auch wir vergeben uns’ren Schuldigern,“ fuhr Sylvest fort und schloß. „Und erlöse uns von dem Uebel – Amen!“

„Vergieb’ mir Du auch, Sylvest! Ich bin auch Deine Schuldigerin,“ sagte Kuni leise. „Ich bin daran schuld, daß Du hast flüchtig geh’n müssen und mußt jetzt so elend zu Grund’ geh’n.“

„Verzeih’ mir Du auch!“ erwiderte Sylvest, „ich hab’ Dir öffentlich Unrecht angethan. Ich denk’, wir können uns’re Rechnung gleich aufgeh’n lassen gegeneinander.“

Heftiges Krachen erscholl; eine gewaltige Scholle hatte unterwärts einen Theil des Scheiterflosses aus der Schichtung gerissen: die Hölzer wichen auseinander, mit ihnen die Grundlage, auf der die Hütte ruhte. Das schon beschädigte Dach begann sich zu neigen, und durch nichts mehr gehemmt, quoll das brausende Wasser wie aus einem geöffneten Brunnen empor. Es war die Seite, an welcher sich Kuni befand.

[569] „Jesus Maria, halt mich, halt mich!“ kreischte sie voll Entsetzen auf, „ich versink’.“

Die Gefahr war groß, aber im entscheidenden Augenblicke hatte Sylvest sie bereits an sich gerissen und mit kühnem Sprunge den Balken des Thürgerüsts erreicht, der noch für einige Zeit einen festen Stützpunkt versprach. „Nicht eher, als bis ich selber versink’,“ rief er mit mächtiger Stimme; „halt Dich an mich, Kuni! Ich laß’ Dich nit.“

Es hatte der Aufforderung nicht bedurft; mit der letzten Kraft hatte sie sich an ihn geklammert und hing nun bewußtlos an der Brust des Feindes, als gäbe es keine Stätte, wo sie sicherer ruhen könnte; mit starkem Arme schloß er die Feindin an sich, sie gegen die wüthenden Elemente zu vertheidigen, wie sein kostbarstes Kleinod.

Eine grauenvolle Viertelstunde verrann.

(Fortsetzung folgt.)




Ein alter Reichs-Schlüssel und ein neuer Rhein-Bändiger.


Zu den Städten am Rhein, welche der französischen Nachbarschaft eine lange Reihe schwerer Prüfungen verdanken, gehört auch das alte Breisach. Ein solches Stadtschicksal ist es werth, dem gegenwärtigen Geschlechte einmal in raschen, großen Zügen vorgeführt zu werden. Wir brauchen dazu nicht bis in die Tage zurückzugehen, wo Julius Cäsar auf dem Mons Brisiacus einen festen Sitz der Sequaner vorfand; wir können sogar hinsichtlich der mittelalterischen Geschichte der Stadt nur hinweisen auf die glänzende Zeit unter den Zähringer Herzögen, unter denen sie zum stärksten Bollwerk und zur ersten Stadt des Breisgaus erhoben wurde, und auf ihre harten Kämpfe gegen den Herzog Karl von Burgund und seinen schlimmen Statthalter Hagenbach, und beschränken uns hier auf die Geschichte der Stadt seit den letzten dritthalbhundert Jahren.


Breisach am Rhein vom Eggersberg aus.
Nach einer Photographie.


Es giebt von Breisach ein Bild aus dem Jahre 1778. Auf demselben erheben sich über dem achthalbhundert Fuß hohen Basaltrücken der Altstadt etwa acht bis neun Kirch-, Befestigungs- und andere Thürme über einer Reihe hochgiebeliger Gebäude von stattlichem Ansehen; als die imposantesten Bauwerke erscheinen am Südende der Bergstadt das zweithürmige St. Stephansmünster und in der Mitte der Nordhälfte derselben der riesige, wenn auch arg zertrümmert der Zeit trotzende Schloßthurm, beide von den Zähringer Herzogen im dreizehnten Jahrhunderte gebaut. Im Süden der Stadt erhob sich damals noch auf etwas niedrigerem Felsen das sehr feste Schloß Eggersberg, und im Norden trug der Eisenberg ein Vorwerk. Stellen wir daneben das Stadtbild der Gegenwart, so suchen wir nicht blos dieses Vorwerk und Schloß vor der Stadt, sondern auch, das Münster allein ausgenommen, alle Thürme und viele Hochgiebel des alten Breisach vergeblich; wir sehen mit einem Blicke, welch furchtbaren Zerstörungen der alte Reichsschlüssel noch in der neuern Zeit ausgesetzt war, und wenden mit um so mehr Theilnahme uns seiner Vergangenheit zu.

Der Kampf gegen Burgund war der schwere Abschied Breisachs vom Mittelalter gewesen. Land und Stadt genossen eines lange entbehrten Friedens, das Land, um aus den Verwüstungen

[570] wieder einmal aufzublühen, die Stadt, um für kommende böse Zeiten um so fester gerüstet zu werden. Diese begannen auf’s Neue, aber in furchtbarer, bis dahin noch unerhörter Weise, mit dem Dreißigjährigen Krieg.

In diesem Verheerungskampfe blieb Breisach erst lange Zeit von der Kriegslohe verschont, die rings in den Ländern wüthete, indem es sich als des Reiches festestes Bollwerk am Oberrhein bewährte. Verloren sollte es Deutschland durch einen deutschen Fürsten in Frankreichs Solde gehen.

Herzog Bernhard von Weimar zog im Jahre 1636 gegen die Länder des Oberrheins mit einem zwar schwachen Heere heran, das aber stark durch tüchtige Führer war; nur ein Judas befand sich unter diesen, der Schweizer Erlach, ein leider ebenso verkäuflicher als tapferer Abenteurer. „Sein Heldenmut,“ sagt W. Menzel, „hätte wohl verdient, mit Vaterlandsliebe gepaart zu sein, anstatt mit jener niederträchtigen Allerweltsdienerei um’s Geld, welche die Schweizer Söldner in der Weltgeschichte brandmarkt.“ – Erst nachdem der Herzog die meisten festen Plätze am Oberrhein genommen, auch Freiburg besetzt und einen der berühmtesten Helden des Kriegs, den kaiserlichen Reitergeneral Johann von Weerdt, bei Rheinfelden, am 28. März 1638, geschlagen und gefangen hatte, konnte er an die Einschließung von Breisach gehen.

Sobald die Kunde nach Wien drang, daß der Weimarische Herzog das schwachverproviantirte, aber von 4000 Mann unter dem tapfern General-Feldzeugmeister von Reinach vertheidigte Breisach einschließe und mit Redouten umgebe, offenbar um bei der Schwäche seiner Armee den Sturm zu vermeiden und die Stadt auszuhungern, so rüstete der Kaiserhof Heer um Heer, um die Belagerer zu vertreiben. Das erste führten General Götz und der Herzog von Savelli heran. Letzterer war ein Wortbrüchiger, denn zugleich mit Johann von Weerdt gefangen, entwich er, gegen das gegebene Ehrenwort. Götz und Savelli kamen von Offenburg her und sollten nicht blos Breisach entsetzen, sondern über dritthalbtausend Malter Getreide dorthin bringen, denn schon jetzt begann in der engumschlossenen Stadt die Noth. Durch französische Hülfstruppen verstärkt, lieferte Herzog Bernhard den Kaiserlichen am neunten August bei Wittenweier eine siegreiche Schlacht. Vergeblich hatte man in Breisach nach Hülfe und Rettung ausgeblickt, der reiche Proviant fiel dem Gegner in die Hände, und mit den von Deutschen eroberten kaiserlichen Fahnen wurde Ludwig’s des Vierzehnten Wiege geschmückt.

Jetzt erhoben sich auch die unmenschlich mißhandelten Bauern des Schwarzwaldes gegen Bernhard und schlugen viele seiner Schweden und Franzosen todt. Dennoch mißlang auch ein zweiter Versuch, einen ungeheuren Proviantpark von Mehl und Pulver in die Stadt zu bringen. Der ihn mit sieben Regimentern schirmende General Horst wurde vom schwedischen Obersten Rosen zurückgetrieben und wieder ein großer Theil der Ladungen ihm abgenommen. Trotz alledem wuchs mit der Noth der unglücklichen Einwohner die Hartnäckigkeit der Vertheidiger. Das war im September. Schon damals kostete in Breisach eine Ratte einen Gulden, ein Ei einen Thaler und ein Hundeviertel sieben Gulden – bei dem Geldwerthe jener Zeit!

In den ersten Octobertagen führte der Herzog Karl von Lothringen eine neue Entsetzungsarmee über Belfort heran; zwei andere Corps unter Götz und Horst sollten seinen Angriff unterstützen. Bernhard lag fieberkrank darnieder, aber die neue und große Gefahr rüttelte ihn auf, er stieg zu Roß und schlug den Lothringer am dreizehnten October bei Thann auf’s Haupt. Todtkrank im Wagen kam der Sieger in sein Lager vor Breisach zurück. Auf diesen Umstand baute Götz neue Hoffnungen. Mit zehntausend Mann eilte er am zweiundzwanzigsten October zum Entsatze herbei und siegte in mehreren Treffen über Schweden Franzosen und Weimarische, bis am achtundzwanzigsten October ihn ein Hauptschlag traf und zwang, mit den Trümmern seiner Armee sich nach Freiburg zurückzuziehen.

In Breisach hatte die Hungersnot alles menschliche Maß schon überstiegen. Thierhäute wären bereits zu Leckerbissen geworden, von den Wänden kratzten die Unglücklichen den Kalk, um ihn zu essen. Dennoch blieb der Commandant Reinach standhaft; ja er soll seine Gattin erschlagen haben, als er erfuhr, daß sie ohne sein Wissen Vorräthe aus der Festung verkauft habe, und er schwur, eher sein eigenes Kind anzugehen, als den Platz zu übergeben. Aber auch der letzte Hoffnungstag brach endlich an, und das Unglück wurde Herr über so frevelhafte Schwüre.

Jetzt endlich sollten drei Entsetzungsarmeen zugleich angreifen, Götz bei Neuenburg über den Rhein gehen, um Bernhard vom Elsaß abzuschneiden, der Herzog von Lothringen über Kolmar vorrücken und bei Drusenheim sich mit Horst verbinden. Die energische Befolgung dieses Planes würde für Bernhard verderblich geworden sein, wenn er ihn nicht verraten und er selbst durch neuntausend Franzosen unter dem General Longeville verstärkt worden wäre. So schlug er erst Horst zurück und warf sich dann mit aller Macht auf den kühnen Götz. Diesem war es gelungen, bis in die Nähe der Rheinbrücke von Breisach vorzudringen, ehe der Kampflärm ausbrach. Schon standen die Kaiserlichen auf der Brücke, und in Breisach erhoben sich die stehenden Hände den Rettern entgegen, da bezwang Bernhard abermals seine Krankheit und warf sich zu Roß mitten in den Kampf. Eine zufällige Erscheinung, in jener Blüthezeit des Aberglaubens ein himmlisches Zeichen, ermutigte Bernhard’s Soldaten: ein Adler schwebte hoch ob seinem Haupte. Der furchtbarste Kampf entspann sich auf der Brücke, acht Angriffe mußten zurückgeschlagen werden, Freund und Feind verschlang in Menge die Fluth des Rheins, bis Götz mit dem Rest seiner Leute nichts übrig blieb, als die Flucht. Der Lothringer kam nicht zum Gefechte und mußte nun, allein zu schwach, auf seine Sicherheit bedacht sein. Das letzte kaiserliche Entsetzungsheer war dahin.

Wie streng auch des Kaisers Befehl, die Festung zu halten, an den Commandanten lautete – die äußerste Grenze des Möglichen war erreicht: der Hunger wirkte entmenschend, der Hungerwahnsinn trieb zum Furchtbarsten: man fraß Menschenfleisch; man soll nicht nur Kinder geschlachtet, sondern Leichen ausgegraben und verschlungen haben. Wie viel noch Einwohner übrig waren, und in welchem Zustande, läßt sich nach der Kunde bemessen, daß von den viertausend Mann Besatzung nur vierhundertzwei die Uebergabe am neunzehnten December erlebten. Bernhard gestattete ihnen für ihre tapfere Vertheidigung, nach einer labenden Mahlzeit, über die sie wie die wilden Thiere herfielen, ehrenvollen Abzug mit sechs Kanonen und neunzehn Fahnen. Als der Herzog nach seinen in die Gefangenschaft der Kaiserlichen gefallenen Leuten fragte, erfuhr er, daß sie, achtundachtzig an der Zahl, theils verhungert, theils gezwungen worden seien, einander selber aufzufressen. Aber so furchtbar war der Anblick der allgemeinen Noth, daß Bernhard seinen Zorn bezwang; er ließ den Commandanten von Reinach unbestraft und hielt sein Fürstenwort.

Breisach sollte die Haupt- und Residenzstadt des starken deutschen Staates werden, welchen Herzog Bernhard am Oberrheine zwischen Schwarzwald und Vogesen zu gründen gedachte. Den treulosen Erlach, der sein ganzes Vertrauen besaß, der aber längst von Frankreich bestochen war, machte er zum Commandanten der Festung. Als er sein Ende nahen fühlte, setzte er seine Brüder als Erben seiner Eroberungen und seiner „fahrenden Habe“ ein; aber kaum hatte er am neunzehnten Juli 1639 die Augen geschlossen, so griff Erlach nach letzterer und that hinsichtlich Breisachs seine „französische“ Pflicht. Der westphälische Friede sanctionirte den Raub Frankreichs.

Fast ein halbes Jahrhundert blieb Breisach der französische Schlüssel zum deutschen Reiche. Trotz der vielen Kriege Ludwig’s des Vierzehnten war dies doch für die entvölkerte Stadt und die verwüstete Umgegend eine Zeit der Erholung. Damals wurde das Rheinthor gebaut, das noch jetzt als ein Denkmal französischen Hohns über Deutschland dasteht, und an dem noch heute die freche Inschrift zu lesen ist:

„Limes eram Gallis, nunc pons et janua fio,
Si pergunt Galli, nullibi limes erit.“

Zu deutsch:

„Grenze war ich dem Gallier, jetzt werd’ ich Brücke und Thor ihm.
Nirgends, dringet er vor, halten noch Grenzen ihn auf.“

Dennoch nahm der Ryswicker Friede (1697) Breisach den Franzosen wieder ab. Im Zorne darüber baute an der andern Rheinseite Ludwig der Vierzehnte sich selbst ein neues Breisach. [571] Vauban stellte ihm schon nach zwei Jahren Neubreisach mit dem Fort Mortier her. Nur vier Jahre darnach benutzte der König den Spanischen Erbfolgekrieg, um sich auch Altbreisachs auf’s Neue und zwar durch einen Handstreich zu bemächtigen. Die Grafen Arco und Marsigli, die Befehlshaber des reich verproviantirten und stark besetzten Platzes, übergaben aus Feigheit und Schurkerei ihn ohne jeden Vertheidigungsversuch. Ein Kriegsgericht unter dem alten Feldmarschall Hans von Thüngen gab zwar beiden ihren Lohn: Graf Arco ward in Bregenz enthauptet und dem öffentlich geschändeten Marsigli zerbrach der Henker den Degen; aber Breisach blieb wieder französisch, bis abermals ein Friede, der Rastadter von 1714, es an das Haus Oesterreich zurückbrachte.

Auch der „Oesterreichische Erbfolgekrieg“ wurde durch den Reichshofkriegsrath der Kaiserin Maria Theresia so unglücklich geführt, daß Breisach abermals in die Gewalt der Franzosen kam. Weil aber diese geringe Aussicht hatten, die Festung für Frankreich zu erhalten, so trieben sie hier ihr Zerstörungswerk mit ebenso viel Vergnügen als Gründlichkeit, selbst den alten Schloßthurm des Herzogs Berthold verschonte diesmal die Verwüstungswuth nicht; er wurde durch Pulver zerrissen; die Trümmer benutzten die Breisacher selbst später als eine Art Steinbruch und machten sie dem Boden gleich.

Durch den Aachener Frieden (1748) wiederum den Oesterreichern zurückgegeben, lag es nun da, die Häusertrümmer der unteren Stadt zwischen den Mauertrümmern der oberen, ein Bild der vollendetsten Wehrlosigkeit. Langsam erstanden neue Wohnungen zwischen den öden Brandmauern. Frisches Grün brach zwischen den Trümmern hervor, und auch das umliegende Land, wo alles Baumwerk verpachtet war, schmückte sich wieder mit Anpflanzungen. – Da brauste die neue französische Freiheit mit der Marseillaise heran; aber selbst der Segen der großen französischen Revolution verwandelte sich, als der wilde Geist von 1793 losbrach, für das deutsche Grenzland in den Fluch neuer Verwüstungen.

Was damals, am fünfzehnten September jenes Jahres, von den Franzosen gegen Breisach verbrochen wurde, verdient eine ewige Schandsäule. Das Fort Mortier beging seine einzige Kriegsthat: von einer Reihe von Batterien unterstützt, verwandelte es die kaum aus den Trümmern entstandene, offene, wehrlose und unbesetzte Stadt, und zwar den unteren wie den oberen Theil derselben durch eine furchtbare Kanonade in einen Aschenhaufen. Drei Jahre später kamen die Franzosen wieder und besetzten den Platz, auf dem zwischen den Brandstätten, den Zeugen ihrer ruchlosen That, wieder einzelne Häuserreihen gebaut waren. Die Franzosen beeilten sich, die schon so oft zerstörten Befestigungen nothdürftig wieder herzustellen, und ebenso wurde das umliegende Land wieder bepflanzt und bebaut. Aber länger als drei Jahre duldete das Schicksal auch dieses stille Glück nicht: diesmal waren es die Oesterreicher, welche Breisach im Winter von 1799 auf 1800 einer Blokade unterwarfen und während derselben wirklich das Unglaubliche leisteten, in der weiten Umgegend alles kaum dem Boden neu Entsprossene völlig wieder zu vernichten. Das armselige Häuser- und Ruinengewirre, das damals den Namen „Breisach“ forterhielt, kann nach noch mehrfachem Besitzerwechsel endlich im Preßburger Frieden an Baden, dessen Schicksale es seitdem getheilt hat. Daß im großen deutschen Jahre 1870 von Altbreisach aus das Fort Mortier vom zweiten bis sechsten November beschossen, zerstört und zur Capitulation gezwungen worden ist, wollen wir nicht als eine Vergeltung für 1793 bezeichnen: ist doch der Rhein nicht mehr die Feindesgrenze, sondern das Band, welches gewaltsam getrennte Volksgenossen nun für immer verbindet.

Aber nicht blos die Vergangenheit, auch die Gegenwart zieht uns zu Breisach hin: es ist die Stätte der Ehre für ein Werk und einen Mann, welche Beide im übrigen Deutschland noch zu wenig bekannt und doch für jeden Reisenden am Oberrhein der Beachtung so werth sind. Blicken wir nämlich vom Rheinstrome aus zum malerischen Stadtbilde hinüber, so treten drei Denkmäler verschiedenster Zeiten, zwei alte, schon genannte, und ein neues, uns vor Augen: als ein Denkmal alter deutscher Festigkeit und Treue die Münsterkirche (der Hauptgegenstand unserer Abbildung mit dem Hintergrunde: Rhein und Vogesen), als Denkmal französischen Uebermuthes das Rheinthor, als jüngstes Denkmal aber der Tullathurm, auf dem Schloßberge von Breisach, und zwar aus dem Grunde jenes alten Herzog-Bertholds-Thurmes, „dem Bändiger des wilden Rheins“, wie die Inschrift verkündet, dem Obersten Tulla zu Ehren erhöht.

Je weiter vom Rheine ostwärts „im Reiche“, desto weniger wußte man in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts von einer Rheinlands-Calamität, die den dortigen Wohlstand mit steigender Schädigung bedrohte. Die zahllosen sogenannten Kehlen, Giesen und Altrheine, welche die Strömung des Rheines mit endlosen Krümmungen aufhielten und die Fahrtstrecke um mehr als ein Viertheil des Weges verlängerten, versumpften zugleich das anliegende Gelände, und die stehenden Wasser und Sümpfe erzeugten eine Fieberluft, deren Einwirkung auf die Uferbewohner immer weiter um sich griff.

Hier mußte geholfen werden, und der rechte Helfer fand sich in Johann Gottfried Tulla. Ein Pfarrerssohn aus Nöttingen bei Pfalzheim, hatte Tulla sich zum Geometer und Ingenieur ausgebildet, und schon 1807, als dreiunddreißigjähriger Mann, mit dem Range eines Hauptmanns und Oberingenieurs die Leitung des Rhein- und inneren Flußbaues überkommen. Aber erst nachdem er bei den Corrections- und Austrockungsarbeiten an der Linth und am Wallenstädtersee ganz Außerordentliches, von der schweizerischen Tagsatzung öffentlich Anerkanntes geleistet hatte und in Baden zum Oberdirector des Wasser- und Straßenbauwesens mit Oberstenrang erhoben war, entwarf er den großen Plan zur Rectification des ganzen Oberrheins und begann in Gemeinschaft mit den staatlich dazu bestellten Technikern von Frankreich und Baiern die Ausführung desselben. Dies Alles ging nicht so glatt ab, wie wir es jetzt hier niederschreiben, denn, abgesehen von den verschiedenartigsten Gegnern des Unternehmens im In- und Auslande, waren vor fünfzig bis sechszig Jahren auch die Staatsmittel noch sehr dürftig zugemessen, so daß Tulla erst nach vielen Kämpfen und Anfechtungen das kühne Werk in’s Leben setzen konnte. Und wenn er selbst die Vollendung desselben nicht erlebte, – denn er starb schon am 27. März 1828, sieben Tage nach seinem achtundfünfzigsten Geburtstage, an den Folgen einer chirurgischen Operation in Paris –, so ist es doch das Werk seines Geistes, welches seit 1872 in seiner Vollendung vor uns steht und folgende Berechnungen ermöglicht. Die Kosten der Rhein-Rectification für Baden allein betrugen einundzwanzig Millionen Gulden. Dagegen ist schon der Werth des durch die Rectification des Rheinufers gewonnenen guten Landes auf jedem Ufer zu fast sechsthalb Millionen und der des nun vor Ueberschwemmung und Versumpfung und dadurch für bessere Cultivirung geretteten Bodens wiederum für beide Ufer auf je fünfzehn Millionen Gulden anzuschlagen. Daß aber dadurch, daß der Rhein den Weg von Basel bis Hessen, statt wie früher in achtzig, jetzt in sechszig Stunden zurücklegt und keine Altrheine und Sümpfe mehr bildet, die Fieberkrankheiten verschwunden sind und Gesundheit und Wohlstand zugleich sich in all den Rheingemeinden befestigen, wie viele Millionen ist dies werth?

Besteigen wir den Tullathurm, dem Manne zu Ehren. Von der fünfzig Fuß hohen Warte breitet ein herrliches Rundgemälde sich vor uns aus: eine große Strecke des regulirten Rheines auf- und abwärts, die prächtigen Auen des Breisgaues und des Elsaß, die schönen Thäler und Berge des Kaiserstuhles, des Schwarzwaldes und der Vogesen bis zu den Eisbergen der Schweizeralpen. – Bis auf die letztere – und das ist das lohnendste Hochgefühl auf dieser Ehrenwarte von Breisach – bis auf diese letztere ist jetzt Alles, was und so weit wir ringsum sehen, deutsches Land und Gebiet eines Reiches, das seine Schlüssel nimmermehr so arg verwahrlosen und so oft zerbrechen läßt, wie dies dem an Unglück und Ehren gleich reichen „Kissen und Schlüssel des heiligen römischen Reichs“, dem alten Breisach, widerfahren ist.

Möge ebenso der Liebreiz des Ortes selbst und seiner Umgebung wie die Theilnahme für das ungeheure Schicksal dieser deutschen Stadt ihr recht viele Gäste und Liebhaber zuführen, die endlich die Brandstätten der Kriege zudecken mit Wohnungen und Herden eines neuen hoffnungsreichen Lebens!

H. v. C.     
[572]
Plaudereien aus Rom.
Von Hermann Oelschläger.
IV.
(Schluß.)
Die Herrschaft der Blumen. – Die Kronprinzessin Margherita. – Das Fest der Moccoli. – Licht-Effecte. – Der Carneval in den Gärten Roms. – Der Corso. – Ein neuer Carneval.

Die römische Presse zeigt im Allgemeinen ein sehr lobenswerthes Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit der Aeußerung, die wirklich radicale geht darin gelegentlich sogar bis an die Grenze dessen, was einem ruhigen und besonnenen Staatsbürger noch für erlaubt und anständig gelten mag; aber auch sonst wird der Leser leicht der Neigung begegnen, sich namentlich den Anordnungen und Entschlüssen der Regierung gegenüber in einer Weise kritisch und skeptisch zu verhalten, die bei einem ohnedies noch nicht ganz in sich gefestigten Staatswesen vielleicht doch nicht immer am Platze sein dürfte.

So mußte denn auch der allgemeine Unwille, welchen die brutalen Ausartungen des diesjährigen römischen Carnevals in seinem Anbeginn hervorriefen, in der römischen Presse sein Echo finden; die allgemeinen Klagen kamen dort in einstimmiger und energischer Weise zum Ausdruck, freilich nur, um als Heil- und Schutzmittel gegen die geschilderten Brutalitäten den einzigen Rath finden zu können, überhaupt während des Carnevals den Corso nicht mehr zu betreten. War es doch an einzelnen Stellen mit der lieben Straßenjugend sogar zu Conflicten gekommen, die ohne das Dazwischentreten der überall vertheilten Polizeisoldaten leicht zu ernsthafteren Händeln hätten führen können.

Da schaffte denn – mitten in dieser Calamität – der Syndicus von Rom rasch entschlossen auf seine Weise Rath und verbot für die letzten Tage des Carnevals kurzweg und überhaupt jeden Verkauf und Gebrauch der Confetti.

Neuer Nothschrei in der Presse. Ein römischer Carneval ohne Confetti? zeterten die Zeitungen; das heißt ihn todtmachen, heißt ihn vernichten.

Aber siehe da, der Syndicus, als ein weiser Mann, kümmerte sich um die reichlichen Vorwürfe, mit denen er überschüttet wurde, nicht im Mindesten, nahm den in erster Reihe betroffenen Fabrikanten sämmtliche Vorräthe an Confetti auf Kosten der Stadt ab, und in der That entfaltete der Carneval noch einmal kurz vor seinem Verscheiden jene ganze Liebenswürdigkeit, die man bisher so vergeblich bei ihm gesucht.

Von allen Seiten strömten die Equipagen herbei; zu vielen Tausenden und unter betäubendem Lärmen drängte sich die Menge, drängten sich die Masken durch die enge Häuserzeile des Corso, dessen Fenster mit rothen Teppichen behängt, dessen Balcone und Bogen festlich verziert waren, und aus allen Logen, von allen Balconen grüßten schöne Frauen, lachten schöne Mädchen, nickten reizende Masken, daß denn die Freude bald allgemein war und nun Blumensträuße, Confect, Orangen ebenso durch die Straßen, von Wagen zu Wagen, von Fenster zu Fenster flogen wie noch Tags zuvor die abscheulichen Confetti. Namentlich die Blumensträuße, oft von kostbarster Art, wurden wahrhaft verschwenderisch ausgeworfen – aber freilich, man kann auch nichts Schöneres sehen, als diese lächelnde Anmuth, mit welcher eine Römerin im Wagen oder vom Fenster aus für eine solche Aufmerksamkeit zu danken weiß.

Ein freundlicher Zufall führte uns in dem Augenblicke an dem Balcon vorbei, den die Kronprinzessin Margherita für sich und ihr Gefolge gemiethet hatte, als diese den Balcon betrat. Wie sehr die Kronprinzessin, eine zarte, anmuthige Blondine, bei den Römern beliebt ist, zeigte sich auch hier. Ein unendlicher Applaus, tausendfaches Evviva! und Händeklatschen begrüßte sie – schon aber flogen auch die Blumensträuße in ungezählter Menge zu ihr empor und einer war illoyal genug, ihr den breitkrämpigen Hut fast vom Kopfe mit fortzunehmen. Die Kronprinzessin lachte, schob den Hut rasch wieder zurecht, griff dann in den hochgefüllten Korb, den Lakaien ihr nachgetragen hatten, und rächte sich für die ihr angethane Unbill, indem sie mit derselben Lebhaftigkeit, wie Tags zuvor die kleine Griechin auf dem Balcon neben mir ihre Mehlkugeln, nach allen Seiten Sträuße unter das Volk warf, das mit hundert Händen danach haschte.

Der nächste und letzte Abend brachte das in seiner Art einzige Fest der Moccoli. Es ist schon oft genug beschrieben worden. Ich meinerseits gestehe gerne, den Standpunkt der Kindlichkeit nicht mehr gefunden zu haben, von welchem aus man ein bis zwei Stunden lang Andern die Lichter ausbläst und sich selbst ausblasen läßt. Unbekümmert um das mir allgemein im Chore mit tiefer Grabesstimme zugerufene: Senza moccoli, fuhr ich deshalb im dunkeln Wagen dahin; aber die malerischen Effecte, welche die tausend brennenden, immer beweglichen Kerzen auf der Straße, in den Wagen, auf den Balconen, in den Fenstern, ja auf den Dächern hervorriefen, erregten in hohem Grade meine Bewunderung; dazu flammten bald da, bald dort, bald in der Höhe, bald in der Tiefe, bald nah, bald fern rothe, grüne, weiße Feuer auf, die das lärmende Volk, die teppichgeschmückte Häuserreihe gegenüber, die Masken an den Fenstern plötzlich aus der dunkeln Nacht hoben und mit ihrem blendenden Lichtscheine übergossen; an einzelnen Stellen warfen Pechfackeln ihre rothen Gluthen über das ganze seltsame Schauspiel, daß man denn, wie gesagt, des im Grunde kindischen Anlasses bald gern vergaß und sich nur der malerischen Lichtwirkung freute, die es oft so überraschend und in so hohem Grade bot.

Während in den Straßen Roms der Carneval lärmend dahin rauschte, hatte sich in den grünen Gärten und in den Osterien vor der Porta del Popolo bis zum Ponte molle ein anderes Leben ganz eigener Art entwickelt: Burschen und Mädchen, meist in der Tracht der Albanerin oder der Ciociara, hatten sich vor dem beengenden Gewühle der Straßen hierher in die behaglichere Einsamkeit geflüchtet und tanzten nun hier, im leuchtenden Sonnenschein, umdrängt von bewundernden Zuschauern, beim Klange des Tamburin und der Castagnette, unermüdlich und in leidenschaftlicher Bewegung, bis spät in den Abend hinein den Saltarello. Zur Seite, im Schatten des schlichten Binsendaches, saßen verliebte Paare; der Fiasco kreiste um den schlichten Holztisch, und aus allen Büschen des Gartens, aus allen Ecken scholl fröhliches Lachen und munteres Schwätzen.

Vielleicht war gerade dies das beste Bild, das ich vom römischen Carneval mitnahm: hier war die Freude am reichsten und doch vollsten entwickelt, und jene bewundernswürdige Fähigkeit des römischen Volkes, mit Wenigem zufrieden, der Freude nur ihrer selbst wegen nachzugehen und sich ihr mit heiterem Anstande voll und ganz hinzugeben, ist mir nie liebenswürdiger entgegengetreten, als hier in den Gärten vor den Thoren Roms. Freilich, Himmel und Sonne haben an dieser schönen Entfaltung echten Volkslebens ihren besten Theil: dunkle Kneipen und qualmige Wirthsstuben sind hier unbekannt; unter dem freien Himmel aber, in leuchtender Sonne, blüht die wahre Fröhlichkeit, hält die Stirn frei, die Herzen gesund und läßt darum alle Erscheinungen schön und gefällig in’s Leben treten.

Aber wahrhaftig, trotz allem Schönen allem Anmuthigen, das man im Laufe der eben geschilderten Tage – ich möchte jetzt beifügen: Goethe zum Trotz – zu sehen bekommt, Goethe hat dennoch Recht, und man athmet förmlich befreit auf, wenn das letzte Licht auf dem Corso verlöscht ist, wenn der Aschermittwoch all der Raserei ein Ende gemacht hat, und dankt Gott und der Kirche für die Fasten. Nun ist ja auch die Ruhe der Nächte – soweit man überhaupt von einer solchen in Italien sprechen kann – garantirt, und man riskirt weniger mehr, denn sonst, allstündlich bis zum frühen Morgen hinein durch Gesang und Gelächter, Flöten und Geigen, Tamburin und Guitarre aus dem süßen Schlummer aufgeweckt zu werden. – Der Corso wird wieder stiller, nimmt wieder sein gewohntes Aussehen an, jedoch nur um schon nach wenigen Wochen mit dem nahenden Frühling ein desto reicheres, bunteres und in gewisser Beziehung noch interessanteres Leben zu entfalten.

Die Veilchen sind schon verblüht, die den weitgedehnten,

[573] frischgrünen Wiesengrund der Villen Borghese und Doria-Panfili wie mit einem blauen Schleier überzogen hatten, auch die Mandelbäume, die Pfirsichbäume haben ihre reizenden, zartfarbigen Blüthen schon verloren, aber der dunkle Lorbeer blüht jetzt voll und frisch; der Frühling ist nun wahrhaftig gekommen. Auf den breiten Wipfeln der Pinien und um die schlanken Stämme der Cedern, der Cypressen und um die ragenden Schäfte der Palmen spielt der warme, lebenweckende, lebenerhaltende Strahl der Sonne, die uns diesmal im Winter so oft untreu geworden war.

Der Frühling ist gekommen, die schönen Frauen Roms streifen die schweren Pelze ab, wie die Schmetterlinge ihre Hüllen, und in duftiger, buntfarbiger Seide rauschen sie an dem bewundernden Blicke vorüber, schöner, strahlender, imponirender denn je. Der Monte Pincio, der Corso sind auch jetzt der Mittelpunkt der römischen Welt, und jetzt in der That zeigen die Corsofahrten ein Bild, wie es mannigfaltiger und farbenprächtiger nicht gedacht werden kann. Ich muß gestehen, daß mir manchmal zu Muthe war, als habe nur ein neuer, ein anderer Carneval begonnen, und bei Gott, dieser gefiel mir noch besser, als sein Vorgänger.

Jetzt zeigt auch die römische Aristokratie ihren ganzen Reichthum; die feurigen Pferde vor ihren Carossen sind kostbar und von reinster Race. Ein Principe scheint den andern überbieten zu wollen, und indem man die Schönheit des vorübersausenden Gespannes, die Pracht des Geschirres, den Glanz der Livreen bewundert, versäumt man oft, sein Auge auf den Inhalt des Wagens zu richten, der noch kostbarer und schöner ist. Ich werde mich hüten, hier eine Beschreibung der Toiletten, der von verschwenderischer Pracht zeugenden Seidengewänder zu unternehmen, welche diese dunkeläugigen römischen Frauen in ihren Equipagen wie eine helle, leuchtende Wolke umgeben. Wie wäre es möglich, die Zusammenstellung aller jener lauten und auffallenden Farben zu schildern, welche der Geschmack des heutigen Tages ist, und die hier, wo der Zusammenfluß so vieler Fremden ohnedies leicht genug Extreme erzeugt, in der That bis zum Aeußersten geführt ist. Aber der breitkrämpige Rubens-Hut mit der wallenden Feder kleidet den Kopf der Römerin ganz vortrefflich und erhöht noch das vornehme Auftreten, das sie in der Öffentlichkeit so gern zeigt.

Vierspänner, Zweispänner, Einspänner drängen und treiben sich; ihre Insassen gehören nicht allein Rom, sie gehören allen Nationen der Erde an. Dort die Dame mit den mandelförmigen braunen Augen und den goldblonden Locken, anmuthvoll in den weichen Polstern ihres Wagens ruhend, den wollhaarigen Mohren auf dem Bock, stammt von einer der meerumrauschten Inseln Griechenlands. Sie ist berühmt wegen ihrer Schönheit, berühmt wegen ihrer Toiletten. Wenn sie manchmal den Wiesengrund der Villa Doria-Panfili der Gnade würdigt, ihn mit ihren lächerlich kleinen Füßen zu treten, so wird man bald erkennen, daß keine zweite Frau in Rom das Gewand so eng gespannt um den schlanken Körper trägt, wie sie, daß keine die ungeheuere Schleppe mit solchem Anstand zu führen weiß, wie sie, daß keine Frau auf höheren Absätzen an den coquetten Stiefelchen durch die Welt schreitet und daß kein Rubenshut in ganz Rom breitere Ränder aufzuweisen hat, wie der ihre. Aber auch keiner zweiten Frau sitzt er so keck, so herausfordernd auf der Seite, daß die rothe Feder mitsammt den blonden Locken weit hinab in den Nacken wallt. Im Wagen ist ihr unzertrennlicher Begleiter ein weißer Hund von colossaler Größe, der breit auf dem Rücksitz Platz genommen hat und sich von hier aus gravitätisch das Leben in Rom betrachtet. – Dort die junge Dame in der excentrischen Toilette mit dem bronzefarbenen Teint und den aufgeworfenen Lippen, die sich in ihrer Equipage mit solcher übertrieben vornehmer Nonchalance zurückgelehnt hat, daß ihre schmalen, ins feinste Handschuhleder gepreßten Füßchen fast beim Kutscher auf dem Bock zu liegen kommen, ist unter der heißen Sonne der Havanna geboren; die andere im nächsten Wagen kennzeichnet der weiße Schleier schon, der das ganze Gesicht mit Ausnahme der Augen undurchdringlich verhüllt, als Muhamedanerin, und so mag man leicht genug alle Nationen der Welt sich hier begegnen sehen, von dem überall unvermeidlichen Engländer, dem Franzosen und Deutschen ganz abgesehen.

Letzterer hält sich in der ihm angebornen großen Bescheidenheit meist zu Fuß auf dem Trottoir, wo er indessen von nicht minderer Mannigfaltigkeit des Lebens und der Erscheinungen in ihm umfluthet ist, als drüben auf der Fahrstraße. Durch das Gedränge, welches Elegants, Künstler, Officiere, Kleinkrämer aller Art bilden, kommt hier ein armenischer Geistlicher geschritten im schwarzen Gewand, mit breitem, lang niederwallendem weißem Bart und auf dem charakteristischen Kopf einen merkwürdigen Hut von schwarzer und rother Farbe, der die breitkrämpige Kopfbedeckung des katholischen Geistlichen und den Turban des Muhamedaners in sinniger Weise vereinigen zu wollen scheint. Dort schlüpfen zwei Trinitarier gewandt durch die Equipagenreihe, auf ihren weißen Gewändern das blaue und rothe Kreuz, und hier wandeln bedächtig zwei Kapuziner durch die Menge, das Haupt geneigt und die härene Kapuze bis zu den Sandalen reichend. Dazwischen drängt sich denn auch das Frauenvolk munter und lustig, Allen voran die robuste, breitnackige Amme in ihrer pompösen, grellfarbigen Tracht, die rothgefältelte Krause hinten um den schwarzen Zopf und die blitzende Silbernadel, deren eines Ende meist in einen Büschel immer schwankender, kunstvoll gearbeiteter Kornähren ausläuft, quer durch das Haar.

Ich wiederhole: bei all diesem schillernden, wie die Woge des Meeres immer beweglichen Treiben, das unaufhörlich neue Bilder, neue Erscheinungen zu Tage fördert, empfängt man leicht genug den Eindruck, als sei man nur von einem neuen, von einem zweiten Carneval umrauscht. Und dabei habe ich noch nicht einmal der zu jener Zeit noch in voller Blüthe stehenden römischen Salons gedacht, in denen so mancher zweifelhafte Geselle, der mit seiner Heimath aus irgend einem Grunde grollend gebrochen hat, oft unter dem Schutze eines vornehmen Namens oder gut klingenden Titels noch eine Rolle zu spielen vermag, in denen so manche abenteuerlustige Frau, der das Leben daheim schon längst zu philisterhaft geworden ist, nun das wallende Banner der Emancipation schwingt, und in denen so manche reifere Jungfrau, die jenseits der Alpen viele lange Jahre hindurch ihren Ruhm darin sah, zu den Prüdesten gezählt zu werden, jetzt mit einem an Verrücktheit streifenden Enthusiasmus die Herrlichkeit der antiken Plastik preisend verkündigt.

Ja, das ist der wahre, echte Carneval des Lebens, mit allen Glanzseiten und Gebrechen seines Namensbruders, der nur im Februar die Köpfe und Herzen der Menschen verwirren darf, mit all seiner berauschenden Farbenpracht, mit all seiner bestrickenden Leichtfertigkeit, mit all seinen bunten Maskeraden, seinen Thorheiten und seinen Täuschungen. Wessen Auge vermöchte sofort zu entscheiden, wer in diesem Gewühle Mitspieler sei, wer blos Zuschauer? Am Ende spielen wir Alle mit, Alle ohne Ausnahme, bewußt oder nicht, und am besten ist wohl der daran, der durch das Gedränge dieses Carnevals mit der Schellenkappe des Humors schreitet, ihre Silberglöcklein lächelnd anschlägt, wo ihm eine jener glänzenden und verführerischen Erscheinungen mit gefährlicher Lockung vorüber gleitet, und der um so kräftiger mit ihnen Sturm läutet, wenn ihm Heuchelei oder Thorheit allzu derb auf die empfindlichen Zehen treten wollen.




Aus dem Bereiche des Postwesens.
II. Die Organisation der Postanstalten.

„Die Post aus England ist ausgeblieben.“ – Mit diesen inhaltsschweren Worten stört der erste Buchhalter der ehrenwerthen Firma van Sweert das reizende Stillleben des Principals, der, von sonniger Veranda auf den Mastenwald an den Boompjes von Rotterdam hinabschauend, in Gesellschaft des „Handelsbladed“ behaglich den Morgenkaffee schlürft. Mynheer, der soeben eine vielversprechende Aussicht auf steigende Kaffeepreise im Geiste erwogen hat, stellt erzürnt den kleinen japanischen Porcellannapf mit Ansichten von Yeddo und Toiko zur Seite: „– ist es möglich? keine Nachricht von Mr. Hope und Mr. Baring! kein [574] Brief von Palembang und Batavia mit dem letzten Preiscourant von Javakaffee und Molukkengewürzen!“ – Umsonst strengt der erste Buchhalter sein Gehirn an, die fehlenden Postnachrichten durch Lösung der drei unbekannten Größen in der Kaffeegleichung zu ersetzen. Umsonst machen die „jungen Leute“ des von Sweert’schen Geschäfts in den großen Contobüchern, an deren Spitze das „Mit Gott“ steht, waghalsige Rechnungsversuche. Verlorene Liebesmühe! Längst haben die Lehrlinge mit dem feinen Spürsinn der Jugend erkannt, daß „keine Post da ist“, und daß ihnen heute ein unerwartetes, mithin um so köstlicheres Nichtsthun winke. Während aber diesen hoffnungsvollen Jüngern des Mercur das Glück lächelt, seufzt vielleicht im Nebenhause eine Mutter in bangem Schmerze; denn das Ausbleiben der Post raubt ihr heute die nach langem Harren sicher erwartete Nachricht von dem Sohne, den die weite Welt jenseits der großen Wasserwüste neidisch zurückhält.

So grenzen die Gegensätze im Leben nahe an einander. Dieselbe Post bringt dem Einen Glück und Freude, dem Andern herbes Weh. Von Allen aber werden die Briefe, diese flüchtigen Boten der Ferne, mit gleicher Sehnsucht erwartet.

Längst im Besitze der Vortheile, welche ein wohlgeordnetes Postwesen für die vielverzweigten Beziehungen der Menschheit darbietet, denken wir bei der süßen Gewohnheit des Daseins wenig daran, mit welchen Mitteln die Post den gewaltigen Andrang der Briefe täglich zu bezwingen und die Massen in die rechten Bahnen zu lenken versteht, jenen Strom: –

„Von Sturz zu Sturzen wälzt er, jetzt in tausend,
Dann abertausend Ströme sich ergießend,
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend.“

Fürwahr, es ist ein Stück Sisyphus-Arbeit, diese Fluthen täglich zu dämmen, sie fort und fort zu ebnen und zu leiten. Bewegen sich doch, nach Stephan’s Untersuchungen, in jeder Minute 1400 Postsendungen innerhalb Deutschlands und 10 Millionen Briefe täglich innerhalb Europas, von dessen Bewohnern je der einundvierzigste täglich einen Brief schreibt. Alle diese Boten, welche „gleich dem Genius des Märchens weder Tag noch Nacht scheuend“, den Erdball umkreisen, müssen nach bestimmten Gesetzen auf vorgeschriebener Bahn befördert werden; ihr Weg muß im Voraus bestimmt sein, gleichviel ob sie nach den Palästen der Hauptstädte oder nach der einsamen Farm im Westen der „großen Gewässer“ gerichtet sind. Solche Leistungen im Dienste der Menschheit sind bewundernswerth. Es verlohnt sich daher wohl der Mühe, den Betrieb der Post, das Walten der Kräfte, welchen dieses Ergebniß zu danken ist, näher zu betrachten.

Die Einrichtung der Post läßt sich nach der Art ihrer Wirksamkeit in einen verwaltenden und einen ausübenden Körper trennen. An der Spitze der Verwaltung steht das von dem General-Postdirector geleitete kaiserliche General-Postamt in Berlin, dem für den Verwaltungsdienst in den einzelnen deutschen Gauen Provinzial-Behörden zugetheilt sind: die kaiserlichen Ober-Postdirectionen. Die eigentlichen Betriebsstellen für den Postdienst bilden die Postanstalten (Postämter, -Verwaltungen, -Expeditionen und -Agenturen). Diese Gliederung ist eine sehr glückliche und wirksame; denn sie sichert den Maßregeln der obersten Postbehörde überall eine verständnißvolle Ausführung; sie ermöglicht, ohne die Centralstelle mit ermüdenden Einzelheiten zu belasten, den leitenden Kräften jeder Zeit eine genaue Einsicht in die stets wechselnden Bedürfnisse des Verkehrs, und sie durchdringt zugleich die ausübenden Organe mit dem Geiste thatkräftigen Fortschritts, welcher nirgends nothwendiger ist als im Postwesen.

Wandeln wir eine der Hauptverkehrsadern Berlins, die Leipzigerstraße, nach Osten hinauf, so bemerken wir eine prächtige Façade im Renaissancestil Palladio’s: sie gehört dem neuen General-Postamtsgebäude an, das eine der architektonischen Zierden der Residenz bildet. Der Geschäftsumfang des General-Postamts hat sich mit der Entwickelung der politischen Selbstständigkeit Deutschlands in überraschendem Maße erweitert. Hierüber geben folgende Ziffern Aufschluß:

Quadrat- Einwohner Post-
meilen anstalten
Es betrug der Umfang der
preußischen Post 1864 5057 19,810,408 2501
sie erweiterte sich bei der nord-
deutschen Bundespost 1868 auf 7539 30,476,036 4340
Dagegen umfaßt die deutsche
deutschen Reichspost 1875 8156 34,343,055 6000

In diesem geschichtlich bedeutsamen Jahrzehnt hat die Deutsche Post eine vollständig andere Gestalt gewonnen. An die Stelle einer dem wirthschaftlichen Gedeihen der Nation überaus hinderlichen Vielköpfigkeit von 17 besonderen Postverwaltungen, wie sie trostloser in keinem anderen Lande der Welt bestand, ist endlich die Einheit dieser Verkehrsanstalt getreten. Ein einheitliches Postgesetz, ein einheitlicher Tarif gelten gegenwärtig in ganz Deutschland von Memel bis Passau; dem Auslande gegenüber ist nur ein deutsches Postgebiet zu vertreten. Allerdings bestehen noch zwei besondere süddeutsche Postverwaltungen, die von Baiern und Württemberg, neben der Reichspost zu Recht; die deutsche Nation darf aber die Hoffnung hegen, daß diese Eigenthümlichkeiten aus demselben Einheitsstreben, welches Preußen, Sachsen, Oldenburg, Baden etc. zum Aufgeben ihrer Territorial-Postverwaltungen veranlaßte, allmählich werden beseitigt werden.

Das Personal des General-Postamtes ist bedeutender als dasjenige mancher Ministerien eines großen Staates; es beläuft sich auf mehr als hundertsiebenzig Beamte. Zwölf vortragende Räthe haben die Bearbeitung der verschiedenen Dienstzweige wahrzunehmen, deren Umfang bereits eine Trennung des General-Postamts in zwei Abtheilungen, in die technische Abtheilung und diejenige für das Etats- sowie das Cassenwesen, nöthig gemacht hat. In dem Rahmen dieser Abtheilungen sind die einzelnen Büreaus eingefügt, unter welchen wir als die wichtigsten das Directorialbüreau, das Rechnungsdepartement, das Coursbüreau, das Auslands-Departement, das Bau- und Feldpostdepartement, das Büreau für Personalien, das Abrechnungsbüreau mit dem Auslande, das Büreau für Postfuhrwesen und technischen Dienst, endlich das Büreau für Statistik, sowie die Canzlei und Registratur hervorheben. Im General-Postamte werden alle auf das Postwesen bezüglichen Gesetzentwürfe vorbereitet, die Grundlagen für die Verwaltung und den Betrieb, die principiellen Tariffragen, sowie die Personalverhältnisse geordnet. Das gesammte Courssystem, das Feldpost- und das Bauwesen erhalten hier ihre Regelung; ebenso wird das jährliche Budget der Postverwaltung, das gegenwärtig hundertundzwanzig Millionen Mark übersteigt, bei der Centralbehörde aufgestellt; außerdem hat das General-Postamt die Regelung der Postbeziehungen mit dem Auslande wahrzunehmen.

Wir wenden uns nunmehr zu den eigentlichen Postbetriebsstellen, „dem Oel vor die ganze Staatsmaschine“, wie sich König Friedrich Wilhelm I. treffend ausdrückte. Die Postanstalten lassen sich in stabile und mobile eintheilen. Erstere vermitteln den postalischen Verkehr ihres Wohnsitzes und des Umkreises; die mobilen Postämter dagegen besorgen den Postdienst auf den Eisenbahnen und Dampfschiffen. Der Betrieb der stabilen Postämter ist nach den Gruppen des Annahme-, Absendungs- und Empfangsgeschäfts geordnet. Betreten wir einmal eine der bedeutendsten Postannahmestellen, die Halle der Briefannahme in der Spandauerstraße zu Berlin. Der Grundsatz der Arbeitstheilung muß bei den großen Postämtern die Bewältigung der Massen erleichtern; deshalb zählt das Hofpostamt in Berlin allein sechs Annahmestellen, nämlich solche für Briefe, Einschreibbriefe, Sendungen mit Werthangabe, Päckereien, Postanweisungen, Zeitungsbestellungen u. s w. Die Briefannahme ist von acht Uhr Morgens bis acht Uhr Abends ununterbrochen geöffnet; vor ihren vier Schaltern drängt sich stets eine geschäftige Menge. Außer den Behörden der Königsstadt, namentlich dem Criminalgerichte, dem Stadtgerichte, Polizeipräsidium und dem Magistrate, benutzen vorzugsweise die Börse und die Geschäftshäuser der City von Berlin in der Königs-, Spandauer- und Heiligen Geiststraße diese Annahmestelle. Wenn die Steuerveranlagung erfolgt, sind drei- bis viertausend Briefe täglich vom Magistrate allein nichts Seltenes; Hunderte von Einschreibbriefen der Börsengrößen: Bleichröder, Discontogesellschaft, Mendelssohn, Warschauer etc., zahlreiche, meist überseeische Correspondenzen von Hardt und Co., Köppen und

[575] Schier, Reichel etc., ferner ganze Körbe voll Kreuzbandsendungen mit Preiscouranten und sonstigen Ankündigungen, endlich die Drucksachen der Buchhändler, sowie der wissenschaftlichen Corporationen und die zahlreichen Zeitungsnummern, welche nach allen Welttheilen gehen, liefern die lebensvollen Züge zu einem interessanten Cultur- und Verkehrsbilde der modernen Zeit, in dem alle Strahlen menschlicher Thätigkeit und Arbeit wirksam zur Geltung kommen.

Der Brief ist nach einem trefflichen Worte Stephan’s „das Schiff auf dem Ocean der Entfernungen“. Offenbar soll er daher einem wackeren Steuermann gleichen, der im Stande ist, mit voller Sicherheit in den Hafen zu lenken, für welchen er bestimmt wurde. Nun giebt es aber selbst in unserem aufgeklärten Jahrhundert immer noch gläubige Seelen, welche annehmen, daß die Post Alles wisse, selbst den Namen „nicht genannter“ Briefempfänger. Aufschriften, wie bei jenen Briefen, welche einem spanischen Kloster übergeben zu werden pflegen, und die Adresse „an die heilige Jungfrau“ tragen, sind im Grunde weniger unverständlich, als Briefe mit der Adresse: „an meinen lieben Sohn Franz bei der Artillerie in Berlin“, oder an den großen Unbekannten, „Herrn Müller, Friedrichsstraße“, und an „Mr. Smith in London“. Daß hiermit nicht bloße humoristische Einfälle eines guten Provinzialbewohners gemeint sind, beweist die große Zahl unanbringlicher Retourbriefe, welche die Post schließlich den Flammen opfern muß. Im Jahre 1874 wurden in England achtzehntausendsiebenhundert Briefe ohne jede Adresse zur Post gegeben; sie enthielten einundneunzigtausend Thaler an Wertheinlagen; aller Scharfsinn der Postbeamten des Dead Letter Office in London (des Retourbriefamts), das alle Sprachen der Welt einschließlich derjenigen der Papuas zu entziffern pflegt, blieb bei ihnen ohne Erfolg. Erwägt man, welche traurigen Folgen der Nichteingang eines Briefes nach sich ziehen kann, so wird man die Nothwendigkeit einer Vorschrift der neuesten deutschen Postordnung begreifen, es solle jeder Brief so adressirt sein, daß der Ungewißheit über die Person des rechtmäßigen Empfängers unbedingt vorgebeugt wird.

Diese Vorschrift beruht auf der Erfahrung von Jahrhunderten; denn die Postanstalt, welche im Hinblicke auf die Interessen des Staates und der Gesellschaft in allen civilisirten Ländern vom Staate verwaltet wird, hat im Laufe der Zeiten alle Mittel erprobt, welche ihr volle Wirksamkeit im Dienste der Culturbewegung sichern; sie ist demnach in der Lage, der öffentlichen Wohlfahrt hierbei die bewährtesten Handhaben zu bieten. Man wird also wohl thun, wenn man jene Vorschriften der Post genau erfüllt. Bei der Adressirung ist vor Allem die Person des Empfängers nach Namen, Vornamen, Beschäftigung oder Stand unzweifelhaft zu bezeichnen; sodann muß der Bestimmungsort und nöthigenfalls das Land, in dem er belegen ist, deutlich angegeben werden; bei gleichnamigen Orten, z. B. den zahllosen Friedlands, Neustadts, Neuenburgs etc., bedarf es der näheren Bezeichnung der Provinz etc. Handelt es sich um Briefe nach größeren Städten, so ist die Hinzufügung der Wohnungsangabe eine unerläßliche Bedingung für richtige und rechtzeitige Bestellung der Sendung.

Wohnt der Empfänger etwa in einem Orte ohne Postanstalt, so muß die Angabe des nächsten Postamts beigefügt werden. Bei Briefen nach Berlin, Wien und London ist ferner der Postbezirk zu bezeichnen, in welchem der Adressat wohnt. Muster zu Briefaufschriften sind folgende:

     Herrn Kaufmann Emil Berger
     Krausenstraße Nr. 20, II Treppen
     Berlin, W.
     frei.

oder:
     Herrn Conrad Köhler,
     zu erfragen bei dem Lehrer Herrmann,
     in
     Untermhaus
     bei Gera (Reuß jüngere Linie).
     frei.

oder:
     Mr. Davidson, Esquire,
     Essex road No 61
     London. Islington. N.
     England.
     paid.

Der Zusatz „England“ bei London ist nicht etwa entbehrlich, weil es z. B. auch in Nordamerika viele Orte Namens „London“ giebt. In Rücksicht auf das Vorkommen zahlreicher gleichnamiger Orte muß daher auf den nach Nordamerika bestimmten Briefen die Angabe der County (Grafschaft) hinzugefügt werden: z. B.

     New River,
     East Florida, United States.

Das Publicum ist sehr geneigt, diese Erfordernisse für eine lästige Form anzusehen, auf die kein Gewicht zu legen ist. Im Gegentheil; denn es handelt sich dabei um das eigenste Interesse des Briefschreibers wie des Empfängers. In Berlin werden täglich hundertfünfzig- bis zweihunderttausend Briefe etc., in Paris vierhunderttausend, in London sechshundertfünfzigtausend Briefe aufgegeben. Man muß eben nicht blos an den eigenen Brief denken, sondern an die Tausende, welche zusammenströmen.

Außer der genauen Adressirung ist auch die Verpackung und der Verschluß der Postsendungen von Bedeutung. Bei Päckereien wende man eine haltbare, der Weite des Transportes und der Natur des Inhaltes entsprechende Umhüllung an, bezeichne auch das Packet mit einer vollständigen Adresse, weil diese die Bestellung erleichtert. Bei Briefen mit Papiergeld hülle man letzteres sorgfältig in Papier ein, nehme starkes Papier zu den Briefumschlägen und drücke das Petschaft auf gutem Siegellack scharf und deutlich ab. Die Beachtung dieser Erfordernisse, verbunden mit den Maßregeln der Postverwaltung, welche jede Werthsendung genau wiegen und von Postanstalt zu Postanstalt gegen Empfangsbescheinigung genau nachweisen läßt, sichert das Publicum vor Verlusten, welche bei einem so riesigen Geldumsatz, wie ihn die Post alljährlich in Höhe vieler Millionen vermittelt, fast unvermeidlich sind.

Besonderes Interesse verdient der Stadtpostbetrieb in großen Städten. Die erste Stadtpost wurde 1653 von dem maître des requêtes (Bittschriftenmeister) Valayer in Paris errichtet. Die Pariser Salons, damals der Brennpunkt einer scharf ausgesprochenen Geistesbewegung der französischen Nation, waren der Schauplatz, auf dem die Raketenfeuer des Esprit sprühten, von dem jene Zeit ihr geistiges Gepräge empfing. Gelehrte, Hofleute und Künstler wetteiferten mit geistreichen Frauen in dem eifrigen Streben, Frankreich auf allen Gebieten den Vorrang zu sichern. Das Postwesen litt damals indeß noch an den schwerfälligen Einrichtungen des Mittelalters, und es war für die Ausspinnung zarter Intriguen gewiß wenig Romantik bei der Briefbeförderung zu finden, da jeder Brief an den Postbeamten unmittelbar eingeliefert und baar bezahlt werden mußte. Frau von Longueville nun wußte Rath und erfand ein Mittel, den Absender mit undurchdringlichem Geheimnisse zu umhüllen: sie bewog den Minister Fouquet, die Frankirung der Briefe mittelst kleiner Zettel zuzulassen, welche die Bezeichnung port payé (Porto bezahlt) trugen und von dem maître des requêtes und seinen Leuten feilgehalten wurden. Es ist dies der Ursprung der heutigen Briefmarken. In der Revolutionszeit verschwanden auch die Marken der Frau von Longueville; sie mußten deshalb in der jetzigen Form 1840 in England noch einmal erfunden werden.

Berlin besaß zu Anfang unseres Jahrhunderts bereits eine Stadtpost, die von der Kaufmannsgilde errichtet war und Briefe auf den Straßen unter Läuten mit einer Glocke einsammelte, sich aber bald als unzureichend erwies und einging. Die jetzige Berliner Stadtpost ist eine wohleingerichtete Anstalt, die den Blutumlauf eines gewaltigen Verkehrskörpers vermittelt. Von diesem Mittelpunkte laufen allstündlich Briefposten nach allen Filial-Postämtern der Reichshauptstadt aus. Ebenso treffen stündlich Briefwagen von den fünfzig Filialen bei dem Stadtpostamte ein; man kann daher in zwei Stunden von jedem Punkte Berlins Nachrichten absenden und darauf Antwort empfangen. Die vierhundert Briefkasten Berlins werden halbstündlich geleert.

In dem großen Sortirsaal der Stadtpost strömen alle in Berlin

[576] von auswärts eintreffenden Briefe, soweit sie nicht von den Bahnhofs-Postämtern bereits direct bestellt sind, zusammen. Wenn eine wichtige Post, vom Rhein, von England, Frankreich oder Süddeutschland eingetroffen ist, entspinnt sich in jenem Saale ein heißer Kampf gegen die Festungsmauern von Briefen, die schier endlos sich aus den vollen Briefsäcken aufthürmen. Mehr als zwanzig Sortirer laufen Sturm gegen diese Mauern, bis die Bresche größer und größer wird. Ein mächtiger Aufbau mit Fachwerken, in dem jedes der vierhundert Briefträger-Reviere Berlins seine Abtheilung hat, nimmt die Briefe auf, die zunächst nach den Berliner Postbezirken N., W., N. W. etc., sodann aber nach Postämtern getrennt und endlich nach den einzelnen Revieren vertheilt werden. Bemerkenswerth ist die Sicherheit, mit der die Sortirer die zahlreichen Handelsfirmen Berlins: A. Meyer, S. Meyer, B. Cohn , J. Cohn, S. Müller etc. unterscheiden; sie haben mit vollem Rechte Anspruch auf eine Art Brief-Unfehlbarkeit. Dabei muß die Arbeit ebenso schnell wie sicher von Statten gehen; denn draußen warten Hunderte von Briefträgern und zuletzt Tausende von Geschäftshäusern, Behörden etc. auf das tägliche Manna an Briefen, das neue Arbeit, neue Werthe schafft, – so reiht eine unabsehbare Kette wirkender, belebender Kräfte sich an einander.

Unser nächster Artikel soll einer Schilderung der „fliegenden“ Bahnhofsämter gewidmet sein. –

G. T.


Das Geständniß einer Frau.
(Schluß.)

In der Sennhütte.
Nach der Natur aufgenommen von Louis Braun.

„Abends, während die Sonne unterging,“ fuhr Frau Therese in ihrer Erzählung fort, „ruderten“ wir zurück und wanderten zusammen durch die hellen Wiesen, an denen ich Morgens so leichtherzig vorübergekommen war, nach Prien. Ich mochte nicht sprechen und pflückte hier und da eine Feldblume. So war ich den andern Beiden um einige Schritte nachgeblieben, als ich sah, daß sich Rainer an einer Stelle, wo sich ein Weg nach links abzweigte, von meiner Mutter verabschiedete. Sie blickte nach mir zurück, winkte und setzte ihren Weg langsam fort.

Ohne es selbst zu wissen, war ich stehen geblieben, und schon stand Rainer neben mir.

‚Leben Sie wohl, Fräulein!‘ sagte er zögernd. ‚Mein Weg führt hier ab; der Freund, mit dem ich nach Tyrol reise, erwartet mich in Seebruck.‘

Ich antwortete nichts, und sah auf die verdämmernden Berge; sie erloschen allmählich im Abendschatten.

‚Leben Sie wohl!‘ sagte ich wie ein Echo und ging vorwärts, nachdem ich mich gegen Rainer verbeugt hatte. Er war noch neben mir.

‚Wollen Sie mir eine dieser Blumen schenken, Fräulein?‘ sagte er plötzlich.

Ich gab ihm eine der verspäteten Genzianen, deren tiefes feuriges Blau ich heute zum ersten Mal geschaut hatte.

‚Die blaue Blume!‘ sagte er langsam. ‚Wenn Wünsche sich erfüllen, Fräulein, dann sehe ich Sie wieder.‘“

Frau Therese schwieg.

„Und hat er Dich wieder gesehen?“ fragte Linda mit lebhaft forschendem Blicke.

[577]

Regen-Metamorphose einer Wiener Künstlerin.


Die Mutter antwortete nicht gleich. Endlich sagte sie leise: „Ja.“

Sie erhob sich und ging mit unhörbarem Schritte auf und nieder. Linda ließ ihre Füße niedergleiten, gesellte sich zu ihr und wanderte mit ihr durch das Zimmer, indem sie den Arm leicht um ihre Schulter schlang.

„Wie schwül es ist!“ sagte Frau Therese.

Mit einer Elasticität der Bewegung, welche den feinen Gliedern lange gefehlt hatte, rückte das junge Mädchen zwei Sessel in die Nische eines Fensters, dessen Flügel sie weit öffnete. Belebende Kühle strömte herein. Sie zog die Mutter mit sich dorthin, nahm, als Beide einander gegenüber saßen, deren Hände in die ihrigen und küßte erst die eine, dann die andere. Darauf bat sie: „Erzähle!“

Frau Therese nickte; sie beschattete einen Moment ihre Augen mit der Hand; dann fuhr sie gelassen fort. „Es folgten inhaltsschwere Jahre. Deine Geburt, Linda, war eine letzte, hohe Freude vor langer Trauerzeit. Wie im Triumph bist Du auf der Welt empfangen und zur Taufe getragen worden; fast unmittelbar nachher begann Deine Mutter zu klagen. Niemand von uns Allen, sie selbst am wenigsten, ahnte den Ernst eines Leidens, das verhängnißvoll werden sollte. Sie erholte sich wieder, brachte eine Zeit voll Heiterkeit und Freude bei uns zu und kehrte, scheinbar genesen, in ihr Haus zurück. Ein Jahr später wurde Dein Bruder geboren; nun ging es rasch mit ihr abwärts. Inzwischen waren meine Mutter und ich an den Rhein übergesiedelt, um ihr nahe zu bleiben. Wir sahen dieses leuchtende, wärmende Leben erlöschen, wie eine Sonne – es wurde Nacht für uns Alle.

Dein Vater bat, daß wir bei ihm bleiben möchten; dies war in der That nothwendig, sollte er sich nicht von den Kindern trennen. Das Notariat, welches ihm reichliches Einkommen sicherte, und ein eigenes Haus, das er sich erbaut hatte, fesselten ihn an die kleine Landstadt. Er rechnete uns als Opfer an, daß wir fortan sein Stillleben theilen wollten; es war keines. Meiner Mutter war durch den Verlust ihres geliebtesten Kindes fast das Herz gebrochen; sie begehrte von der Außenwelt nichts mehr, und ich – nun, was mich vor ein paar Jahren eine Uebersiedelung noch hätte fürchten lassen, konnte nicht mehr in Betracht kommen. Laß Dir gestehen, Linda, was ich mir damals kaum selbst gestand! Ich hatte gewartet – lange – lange gewartet, den Ton noch einmal zu hören, der verstummt blieb. Ich hörte auf, zu warten, so oft aber eine fremde Gestalt


Nasses Stillleben im Hochgebirge.
Nach der Natur aufgenommen von H. Heubner.


[578] mir näher zu treten versuchte, schob sich der dunkle Kopf mit jener edlen Bewegung, die ihm eigen war, dazwischen, und trennte mich von allem Neuen. Nun, Jahre waren hingegangen; auch das trat zurück. Unser jetziger Entschluß war ganz nach meinem Herzen; was mir der Aufenthalt in einer großen Stadt geboten hatte, ward durch die Freude, womit ich Dich und den Kleinen pflegte, durch meinen Hang zum Naturgenuß mehr als aufgewogen.

So lebten wir ein paar Jahre friedlich hin, ohne daß sich die Entbehrung des theuern Geistes, welcher das Haus, in dem er gewaltet, so früh verlassen, in uns abgeschwächt hätte. Dann ward abermals eine Stelle leer: meine theure Mutter starb nach kurzem Krankenlager. Einige Monate nach ihrem Verluste sprach Dein Vater mit mir über unsere gemeinschaftliche Zukunft. Ich weiß nicht, waren ihm Bemerkungen zu Ohren gekommen, oder hatte ihn eigene Weltkenntniß bestimmt – kurz, er sagte mir offen, wir seien Beide noch zu jung, um auf die Dauer neben einander fortzuleben, ohne das Gerede der Welt herauszufordern. Nachdem er geäußert, daß er sich nie von seinen Kindern trennen würde, und mich vor dem Gedanken solcher Trennung nicht weniger erschrecken sah, frug er mich in Ruhe und Freundschaft, ob ich mich entschließen könnte, die Stelle Eurer Mutter und seiner Hausfrau in Wahrheit auszufüllen, und ich willigte ein.

Ich war damals kaum vierundzwanzig Jahre alt, doch schien es mir, als läge bereits ein langes, langes Leben hinter mir, und vor mir sah ich nichts, wonach ich lebhaft begehrte, als nur das Eine, bei Euch bleiben zu dürfen. Ich wußte, daß Nichts und Niemand auf Erden Deinem Vater ersetzen konnte, was ihm Fanny gewesen, ich wußte aber auch, daß er mir stets herzlich zugethan war, und vergalt dies mit gleicher treuer Freundschaft. Wir verbanden uns stille, und – Du hast vorhin das rechte Wort gefunden, Linda – ein harmonisches Leben knüpfte unser Aller Existenzen täglich fester aneinander.

So vergingen etwa drei Jahre. Der Ruf Deines Vaters als tüchtiger und redlicher Charakter führte ihm mehr und mehr Clienten zu; er vermochte zuletzt die ihn bedrängenden Geschäfte nicht mehr zu bewältigen und that Schritte, sich einen fähigen Concipienten zu gewinnen. Um dies zum Abschluß zu bringen, reiste er nach der Kreishauptstadt und schrieb mir bald von dort, daß er gefunden, was er wünschte, und mit dem jungen Manne, den er sich engagirt habe, nächster Tage zu Hause eintreffen würde.

Als Beide anlangten, stand Rainer vor mir. Seine Ueberraschung war nicht geringer als die meinige; obgleich ich damals der Verheirathung meiner Schwester gegen ihn erwähnt hatte, war der Name ihres Mannes nicht genannt worden. Die Erinnerung an meine liebe Mutter ergriff mich bei diesem unerwarteten Auferstehen vergangener Stunden mit Gewalt und füllte mir Herz und Augen. Mein Mann, im ersten Moment erstaunt, orientirte sich bald. Er begriff meine Stimmung, die für Alles, was mit der Verlorenen zusammenhing, immer reizbar blieb, und lenkte mit dem glücklichen Humor, welcher ihm zu Gebote stand, zum Scherz hinüber, indem er Rainer mit dessen Eroberung seiner Schwiegermutter neckte, die noch nach Jahren gern des ‚Künstlers‘ gedacht hätte, der sich jetzt, im umgekehrten Processe der Raupe und des Schmetterlings, als Actenwurm entpuppte. Daß Deinem Vater selbst aus einem gleichlautenden Namen kein Zusammenhang mit einer wohl gehörten, aber unbeachteten, längst vergessenen Episode meines Lebens aufgegangen war, begriff sich leicht.

Die Jahre, welche seit jenem Maitage verflossen waren, hatten Rainer wenig verändert, nur gesellte die Erscheinung des Mannes Kraft und Ruhe zur Anmuth des Jünglings. Er flößte auf den ersten Blick Vertrauen ein und wurde bald vom ganzen Hause fast wie ein Familienmitglied betrachtet. Vielleicht erinnerst Du Dich seiner noch? Er war Euch Kindern ein stets bereiter Spielgefährte. Dem Hausvater galt er schon bald als tüchtiger Geschäftsbeistand; mir selbst war er ein stilles Spiegelbild einer frühen Jugend, die ich mich längst gewöhnt hatte, in unendlichen Weiten zurückliegend zu denken. Das Hausleben fügte sich harmonischer als je. Rainer wohnte nicht bei uns, schien aber dem leisen Zuge gern zu folgen, womit ihn Dein Vater auch außer den Geschäftsstunden an sich zu fesseln suchte. Auf meines Mannes Anregung nahm ich nun auch meine lange in Ruhe gebliebene Zeichenmappe wieder hervor, und gab mich auf den Ausflügen, welche wir gern in Familie unternahmen, in Rainer’s Schule. Nie war ich zufriedener, herzensruhiger als in jener Zeit. Das Leben füllte sich mit leichten freudigen Pflichten, jeder einzelne Tag war gleichsam durchdrungen von Frische und Wärme. Warum das anders werden mußte, ist Gottes Geheimniß, wie alle Schmerzen es sind.

Noch weiß ich’s, wie heute. – Dein Vater, den ein Geschäft über Land führte, hatte mir vorgeschlagen, ihn auf dem Gange zu begleiten. Es war auch im Mai. Ich mußte noch eine häusliche Arbeit beenden und ging dann mit Hut und Schirm in das Bureau, ihn abzurufen. Er begab sich in das Nebenzimmer, um sich gleichfalls zum Ausgang zu rüsten. Rainer trat indessen von seinem Pulte zu mir heran und sprach irgend etwas Gleichgültiges. Ich sah auf, ihm zu antworten, aber keine Silbe kam über meine Lippen. Seine Augen ruhten auf mir mit einem stillen Blicke, der mich bis in das Innerste traf. Mit demselben Blicke hatte er einst gesagt: ‚wenn Wünsche in Erfüllung gehen, sehe ich Sie wieder.‘ – Was ich durch Zeit und Erlebnisse längst und für immer überwunden meinte, ward mit plötzlicher Gewalt lebendig, war wieder da. – Er war da, Rainer, und füllte mir die Welt aus.

Von diesem Augenblicke an vermieden wir einander, fast zu ängstlich, zu absichtlich. Dem man aus dem Wege geht, das hört darum nicht auf zu sein. Ich klammerte mich an Lebende und Todte, um Hülfe zu finden, und fand sie auch. Er aber stand allein.

Erinnerst Du Dich noch unseres Hauses in Burg, Linda? Es ruhte in heiterer Einsamkeit mitten in der schönen Landschaft, mit Ausblick auf Strom und Hügel – wie lachend war der Garten, wie still das grünumhegte Eckplätzchen, wo wir an warmen Abenden draußen zu speisen pflegten! Schon kam der Hochsommer heran. Eines Nachmittags sagte mir Dein Vater, Rainer würde zum Abendtische kommen, was lange nicht geschehen war, denn er hatte in jüngster Zeit jeder Aufforderung auszuweichen gewußt.

Ihr Kinder waret schlafen gegangen. Die ersten Sterne kamen heraus. Wir Drei saßen nach Tisch im Garten bei angeregtem Gespräch. Ein Gefühl von Ruhe, wie ich es lange nicht mehr genossen, zog in mir ein. Alles, was mich während der letzten Monate wider Willen so schmerzlich beglückt, so schwer bedrängt hatte, wich zurück wie ein banger Traum. Friedlich empfand ich zwischen uns Allen nur schöne Gemeinsamkeit. Die lange, heimliche Qual erschien als selbstquälerischer Wahn.

Das Gespräch der Männer wendete sich auf die öffentlichen Angelegenheiten, und wieder trat die Uebereinstimmung zu Tage, welche Beide in allen wesentlichen Lebensfragen zum gleichen Ziele führte, wenn auch zuweilen auf verschiedenem Wege. Ein Zeitungsartikel, über welchen sie ihre Ansichten austauschten, veranlaßte Rückblicke auf das letzte, vielbewegte Jahrzehnt. Da sagte Rainer, der nachdenklich geworden, mit leichtem Wechsel der Farbe: ‚Sie wissen schwerlich, Herr Delbring, daß Sie mit einem politisch Compromittirten verkehren. Die Jahre, von welchen wir soeben sprachen sind mir ziemlich verhängnißvoll geworden.‘

‚Inwiefern?‘ fragte Dein Vater aufmerksam.

‚Ich bin ein Pfälzer,‘ sagte Rainer. ‚Nach abgelegtem Staatsexamen gönnte ich mir ein paar Monate zu reisen, ehe ich mein Berufsleben in der Heimath antrat. Die Nachricht der Ereignisse von 1848 trafen mich in Italien. Sie wissen, wie es im darauf folgenden Jahre in der Pfalz, in Baden aussah. Ich erkläre Ihnen wohl ein anderes Mal, wie es zuging, daß ich nach meiner Heimkehr von der Bewegung, deren unseliger Ausgang ihr schon an die Stirn geschrieben war, mitgerissen und fortgewirbelt wurde. Für mich persönlich war das Ende der Dinge mehrjährige Haft, und vom Staatsdienste habe ich zunächst keine Förderung zu erwarten. Dies der Grund, weshalb Sie mich gegenwärtig als Ihren Concipienten beschäftigen, vorausgesetzt,‘ er lächelte ernst, ‚daß mich diese Mittheilung nicht auch bei Ihnen compromittirt. Es fand sich bisher kein einfacher Anlaß, sie überhaupt zu äußern.‘

Dein Vater drückte ihm freundschaftlich die Hand. ‚Tempi passati,‘ sagte er, ‚wenn sich damals der Patriotismus vergriff, [579] so war dies für junge, feurige Köpfe mehr als verzeihlich. Denk’ ich heute noch jener Tage – –‘ Er beendete den Satz nicht (wie blieb mir doch jedes Wort, jede Miene dieses Abends in’s Gedächtniß gegraben!), da unser Hausmädchen eben herantrat und ihm meldete, daß ihn Jemand zu sprechen wünschte.

‚So spät?‘ sagte er verwundert, erhob sich und ging in das Haus.

Was ich eben vernommen, hatte einen Wirbel von Gedanken in mir aufgeregt; ich wagte nicht, das unterbrochene Thema fortzusetzen, dem ich ohnehin eine stumme Zuhörerin geblieben war, und fand ebenso wenig den Uebergang zu etwas Allgemeinem. So schwieg ich und sah in das durchsichtige Halbdunkel hinaus, das sich über den Garten breitete. Allmählich fing aber die Pause an mir bedrückend zu werden, und ich wandte mich mit einer Bemerkung über die Stille solcher Sommernacht Rainer zu. Sein Gesicht erschien mir in dem dämmerigen Sternenlichte so ungemein blaß, daß mir plötzlich sehr bange wurde.

Er antwortete mir nicht, sah mich aber unverwandt an. Mit einem Male bog er sich über den Tisch hinweg zu mir herüber und sagte erregt: ‚Sie wissen nun, weshalb ich Sie nicht früher wiedersah.‘

Ich bewegte die Lippen doch fühlte ich mich nicht Herr meiner Stimme und blieb stumm.

‚Dachten Sie überhaupt je daran, daß wir uns wiedersehen sollten?‘ fragte er und sein meist so stilles Auge wurde dunkel. Ohne meine Antwort zu erwarten, fuhr er in kurzen, abgebrochenen Sätzen fort: ‚Sie wissen es jetzt. Als ich damals von Ihnen ging, hoffte ich auf eine Zukunft. Es kam anders. Sobald mir Freiheit wurde, suchte ich Sie auf. Sie lebten nicht mehr in München. Ich forschte weiter, da ich aber keinen weiteren Anhalt hatte, als Ihren Namen, glückte es mir nicht, Sie zu finden. Auch wäre ja schon Alles zu spät gewesen, viel zu spät. Nun habe ich Sie wiedergesehen. Ich muß es tragen – wir – wir müssen es tragen.‘

Er brach gewaltsam ab und fuhr zusammen. Es lohte heiß über sein Gesicht. Der kräftige Schritt Deines Vaters kam über den Kies zu uns herüber. Er sah stark erregt aus; über seinen Augen lagen tiefe Falten. ‚Das war eine merkwürdige Mittheilung, wozu ich eben hineingerufen wurde,‘ sagte er und ließ sich schwer in den Sessel fallen. ‚Sollten Sie es für möglich halten, Rainer – der Rentamtmann von A. ist eines namhaften Cassendefectes überwiesen und bereits in Haft. – Wer hätte dem Manne Solches zugetraut! Er galt überall als Ehrenmann. Was ihn wohl soweit gebracht hat? Häusliche Sorgen? Schulden? Er hat eine starke Familie, das ist wahr – aber doch – weiß Gott!‘ Er schüttelte den Kopf und berührte Rainer’s Arm, indem er ihm sein ehrliches, von der Kunde durchschüttertes Gesicht voll zuwendete. ‚Alles, Rainer, Alles!‘ sagte er mit aufleuchtendem Blicke voll Nachdruck – ‚Alles – nur kein Schurke sein!‘

Rainer zuckte zusammen, als hätte ihn plötzlich eine Flamme versengt, und stand mit unwillkürlicher Bewegung auf. Seine Hand schloß sich fest um die Lehne des Sessels; er sah mich über die Schulter meines Mannes hinweg einen Augenblick an. Es war ein Blick voll unaussprechlicher Qual. Dann wandte er sich ab, fuhr sich flüchtig mit der Hand über die Stirn und nahm den eben verlassenen Sitz wieder ein. Seine Stimme klang gelassen, wie immer, als er Deinem Vater auf die Details antwortete, welche derselbe von der erhaltenen Mittheilung gab.

Delbring sah zufällig nach mir hinüber. ‚Friert Dich, Therese?‘ sagte er; ‚Du bist ganz blaß.‘

‚Es wird kühl; ich will hineingehen – gute Nacht!‘ sagte ich stammelnd, und ging in das Haus. Welche Nacht! – Als sie aber hinter mir lag, fühlte ich mich getroster. Der Entschluß, Deinem Vater offen zu sagen, wie mir zu Muthe war, mußte uns Allen helfen – freilich um den Preis seiner eigenen, heiligen Ruhe. Dies blieb uns erspart. Als er aus dem Bureau zum Mittagstische kam, sah ich auf den ersten Blick, daß ihn etwas verstimmte, doch pflegten wir in Gegenwart der Kinder, der ab- und zugehenden Dienstleute niemals Persönliches zu berühren. Sobald wir allein waren, kam es zum Vorscheine.

‚Freilich bin ich verstimmt,‘ sagte er auf meine erste Hindeutung, ‚und habe wohl Ursache dazu. Rainer will fort. Was sagst Du dazu? Und es ist keine Rede davon, ihn halten zu können. Schon lange war ihm anzumerken, daß ihm etwas im Kopfe spukt – er ist ja seit Monaten ein völliger Eremit geworden. So oft ich fragte, hieß es: ‚Familienangelegenheiten‘ – nun, ich dränge mich nicht in die meiner Freunde. Jetzt ist es aber heraus. Seine verwittwete Schwester scheint mit ihren Haus- und Kindersorgen nicht zurechtkommen zu können; irgend ein Proceß ist dort im Gange, kurz, sie meint ihn durchaus in ihrer Nähe zu brauchen, und er will sich brauchen lassen. Als ob ich ihn nicht auch brauchte! Der wird mir nie ersetzt – uns Allen nicht; seines Gleichen wächst nicht viel.‘

Nun durfte ich schweigen. – Wir begegneten uns in den nächsten Tagen nur vorübergehend; Rainer arbeitete unablässig, um seinem Nachfolger, der bereits verschrieben war und den er abzuwarten versprochen, keinerlei Rückstände zu hinterlassen. Bald traf der Andere ein –“

Beide Hände im Schooße gefaltet, versank Frau Therese in Schweigen.

„Und dann – kam das Scheiden?“ fragte Linda halb flüsternd.

Die Mutter lächelte eigenthümlich. „Ehe Rainer abreiste, frühstückte er auf Deines Vaters Wunsch mit uns in dessen Zimmer. Wir konnten Alle nicht recht zu Worte kommen. Da sprangst Du herein, Linda, schautest uns der Reihe nach an und sagtest zu mir: ‚Ei, warum seid Ihr denn so traurig, daß der Onkel Rainer fortgeht? Es ist ja schon ein neuer im Bureau.‘

Dein Vater lachte; Rainer nickte mit leisem, bitterem Lächeln vor sich hin, sah nach seiner Uhr und stand auf. ‚Ist es wirklich schon Zeit für die Post?‘ fragte Delbring. ‚Ich begleite Sie – erlauben Sie mir nur noch ein Wort an den Schreiber.‘

Rainer stand mir gegenüber, schon den Hut in den Hand. Er sah durchscheinend blaß, aber ganz ruhig aus. ‚Haben Sie Dank für alle Freundlichkeit, gnädige Frau!‘ sagte er halblaut, ‚und – vergessen Sie, was ich gefehlt habe!‘ Ich war außer Stande, zu antworten. Unsere Hände lagen einen Augenblick in einander; unsere Augen sagten sich Lebewohl, über die Lippen kam das Wort nicht. Dein Vater meldete sich bereit, und beide Männer gingen von dannen.

Kurze Zeit darauf dröhnte der schwere Postwagen an unserm Hause vorüber. Als mein Mann heimkam, trat er für einen Moment bei mir ein. ‚Ich soll Dir noch Grüße bestellen, Therese. Warum hast Du Dich aber von unserm Rainer so kalt verabschiedet? Du hättest ihm wohl zum Abschiede einen Kuß spendiren können!‘

Sein treuherziges Auge blickte mich voll Freundlichkeit an; da fiel ich ihm um den Hals und mußte weinen.“ –

„Und Rainer?“ fragte Linda nach einer Pause; „was ist aus ihm geworden?“

„Er schrieb ein paar Mal an Papa, dann schlief der Briefwechsel ein, wie alle Privatcorrespondenzen meines Mannes, die ich ihm nicht im Laufe der Zeit abnahm. Doch erfuhren wir später Manches aber unsern Freund – oft und öfter; nicht durch ihn selbst, wohl aber durch die Stimme der Oeffentlichkeit. Ich nannte Dir nur seine Vornamen; der andere Name, den er trägt, gehört zu jenen, die unser Vaterland heute mit Stolz zu den seinen zählt. – Sein Leben hat sich reich erfüllt.“

Mutter und Tochter verstummten. Kaum ein Athemzug regte sich in dem schwacherhellten, lautlosen Zimmer. Da schlug es vom Thurme elf Uhr.

„Komm nun zur Ruhe, mein Kind!“ sagte Frau Therese, indem sie sich gelassen erhob und liebkosend aber Linda’s Haare strich.

Das junge Mädchen glitt auf die Kniee nieder und drückte ihr Gesicht in der Mutter Gewand. „Ich habe Dich verstanden,“ sagte sie mit schüchterner Innigkeit. „Du gabst mir viel – habe Dank! – Es war wohl anders, aber auch Dir war es die eine, einzige Liebe.“ Sie preßte ihre Lippen auf Frau Theresens Hand. „Ich kenne Dich, Mama; ich sehe Dich Tag um Tag, Jahr um Jahr für Andere leben, um Andere sorgen; Freud’ und Leid der Deinen ist allezeit Deine Freude und Dein Leid; Du tröstest die Armen und hilfst ihnen. Du hast meinen Vater allezeit glücklich gemacht, und wir sind ganz Deine Kinder – Deine Liebe hast aber auch Du nicht besitzen dürfen. Verzeih’ [580] mein vermessenes Wort von vorhin – Du kannst mehr noch begreifen, als mein bitteres Weh. Aufgeben müssen, ist vielleicht noch härter, als verlieren. Ich will dem Leben sein Recht geben wie Du es gethan hast. Gott helfe mir! Amen!“

„Amen!“ sagte die Mutter aus tiefster Seele und schloß die zarte Gestalt fest in ihre Arme. „Gehörst Du von nun an uns und der Menschheit wieder, dann wirst Du auch erfahren, daß aus Dornen oft die Rose keimt.“

A. Godin.


Blätter und Blüthen.


Was man im Gebirge erlebt. (Mit Abbildungen Seite 576 und 577.) „Durchgemacht und durchgelacht ist die Berglustbarkeit, liebe Freunde. Nun laßt sie uns zu Papier bringen!“ Diese schöne Rede hielt ein Mann von der Feder an zwei Männer vom Stifte in einem Tiroler Gebirgswirthshause im kühlen Grunde, zu welchem sie aus den höheren Regionen der Sennhütten herunter gekommen waren. Die Namen dieser durch treffliche Leistungen bekannten Künstler sind den Freunden der Gartenlaube längst nicht mehr fremd: L. Braun schreibt sich der Eine und H. Heubner der Andere, und Jeder von Beiden wiegte eine absonderliche Idee im filzbedeckten Haupte, während der Eine die Skizzenmappe auf’s Knie, der Andere auf den Tisch legte, Jeder nach seiner Art,

„denn die Gewohnheit nennt er seine Amme.“

Braun war von seiner Aufgabe entzückt: das verräth sein Bild der Sennhütte. Sie war wie tausend andere und enthielt das tausend Mal gesehene Personal. Aber mit frischer Naturwahrheit, ganz abweichend von den süßlichen Mimilivorstellungen, welche der Plattländer an die Sennhütten zu knüpfen pflegt, hat Braun auf seinem Bilde das kecke, fröhliche Gebirgsleben wiedergegeben. Seine Gestalten, sowohl der Sennerinnen mit den Wildheuerhosen, wie der Sennbuben, tragen das frische Roth der Wirklichkeit auf den Wangen.

Während wir uns noch an dem Bilde Braun’s erfreuten, vernahmen wir ein herrannahendes Durcheinander von Stimmen, und zur Thür herein grüßten mehrere Reisedämchen und Reiseherren. Ich freute mich der lustigen Schaar; es waren keine verzwickten Modekinder, sondern frische und sogar namhafte Bühnengenossen, darunter eine unserer beliebtesten Tragödinnen, so daß es mir wirklich leid thut, zum Ausputze dieser Zeilen nicht einige Namen nennen zu dürfen. Ich hab’s versprochen, sie nicht mit diesem Scherze in die Oeffentlichkeit zu bringen, denn der Himmel begnadete uns mit einem gar absonderlichen gemeinsamen Geschicke.

Wir hatten uns der Gesellschaft natürlich zum Hinabsteigen in’s Thal angeschlossen; das Wetter, das den Tag über uns leidlich günstig gewesen, hatte endlich die Geduld verloren und brach, als wir nur noch die letzte Viertelstunde Wegs bis zu unserer Herberge vor uns hatten, mit solchem Wasch- und Badeeifer über uns her, daß wir so pudelnaß, wie nur menschenmöglich, aber trotzalledem mit vollem Lachen – denn der Humor war selbst bei den Damen nicht mit den Kleidern verdorben worden – in’s Wirthshaus hineintrieften.

O, diese quatschende und patschende Gesellschaft! Die angeklebten Schleier und die Spritzbrünnchen der Stiefeletten bei jedem Auftreten! Das ganze Haus lief zusammen – aber die Hausfrau war weise und der Wirth klug und bei Beiden guter Rath nicht theuer. Männlein und Fräulein wurden in zwei Gemächer getrennt und beiden Theilen alle nur vorräthigen Kleidungsstücke des Haushalts zugetheilt. Die nasse Waare aber, alles Gewand vom Kopfe bis zu den Füßen, ward zu den beiden Thüren hinausgereicht, um zu einer gemeinsamen Draperie des großen Kachelofens in der Wirthsstube vereinigt zu werden.

Nach vorgenommener Umkleidung bildeten wir Mannsleute eine recht stattliche Gesellschaft von Bauern und Burschen, nahmen auch keinen Anstand, in unserm Costüme in die Gaststube zu wandern und einen Tisch mit unseren lebenden Bildern zu schmücken. Da – mitten in dieser gemüthlichen Unterhaltung, öffnet sich die Thür zum Gemache der Frauen, und herein tritt mit ehrfurchtgebietender Gravität, mit den Kleidern der Wirthsleute halb männlich, halb weiblich costümirt, die Hände feierlich erhoben, eine abenteuerliche Gestalt.

„Dich begrüß’ ich in Ehrfurcht,
Prangende Halle,
Säulengetragenes, herrliches Dach,“

tönte es aus ihrem redegewaltigen Munde, und betroffen und fast erschrocken starrte Alles auf die groteske Erscheinung. Als aber aus allen Ecken und Winkeln des engen Zimmers das Ach und O freudigen Erstaunens erscholl, winkte sie still mit der Hand und fuhr in gehobenem Tone fort:

„Schwer liegt der Himmel von Madrid auf mir,
Wie das Bewußtsein eines Mords. Nur schnelle
Veränderung des Himmels kann mich heilen – “

und mit unnachahmlicher Grazie wies sie zum Fenster hin, wo noch immer der Regen prasselnd anschlug. Im Zimmer war es still, als ob ein Engel durch dasselbe schreite. Da plötzlich erscholl von der Tafelrunde der tiefe Baß des Heldenspielers:

„Beim wunderbaren Gott, das Weib ist schön!
Welch’ edler Anstand, welch’ ein holdes Wesen,
Wie einfach jeder Zug und doch wie auserlesen!
Unschuld und Grazie gehen ihr zur Seite,
Und keine Tugend fehlt in dem Geleite.“

Die Hand auf die Joppe des Wirths legend, da, wo der Sage nach, das Herz pochen soll, verneigte sich die Schöne mit verschämten Blicken:

„O, stille, Prinz! von diesen kindischen
Geschichten, die noch jetzt mich schamroth machen!“

Es war ein herrlicher Anblick: unsere Tragödin – denn keine andere war es – in den Unterkleidern der Frau Wirthin und der kurzen Joppe des Vater Wirthes! Sie, die sonst nur gewohnt war, das griechische Gewand der Iphigenie in classischen Falten über die Schulter zu werfen, den Harnisch und den Helm der Johanna von Orleans im Lampenlichte leuchten zu lassen oder die stolze Schleppe der jungfräulichen Königin von England gravitätisch über die weltbedeutenden Bretter zu wälzen – sie, die sonst so schlanke Gestalt im groben Gewande der Frau Wirthin, das noch dazu zum erforderlichen Umfange künstlich ausgefüllt war!

Die komische Wirkung, welche diese Figur hervorrief, prägte sich auf allen Gesichtern aus, und allgemeine Heiterkeit ergriff die Gesellschaft – eine Scene, die wiederzugeben kein Stift ausreichen dürfte. Der Künstler hat deshalb auch nur zwei Momente der prächtigen Situation herausgegriffen, die Tragödin und das Stillleben am Ofen.




Zwei Institute der Selbsthülfe. Bei den immer wachsenden Ansprüchen, welche das Leben an den einzelnen stellt, tritt die Nothwendigkeit der Selbsthülfe immer mahnender und dringender an die Vertreter namentlich derjenigen Berufsclassen hinan, welche ihre Existenz der drohenden Invalidität späterer Lebensjahre gegenüber nicht genügend durch ein sicheres und dauerndes Einkommen gewährleistet sehen. Die Thatsache, daß die Zahl der Genossenschaften und Vereinigungen zur Abwehr von Noth und Elend täglich mehr und mehr innerhalb der verschiedenen Berufszweige wächst, muß daher freudig begrüßt werden. Zu den jüngst in Aussicht genommenen derartigen Instituten der Selbsthülfe gehören unter Anderen der Pensionsverband für Kaufleute und Buchhändler zunächst im Königreiche Sachsen, welcher von Chemnitz aus durch ein Reihe hochangesehener Männer angeregt worden, und die Genossenschaft deutscher Techniker, zu deren Bildung sich in Bromberg ein Ausschuß zusammengethan hat. Wir halten es für unsere Pflicht, auf diese beiden Humanitätsunternehmungen im Interesse der Sache selbst aufmerksam zu machen und sie der allgemeinsten Beachtung auf das Wärmste zu empfehlen. In Betreff der erstgenannten Vereinigung wolle man sich wegen näherer Auskunft an das Comité zur Errichtung einer Pensionscasse für Kaufleute und Buchhändler in Chemnitz, bezüglich der letzterwähnten an den Herrn Techniker A. Gregorius in Bromberg (Bahnhof) wenden!




Der Schiffbruch des „Schiller“ ist in der „Gartenlaube“ von einem einfachen Bürger aus Sachsen als eigenes Erlebniß erzählt; in einem Nachworte dazu sagten wir wohlbegründeten Berichtigungen den nöthigen Raum zu. Als solche Berichtigungen können wir jedoch nicht die Behauptungen anerkennen, welche der erste Officier des untergegangenen Schiffes in einem Hamburger Blatte gegen Herrn Schellenberg aufstellt. Mit bloßem Negiren ist noch nichts bewiesen. Und da ein anderer, ebenso eifriger Vertheidiger der Hamburger Rhederei, dessen Schreiben in unserer Redaction jedermann vorgelegt werden kann, trotz alledem ausdrücklich bemerkt: „Die Erzählung Ihres Herrn Berichterstatters verdient die vollste Anerkennung; er beschreibt einfach, was er erlebt und wie er es aufgefaßt hat“, so können auch wir hiermit nur erklären, daß das Wort dieses Mannes, der nach sechs Seereisen kein Neuling mehr auf einem Schiffe ist, uns ebenso viel gilt, wie das eines Officiers, in dessen Berichte der bedenkliche Punkt der Versäumniß des rechtzeitigen Lothens so vorsichtig umgangen wird, daß die eigentliche Absicht seiner „Berichtigungen“ wohl nicht verkannt werden kann. Wir hatten keine Veranlassung, nicht zu glauben, daß Herrn Schellenberg in seiner unabhängigen Stellung keine andere Absicht bei seiner Berichterstattung leiten konnte, als die, über Schiff, Führung und Untergang desselben als einer der wenigen geretteten Passagiere nach seiner Ueberzeugung die Wahrheit zu sagen. Uebrigens werden wir Herrn Schellenberg die betreffende Zeitung zusenden und seine Erwiderung, wenn nöthig, später mittheilen.




Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. Vom Rechtsanwalt Winterfeldt in Berlin geht uns die Mittheilung zu, daß die Angabe in dem Artikel „Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin“ (Nr. 23), er sei Mitgründer des Lichterfelder Bauvereins, nicht auf Wahrheit beruhe, wovon sich Jeder durch Einsicht der Beilagen zum Handelsregister überzeugen könnte.

Der Verfasser, Otto Glagau, bemerkt zu diesen Reclamationen: „Das Handelsregister mit seinen Beilagen ist, wie jeder Staatsanwalt bezeugen kann, eine sehr unschuldige Sache. Es giebt über die eigentlichen Vorgänge bei einer Gründung so gut wie gar keinen Aufschluß und nennt nicht entfernt alle Diejenigen, welche betheiligt sind. Gewöhnlich werden nur einige wenige Personen vorgeschoben, und diese führen nur eine ihnen aufgetragene Rolle aus, während die Hauptgründer und der Rest ihrer Gehülfen hinter den Coulissen bleiben. Hätte der Verfasser nicht noch andere Quellen, er würde nicht gut diese Artikel schreiben können. Er hat übrigens stets gefunden, daß von 100 Fällen in 99 die ersten Zeichner, Aufsichtsräthe und Directoren einer Gesellschaft auch stets zu den Gründern derselben gehören und er war in dem guten Glauben, daß dies auch hier zutreffe.“

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.