Die Gartenlaube (1875)/Heft 26
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No. 26. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
Den Präsidenten führte sein Weg quer über den Markt an der Hauptwache der Grenadiergarde vorüber und dann zum Schlosse hinauf. Aber er ging nicht nach dem von den gräflichen Herrschaften bewohnten neuen Schloßflügel, sondern erstieg zunächst die steinerne Wendeltreppe, welche zur Wohnung des Garde-Obersten hinaufführte, und trat dann unangemeldet in dessen Wohnstube.
Der greise Inhaber dieses Zimmers schien durch den Besuch des Präsidenten sehr überrascht zu sein.
„Morgen früh Punkt sechs Uhr muß eine der Gardecompagnien in Brandenfels sein,“ bestimmte dieser. „Wollen Sie danach gütigst Ihre Maßnahmen treffen, Herr Oberst!“
„Eine Compagnie? Nach Brandenfels? Aber du mein lieber Himmel, wie soll ich das machen?“ rief der Alte händeringend. „Die Leute sind jetzt auf dem Felde und mit diesen oder jenen Arbeiten beschäftigt. O mein Himmel, o mein Himmel! Darf man nicht wenigstens erfahren, zu welchem besonderen Zwecke –“
„Morgen werden Sie auch dies wissen. Einstweilen schreibe ich hier eine Ordre für den commandirenden Hauptmann. Sie unterzeichnen dieselbe, ohne sie zu lesen, und ich versiegle sie dann. Herr von Felsewitz übernimmt das Commando, und da der Hauptmann etwas confus ist, so begleitet ihn Feldwebel Lindenzweig von der ersten Compagnie. Sobald Sie mich mit dem Grafen vorüberfahren sehen, werden Sie dem Hauptmann die versiegelte Ordre zustellen. Adieu, Herr Oberst!“
Der Präsident schritt rasch durch den langen Corridor, welcher von der Wohnung des Obersten nach dem neuen Schloßflügel hinüberführte, und ließ sich dort durch den Kammerdiener beim Grafen melden, der ihn auch sofort empfing.
„Sie kommen gerade zur rechten Zeit, wenn Sie mir etwas mitzutheilen haben,“ sagte der Graf, indem er sich aus dem bequemen Lehnstuhle erhob. „Wollte soeben zu meiner Schwester hinübergehen. Ich kann nun einmal mit Niemand lange böse sein und mit Charlotten am wenigsten.“
„Erlaucht würde dort durch Höchstihren Besuch eine große Freude hervorrufen,“ sagte der Präsident kluger Weise zustimmend. „Auch unsere erlauchte Comtesse hat es sicher schon bitter bereut, sich in eine Intrigue gemengt und so schließlich den erlauchten Bruder erzürnt zu haben.“
„Meine Schwester intriguirt, wie Sie wissen, nie,“ verwahrte sich der Graf halb lächelnd und halb ernst. „Die Schuld daran, daß ich meinen treuen Tyras verlor, trifft am Ende nur mich. Warum mußte ich den Hund mit nach Brandenfels nehmen, wenn es einen Besuch zu machen galt!“
„Nein, Erlaucht, ich kann dies nicht zugeben. Der Domänenrath weiß, wie alle Welt, wie sehr Erlaucht den Hund liebten, und er hätte deshalb nicht so brutal wie ein Wilder d’reinschlagen sollen. Doch ich will das Herz Euer Erlaucht jetzt nicht durch solche Erinnerungen von Neuem betrüben. Im Gegentheile, ich komme, um einen Vorschlag zur Zerstreuung zu machen. Der Förster von Brandenfels war heute bei mir –“
„Ich habe ihn über den Markt gehen sehen,“ fiel der Graf ein.
„Nun wohl, durch ihn weiß ich, daß jetzt mehrere capitale Rehböcke von uns nach den Forsten des Domänenraths hinüber wechseln, wo doch der Rehstand ohnehin gut genug ist. Wie wäre es, Erlaucht, wenn wir in dieser Nacht wieder einmal –“
„Sie sind ein schlimmer Versucher,“ erklärte der Graf, in dessen Augen bereits das Jagdfieber aufleuchtete. „Sind wir auch vor unangenehmen Ueberraschungen völlig sicher?“
„Seien Erlaucht unbesorgt! Der Domänenrath kommt uns diesmal nicht in den Weg,“ beruhigte Herr von Straff. „Wenn also Erlaucht zustimmen, so fahren wir sofort in meinem Wagen nach dem Hirschsprunge hinüber und von dort, sobald es dunkel ist, nach dem Eulenschrei im Hartmann’schen Forste.“
„Aber der Oberlandjägermeister muß auch bei der Partie sein, sonst ist der Spaß nur halb gelungen,“ erklärte der Graf. „Besorgen Sie also das Weitere! Auf Wiedersehen, Herr Präsident!“
Eine kleine Viertelstunde nach diesen Vorgängen schirrte Johann bereits die beiden Braunen an den leichten Jagdwagen des Präsidenten.
„Auge um Auge und Zahn um Zahn,“ murmelte er dabei zwischen den festgeschlossenen Zähnen hervor. „Dafür, daß meine Notizen über die Hainröder Erbschaft dem Grafen insgeheim zugehen, ist bestens gesorgt. Was wohl der Max Theodor für ein Gesicht macht, wenn er unversehens mein sauberes Memorandum in der Tasche findet? Das unverschämt offene Billet unseres liebenswürdigen Fräuleins soll auch zur rechten Zeit in die Hände der Comtesse kommen, dafür bürge ich und meine brave Muhme. Ich werde es dem Herrn Präsidenten schon eintränken. Welch’ ein Wonnegefühl, der geheime Herr seiner Gesellschaft zu sein!“
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„Eine ganz verflixte Geschichte, das, Feldwebel.“
„Zu Befehl, Herr Hauptmann, ganz ausnehmend verflixt.“
„Weiß, meiner Seele nicht, was dem hochgräflichen Gardecommando einfällt. Haben Sie in Ihrem ganzen Leben schon gehört, daß hochgräfliche Grenadiergarde mitten in der Nacht hätte ausrücken müssen? Hat sie jemals stundenlang im Walde gelegen? Haben Sie so ’was Tolles schon gehört, Feldwebel?“
„Das Warum werden wir erfahren, wenn ich, der Ordre gemäß, Schlag sechs Uhr den versiegelten Befehl öffne.“
„Wie viel Uhr haben wir, Feldwebel?“
„Fünf Uhr vierzig Minuten. Aber was giebt es da?“
„Wo? Was, Feldwebel?“
„Dort oben. Sehen Sie nicht die Dame, die dort zu Pferde den Waldweg zu uns herabkommt? Neben ihr reitet ein Herr und dahinter ein Diener.“
„Meiner Seel’, so ist es. Der Herr ist Kurt von Holderbusch und der Diener ist der alte Brauer vom Schlosse.“
„Ganz recht, Herr Hauptmann. Und die Dame – O herrjemine! Es ist unsere erlauchte Comtesse höchstselbst.“
„Was wär’s? Bataillon antreten! Stillgestanden! Bataillon richt’ Euch! Augen links! Achtung! Präsentirt –“
„Erst Gewehr auf, Herr Hauptmann,“ zischelte der Feldwebel seinem Vorgesetzten zu.
„Alle Teufel, ja, das hatte ich vergessen. Also Gewehr auf! Achtung! Präsentirt das –“
Aber schon war die Comtesse mit dem Jagdjunker von Holderbusch und ihrem Diener so nahe herangekommen, daß sie durch ein rasches Zeichen die ihr zugedachte Ehre ablehnen und hiermit zugleich einen schweren Stein von der bedrängten Seele des Hauptmanns abwälzen konnte. Denn es schien dem Armen sehr zweifelhaft, ob der einfältige Tambour wirklich so leise schlagen würde, wie um der Ordre willen zu wünschen war.
„Guten Tag, Herr Hauptmann von Felsewitz!“ sagte die Comtesse mit einer leichten Neigung des Hauptes. „Schwerer Dienst heute, nicht wahr?“
Der Hauptmann bejahte mit einem leisen Seufzer.
„Nun, ich komme, um diese Last von Ihren Schultern zu nehmen. Marschiren Sie jetzt mit Ihrer Compagnie getrost wieder heimwärts!“
„Wär’s möglich, Erlaucht? Das wäre allerdings Manchem von den Leuten recht erwünscht. Und Erlaucht bemühen sich allergnädigst höchstselbst, uns diese Contre-Ordre zu überbringen! Darf ich unterthänigst um die Ordre bitten, Erlaucht?“
„Um was? Eine schriftliche Ordre habe ich nicht bei mir,“ entgegnete Comtesse Charlotte ein wenig verlegen. „Aber ich kann Ihnen versichern, daß mein Bruder, der Graf, sicher mit meinen Anordnungen einverstanden sein wird.“
„Auch zufrieden sein wird? Also keine geschriebene Ordre? Und unser erlauchter Herr wissen am Ende noch nicht darum?“
„Nein, allerdings nicht. Als mir die Nachricht von dem Ausrücken einer Gardecompagnie zuging, suchte ich meinen Bruder sofort auf, um auch ihn zu benachrichtigen. Denn er weiß sicher nichts von diesem Zuge. Leider war der Graf nicht zu finden, da er schon gestern mit dem Präsidenten und dem Oberlandjägermeister ausgefahren und noch nicht zurückgekehrt ist. So ritt ich denn selbst, um Sie zur sofortigen Umkehr zu bewegen.“
„Ganz verflixte Situation das, mit unterthänigstem Permiß,“ murmelte der Hauptmann, während er sich unter der gewaltigen Bärenmütze verlegen kraute. „Ja, höchst verflixte Situation. Habe natürlich auf Ehre vor Erlaucht die allergrößte, pflichtschuldigste Ehrerbietung. Aber ohne schriftliche Contre-Ordre kann ich meiner Seel’ nicht zurückmarschiren, Erlaucht. Und wahrhaftig, gerade jetzt schlägt’s sechs Uhr da unten im Flecken. Also die versiegelte Ordre heraus! Was steht da? Feldwebel Lindenzweig, lesen Sie einmal!“
Der Feldwebel las: „Punkt sechs Uhr bricht die erste Compagnie der gräflichen Garde von ihrem Haltepunkte auf, umstellt vorsichtig die Kirche in Brandenfels und arretirt den Domänenrath Hartmann, sobald er die Kirche verläßt; Arrestant ist alsdann anhero abzuliefern. Verhaftung in der Kirche selbst ist zu vermeiden; etwaige Emeuten des Plebs sind mit Waffengewalt zu unterdrücken. Gräfliches Garde-Commando.“
„Bon, sehr schön!“ Nun wissen wir’s,“ sagte der Hauptmann mit Gewicht. „Wußte ja schon, daß das eine verteufelte Geschichte wurde. Die Bauern in Brandenfels sind bärenmäßig grob, wie weltbekannt. Der Christian Blümchen war ja auch aus dem Neste. Hilft aber Alles nichts. Also: Bataillon in Sektionen –“
„Halt, noch ein Wort,“ bat die Comtesse. „Wenn ich selbst Ihnen nun eine schriftliche Ordre gäbe, umzukehren? Würde Ihnen das genügen?“
Wiederum und noch verlegener kraute sich der Hauptmann unter der Bärenmütze.
„Feldwebel, was machen wir?“ zischelte er seinem Factotum zu. „Ganz verflixte Situation! Ich komme in die Tinte, mag ich es machen, wie ich will.“
„Der Herr Hauptmann können jetzt nur der Ordre pariren,“ entgegnete der Feldwebel ebenso leise.
„Haben wieder Recht. Erlaucht, es geht nicht, es geht leider bei allen tausend Teufeln nicht. Erlaucht excusiren also gnädigst. Bataillon –“
Comtesse Charlotte berührte ihr munteres Pferdchen mit der Reitpeitsche und flog dann, von dem Jagdjunker und ihrem Diener begleitet, in raschem Trabe, der bald in Galopp überging, am Waldrande hinauf. Der Hauptmann aber brachte nunmehr sein mehrfach unterbrochenes Commando wirklich zu Stande und rückte dann mit seiner Compagnie in raschem Schritte quer über die Wiese und gerade auf die bezeichnete Kirche los. Der Uebergang über den Steg wurde von den Truppen glücklich bewerkstelligt, und auch der weitere Marsch bis in die stillen Straßen des Marktfleckens bot zum Heile weder taktische noch strategische Schwierigkeiten; denn von irgend wie verwickelten Bewegungen wußte man bei hochgräflicher Garde so viel wie nichts.
„Da liegt nun die Kirche, Feldwebel,“ sagte der Hauptmann, sobald sich das Militär im Angesichte des unansehnlichen Gotteshauses befand. „Aber nun sagen Sie mir um des Himmels willen, wie fangen wir das Umstellen an?“
„Wir stellen an jeden Ausgang eine Section.“
„Schön. Das thun wir.“
Während der Hauptmann seine Befehle ertheilte, um das beschlossene Manöver zum Vollzuge zu bringen, sprengte von der andern Seite die Comtesse im schnellsten Laufe ihres Pferdes durch die Pfarrgasse bis zur Kirche heran, glitt dann mit Kurt’s Hülfe gewandt aus dem Sattel herab und warf ihrem getreuen Brauer die Zügel zu. Nun trat sie mit dem Junker von Holderbusch rasch unter das Portal und von da in die Kirche.
Die heilige Handlung war soeben beendet, und Hartmann nebst seiner Tochter begegnete daher den Eintretenden im Hauptgange der Kirche, zwischen den Sitzreihen.
„Sehe ich recht? Charlotte – das heißt – Erlaucht?“ rief der Domänenrath erstaunt.
„Zum Wundern ist jetzt nicht die Zeit,“ entgegnete die Comtesse eilig. „Geschwind hinaus, nach Ihrem Gute zurück! Fort, fort! Ich komme nur Ihretwillen in aller Hast. Man will Sie verhaften.“
„Wie? Also hätte der Brief, den meine Tochter erhielt, dennoch Recht gehabt?“
„Welcher Brief?“
„Ein expresser Bote brachte ihn von Schwalbenstein herüber,“ erzählte Anna hastig im Weiterschreiten. „Fräulein Hulda von Straff schrieb mir von Feindseligkeiten gegen mich und die Meinen, die sie nicht theile und nicht billige, und von Plänen, welche gegen die Freiheit meines Vaters geschmiedet würden –“
„Und Sie folgten der Warnung nicht?“ fragte die Comtesse vorwurfsvoll, indem sie sich an den Domänenrath wandte.
„Bah, Erlaucht, ich bin zu alt, um noch das Gruseln zu lernen.“
„Sie bleiben immer derselbe. So eilen Sie denn mir zu Gefallen, ehe die Garde anlangt! Mein Pferd ist vor der Thür. Hinauf und fort! Ich –“
Die Comtesse ließ vor Schrecken ihre Rede unvollendet, denn in diesem Augenblicke rasselten draußen die Gewehrkolben auf die Steinplatten des Hauptportals nieder. „Zu spät! Da sind sie schon. Was thun wir nun?“
[427] Der Domänenrath lächelte, statt die mindeste Furcht zu zeigen.
„Je nun, wir fügen uns in das Unvermeidliche,“ sagte er dann gelassen. „Man wird mich nicht Zeitlebens einsperren wollen.“
„Sie nehmen die Sache ruhiger, als ich dachte,“ sagte die Comtesse, fast ein wenig durch die Gelassenheit Hartmann’s verletzt. „Freilich wird Ihre Haft weder zu lange dauern noch zu hart sein, wenn mein Wort noch irgend etwas gilt. Aber bedenken Sie nicht, daß ich selbst vielleicht besondere Pläne verfolgen könnte, bei welchen mir Ihre Verhaftung einen gewaltigen Strich durch die Rechnung ziehen würde?“
„Dann freilich muß und werde ich frei sein um jeden Preis,“ entgegnete Hartmann entschlossen. „Darf ich etwas Näheres über diese Pläne erfahren?“
„Wenn Sie mir versprechen, daß meinem Bruder und einigen Herren vom Hofe, die Sie, wenn uns das Glück günstig ist, in Ihre Hand bekommen könnten, durchaus nichts Uebles widerfahren wird.“
„Muß ich das erst versprechen, Charl – Erlaucht?“ fragte der Domänenrath vorwurfsvoll.
„Nein, nein, ich bitte um Verzeihung! Darum kurz. Ich erfuhr schon gestern, daß irgend Etwas gegen Sie im Werke sei, aber nichts Sicheres – ich wußte nichts Sicheres. Als ich deshalb meinen Bruder aufsuchte, war er schon ausgefahren. Erst im letzten Augenblicke leider kam mir der Gedanke, daß wir die Herren in Ihrem Forste finden würden. Frau Weiß hat nachgeforscht und diese Meinung bestätigt gefunden. Nur um mich im Dunkeln zu lassen, hat Straff die Herren in seinem Wagen entführt. Wenn wir also die vornehmen Wilderer erwischen, so könnte das Lösegeld, das Sie, natürlich nur mit Vorsicht, fordern werden, uns aus allen Nöthen befreien. Eben deshalb bin ich die halbe Nacht hindurch geritten und habe auch für alle Fälle den Junker mitgebracht.“
„Prächtig!“ rief der Domänenrath mit blitzenden Augen. „Wie viel Mann stehen draußen?“
„Höchstens zwanzig, Herr Domänenrath,“ antwortete ein Brandenfelser, der dem Portale näher stand.
„So brechen wir hindurch! Wer steht zu mir, Ihr Leute?“
„Ich, ich, ich auch,“ rief es von allen Seiten.
„Keine Gewaltthaten meine Herren, wenn ich bitten darf!“ mahnte die Comtesse. „Mein Bruder liebt seine Garde und dürfte ihre Beschimpfung nicht wohl aufnehmen.“
Die Comtesse schritt den Anderen voran bis unter das Portal und wandte sich dann an den Gardehauptmann. „Hören Sie mich, Herr von Felsewitz!“ sagte sie mit möglichster Entschiedenheit. „Unterlassen Sie auf meine Verantwortung die Verhaftung!“
„Erlaucht, das geht meiner Seele nicht. Kenne den Grund meiner Ordre nicht, muß sie aber wirklich erfüllen.“
„So hören Sie mich, Herr Hauptmann!“ begann der Domänenrath, der inzwischen gleichfalls unter das Portal getreten war.
„Nein, Sie höre ich jetzt gar nicht!“ rief dagegen der Hauptmann, durch all das Eindrängen halb und halb außer sich gebracht. „Sie verhafte ich. Das ist er. Nehmt ihn fest, Ihr Leute!“
Die Gardisten drangen auf dieses Commando des Hauptmanns gegen Hartmann vor, der aber von seiner Tochter und der Comtesse schleunigst nach dem Inneren der Kirche zurückgezogen wurde. Einige entschlossene Männer aus dem Orte schlugen zugleich das schwere Thor hinter ihm zu und schoben dann noch die rostigen Eisenriegel von innen vor.
„Was machen wir nun Feld–. Ja so, der ist an der andern Seite. Eine ganz heillos verflixte Geschichte! Da drinnen soll ich ihn nicht verhaften, und heraus kommt er nun gewiß nicht, wenn er klug ist. Da können wir hier stehen bis übermorgen.“
Des weiteren Nachdenkens wurde der unglückliche Hauptmann durch ein ganz unerwartetes Ereigniß überhoben. Die Nachricht, daß eine Compagnie der gräflichen Garde eingerückt sei, hatte sich wie ein Lauffeuer durch den ganzen Marktflecken verbreitet und bald eine beträchtliche Menschenzahl unter den Linden des sonst so stillen Kirchplatzes versammelt. Von einzelnen Ortsbürgern, welche die Kirche ungehindert hatten verlassen dürfen, war dann unter der Menge auch der wahre Grund dieser Maßnahmen bekannt geworden und hatte unter derselben eine um so größere Aufregung hervorgerufen, als sich Hartmann der allgemeinen Liebe und Achtung erfreute.
„Des sullten mer nich liede, Kinger,“ hörte man einen der langröckigen Burschen dem anderen zuflüstern. „Wos? Verorretirt, wenn he vun der heiligen Communion kimmt? Die Kerls sull jo Dieser und Jener –“
„Host Rächt, Casper. Dos lieden mer nich. Nei!“
Schon blitzten zornige Augen; schon hoben sich sehr massive Arme und Hände und schienen die Schilderung, welche der unglückliche Hauptmann seinem Feldwebel von den Bewohnern des Ortes entworfen hatte, durch die That als sehr treffend darthun zu wollen.
Da trat noch zur rechten Zeit eine bekannte, untersetzte Gestalt unter die Menge.
„Macht keine Dummheiten, Jungen!“ rief er den rauflustigen Burschen zu. „Rebelljon gegen die hochgräfliche Garde ist immer ein garstiges, kitzliges Ding.“
„Wos? dos sagt Die? Sied Die dänn nich jetzt bi den Domänrothe in Diensten?“
„Nun freilich.“
„Un Die wullt Uren Härrn von den Kerls do fortschleppe losse? Pfui, schämt Uch was, Christion!“
Der Alte zwinkerte listig mit den Augen.
„Nur keine Rebelljon, sage ich,“ entgegnete er dann. „Seht, ich setze aber den Fall, es entstünde so ganz zufällig – versteht Ihr? – vor der Kirche ein kleines Gedränge. Glaubt Ihr, daß die alten, steifen Burschen da mit ihren Bärenmützen den Domänenrath aufhalten könnten?“
„Minner Six, Kinger, do hat der Christion Rächt. Dos giebt en Hauptspooß, Jungens. Kummt här! Aber stille, ’mont gonz stille! Jo, ich ho’s immer gesat, der Christion is ein Schlaukopp, wie’s kenn witer gät. Vurwärts!“
Bald hatte sich dicht hinter der schwachen Section, welche das Kirchthor besetzt hielt, ein Trupp jener verwegenen Burschen eingenistet, der zuerst blos neugierig zwischen den Schultern der Gardisten hinweg in das Innere des Portals zu blicken suchte. Die Sache erschien so unverfänglich und die jungen Leute traten so ruhig und bescheiden auf, daß der arglose Hauptmann gar nicht versuchen mochte, dieselben fern zu halten. Denn das sah doch nimmermehr aus wie eine Emeute, die mit Waffengewalt zu unterdrücken wäre.
Plötzlich jedoch und wie auf Commando änderte sich die Scene. Von einer starken Macht nach vorn gedrängt, schoben die den Gardisten zunächst stehenden Bursche den kleinen Trupp der Bewaffneten so unerwartet rasch zur Seite, daß die alten, ungelenken Bärenmützen gar nicht daran denken konnten, von ihren Kolben oder Bajonneten Gebrauch zu machen, um so weniger, als die nächsten jungen Leute selbst sich schimpfend und schreiend über die ungebührliche Drängelei dort hinten beschwerten.
„Halt! Bataillon halt!“
Der Hauptmann rief es umsonst mit aller Kraft seiner Lunge. In dichtem Knäuel drängte die Menge in das Portal. Was darauf geschah, entwickelte sich so rasch, daß selbst eine stärkere Macht den Vorgang nicht hätte verhindern können. Der Hauptmann, hülflos in eine Ecke hineingepreßt, bemerkte nur noch, wie hier und dort zerstreut eine der riesigen Bärenmützen wirbelnd in dem Getümmel herumgetrieben wurde, wie die Gardisten sich halb fluchend, halb lachend, aber ohnmächtig gegen die Uebermacht sträubten. Dann sah er, wie sich in seiner Nähe die Kirchthür öffnete und wie ein Hut, unter dem er den Domänenrath vermuthete und dessen Träger von den Versammelten vorwärts gezogen und gedrängt wurde, in stürmischer Eile durch die Menge nach dem freien Ausgange sich bewegte.
„Halt, halt! Gewehr zur Attaque rechts!“ hörte man den Hauptmann noch einmal befehlen. Aber schon war auch diese äußerste Maßnahme eine verspätete. Hartmann saß bereits auf dem Pferde der Comtesse und jagte in Carrière seinem sichern Schloßgute zu; der Hauptmann aber durfte mit besserm Rechte als jemals seinem rasch herbeigeeilten Factotum zurufen: „Feldwebel, in des Kukuks Namen, was machen wir nun?“
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Durch eine dichte Schonung der zum Hartmann’schen Schloßgute gehörigen Waldungen drängten sich etwa eine Stunde nach den eben erwähnten Vorgängen drei Männer, von denen zwei einen erlegten stattlichen Rehbock trugen.
„Nur vorwärts, vorwärts, meine Herren!“ mahnte der Dritte, der inzwischen vorangegangen war und mit sichtlicher Ungeduld das Herankommen seiner Begleiter erwartete. „Schon ist es sieben Uhr. Wir müssen den Bock so rasch wie möglich in Ihren Wagen schaffen, wenn wir nicht am Ende noch abgefaßt sein wollen.“
„Nurrr einen Augenblick Geduld, Errrlaucht, ich –“
„Zum Donner–, laß’ hier die Titulaturen unterwegs!“ unterbrach der Graf zornig die Entschuldigung des dicken Oberlandjägermeisters. „Du weißt, daß ich auf solchen Gängen nicht gekannt sein will. Wenn es Dir übrigens zu schwer wird, den Rehbock zu tragen, so will ich selbst wieder an Deine Stelle treten. Der alte gehörnte Bursche da hat allzu lange auf sich warten lassen. Die Sonne steht schon gewaltig hoch. Fort, fort, Ihr Herren!“
Der Präsident las aus den Mienen des regierenden Herrn dessen wachsende Besorgniß vor dem Ausgange des Unternehmens, und hielt es deshalb für gerathen, seine Maßnahmen, die sich auf die Dauer nun einmal nicht verhehlen ließen, schon jetzt zu enthüllen. In der gegenwärtigen Bedrängniß war der Graf wahrscheinlich am meisten geneigt, auch eine kleine Gewaltthat, wenn sie ihm nur irgend zu Gute kam, ungerügt durchschlüpfen zu lassen.
„Unsern Gegner habe ich für heute völlig unschädlich gemacht,“ bemerkte er deshalb mit schlauem Augenblinzeln. „Auch seine Diener werden jetzt an andere Dinge als an Forstschutz zu denken haben.“
„Wie haben Sie das bewerkstelligt, Sie Pfifficus?“ fragte Max Theodor dagegen mit dem Ausdrucke lächelnden Staunens.
„Ich erfuhr, daß Hartmann heute Morgen in gewohnter Keckheit sein Asyl verlassen würde, und traf daher meine Maßnahmen so, daß er sich sicher jetzt in den Händen der getreuen Garde befindet.“
„Der Garde? Sie haben ihn also wirklich verhaften lassen?“ fragte der Graf mit etwas krauser Stirn. „Offen gestanden, das gefällt mir nicht besonders, Herr Präsident. Abgesehen von Ungelegenheiten, die uns unser Vetter, der Kurfürst, deshalb bereiten kann, hätte ich Hartmann für die Zwecke unseres Schalkstreichs lieber überlistet, als roh vergewaltigt gesehen.“
„Aber der Hund? Der arme treue Tyras, den der rücksichtslose Mensch so grausam tödtete?“
„Das freilich war nicht recht und hat mir wehe genug gethan,“ erklärte der Graf.
„Erlaucht urtheilen immer viel zu mild über die Schuldigen. Nur die ausgesuchteste Bosheit und Feindschaft konnte so handeln.“
„Hm, hm, ich weiß doch nicht, was ich selbst thäte, wenn mich ein solcher Hund, wie der Tyras war, anfiele. Und durch die Schuld Ihres Johann ist er am Ende von der Leine losgekommen. Dem Christian Blümchen selbst wäre das nicht begegnet. Das behaupte ich noch heute. Habe es deshalb auch gar nicht gern gehört, daß Du den Christian entlassen hast, Holderbusch. Es war ein treuer Mensch und ein Original dazu.“
„Aberrr Errr– ja, so – das hat doch meine Frrrau gethan, und Herrr von Strrraff sagt auch –“
Ein grimmiger Blick des Präsidenten ließ den Dicken jählings verstummen.
„So muß ich also doppelt bedauern, den hohen Wünschen nicht genügt zu haben,“ erklärte der Präsident mit der Miene gekränkter Unschuld.
„Nein, nein, ich will Sie nicht ernstlich schelten,“ lenkte dagegen der Graf gutmüthig ein. „Sie meinen es immer mit mir gut, haben aber manchmal einen allzuharten Griff. Ich bin mit Ihnen ganz zufrieden und lasse mich nicht verhetzen. Habe deshalb auch in dieses Papier hier, das man uns in die Tasche gesteckt hat, um mir den Appetit zu verderben, just zum Trotze, mein Frühstück eingewickelt. Da haben Sie den Fetzen! Was sagen Sie dazu?“
„O, das ist schändlich!“ rief der Präsident nach einem Blicke auf das Schreiben, das ihm der Graf behändigt hatte. „Mich so tückisch zu verleumden!“
„Aergern Sie sich nicht!“ beruhigte ihn der Graf. „Ich glaube nimmer, daß Sie unser Haus bei der Brandenfelser Affaire benachtheiligt haben, am wenigsten aber glaube ich einem namenlosen Angeber. Doch nun ist genug gerastet. Vorwärts! Ich löse Dich ab, Dicker. Sonst rührt Dich noch der Schlag.“
Der Graf faßte den erlegten Rehbock, um ihn gemeinsam mit dem Präsidenten weiter zu tragen. Plötzlich aber horchte er hoch auf.
„Was war das? Klang es nicht wie Hundegebell?“
„Meinerrr Six! Ich habe es auch gehörrrt. Zum Kukuk, es wird doch kein Forrrstläufer mit dem Hühnerrrhunde hierrr herrrumstrrreichen.“
Von Neuem und schon recht nahe erklang das Gebell. Der Hund näherte sich ganz offenbar.
„Das ist kein Hühnerhund,“ bemerkte der Graf. „Der Ton ist zu tief und zu voll. Horchen Sie! Klingt es nicht genau, als ob mein alter Tyras anschlüge?“
Die Begleiter des Grafen fanden keine Zeit die Frage zu beantworten. Schon hörte man deutlich, wie das starke Thier gewaltsam durch die dichten Büsche drang, schon erscholl auch aus der Nähe ein gellender Pfiff, um ihn zurückzurufen.
„Verdammt! Diesmal werden wir wahrhaftig abgefaßt,“ rief der gräfliche Wilderer, indem er zornig mit dem hohen Jagdstiefel das Waldmoos stampfte. „Was thun wir?“
„Wir sind drei gegen einen,“ wagte ihm der Präsident zuzuflüstern, indem er zugleich sein Gewehr schußfertig emporhob.
„Unsinn! Nieder das Gewehr!“ befahl dagegen der Graf streng und mit blitzenden Augen. „Soll unsere Thorheit zum Verbrechen werden? Kein Menschenblut um solcher Possen willen! Hallo, da bricht das Thier durch.“
Wirklich stürmte in dem Augenblicke, da der Graf die letzten Worte sprach, ein übergroßer Hund durch das Birkengebüsch und geraden Wegs auf den Grafen los.
„Herr, mein Gott, ist es möglich? Der Tyras!“ Mehr konnte der hohe Herr nicht sprechen, denn schon sprang der getreue Hund, vor Freude schier außer sich, an ihm empor.
„Mein Alter! Mein Getreuer! Du lebst, und man hat mir das verschwiegen? So hat Dich also das Grabscheit doch nicht tödtlich getroffen?“ rief der Graf, während er sich der allzu stürmischen Liebkosungen nur mit Mühe erwehrte. „Wer hatte gedacht, daß mir der heutige Tag noch eine solche freudige Ueberraschung bringen würde!“
„Werden mich Erlaucht dagegen zu den unangenehmen Ueberraschungen zählen?“
Der Graf und seine Begleiter blickten erstaunt nach dem Manne um, der diese Worte gesprochen hatte und nun aus dem Gebüsche auf die Lichtung vortrat.
„Sie – Sie, Herr Domänenrath?“ stammelte der Graf sichtlich verlegen. „Was – was – werden Sie sagen, wenn – wenn –“
„Ich bin von ganzem Herzen erfreut, daß Erlaucht endlich einmal meine wiederholte Einladung zur Jagd angenommen haben, und noch mehr darüber, daß sie so glücklich ausgefallen ist.“
„Allerdings, Herr Domänenrath. Mir scheint, ich habe da einen recht kapitalen Bock geschossen,“ erklärte der Graf durch die Auffassung Hartmann’s sichtlich beruhigt. „Aber wie um des Himmels willen haben Sie uns in dieser einsamen Gegend im dichten Gebüsche auffinden können?“
„Tyras – er hat sich, wie Sie sehen, unter meiner Pflege schnell erholt – war, sobald er nur erst die Spur bekommen hatte, ein vortrefflicher Führer. Aber die Herren werden sicher ermüdet und hungrig sein. Ich habe mir daher erlaubt, ganz in der Nähe an der Königseiche, wo auch der Wagen des Herrn von Straff steht, ein kleines Frühstück auftragen zu lassen. Darf ich Euer Erlaucht und den Herrn Oberlandjägermeister ersuchen, daran gütigst Theil zu nehmen?“
„Von Herzen gern. Aber soll unser Präsident allein leer ausgehen?“
Hartmann warf dem Herrn von Straff einen keineswegs besonders einladenden Blick zu.
„Der Herr Präsident ist mein Freund nicht, und ich bezweifle deshalb, daß er meine Einladung annehmen würde,“ sagte er dann langsam und bedächtig.
„Da haben Sie nun Ihre Strafe, Herr Präsident!“ scherzte
[429]der Graf. „Sie haben den Doinänenrath bei Wasser und Brod einschließen wollen und nun schließt er Sie dafür von Wein und Braten aus. Ein anderer Grund für die Spannung zwischen beiden Herren ist mir wenigstens nicht bekannt, Sie müßten es denn ganz unverzeihlich finden, daß ich mir durch Vermittelung des Präsidenten meinen Korb bezüglich des Gutskaufs geholt habe. Die Hand auf’s Herz, Hartmann, finden Sie meinen Wunsch gar so exorbitant?“
„Ich habe von jeher nichts natürlicher gefunden als diesen Wunsch, Erlaucht,“ entgegnete der Domänenrath ernst wie vorher. „Ich wäre auch jederzeit zu diesem Abkommen bereit gewesen, wenn man nur meine billigen Bedingungen erfüllt hätte. Aber für den halben Werth freilich kann ich Brandenfels nicht verkaufen, namentlich, wenn man mich zugleich mit einem der unzähligen Processe bedroht, wie sie die gräfliche Kammer zu führen liebt. Drohungen wirken bei uns nicht, Erlaucht. Und nicht einmal für einen mir lieben, auch Euer Erlaucht bekannten Feldbirnbaum in meinem Garten habe ich das Versprechen der Schonung erlangen können.“
Der Graf blieb vor dem Präsidenten stehen, und sah ihn scharf an.
„Was muß ich da hören, Herr Präsident?“ sagte er nach einer geraumen Weile, während deren das Auge des Präsidenten den Boden gesucht hatte. „Was meint der Domänenrath? Haben Sie wirklich meinem Willen schnurstracks entgegen gehandelt? Processirt die Kammer gar mit meinen eigenen Unterthanen?“
„Sie führt nicht einen, sondern Hunderte von kostspieligen und ungerechten Processen,“ versicherte der Domänenrath freimüthig. „Es sind darunter Processe, die entschieden dem Ansehen des gräflichen Hauses schaden müssen.“
„Ei ei, Herr Präsident, diesen Umstand werde ich näher untersuchen. Ich will keinen Rechtskrieg mit meinen Unterthanen. Verstanden? Nun freilich glaube ich auch zu wissen, warum in meiner Kammercasse stets Ebbe ist.“
[430] „Wir sind bei dem Wagen angelangt, und hier ist das Frühstück aufgetragen,“ warf der Domänenrath ein, um den Grafen auf frohere Gedanken zu bringen.
„Und hier ist auch sonst noch Jemand, der von der Partie sein möchte,“ sagte die Comtesse Charlotte, indem sie hinter dem Wagen des Präsidenten vortrat. „Erlaucht, werden ja wohl diesmal auch die eigenmächtige Ankunft der unterthänigsten Schwester in Gnaden verzeihn, zumal Ew. Liebden höchstmögender Herr Tyras so glücklich mit dem Leben davon gekommen ist.“
„Ei was? Ei wie?“ rief der Graf freudig erstaunt. „Du hier, Lottchen? Das ist ja ganz vortrefflich. Denn wärst Du jetzt nicht gekommen, so hätte ich wahrlich bei Dir noch heute um Gnade gebeten. Aber was in der Welt hat Dich auf diesen glücklichen Gedanken gebracht?“
„Nun, es könnte mich schon einmal gelüstet haben zu sehen, wie ein souveräner Reichsgraf als Wildfrevler gefangen wird,“ sagte die Comtesse mit ihrem munteren Lachen. „Solche Staatsactionen sieht man wahrlich nicht alle Tage. Dann aber war meine Anwesenheit auch nöthig, um unseren Wirth zu befreien, der – denk Dir nur, Max – verhaftet werden sollte, obwohl er aus der Kirche und vom heiligen Abendmahle kam. Sollte das wirklich Dein Wille gewesen sein?“
Der Graf erwiderte kein Wort, aber er sah den Präsidenten mit einem Blicke an, der schon eine nicht zu verkennende Drohung enthielt.
„Setzen wir uns hier auf das weiche Moos, um dem Dejeuner unseres Wirths die gebührende Ehre anzuthun!“ sagte er dann. „Sie, mein lieber Hartmann, zu meiner Rechten, Du Lottchen –“
„Noch einen Augenblick Geduld!“ bat die Comtesse. „Ich bin mit meinen Ueberraschungen noch immer nicht am Ende, lieber Max. Nur hervor dort hinter Ihrem Versatzstücke, Fräulein Hartmann und Herr Forstjunker von Holderbusch! Ihr Stichwort ist gefallen, und Sie müssen auf die Bühne.“
„Ah, noch ein Brautpaar, Lottchen! Immer besser – darf man schon gratuliren?“
„Noch nicht.“
„Aber das Ziel ist doch nicht unerreichbar, will ich hoffen. Welch ein hübsches Paar! Du wirst nicht steinherzig sein, lieber Holderbusch, wenn ich Dich bitte.“
„Au contrrrairrre. Welche Ehrrre, Errrlaucht! Wenn – ja, wenn nurrr meine Frrrau –“
„Hast Du schon vergessen, was ich Dir einmal über die Abfindung der von Holderbusch’schen Agnaten sagte: Unser Freund Hartmann wird hier so wenig knausern, wie bei diesem Dejeuner. Im Uebrigen soll es mir nicht darauf ankommen, Deiner gestrengen Frau Gemahlin selbst meine gehorsamste Aufwartung zu machen und um höchstihre Einwilligung geziemend zu bitten. Zu einer Erhöhung des Gehalts werden ja wohl die Mittel vorhanden sein, wenn wir die Processe künftig vermeiden und den jungen Mann seinen Verdiensten und Fähigkeiten nach besser verwenden. Nicht wahr, Herr Präsident?“
Diesmal schwieg der Präsident, aber ein aufmerksamer Beobachter hätte wohl hören können, wie seine massiven Zähne an einander knirschten.
Der Graf erhob sich, das gefüllte Glas in der Rechten, aber die Comtesse legte ihre feine Hand auf seinen Arm.
„Keinen Toast!“ bat sie, „bevor ein anderer, weniger glücklicher Wilderer –“
„Meinetwegen mögen sie Alle zusammen laufen, wohin sie ihre spitzbübischen Beine tragen. Aber nun darf ich doch meinen Spruch sagen, Lottchen?“
„Champagner, Christian!“ befahl der Domänenrath.
„Ei sieh, noch eine Ueberraschung,“ rief der Graf, als der alte Christian herbeieilte, um vor Allem das Glas des hohen Herrn zu füllen. „Na, um des frohen Tages willen mag auch Dir noch Dein arger Fehler verziehen sein. Ein ander Mal aber koppele die Hunde besser!“
„Das brauchen mir Erlaucht unterthänigst nicht zu befehlen,“ entgegnete der Alte in seiner geraden Weise. „Meine Pflicht thue ich schon ohnehin.“
„Seht nur, wie stolz! Aber um Deinetwillen hätte ich doch fast meinen Tyras hier verloren.“
„Wenn Erlaucht unterthänigst erlauben, so ist das eine ganz infame Lüge.“
Sämmtliche Anwesende sahen den überkühnen Christian erschrocken an, und auch der Graf wußte einen Augenblick nicht, ob er zürnen oder lachen sollte, entschloß sich aber dann doch weislich zu Letzterem.
„Du bist ein ganz verzweifelt gerader Bursche,“ sagte er endlich. „Sag’, ist es, wahr, was die Leute behaupten, daß Du der gröbste Kerl in meiner Grafschaft bist?“
Christian wiegte erst eine ganze Weile nachdenklich den grauen Kopf.
„Nein, Erlaucht,“ gestand er endlich bescheiden. „Der Herr Präsident hier ist in dem Punkte mehr.“
Der Graf brach über diese unerwünschte Antwort Christian’s in ein munteres Gelächter aus, in das auch die übrigen Anwesenden mit einziger Ausnahme des Herrn von Straff, und Christian’s selbst einstimmten.
„Was ist da zu lachen?“ fragte der unerschrockene Alte endlich verwundert. „Ich kann beweisen, daß ich nicht daran schuld bin, daß der Tyras loskam. Das haben hier der Präsident und sein sauberer Johann auf dem Gewissen.“
„Kerl, wenn Du noch eine solche Lüge vorbringst, so zermalme ich Dich!“ rief der Präsident wüthend, indem er Miene machte, sich auf den Kühnen zu stürzen.
Der Graf aber erhob sich, um den Zornigen mit Ernst zurückzuweisen.
„Sie vergessen wohl ein Wenig, daß ich hier bin?“ begann er. „Ich möchte gebeten haben –“
Aber Christian unterbrach auch seinen Landesherrn, wenn es ihm gutdünkte.
„Ich bitte gnädigst um Verzeihung,“ sagte er, „aber ich werde mit dem Herrn Präsidenten schon allein fertig und brauche keine Hülfe. Also, Herr Präsident: Numero Eins habe ich nie gelogen, wenn es der Herr Oberlandjägermeister nicht befahlen. Numero Zwei, haben Sie es mit Ihrem Johann abgekartet, daß er die Leine unseres Tyras zerschnitt.“
„Christian, ich warne Dich ernstlich, sprich nicht mehr, als Du verantworten kannst,“ mahnte der Graf.
Aber der Alte ließ sich dadurch nicht einschüchtern.
„Das ist der Strick,“ sagte er bedeutungsvoll. „Wer nur ein bischen Hundeverstand hat, der muß sehn, daß die Leine nicht von Tyras zerrissen, sondern mit dem Messer zerrieben ist.“
„Auch ich muß dies glauben,“ erklärte der Domänenrath. „Ich habe das Stück, welches am Halsbande hängen geblieben war, sorglich betrachtet und kam so zu der Meinung Christian’s.“
„Wahrhaftig, so scheint es auch mir,“ gestand nun auch der Graf, nachdem er die Leine eine Zeitlang betrachtet hatte.
„Nein, so ist es,“ beharrte Blümchen. „Denn da habe ich auch das Messer, das an der bewußten Stelle, wo der Tyras loskam, gefunden ist. Dieses Messer aber gehört, wie alle Welt weiß, dem sauberen Herrn Johann, der dort auf dem Bocke sitzt. Fragen Sie ihn nur, Erlaucht! Er wird’s nicht leugnen können.“
Durch die Seele des gewandten Dieners, dem diese letzten Worte galten, zog während dieser Scene eine ganze Reihe von Gedanken. Seinen scharfen Sinnen war kein Wort und kein Blick entschlüpft, und er hatte deshalb mit Schadenfreude bemerkt, daß der Stern seines Herrn entschieden im Sinken und Erbleichen begriffen sei. Was konnte außerdem das frechste Leugnen jetzt noch nützen? Johann entschloß sich also rasch, die reine Wahrheit zu reden.
„Ich kann’s nicht leugnen. Erlaucht,“ räumte er ein, sobald der Graf mit den Beweisstücken in der Hand sich ihm näherte. „Das ist mein Messer, und damit habe ich auch die Leine zum Zerreißen gebracht.“
„Warum?“
„Der Herr Präsident wünschte, daß der Hund die Rehe anfallen möchte, und so –“
„Bei Gott, Du und Dein Herr, Ihr Beide seid keinen Schuß Pulver werth,“ murrte der Graf, indem er dem Bedienten verächtlich den Rücken zuwandte, um zu den übrigen Anwesenden zurückzukehren.
„Danke unterthänigst,“ murmelte Johann; „hätte wahrlich keine Lust, meinen Werth nach diesem fatalen Pulvermaße bestimmen zu lassen. Aber auch nach der Begegnung mit meinem Herrn Präsidenten gelüstet mich nicht besonders. Die beste Kleidung habe ich an. Mag also der Herr Expotentat [431] allein nach Hause kutschiren und sich einen anderen Prügelknaben suchen!“
Bei diesen Worten stieg Johann leise und vorsichtig vom Bocke, um dann wie ein Fuchs im nahen Dickicht geräuschlos zu verschwinden.
„Mein Herr Präsident,“ fuhr der Graf inzwischen fort, „Sie können sich hier unmöglich behaglich fühlen und werden sich zudem auf unsere Abrechnung vorbereiten müssen. Sie sind entlassen.“
„Soll das heißen, für immer, Erlaucht?“ fragte Herr von Straff, dessen Augen ein unheimliches Feuer sprühten.
„Das habe ich bis jetzt nicht sagen wollen. Da Sie mich aber herausfordern, mein Herr Präsident, so mag es sein. Der Herr Domänenrath und unser Holderbusch werden mir, wenn ich darum bitte, Rath und Hülfe sicher nicht versagen. Adieu!“
„Ich, Errrlaucht?“ fragte der Oberlandjägermeister mit dem Ausdrucke maßlosen Staunens.
„Nein, Dicker, Dich will ich mit solchen schlimmen Dingen nicht plagen,“ entgegnete der Graf lachend. „Du sähst in den Rechnungen jede Eins mindestens für eine Zehn an. Ich hoffe vielmehr auf Deinen Sohn. Doch jetzt und hier haben wir bessere Dinge zu thun. Sagt’ mal, habt Ihr Euch wirklich von ganzem Herzen lieb, Ihr junges Volk?“
„Ja, ja, Erlaucht,“ antworteten beide Liebesleute ohne Zögern, indem sie Hand in Hand vor den Grafen traten.
„So gebe ich als Euer Landesvater Euch als ehrsames Brautpaar zusammen. Wie, meine Herrschaften? Es zweifelt doch hier Niemand an der Legalität meiner Handlung, will ich hoffen? Wenn ich als souveräner Graf des Reichs die Macht habe, selbst Ehen zu scheiden, so muß ich doch wahrlich auch ein Brautpaar binden dürfen. He, Holderbusch! Du machst mir keine saure Miene mehr! Ich will Dir in Zukunft auch Deine tollsten Lügen mit gläubiger Miene anhören, wenn Du mir nur diesmal zu Willen bist.“
„Saurrre Mienen? Wie? Werrr sagt das? Bin ja von ganzem Herrrzen einverstanden, Errrlaucht.“
„Auf ein adeliges Wappenschild soll es mir auch nicht ankommen, wenn Deine Gemahlin durchaus darauf besteht. Ja, die kleine Braut soll dann so adelig sein, wie ich sie machen kann, weit edler, als dieser hochadelige Johannisberger, und Ahnen soll sie haben, so viel wie wir zusammen heute noch Gläser trinken. Ist das wohl Deiner Frau genug, Holderbusch? Das neue Brautpaar lebe hoch!“
„Nun, Lottchen, bist Du zufrieden?“ fragte der Graf leise, indem er sich während des Gläserklirrens zum Ohre der Schwester herniederbog. Deine schlaue Kunst allein hat den Mächtigen gestürzt und Alles Uebrige nach Deinem Wunsche herbeigeführt. Sind wir nun wieder ganz einig?“
„Meine schlaue Kunst?“ wiederholte die Comtesse ebenso leise, aber mit einem glücklichen Lächeln und einem warmen Händedrucke. „Hältst Du es für so schwer, auf Deine Herzensgüte zu rechnen? Ach, Max, ich habe heute gerade klarer als je empfunden, wie schwer die Macht der Herren und der Diener gegen einander abzuwägen ist. Nur das eine Verdienst nehme ich stolz in Anspruch, daß ich zum guten Ziele auf geradem Wege kam.“
Bei diesem Maskenballe waren die Damentoiletten staunenerregend. Sie überboten Alles, was man bisher an Glanz und raffinirtestem Geschmacke gesehen hatte. Die reizendste Farbenmischung jedoch, sowie die sinnreichsten und schimmerndsten Masken verschwanden in den Alles überstrahlenden Lichtblitzen der zur Schau getragenen Diamanten und Edelsteine. Der Berichterstatter dieser Festlichkeit sagt: „Da war keine Dame, die nicht den Schmuck ihrer sämmtlichen Bekanntschaft an ihrem Anzuge zur Schau trug, nicht ein einziger Herr, welcher nicht in der Agraffe des Hutes, in dem Ringe des Halstuchs, in dem Stern auf der Brust die prachtvollsten Edelsteine aufzuweisen hatte. Der Hofjuwelier Sieber, in der Maske des Nabob von Mysore, erschien als ein wandelndes Juweliermagazin; Fürst Esterhazy trug seine berühmte mit Solitaires besetzte Garde-Uniform, sämmtliche Erzherzöge die in Diamanten strahlenden Orden des goldenen Vließes. Der Kaiser Franz erschien in einem Anzuge, dessen Diamantenknöpfe zwei Millionen Gulden Werth haben sollten, während die Kaiserin Ludovica eine solche Last von Edelsteinen trug, daß sie derselben erlag und schon nach dem ersten Umgange sich in ihre Gemächer zurückziehen mußte.“
Der Schmuck der Kaiserin von Rußland zeichnete sich mehr durch Einfachheit und geschmackvolle Anordnung aus; insbesondere wurde sie von den Damen um ein Bouquet von Edelsteinen beneidet, auf dessen smaragdenen Blättern Thautropfen glänzten und Schmetterlinge sich wiegten.
Den Höhepunkt in den weiblichen Erscheinungen, in welchen Rang und Reichthum der Edelsteine und kunstvolle Anordnung den Sieg über alle anderen Damen davon trug, bildete ein Zug der schönsten Frauen, in vier Gruppen die vier Elemente darstellend. In Diamanten und Sapphiren schimmerte die Luft; in Rubinen flammte das Feuer; in Perlen erschienen die Genien des Wassers; grüne Smaragde und goldbraune Topase schmückten die Erde. – –
Nicht nur die Salons hoher und vornehmer Damen erlangten durch den Charakter und die Vorzüge ihrer Wirthinnen Ruf und Bedeutung, sondern auch andere, deren Vertreterinnen nur bürgerlicher Abkunft waren, jedoch namentlich den Geldleuten angehörten und in Folge dessen geadelt und baronisirt waren. Denn, um nicht hinter der Geburtsaristokratie zurückzubleiben, hatten auch diese Leute Salons eröffnet, deren Glanz und Beliebtheit häufig diejenigen der eigentlich aristokratischen übertraf. Die großen Geldverlegenheiten, in welchen sich der kaiserliche Hof und die Staatscassen befanden, hatten den gütigen Kaiser Franz und dessen Minister zu einer ungewöhnlichen Herablassung gegen die Geldleute veranlaßt. Viele jüdische Familien waren in den Grafen- und Baronenstand erhoben worden; so wurden sie hoffähig und durch Einladungen zu allen Hoffesten beehrt.
Es gab zur Zeit des Congresses in Wien mehrere Banquiers, in deren Hôtels mehr Glanz und Pracht herrschte, als in manchen fürstlichen, in denen sich überdies auch noch in den Einrichtungen und Ausschmückungen ein ebenso feiner, oft jene übertreffender, geläuterter Geschmack und Kunstsinn geltend machten. Unter diesen Salons zählte damals ganz besonders der des Baron von Arnstein, in welchem dessen Gemahlin, Fanny, durch lebhaften Geist, liebenswürdiges und anregendes Wesen glänzte. Neben ihr leuchteten zwei ihr nahverwandte Freundinnen, ein Geschwisterpaar, die als Dichterin bekannte Regina Frohberg[WS 1] und Marianne Saaling[WS 2]. Namentlich war es die Letztere, die durch ihr stets heiteres, witziges und anregendes Wesen eine große belebende Kraft auf die sich daselbst versammelnde Gesellschaft ausübte. Sie wurde deshalb auch „die Adjutantin des Arnstein’schen Hauptquartiers“ genannt. Ihre persönliche Erscheinung harmonirte vortrefflich mit ihrem Wesen.
Obgleich von jüdischer Abkunft, besaß sie eine Fülle goldblonden Haares, blaue, hell leuchtende Augen und eine überaus zarte und rosige Gesichtsfarbe, welche Vorzüge durch schlanke volle Körperformen noch wesentlich gehoben wurden. Alle diese Eigenschaften stempelten sie zu einer echt germanischen Mädchenerscheinung. Die ihr angeborene anmuthige Unbefangenheit und Ungezwungenheit nahm sogleich Jeden ein. Sie verstand es überdies, jede Vertraulichkeit in der liebenswürdigsten Weise abzulehnen, weshalb sie noch den Beinamen „das Mädchen aus der Fremde“ erhalten hatte. Fürsten, Mitglieder der Diplomatie, Cardinal Consalvi, Fürst Hardenberg, Herzog von Wellington und Andere fanden in dem Arnstein’schen Salon die ungezwungenste Bewegung und trafen hier zugleich mit anderen Elementen aus der Gesellschaft zusammen.
[432] Diesem Salon würdig zur Seite stand derjenige der Schwester der Frau von Arnstein, der Baronin von Eskeles, der zwar in vornehmer und eleganter Haushaltung dem ihrer Schwester nicht gleich kam. Auch hier traf man die angesehensten Diplomaten. Graf Capodistrias und Pozzo di Borgo bildeten hier den Mittelpunkt und belebten die Gesellschaft durch ihre geistreiche Unterhaltung.
Noch muß einer Dame Erwähnung geschehen, die, obwohl von niedriger Herkunft, zu den Schönheiten ersten Ranges zählte und die Gemahlin eines der reichsten Banquiers war. Es war dies Frau von Gallmeyer. Man nannte sie nach Calderon’s Tochter der Luft „Semiramis“, eine Bezeichnung, die das besondere Wesen dieser Dame, das mehr Bewunderung als Zuneigung zu erregen vermochte, erschöpfend charakterisirte.
Zu den glänzendsten Salons zählte derjenige der geistreichen Frau von Pereira, in welchem jedoch nur ein kleiner gewählter Cirkel verkehrte. Ein Gleiches fand statt bei der damals berühmten, jetzt fast ganz vergessenen Schriftstellerin Frau Karoline Pichler, in deren Salon nicht nur die Schöngeister Wiens, Castelli, Schlevogel, von Curland, von Collin, der Erzieher des jungen Napoleon, sondern auch die Musageten des Auslandes, wie Stägemann, Varnhagen, Koreff und mehrere Andere lebhaft verkehrten.
Außer den genannten Damen, die namentlich als Wirthinnen in ihren Salons glänzten, könnte noch eine weitere nicht eben kleine Anzahl genannt werden, wenn dies nicht die Grenzen dieser Mittheilung überschreiten würde; doch müssen wir noch der Salons der auswärtigen Damen gedenken. Frankreich war durch die Gräfin Edmond Perigord, Preußen durch die Prinzessin von Thurn und Taxis, England durch Lady Castlereagh und Dänemark durch die Gräfin Bernstorff vertreten. Das Interesse Polens verfolgte die Fürstin Lubomirska und Rußland wurde durch die Fürstin Bagration repräsentirt.
Der Salon der Fürstin Lubomirska, die sich bereits nach dem Tode ihres Gemahls, des Feldmarschalls, in Wien niedergelassen hatte, übertraf an Glanz und Eleganz alle anderen, und man fand daselbst stets die ausgewählteste Gesellschaft. Da sie selbst weder jung noch schön war, so hatte sie sich mit mehreren jungen und schönen Polinnen, darunter die Gräfinnen Riczewuska und Potocka, umgeben, die ihr in ihren häuslichen Obliegenheiten in der bezauberndsten Art beistanden. Ihr Salon gewährte überdies eine Vorstellung von dem fabelhaften Aufwande der polnischen Großen zur Zeit ihres höchsten Glanzes. Ihr in einem Parke gelegenes Hôtel, die Dienerschaft, Equipagen, und die ganze fürstliche Einrichtung zeigten, was orientalische Pracht in Verbindung mit europäischem Geschmacke zu leisten vermag, und dieser Umstand hatte der Fürstin auch die Bezeichnung „Feldmarschallin auf dem Gebiete der Eleganz“ verschafft. Uebrigens zeigte dieser Salon den national-polnischen Charakter, worüber die Fürstin mit Sorgfalt wachte. – Weniger durch Pracht und Eleganz als durch die Schönheit der Wirthin ausgezeichnet, war der russische Salon, in welchem die Fürstin Bagration, die Gemahlin des gleichnamigen Feldmarschalls, ihren Landsleuten in Wien die Honneurs machte. Sie war eins der glänzendsten Gestirne unter den auf dem Congresse leuchtenden Frauenschönheiten und strahlte im Glanze aufblühender Jugend. Man bewunderte das liebliche Antlitz, zart und weiß wie Alabaster, mit leicht angehauchtem Rosenroth, das fein, zierlich, sanft und doch auch ausdrucksvoll war. Schlug sie die Augen nieder, so erschien sie demüthig und ergeben, erhob sie dieselben, so gewahrte man einen gebietenden, beherrschenden Ausdruck. Ihre Gestalt war von mittlerer Größe und vereinigte orientalische Weichheit mit andalusischer Fülle. Sie war dabei ausgezeichnet durch liebenswürdige Zuvorkommenheit gegen ihre Gäste und eine nicht gewöhnliche geistige Begabung. Sie veranlaßte musikalische Soiréen, ließ lebende Bilder stellen, berief sogar eine talentvolle Schülerin des berühmten Talma vom Théâtre français, eine Demoiselle L., die ganz besonders vom Kaiser Alexander begünstigt wurde, nach Wien, die Scenen aus französischen Trauerspielen aufführte, denen dann gewöhnlich ein glänzender Ball folgte.
Eine andere sehr beliebte Unterhaltung in ihrem Salon waren die von ihr veranstalteten Lotterien, zu welchen die eingeladenen Herren und die ohne Einladung erschienenen Fürsten die mitunter sehr werthvollen Gewinne lieferten. Der Kaiser Alexander gab Zobelpellerien und Hermelinfelle, der König von Preußen Vasen und Tassen aus seiner Porcellanfabrik, der Kaiser von Oesterreich Krystallgläser aus Böhmen und ähnliche kostbare Geschenke. Eine Menge Bijouterien lief überdies ein, und da die gewinnenden Herren stets zu Gunsten der Damen auf ihren Gewinn verzichteten, so standen sich diese bei diesem Lotto ganz vortrefflich. Dieser in den Salons der Fürstinnen Lubomirska und Bagration herrschende Luxus und Aufwand hatte, wie wir später erfahren werden, seinen Grund nicht allein in seinen gastgeberischen, sondern wohl noch mehr in seinen politischen Zwecken.
Aber die Damenwelt auf dem Wiener Congresse zeichnete sich nicht stets durch Schönheit, liebenswürdiges Wesen und Geistesreichthum aus, sondern hatte auch ihre Gegensätze und komischen Erscheinungen. Namentlich waren es einige fremde Damen, deren Erscheinung und Besonderheiten auf dem Congresse nur allzu leicht zum Spotte und zur Kritik geneigte Zungen herausforderten, die einen Triumph darin fanden, die lächerlichen Seiten der Personen für ihren Witz zu verwerthen. Zu den bezeichneten Damen gehörte vor Allen die Gräfin Bernstorff, die Gemahlin des dänischen Gesandten. Der sarkastische Berichterstatter zeichnet diese Dame in folgender Weise:
„Sie hat Jugend und eine imposante Gestalt, bei Abendbeleuchtung schöne Farben, besitzt jedoch keine Grazie, wie ein Fouqué’scher Nordlandsrecke dänisch in die Höhe getrieben“ – kurz, aber treffend.
Nächst Dänemark hatte auch England seine Congreßdame geliefert, die sich durch ihre Besonderheiten auszeichnete, ohne diese durch irgend welche Vorzüge auszugleichen. Es war dies Lady Castlereagh, die Gemahlin des englischen Gesandten. „Die mehrjährige Abgeschlossenheit vom Festlande,“ sagt der Berichterstatter, „und der Nationalstolz, ihren Geschmack unabhängig von der französischen Mode zu halten, verleitete diese Dame oft zu Geschmacklosigkeiten. Ihr Anzug war nicht nur ganz abweichend von der auf dem Congresse herrschenden Mode, sondern auch stets überraschend eigenthümlich und durch lächerliche Mannigfaltigkeit geschmackloser Ueberladung verunziert, so daß sie als Zielscheibe des Spottes diente, besonders da auch ihre Gestalt, plump und kolossal, ihr Benehmen, wild und unbekümmert, wenig geeignet waren, ihre Erscheinung angenehmer zu machen.“
Es bleibt uns nur noch übrig, diejenigen Damen zu bezeichnen, welche die Diplomatie auf dem Congresse vertraten und deren Wirksamkeit vielleicht nicht erschöpfend genug bekannt geworden ist. Jeder Staat hatte auf dem Congresse nicht nur seine Ministern, Botschafter etc., sondern auch eine Repräsentantin seines Landes. Diese Damen waren oft weit wirksamer in ihren politischen Bemühungen als die officiösen Diplomaten und halfen bei der auf dem Congress betriebenen „Staatenmacherei“ mit vielem Geschicke, wenn auch nur im Geheimen, mit. Schon vor Eröffnung des Congresses trafen diese Damen in Wien ein und eröffneten ihre Salons, in welchen sie die unvorsichtige diplomatische Jugend in ihren verführerisch gestellten Netzen zu fesseln suchten, um diesen Personen die zu erfahrenden Geheimnisse abzulocken. Mancher erfahrene Diplomat ist in diese Schlinge gegangen.
Zuvörderst war es der Salon des wohlbekannten Fürsten Talleyrand, der, wie schon früher erwähnt, Frankreichs Interessen auf dem Congresse vertrat, in welchem die junge, zwanzigjährige Gräfin Perigord, die Herzogin Dino, die Wirthin machte und durch ihre Schönheit, die Anmuth ihres Wesens und die Gluth ihres feurigen Auges, ihre geistige Begabung und Ausbildung, sowie durch die erforderliche Ausdauer überaus geeignet war, für die politischen Zwecke Talleyrand’s zu wirken. Diese geistreiche Dame inspirirte, wie das Gerücht ging, auch im vertraulichen Umgange den Fürsten selbst mit den besten Rathschlägen. Denn, obgleich Königin bei allen Festlichkeiten, die sie besuchte, liebte sie es dennoch, in Zurückgezogenheit den Studien obzuliegen. Durch Nachdenken und Lectüre frühzeitig gereift, im Besitze der genauesten Kenntnisse der neueren Geschichte und der vorzüglichsten Dichterwerke in verschiedenen Sprachen, zog sie die Unterhaltung über die wichtigsten Fragen der Politik und diejenige über Kunst allen andern vor. Ihre Schönheit wurde noch von ihrem feinen und gebildeten Geiste übertroffen, mit welchem sie in fast unwiderstehlicher Art zu wirken wußte, sei [433] es, daß es galt, einen politischen Gedanken anzuregen, die Ueberzeugung von der Wahrheit desselben zu verbreiten, Andere für ihre Ansicht zu gewinnen oder ein etwa gehegtes Mißtrauen zu beseitigen.
In allen Fällen, in denen es darauf ankam, die Zustimmung für etwas zu erlangen, vermochte die Herzogin mehr als selbst ihr so berühmter sogenannter Oheim. Diese Vorzüge und ihre seltene Beredsamkeit sicherten ihr daher auch einen großen politischen Einfluß, und sehr oft unterstützte sie durch dieselben die Thätigkeit des Fürsten, glich Widersprüche aus, die er fand, ersparte ihm viele Hindernisse und führte ihm wirksame Kräfte zu, bevor er noch mit Anderen angeknüpft hatte, oder mit sich selbst ganz im Klaren war. „Oefter war“ – wie der französische Biograph dieser Dame bemerkt – „diese so feine und so feste Klugheit, welche unter der Hülle der Grazie weniger mächtig erschien, den berühmten Fürsten in ganz bestimmter Weise hülfreich, bestärkte ihn in seinen Entschlüssen oder schmückte mit ganz besonderer Kunst die Form aus, welche sie denselben geben wollte.“
Diese so schön vertretene Ueberlegenheit machte sie in verschiedener Weise geltend. Mehrere Noten des Fürsten, sowie einige seiner Briefe an Louis den Achtzehnten und an andere Souveräne, selbst ganz vertrauliche, von ihm selbst copirte Briefe, lassen in manchen lebhaften und delicaten Ausdrücken, in manchen geschickt überredenden Wendungen die Hand der Herzogin Dino erkennen. Dieser Dame verdankt Talleyrand viele seiner nicht nur auf denn Wiener Congresse erzielten politischen und diplomatischen Erfolge.
Der Herzogin Dino stand die Fürstin Bagration würdig zur Seite, wenngleich ihre politische Thätigkeit bedeutend beschränkter war und ihre äußeren, wie geistigen Vorzüge denen der Herzogin nicht gleichkamen. Sie nahm in ihrem Salon die politischen Interessen Rußlands wahr und bemühte sich mit vielem Erfolge, die ihr gegebenen Aufträge in der einnehmendsten Weise zu erledigen. Denn vor allen andern Mächten war es ganz besonders Rußland, das sich bemühte, unter der Hand das ihm Wichtige auskundschaften zu lassen, Intriguen anzuspinnen und allerlei ihm nützliche Verwicklungen zur Erreichung seiner politischen Ziele herbeizuführen. Wir haben bereits früher die großen Vorzüge näher bezeichnet, welche die Fürstin besaß und welche sie ganz besonders zu der ihr gestellten Aufgabe befähigten. Durch den Zauber ihres ausgezeichneten Benehmens, ihre aristokratische Vornehmheit und feinen Formen, welche damals die diplomatischen Salons in Petersburg zu den ersten der Welt erhoben, übte sie daher auch eine seltene Wirksamkeit während des Congresses aus, wie sie kaum ein gewiegter Diplomat besser zu erzielen vermocht hätte. In welcher Weise und durch welche Mittel dies geschah, ist bereits früher angegeben.
Offener in ihren politischen Bemühungen auf dem Congreß ging die Fürstin Lubomirska zu Werke. Es war bekannt, daß sie zur Wiederherstellung ihres Vaterlandes weder Mühe noch Mittel scheute, und man fand in ihrem Salon stets viele ihrer Landsleute, mit welchen sie im Geheimen über die Mittel und Wege zur Wiederherstellung Polens berieth, zu welcher sich der Kaiser von Rußland nicht abgeneigt zeigte. Hierauf beschränkte sich jedoch die politische Thätigkeit dieser Dame, und daß diese eben eine fruchtlose gewesen, hat uns die spätere Theilung Polens gezeigt.
Wie weit die politische Thätigkeit der Prinzessin von Thurn und Taxis, die Preußens, sowie diejenige der Lady Castlereagh, die Englands, und der Gräfin Bernstorff, die Dänemarks Interessen vertrat, reichte, läßt sich nicht mit Genauigkeit bestimmen. Diese drei Damen eröffneten jedoch auch bereits vor Beginn des Congresses ihre Salons in Wien und sollen außer in der Unterhaltung ihrer Gäste auch für die Erledigung der ihnen ertheilten diplomatischen Aufträge thätig gewesen sein.
Wir schließen die Gallerie der auf dem Congreß Politik treibenden Damen mit der bereits erwähnten Herzogin von Sagan. Diese Dame bildete den Mittelpunkt eines sehr lebensvollen Kreises, in welchen die höchsten Fürsten und bedeutendsten diplomatischen Personen vertreten waren. Ihr einnehmendes, gütiges und zugleich energisches Wesen wirkte mit siegender Macht. Trotzdem theilten sich die Meinungen über ihre politische Thätigkeit auf dem Congreß. Auf der einen Seite sprach man ihr den Ehrgeiz ab, trotz ihrer seltenen Befähigung eine politische Rolle zu spielen, und fand diese Zurückhaltung und Beschränkung ihrer Thätigkeit auf das eigentliche Gebiet der Frauen als überaus bemerkenswerth, während Andere, in die Umtriebe auf dem Congreß näher Eingeweihte diesem Gerücht widersprachen, indem sie den Beweis führten, daß die schöne Herzogin ihren Einfluß, den sie bereits früher auf Metternich ausgeübt hatte, auch während des Congresses in entscheidenden Momenten geltend zu machen bemüht wäre. Jedenfalls ist festgestellt, daß die Herzogin durch ihr einschmeichelndes Wesen zu Gunsten Metternich’s auf den Kaiser Alexander zu wirken bedacht gewesen, sowie, daß der verschwenderische Staats-Kanzler früher aus ihrer Hand im Auftrage Rußlands bedeutende Summen empfangen hat.
Wenn wir das Treiben auf dem Congreß und dessen fruchtlosen Ausgang näher betrachten, wenn wir erwägen, daß derselbe eigentlich nur aus unaufhörlichen Belustigungen bestand, in denen die Salons eine hervorragende Rolle spielten, werden wir erst die damalige Thätigkeit und Bedeutsamkeit der Damenwelt erschöpfend würdigen können. Freiherr von Stein, der sich damals gleichfalls in Wien befand, spricht sich darüber in folgender Weise aus: „Die Salons haben einen verderblichen Einfluß auf die Geschäfte; sie vereinigen die Staatsmänner, die Ränkeschmiede und die Neugierigen, erleichtern die Verbindungen und Ausplaudereien, und die Rückwirkung der Geschäfte auf das gesellige Leben ist nicht weniger verderblich; sie verursachen Zwang und Aufregung und verbannen Fröhlichkeit und Zutrauen.“
So der berühmte Staatsmann über das Treiben in den Salons des Wiener Congresses.
Von all den Tausenden, welche alljährlich das Fernweh nach dem unversiechbaren Jungbrunnen der Thüringer Berge ergreift und aus dem Staube und Lärm der Städte hinaustreibt in das tannengrüne schattendunkle Reich des Waldes, wendet sich oder wandte sich doch bisher die große Mehrzahl dem nordwestlichen Theile Thüringens zu, besonders deshalb, weil dessen schönste Punkte von Eisenach ab am schnellsten und bequemsten zu erreichen waren. Und doch kann sich der Südosten Thüringens gar wohl mit den Orten des nordwestlichen Theils messen, denen die Hauptmasse der Waldfahrer zuströmt. Denn wo wäre wohl in diesem ein Thal von so ursprünglicher Frische und Waldespracht, wie das Schwarzathal? Oder giebt es wohl überhaupt ein harmonischeres Waldbild, als Schwarzburg vom Brockenhäuschen des Tripsteinfelsens aus? Und hat nicht der Südosten Ilmenau und seine anmuthige Umgebung, Paulinzelle mit seiner herrlichen Klosterruine?
Freudig mußte daher ein Unternehmen begrüßt werden, welches dem längst und schwer empfundenen Mangel der schnelleren und bequemeren Erreichbarkeit der südöstlichen Hälfte des Thüringer Waldes Abhülfe schafft. Dieses Unternehmen ist die am 1. Mai 1874 eröffnete Saalbahn, welche bei Großheringen, einem Dörfchen zwischen Kösen und Sulza, von der Thüringer Bahn abzweigt, in Saalfeld, wo sie sich mit der Gera-Eichichter Bahn vereinigt, endet und den Reisenden von Halle oder Leipzig ab in etwa fünf Stunden nach Rudolstadt oder Schwarza und damit mitten hinein in’s Thüringerland, dicht vor die schönsten Partien des Südostens führt. Sie ist aber nicht nur der schnellste, sondern auch der schönste Weg nach jenem Theile Thüringens; denn durch sie ist es möglich, auch das an malerischen Landschaftsbildern reiche Saalthal mit Aufwand geringer Zeit kennen zu lernen, und so führt sie daher nicht blos Thüringen eine größere Zahl walddurstiger Pilger zu, sondern sie erschließt zugleich erst der Reisewelt das schöne, bisher nur spärlich besuchte Saalthal.
Ihm nun und seiner Bahn sei von der Gartenlaube ein Besuch abgestattet, indem sie heute ihren Lesern das umstehende [434] lebensvolle Bild Hermann Heubner’s, des bewährten Malers der Thüringer Berge, bringt. Mir aber sei es gestattet, mit führendem Wort diese Saalbahnfahrt zu all den Bergen und Burgen, zu all den Städten im Thale zu begleiten, die unser Bild in anmuthiger Gruppirung vor das Auge führt. –
Das Saalthal von Großheringen bis Saalfeld, welches die Saalbahn durchzieht, ist nur der größere Theil des vorderen Saalthals, welches erst zwischen Weißenfels und Naumburg in die weite Ebene mündet, durch die dann der breiter werdende Fluß seine trüben Wellen so langweilig und ehrbar der Elbe entgegenwälzt, daß man es ihm kaum ansieht, welche eine frische Jugend voll toller Sprünge hinter ihm liegt, in der er mit allen Bäumen und Blumen des Ufers verliebt gekost, all die blauäugigen Waldkinder, Roda und Orla, Unstrut und Ilm und seinen Liebling, die schmucke Schwarza an’s Herz gedrückt und mit den Jenenser Studenten im „Paradiese“ geschwärmt hat.
Aber auch gleich nach dem Eintritt in’s Saalthal wird die Gegend freundlicher; zahlreiche Obstpflanzungen schmücken den fruchtbaren Grund; Naumburg mit seinen Rebenbergen und Landhäusern taucht auf; Freiburgs alter Wartthurm schaut herüber; die alte Schulpforta zeigt sich zur Linken, und bald ist der Anfangspunkt der Saalbahn, das unscheinbare Dörfchen Großheringen, erreicht. Hier, nicht weit von den grauen Thürmen der Rudelsburg und Saalecks, beginnt das eigentliche Saalthal; hier zweigt sich die Saalbahn von der Thüringer ab, dringt nun mühsam, zwischen steinernen Futtermauern und trotzig den Eingang wehrenden Höhen hin, in das enge Thal ein und erreicht bald darauf die erste Station, das freundliche Städtchen Camburg, welches zu beiden Seiten des Flusses am Fuße des mit einer alten Warte gekrönten Thurmberges malerisch anmuthig sich ausbreitet. Dieser Berg gewährt eine erquickende Aussicht auf den fruchtbaren Grund, das freundliche Städtchen, die grünen Bergwände und die friedlich mitten hindurch ziehende Saale.
Von hier bis zum nächsten Haltepunkte windet sich der Schienenweg auf schmalem, mittelst langer Steinbauten dem Strome abgerungenem Boden durch einfache Wiesenauen, Obstpflanzungen und Saatfelder, bis plötzlich einer der bisher das linke Ufer verengenden Bergvorsprünge zurücktritt und sich vor unseren Blicken eines der reizendsten Bilder des Saalthales aufthut. Droben auf der schroffen Kante hoch übereinandergeschichteter, steil zur Saale abfallender Kalkfelsen schauen die drei Schlösser Dornburg’s in’s breiter sich ausdehnende Thal herab, und dazwischen blühen und grünen in voller schwellender Pracht die weinumrankten Terrassen, die schattigen Laubgänge und buntfarbigen Blumenbeete des Schloßgartens, die das kahle Bergeshaupt wie mit duftigem Kranze umwinden. Und doch entfaltet das alte Städtchen nur einmal im Jahre seinen vollen, reichsten Schmuck, und nur Der kennt es in seiner ganzen feenhaften Schönheit, der es gesehen hat an einem heiteren Sommertage, wenn all seine tausend Rosen glühen und duften, wenn alle seine blühenden Glocken und Glöckchen in leisem Windhauche zittern und die alten Schlösser, wunderbar beglänzt von hellem Sonnenscheine, wie eingesponnen liegen in Schimmer und Blumen.
So kenne ich dich, so stehst du licht und unvergeßlich in meiner Erinnerung, und so grüße ich mit freudigem Herzen dich wieder, mein rosenumranktes, duftumhauchtes Dornburg.
Aber diese reichen Gaben der Natur begründen nicht allein die Anziehungskraft der drei schlichten Bergschlösser; eines derselben ist zugleich eine geweihte Stätte, ein vom Genius der deutschen Poesie verklärtes Schmerzensasyl unseres größten Dichters. Denn während das mittlere der drei Bauwerke ein erst im achtzehnten Jahrhundert erbautes Lustschloß, das unterste, nördliche dagegen ein kaiserliches Palatium ist, in welchem einst in den Tagen Kaiser Otto’s des Ersten mehrfach Reichstag gehalten wurde, suchte und fand in dem am südlichen Ende des Felsens gelegenen, unscheinbarsten Gebäude der gebeugte Goethe am Abende seines Lebens Trost für den schweren Verlust, der ihn durch den Tod seines fürstlichen Freundes, des am 14. Juli 1828 plötzlich heimgegangenen Großherzogs Karl August, getroffen hatte. Von Weimar floh er, um „jenen düsteren Functionen zu entgehen wodurch man, wie billig und schicklich, der Menge symbolisch darstellt, was sie im Augenblicke verloren hat”, zuerst nach Jena, aber auch hier, wo ihn Alles an den theuren Todten mahnte, war seines Bleibens nicht lange. Da, in jenen trüben Tagen des Schmerzes stieg vor seiner Seele das Bild des freundlichen Dornburgs empor, und eine Ahnung, daß er dort finden werde, wonach ihn so heiß verlangte, wurde laut und immer lauter in ihm, so daß er schon am 7. Juli nach dem alten Städtchen abreiste. Und der große Naturkenner hatte sich nicht getäuscht, als er von all den schönen Gegenden, die das Land seines verewigten Freundes in reicher Fülle bot, das friedliche Dornburg zum Asyle wählte. Dort in der schlichten „Bergstube” des bescheidenen Schlößchens mit den mittelalterlichen Giebeln bewährte sich an ihm die freundlichmilde, schmerzstillende Kraft des Saalthals; mit Entzücken genoß er die anmuthig-schlichte Aussicht „hinab auf die zu Dörfern versammelten, durch Gartenbeete und Baumgruppen gesonderten Wohnsitze, das hübsche Thal mit seinen flachen Wiesen, steigenden Aeckern und einer bis an die unzugänglich-steilen Waldränder sich erstreckenden Vegetation”; der Friede der ihn umgebenden Natur brachte auch den verlorenen Frieden seiner verwundeten Seele zurück, und erst als die Blätter fielen und der Herbst seine mahnenden Boten in’s stille Thal sandte, nahm er wehmüthig dankbaren Abschied von dem anmuthigen Dornburg, das ihm so schönes Gastgeschenk gegeben hatte.
Seit jenen Tagen aber hat Niemand wieder die schlichte Bergstube bewohnt; liebevolle Pietät hat sie in demselben Zustande erhaltet, wie sie einst von dem greisen Dichterfürsten verlassen wurde. Und bieten die prunklosen Zimmer mit den einfachen Möbeln dem Auge auch nicht viel, sie bleiben doch eine geweihte Stätte, über welcher ein seltsam unbeschreiblicher Zauber liegt. Es ist, als sei in den stillen Räumen ein Hauch des Friedens, wie er einst hier über das trauernde Poetenherz gekommen, zurückgeblieben, als müsse der Blick aus den rebenumrankten Fenstern hinab auf das trauliche Landschaftsbild Alles, „was uns kränket und was uns bange macht”, zur Ruhe bringen und auch den schwersten Kummer leise von der bedrückter Seele lösen. Möge darum manch Saalbahnfahrer wohlgemuth den steilen Pfad nach den alten Schlössern hinansteigen und freudig eintreten in die schlichte Bergstube des Goetheschlößchens! Dort wird er bei dem Beschließer desselben, dem altem Hofgärtner Eckell, der einst auch Goethe mit Speise und Trank gelabt hat, nicht nur freundliche Aufnahme finden, sondern sich auch manch selbsterlebte Erinnerung an seinen unvergeßlicher Gast erzählen lassen können.
Doch unterdessen ist unser Zug längt weitergeeilt und braust nun an den Felsen des Städtchens dahin und bald an einer Reihe waldgekrönter Höhen vorüber, von deren einer die zerfallener Reste der Kunitzburg auf das zu ihren Füßen hingelagerte, durch feine Eierkuchen berühmte Dörfchen Kunitz herniederschauen. Nach und nach aber tauchen schon die kahlen, seltsamen Kalksteinformen der Jenaer Berge auf; der langgestreckte Rücken des einst mit drei Burgen geschmückten Hausberges, den jetzt nur noch die Ruine des Kirchberger Schlosses, der einsam fingerartige Fuchsthurm, krönt, wird sichtbar; gegenüber hebt der Landgraf mit dem Napoleonsteine sein Haupt empor; der Jenzig senkt sich in scharfgeschwungener Linie herab; frische Jenaer Luft strömt durch das Thal und weckt mächtig alte Erinnerungen auf an jene classische Zeit Jenas, da Schiller und Goethe im kleinen Saal-Athen lebten und wirkten, aber auch an jene für den Einzelnen nicht minder classischen Tage fröhlichster, studentischer Jugendluft der urgemüthlichen Musenstadt. Da zieht sich der Philosophengang, der berühmte „Spaziergang” des gelehrten Jenas, hin, während drüben „der Berg mit dem röthlich strahlenden Gipfel” erglänzt; hier durch die Erlen der feuchten Wiesen, in denen die Herbstnebel sich zu phantastischen Gestalten zusammenballen, ritt einst der „Vater mit seinem Kind”, und drüben im Giebelstübchen des Gasthofs „Zur Tanne” dichtete Goethe seinen unsterblichen „Erlkönig”; da grüßt das unscheinbare Kirchlein Wenigenjenas herüber, in dem sich still und einfach „der Kosten wegen” der arme Professor Schiller trauen ließ, und dort wieder winken die schmucken „Bierdörfer”, in denen sich die „Lustigen von Weimar” kraftgenialisch amüsirien und in denen noch heute der durstige Musensohn seine fidelen „Exkneipen” hält. Und sieh, dort erscheint nun das alte, liebe Jena selbst, und mit ihm tauchen all die unvergessenen Stätten akademischer Wirksamkeit, Burgkeller und Universität, Rose und Zeise und all die ehrwürdigen Locale, wo dem Studenten leibliche und geistige Nahrung reichlich verabfolgt wird, vor [435] unseren Blicken auf. Heute aber soll ihnen all ihr Locken und Grüßen Nichts helfen. Wie es auch den alten Jenenser heimwehstark hineinzieht in all die Herrlichkeiten der alma mater, heute sei nicht von ihnen gesungen und gesagt, so Vieles und Lustiges auch davon zu berichten wäre; die Gartenlaube wird ihnen später ein besonderes Gedenkblatt widmen. Darum fort mit den Erinnerungen an die „schönen Tage von Aranjuez”, hinweg mit den alten Studentenliedern, die alle wieder wach werden und lustig durch Kopf und Herz klingen! Zum Abschiede aber ein Kännchen Lichtenhainer auf das Wohlergehen und Blühen der fröhlichen Musenstadt und aus warmem Herzen ein aufrichtiges; „Stoßt an! Jena soll leben!”
Hinter uns liegen nun die Thürme und Häuser Saal-Athens; das Dampfroß führt uns weiter den Bergen zu, durch die Gärten der Stadt und durch das „Paradies”, einen von der Saale durchflossenen, vom Schienenstrange durchschnittenen Spaziergang, hinweg über die Stelle, wo die jetzt ganz verschwundene Rasenmühle einst sich erhob, von welcher ein unbekannter Poet so herrlich gesungen hat:
Wir fahren vorüber an den „Burgen auf den Bergen“, an den bierberühmten Ortschaften Ziegenhain, Wöllnitz und Lichtenhain, den Sitzen ruhmreicher, uralter Herzogsgeschlechter „von Bieres Gnaden“, während weiterhin oberhalb des Städtchens Lobeda von schroffem Bergscheitel die Ueberreste der Lobedaburg, einer der größten und besterhaltensten Burgen „an der Saale kühlem Strande“, verödet in die freundliche Landschaft herniederblicken. Bald darauf ist die nächste Haltestelle, das Dörfchen Rothenstein erreicht, über welchem sich, steil zur Saale abfallend, eine aus rothen Sandsteinschichten gebildete Höhe, der Rothensteiner Felsen, erhebt. Hier war es, wo im dreißigjährigen Kriege sich ein schwedischer Trompeter, von den Feinden verfolgt, mit seinem Roß in die Saale hinabstürzte, dieselbe glücklich durchschwamm, dann aber, am jenseitigen Ufer angekommen und das Lied „Nun danket alle Gott!” blasend, von einem ihm nachjagenden Croaten erschossen wurde. Von der Spitze des Rothensteiners aus bietet sich eine anmuthige Ansicht auf Thal und Fluß, links hinab bis zu den kahlen Berggestalten von Jena, rechts hinauf bis zu den waldigen Höhen der Thüringer Vorberge, während mitten über dem schönen Bilde auf einem alle anderen Höhen überragenden Vorsprunge der alte Bergfried der stattlichen Leuchtenburg thront. Diese selbst, welche, einer Leuchte gleich, von nun an lange sichtbar bleibt, ist am schnellsten und bequemsten von der nächsten Station der Bahn, dem am Fuße des Dohlensteins malerisch gelegenen Städtchen Kahla, zu erreichen. Der Besuch der wohlerhaltenen Veste ist wegen ihrer entzückend schönen, umfassenden Rund- und Fernsicht auf das Saalthal und die Saalberge bis weithin auf die zahllos in einander überfließenden Waldgipfel Thüringens um so mehr zu empfehlen, als das Zucht- und Arbeitshaus des Herzogthums Sachsen-Altenburg sich nicht mehr hier befindet.
Von Kahla ab verändert sich nun der Charakter der Landschaft; ringsum wird’s grüner, thüringischer; in größeren Zwischenräumen erscheinen Dörfer, deren bescheidenes Aeußere sich den Walddörfern nähert, und statt der kahlen Jenaer Berge senken sich, fast bis zum Fuße mit dunklem Nadelholze bedeckt, die Ausläufer des Thüringer Waldgebirges in’s Thal hernieder. Nur einmal noch, bevor wir in Letzteres tiefer hineindringen, wird das Grün der bewaldeten Kuppen unterbrochen durch den schroff aufsteigenden Sandsteinfelsen, aus dessen langgestrecktem Rücken sich hoch über der Stelle, wo das Flüßchen Orla seine Fluthen der Saale vermählt, das an historischen Erinnerungen reiche Städtchen Orlamünda ausbreitet. „Das thüringische Bethlehem” nennt es das Volk, weil seine Lage der Geburtsstadt Christi so sehr gleichen soll, daß schon nach dem Berichte einer alten „Thüringischen Chronika” Einer von Bünau, „so eine Reise in’s gelobte Land mitgethan”, versichert hat, wer Orlamünda sehe, der sehe Bethlehem in Palästina.
Allein es weht auch ein Hauch bedeutender Vergangenheit durch das alte Städtchen, denn es ist der Stammort jenes mächtigen Grafengeschlechts von Orlamünda, welches am Anfange unseres Jahrtausends über einen großen Theil Thüringens und Frankens gebot, bis nach und nach durch den Uebermuth der stolzen Herren ein Besitzthum nach dem anderen verloren ging, Glanz und Ruhm erlosch und endlich das weitverzweigte Geschlecht gänzlich ausstarb. Dann wurde auch die umfangreiche Stammburg zerstört, und Nichts ist mehr von ihr übrig, als ein am östlichen Ende der Stadt gelegenes, unansehnliches Gebäude, die Kemnate der Burg, die sogenannte Kempte, die, jetzt mit hohem, bürgerlichem Dache versehen, als Speicher benutzt wird. Frau Sage aber hat zugleich Besitz ergriffen von dem zerfallenen Schlosse und die geborstenen Mauern nach ihrer phantastischen Art mit dem üppig rankenden Grün ihrer Märchen umkleidet. Sie läßt durch den einsamen Burghof in mondscheinerhellter Sommernacht eine weiße Frauengestalt wandeln, ein Weib aus dem stolzen Grafenhause, das einst, um ihre Heirath mit dem Burggrafen Albrecht dem Schönen von Nürnberg zu ermöglichen, ihre beiden Kinder aus erster Ehe ermordet haben soll und zur Sühne dieser Unthat nun ruhelos wandern muß durch die Trümmer der Burgen ihres erloschenen Geschlechts; ja, sie bringt diese weiße Gestalt in engste Verbindung mit jenen Burggrafen von Nürnberg, deren Sproß jetzt auf dem neuerstandenen Kaiserthrone Deutschlands sitzt, und läßt sie auch in den getäfelten Sälen des Berliner Schlosses erscheinen und „als weiße Frau nun ihre Schlüsselbündel kollern wenn ein Fleck sich soll verdunkeln an der Sonne Hohenzollern.”
Doch nicht blos die Sage, auch die Geschichte kennt eine Verbindung jener Nürnberger Burggrafen mit dem Orlamündaischen Grafenschlosse, und wieder ist es eine Heirath, eine für das Haus Hohenzollern bedeutsamste Heirath, bei welcher die alte Burg eine Rolle spielt: die im Jahre 1350 erfolgte Vermählung des Burggrafen Friedrich von Nürnberg mit Elisabeth, der Tochter Markgraf Friedrich’s des Ernsthaften von Meißen, der 1344 die Grafschaft Orlamünda käuflich erworben hatte. Die Mitgift der Letzteren aber wurde durch Verpfändung von Orlamünda gewährt, das bis 1358 im Besitze des Burggrafen Friedrich verblieb, während die Plassenburg, die Stammburg der fränkischen Linie der Orlamündaer Grafen, die schon vorher Eigenthum Friedrich’s war, von Letzterem seiner „zukünftigen ehelichen Wirthin zur Bewitthumung assigniret” wurde. Jene Elisabeth aber wurde die Mutter des ersten Kurfürsten von Brandenburg und damit die Stammmutter des kaiserlichen Hauses der Hohenzollern. Vielleicht veranlassen diese Erinnerungen, welche der trotzig in’s Thal schauenden Kempte ein historisches Interesse verleihen, manchen Saalbahnfahrer, dem an anmuthiger Umgebung und mancherlei Ueberresten aus alter Zeit reichen Städtchen, in welchem sich auch später ein kleines Stück Reformationsgeschichte, deren Held der Orlamündaische Pfarrer und Bilderstürmer Andreas Bodenstein war, abgespielt hat, einen Besuch zu widmen.
Nun verschwinden bald die Sandsteinfelsen Orlamündas, und der Zug braust durch eintönige, nur durch die helle Weißenburg, welche früher ebenfalls Eigenthum und Wohnort der Orlamündaischen Grafen war, belebte Gegend, bis sich hinter der nächsten Station, dem hart am Flusse gelegenen Dorfe Uhlstädt, das Thal weiter ausbreitet und das stattliche Schloß von Rudolstadt und kurz darauf auch die freundliche Stadt selbst sichtbar wird. Ihr namentlich und ihren zu wenig gewürdigten landschaftlichen Reizen wird der Schienenweg die gebührende Beachtung bringen. Denn wie herrlich ist schon die Lage der kleinen Residenz in dem von einem Kranze grüner Waldberge umrahmten Thale am Ufer der rauschenden Saale, überragt von dem auf einem Bergvorsprunge sich erhebenden Schlosse, der imposanten Heidecksburg! Wie schön liegt auf den Boden, den vor Kurzem noch die Wellen des Flusses bedeckten, der Bahnhof neben den schattigen Lindenalleen des Angers, des Brennpunktes des Lebens der Rudolstädter! Dazu rings auf den Höhen all die blühenden Berggärten mit schmucken Villen und Gartenhäuschen, ferner der Hain, ein Park auf dem westlich vom Schlosse sich ausdehnenden, mit Laub- und Nadelholz bewachsenen Bergrücken voll prächtiger Anlagen und Aussichtspunkte! Und weiter nah und fern Spaziergange der erfrischendsten Art und von allen Höhen herrliche Blicke auf Stadt und Fluß, auf Berg und Thal, so schön und lieblich, daß schon Kaiser Karl der Fünfte von Rudolstadt rühmte, er glaubte ein Bild des schönen Galliens vor sich zu haben. Und − merkwürdig − wie am Eingange des Saalthales Dornburg dem greisen Goethe ein erwünschtes Asyl bot, so hat am Ausgange desselben der in jugendlicher Manneskraft stehende Schiller hier in Rudolstadt und in dem nahen Volkstedt
[436][437] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [438] 1788 und 1789 freundliche Aufnahme gefunden. Und auch ihn entließ das Saalthal nicht unbeschenkt; fand er doch hier in dem befreundeten, durch Geist und Bildung ausgezeichneten Hause der Frau von Lengefeld seine Charlotte, mit der er dann weiter unten im Saalthale, in Wenigenjena, den Bund für’s Leben schloß.
Doch unsere Fahrt geht ihrem Ziele entgegen. Ein großer Theil der Reisenden wird wohl schon in Rudolstadt oder doch auf der nächsten Station, dem Dorfe Schwarza, der Mündung des herrlichen Schwarzathals, der Saale und der Saalbahn Lebewohl sagen, um nun dem südöstlichen Thüringen sich zuzuwenden. Manch Einer aber wird auch noch das freundliche, alterthümliche Saalfeld, die Endstation der Saalbahn, und von hier aus den an schönen Waldpartien reichen Saalwald besuchen. Wir aber, am Ende unserer Saalbahnfahrt, scheiden von den bunten Bildern des Thales, durch die uns schnell das Dampfroß dahingetragen hat. Und dieser Wunsch sei ihm ein Abschiedsgruß. Möge die neue Bahn dem lieben Saalthale regen Aufschwung des Verkehrs, seinen landschaftlichen Schönheiten zahlreiche Freunde zuführen!
Nicht nur die Bücher und die Menschen, auch die Worte und die Namen haben ihre Schicksale. Nach dem Kriege von 1866 wurde in Berliner Kreisen der Zuruf „Benedek“ zu einem Schimpfworte, und ebenso gilt heute die Bezeichnung „Gründer!“ bereits als eine Beleidigung, welche der Injurienrichter ahndet. Niemand will sich noch Gründer nennen lassen, Niemand ein Gründer gewesen sein. Aber ursprünglich war es anders. Die Gründer, bürgerliche wie adelige, Börsianer wie Private, traten mit ihrem vollen Namen, mit allen Titeln und Würden auf; frei und selbstbewußt traten sie vor das Publicum und gaben sich als die Förderer des Gemeinwohls, als die Wohlthäter der Gesellschaft. In dieser Eigenschaft wurden sie von der Presse gefeiert, und umstrahlt von diesen Nimbus, fanden sie bei dem Volke Glauben. Es waren wieder einmal, wie vor 1800 Jahren, die „falschen Propheten“, die „Wölfe in Schafskleidern“, und wie Wölfe fraßen sie unter der Heerde. – Auf dem Programm der Gründer stand obenan: Abhülfe der Wohnungsnoth, und die ersten Gründungen waren höchst ehrbare – „gemeinnützige Baugesellschaften“.
Den Reigen eröffnete Herr David Born, ein kleiner „Volkswirth“. 1871, im wunderschönen Monat Mai, erließ er einen Aufruf: „Ein Großgrundbesitzer hat mir ein Areal von 40 Morgen zu einem sehr billigen Preise zur Verfügung gestellt. Aber nur einer Baugesellschaft will der Besitzer den billigen Preis und außerdem günstige Bedingungen stellen; dagegen stellt er die Anforderung, daß keine Fabriken, keine hochstöckigen Miethshäuser und Proletarierwohnungen gebaut werden dürfen.“ Herr David Born forderte namentlich Beamte, Pensionäre, Lehrer, Künstler, Literaten etc. auf, sich mit ihm zu vereinigen, „um gemeinschaftlich Wohnhäuser und die dazu passenden Gärten vermittelst einer Summe zu erwerben, welche die jetzt zu zahlende jährliche Miethe nicht übersteigt“. – Das klang verlockend genug, und schnell kam eine Gesellschaft zu Stande, welche sich „Landerwerb und Bauverein auf Actien“ nannte. Sie begann ihre Thätigkeit mit dem bescheidenen Capitale von 10,000 Thalern und vertheilte nach sechs Monaten bereits die kolossale Dividende von – 40 Procent. Das heißt: pro rata, nach Verhältniß des Zeitraums und der nur theilweisen Einzahlung; thatsächlich erhielt jede Actie 4 Thaler. Nun wurde das Capital rasch auf 400,000 Thaler erhöht, und ungleich größere Terrains wurden zugekauft.
Im nächsten Jahre vertheilte man an Dividende noch 8½ Procent, wieder pro rata, und diese Dividende floß zur Hälfte aus den Zinsen des eigenen, noch nicht verausgabten Capitals. 1873 und 1874 gab es keine Dividende mehr. Auch dieses anscheinend so solid begonnene Unternehmen artete in Speculation und Schwindel aus. Die heutige Colonie Friedenau (welch idyllischer Name!) besteht in der Hauptsache noch aus Baustellen und aus etwa 45 fertigen Häusern. Von diesen befinden sich wieder die wenigsten in eigentlichen Privathänden, respective werden die wenigsten von dem eigenen Besitzern regelmäßig (Sommers wie Winters) bewohnt; die meisten Häuser enthalten Miethswohnungen und gehören Speculanten und Börsianern. Die noch unverkauften ausgedehnten „Bauländereien“ sind von der Gesellschaft als Aecker oder Weiden verpachtet; die mit Hülfe der ersten Dividende von 40 Procent bis auf 200 hinaufgetriebenen Actien stehen heute circa – 17.
Herr David Born, welcher seit jener Gründung sich „Director“ nannte, schied schon im ersten Geschäftsjahre, nach Vertheilung der grandiosen Dividende, aus; oder aber er wurde ausgeschieden, vom Aufsichtsrathe, dem er, wie es scheint, unbequem ward, da er gegen gewisse Verletzungen des Statuts opponirte. Er „dirigirte“ nun eine in der Nachbarschaft entstandene neue Baugesellschaft, den „Lichterfelder Bauverein“. Dieser brachte es nur bis auf 9 Procent Dividende, und die mit 90 Thalern eingezahlten Actien, die einst 120 standen, gelten heute circa 14. Die Bilanz für 1874 schließt mit einem Verluste von 328,000 Thaler(!), entstanden durch „Abschreibungen“. Man hat nämlich gefunden, daß der Preis, mit welchem die Ländereien zu Buch stehen, dem heutigen Werthe nicht mehr entspricht, und deshalb die Taxe um ein Drittel herabgesetzt. Wer weiß, was die „Bauländereien“ im künftigen Jahre werth, welche neue Abschreibungen dann nöthig sein werden! Glücklicher Weise belasten die Gesellschaft keine Hypotheken mehr, und so muß für die Actionäre doch immer eine Kleinigkeit übrig bleiben.
Der edle Großgrundbesitzer, welcher Herrn David Born und Genossen mit Bauterrain unter die Arme griff, war Herr J. A. W. Carstenn in Lichterfelde, und er hatte solcher Anfälle von Edelmuth noch verschiedene. So lieferte er einem dritten, in derselben Gegend entstehenden Vereine, der „Land- und Baugesellschaft Lichterfelde“, gleichfalls ein ungeheures Areal und ließ es sich sehr anständig bezahlen. Daneben bedang er sich als Trinkgeld noch 10 Procent vom Reingewinne, der 1872 an 400,000 Thaler, also für ihn gegen 40,000 Thaler ergab. Die Actionäre erhielten 25 Procent Dividende und hätten 69 Procent erhalten können, die sie auch verlangten und einklagten; doch das Gericht wies sie ab. 1873 betrug die Dividende nur 5 Procent, 1874 bereits 0. Die Actien, einst 155, stehen heute 24 Brief. Das Terrain ist mit 500,000 Thalern belastet, und während der Bauverein Lichterfelde Abschreibungen vornimmt, stellt sich bei der Baugesellschaft Lichterfelde der Buchpreis der Quadratruthe mit jedem Jahre noch höher.
Bei gewissen Leuten steigert sich mit dem Essen der Appetit, und so gründete Herr Carstenn denn noch in Verbindung mit den Herren Richard Schweder, Paul Munk, Gustav Markwald und noch einigen Anderen den „Berlin-Charlottenburger Bauverein“, dessen Actien im Februar 1873 mit 110 an die Börse kamen. Diesen Aufschlag rechtfertigte der „Prospect“, indem er pro 1872 eine Dividende von nahe 13 Procent feststellte, welche aber nur den Gründern zu gute kommen konnte; denn Actionäre waren noch gar nicht vorhanden, und nachdem man sie eingefangen hatte, gab es keine Dividende mehr.
Der „Berlin-Charlottenburger Bau-Verein“ hat Großartiges geleistet – im Abstecken von Straßen und Plätzen. Eine unabsehbare Riesenstraße zieht sich von Steglitz bis Charlottenburg. Sie heißt die „Kaiserstraße“, ist über eine halbe Meile lang, breit und prächtig – nur fehlen ihr noch die Häuser und die Baugründe sind einstweilen hier, wie in dem Gewirr der Quer- und Nebengassen, als Viehweide verpachtet. Auch die beiden „Baubureaux“ in Berlin und in Wilmersdorf sind geschlossen; trotzdem hat die „Verwaltung“ im letzten Jahr über 11,000 Thaler Unkosten verursacht. Ein Räthsel, das nur „Aufsichtsrath“ und „Direction“ zu lösen vermögen. Aber Beide verbergen sich jetzt wie Adam und Eva nach dem Sündenfall.
[439] Herr A. W. Carstenn hatte sich als Bauspeculant schon in Hamburg und Umgegend versucht, und ließ sich nach 1866 in Lichterfelde bei Berlin nieder. Er war ein Mann von Scharfblick und Combination; er witterte, daß die Hauptstadt des Norddeutschen Bundes wachsen und sich ausdehnen müsse; er begann rings um Berlin zu colonisiren und trieb die Baustellen-Ausschlächterei und den Baustellen-Handel en gros. Bei diesem Geschäft gewann er Millionen, und mit den Millionen überfiel ihn ein anderes Gelüste. Er hatte mit Generalen und Baronen gegründet, und der Umgang mit der Aristokratie ist verführerisch. Er hatte sich die Regierung durch den Bau der neuen Cadettenhäuser bei Lichterfelde verpflichtet, und so konnte es ihm nicht fehlen. Eines Abends ging er noch als A. W. Carstenn zu Bette, und am Morgen stand er auf als – Herr von Carstenn-Lichterfelde. Im Alterthum wurden die Gründer – siehe: Herakles, Kekrops, Theseus, Kadmos – unter die Götter versetzt; heute werden sie – siehe: Bleichröder, Hansemann, F. W. Krause, A. W. Carstenn – in den Adelstand erhoben. Andere Gründer, welche dies nicht durchsetzen konnten, machten aus der Noth eine Tugend und kauften sich – einen adligen Vater. Sie suchten und fanden einen freidenkenden, aber armen Edelmann, der sie, gewöhnlich gegen Zahlung einer mäßigen Jahresrente, adoptirte, ihnen seinen Namen verlieh. Auch dieser Talmi-Adel wird von der Gesellschaft respectirt und bewundert.
Von der riesigen „Kaiserstraße“ des Herrn von Carstenn geht’s über oder um Charlottenburg nach dem lustigen Plateau „Westend“, zu Herrn Heinrich Quistorp. „Westend“, eine künstliche, unwirthliche Schöpfung, war der „erste Versuch“ Quistorp’s, mit dem er im Jahre 1868 debütirte, aber ziemlich abfiel. Erst in der Schwindelperiode konnten Beide durchschlagen. Herr Quistorp vertheilte pro 1871 plötzlich 16 Procent Dividende, und vermehrte das Actiencapital, das bis dahin, wenn wir nicht irren, nur 100,000 Thlr. betrug, mit einem Schlage um 1,100,000 Thlr. Die neuen Actien wurden zu dem bescheidenen Course von 150(!) ausgegeben und dann bis auf circa 225 hinaufgetrieben. Von Herrn von Schäfer-Voit ward ein großes „Bauterrain“ von 450 Morgen zugekauft und „Neu-Westend“ benannt, sowie das am Spandauer Bock belegene „Schloß Ruhwald nebst Park“. Herr Quistorp, der sich mit einem Stabe von Literaten, „Volkswirthen“ und Naturwissenschaftern umgab, ließ durch diese Herren „Westend“ als die natürlichste, gesündeste und anmuthigste Colonie von der Welt anpreisen. „Schloß Ruhwald“ ward bereits als die künftige Residenz eines preußischen Prinzen bezeichnet, und von diesem Schlosse bis zum Schlosse in Berlin eine fortlaufende Straße in Aussicht gestellt – „die schönste und einzig große Avenue“, gegen welche die Kaiserstraße des Herrn von Carstenn ein bloßes Kind blieb, denn die Entfernung beträgt gut fünf Viertel Meilen.
Ungleich manchem Gründer, der mit der Grammatik auf gespanntem Fuße lebt, schreibt Herr Quistorp einen „gebildeten Stil“; ist er ein pompöser Schriftsteller. Wie Napoleon Bonaparte, mit dem wir ihn schon früher in Parallele stellten, veröffentlichte auch Heinrich Quistorp über seine Thaten und Erfolge regelmäßige Bülletins, die als charakteristische Beiträge zur Zeitgeschichte wohl verdienten gesammelt zu werden. Vor uns liegt der Jahresbericht vom 14. Januar 1873, in welchem Herr Quistorp den Actionären von „Westend“ – neun Monate vor dem Concurse der Gesellschaft – noch goldene Berge verspricht. Fast noch interessanter ist die Bilanz pro 1872, die der „Aufsichtsrath“, unterzeichnet von den Regierungsräthen a. D. A. Bühling und W. Jungermann und Kaufmann A. Reinicke, publicirt. Nach dieser Aufstellung erhielten die Actionäre 17 Procent Dividende oder zusammen 204,000 Thaler, der „Aufsichtsrath“ 15 Procent Tantième oder 43,200 Thaler – ein hübsches Douceur für eine nur nominelle Mühewaltung, die beiden Gesellschafter Quistorp und Scheibler gleichfalls 15 Procent Tantième oder 43,200 Thaler. Außerdem aber hat sich der „erste Gesellschafter“ (Quistorp) an „Provisionen“ für Verkäufe von Bauparcellen noch 33,786 Thaler berechnet. Man sieht also: Aufsichtsrath und Gesellschafter beanspruchten circa zwei Fünftel des Reingewinns, während auf die Gesammtheit der Actionäre wenig mehr als drei Fünftel entfiel, und Quistorp allein bezog ein Sechstel des Ganzen, in einem Jahre von einer einzigen Gesellschaft über 55,000 Thaler.
Aber der geniale Gründer hatte an „Westend“ nicht genug – er schuf noch eine zweite „Baugesellschaft“. Unmittelbar nachdem Herr Quistorp das Capital von „Westend“ um 1,100,000 Thaler vermehrt hatte, gründete er den „Deutschen Centralbauverein“, für den er gleichfalls eine Actiensumme von 1,200,000 Thaler in Anspruch nahm. Dieser war ehemals eine „Genossenschaft“ gewesen, aber, wie Quistorp im „Prospecte“ sich ausdrückte, das „Experiment eines humanen Princips“ geblieben und wurde nun in eine Actiengesellschaft umgewandelt. Der „Deutsche Centralbauverein“ sollte nicht Villen, sondern kleine und mittlere Wohnungen bauen und außerdem einem schreienden Bedürfnisse abhelfen, nämlich „die baulichen Ausführungen der Westend-Gesellschaft gegen eine der Sache entsprechende Provision mitleiten“, während die Westend-Gesellschaft wieder seine, des „Deutschen Centralbauvereins“ Bauterrains „commissionsweise parcelliren und von den ihm übertragenen Bauten eine entsprechende Rückprovision beziehen“ sollte. Man merkt, wie erfinderisch Herr Quistorp war, um den eigentlichen Zweck seiner Gründungen festzustellen, und wie innig er die verschiedenen Gesellschaften miteinander verknotete – eine Verknotung, die später immer eine nach der anderen in den Concurs riß und ein Monstreverfahren herbeiführte, bei dem sowohl dem Concursrichter wie dem Massenverwalter seit Jahr und Tag die Haare zu Berge stehen. Bei beiden Baugesellschaften hatte Quistorp dieselben Verbündeten und Gehülfen: außer den schon Genannten noch die Herren Stadtrath Holtz, Apotheker H. Augustin, Dr. med. E. Wiß und Andere. Der „Volkswirth“ Wiß hatte kurz vorher im Feuilleton der „National-Zeitung“ einen Bandwurm von Artikel über Wohnungsnoth, Wohnungsreform etc. losgelassen, die alle in dem Satze gipfelten: das einzige Rettungsmittel sei die Colonisation. Zum Dank für diese Reclame machte ihn Quistorp zum „Vorsitzenden des Aufsichtsraths“, und nun ging der „Deutsche Centralbauverein“ in’s Zeug mit Ankäufen, Parcellirungen und Bauausführungen. Das erste Geschäftsjahr schloß am 1. Juli 1873 mit einer Dividende von 15 Procent, aber nur 10 Procent kamen zur Auszahlung, während „Aufsichtsrath“ und „Direction“ das Ihrige natürlich voll eingestrichen haben werden. Im Juli 1873, mitten im „Krach“, rückte Herr Quistorp noch mit dem Antrage heraus, „das Actiencapital successive auf vier Millionen Thaler zu erhöhen“, was auch beschlossen wurde. Aber es blieb beim Beschlusse. Schon nach drei Monaten brach der „Deutsche Centralbauverein“ zusammen, mit einer Million Unterbilanz. Die Grundstücke, welche mit mehreren Millionen zu Buch standen, sind bei der gerichtlichen Taxe auf ein Fünftel oder noch tiefer herabgesetzt. Die Masse wird kaum die Schulden decken – über zwei und eine halbe Million Thaler; die Actionäre haben Alles verloren.
Doch Herr Quistorp ist nicht außer Fassung zu setzen. Mitten im Concurse gründete er kürzlich eine neue Gesellschaft: „Westend-Berlin“. Wieder eine Illustration zum Actiengesetze! Inzwischen arbeitete er auf einen Accord hin und gewann dafür die Mehrzahl der Gläubiger. Allein das Gericht verweigerte die Bestätigung des Accords – ein Fall, der sich höchst selten ereignet. Der Gerichtshof versagte die Bestätigung wegen der eigenthümlichen Manipulationen des Gemeinschuldners. Herr Quistorp hatte z. B. Grundstücke erstanden und sie zunächst der „Westend-Gesellschaft“ und dann wieder, Namens dieser, dem „Deutschen Centralbauverein“ verkauft, jedesmal natürlich zu höherem Preise. Der Accord ist nicht genehmigt, aber Herr Quistorp wird die höheren Instanzen anrufen, und vielleicht hat dieser Mann seine Rolle noch lange nicht ausgespielt.
Unter dem Aushängeschilde, zu colonisiren, für die unteren und mittleren Stände billige Wohnungen herstellen zu wollen etablirten sich noch zahlreiche Baugesellschaften, von denen wir einige hier folgen lassen:
Mittelwohnungen, bei Weißensee, eine halbe Meile vor dem Thore; gegründet von A. Busse u. Comp. Aufsichtsräthe: Geh. Admiralitätsrath Dr. Gäbler, Fabrikbesitzer G. Schöpplenberg etc. Pro 1873 ward auf gebaute, aber noch nicht verkaufte Häuser eine künstliche Dividende von 2 Procent vertheilt. Pro 1874 nichts. Ein großer Theil der Wohnungen ist unvermiethet geblieben. Die mit 80 Thaler eingezahlte Actie gilt etwa 10.
Johannisthal, eine Meile vor der Stadt, gegründet von der Norddeutschen Grundcreditbank, Geh. Admiralitätsrath Dr. Gäbler etc. Vorstand: Baumeister Jonas. Vertheilte pro 1873 eine Dividende von 5 Procent. Die mit 102½ aufgelegten Actien sollen sich größtentheils noch in erster Hand befinden und werden heute mit circa 10 notirt.
[440] Berlin-Tempelhof, gegründet von Max Löwenfeld, Hirschfeld u. Comp. und dem vielgenannten Herrn Heinrich Reh, Mitgründer der famosen „Societätsbrauerei“, deren Actien heute 7 Brief stehen. Berlin-Tempelhof zahlte für das erste Geschäftsjahr“ 7½ Procent „Bauzinsen“ und wird zur Zelt gleichfalls mit 9 Brief notirt. Für ein Darlehn von 15,000 Thaler soll die Gesellschaft 10,000 Thaler Damno (Verlust) bezahlt haben.
Belle-Alliance, gegründet von Hermann Geber, Jos. Jaques, Walter Bauendahl etc. Aufsichtsrath: Justizrath Hinschius. Die Actien wurden mit 103 aufgelegt, genießen bis zum 1. Juli 1875 sechs Procent „Bauzinsen“ und stehen deshalb einstweilen noch circa 40.
Friedrichshain, gegründet von den Directoren Dr. Otto Hübner und Dr. Wilhelm Abegg, den Stadtverordneten Romstädt und Ullstein, Stadtbaurath Gerstenberg, den Banquiers Gebrüder Guttentag und Julius Samelson etc. Die mit 103 aufgelegten Actien werden bei Verkäufen zum Nennwerthe in Zahlung genommen und stehen aus diesem Grunde noch circa 40. Pro 1874 ward endlich eine Dividende von 2 Proc. vertheilt, die aber auch ziemlich künstlicher Natur ist.
Deutsch-holländischer Bau-Verein, gegründet von Rittergutsbesitzer Klau, Dr. Otto Hübner, Director Sulzer, Geh. Oberfinanzrath A. Geim, Martin Frege. Justizrath G. Wolff, Rechtsanwalt Munckel etc. Späterer Aufsichtsrath: Dr. Ed. Wiß. Für das vom Gutsbesitzer Klau zusammengekaufte „Bauterrain“ wurde die Kleinigkeit von 5 Millionen Thalern bezahlt. Nach einer 1873 erschienenen Broschüre sollen die Gründer 3½ Millionen Thaler verdient haben. Wir glauben aber, daß es mehr gewesen ist. Bei der letzten Generalversammlung, am 23. März d. J., zeigte sich der Aufsichtsrath in zwei Heerlager gespalten, angeführt von den Herren Justizrath G. Wolff und Rechtsanwalt Munckel, die einander scharf bekriegten. „Hie Wolff! Hie Munckel!“ scholl es wild durch einander, und der Gutsbesitzer Klau, der sich noch im Besitze von Einer Million Actien befindet, kam hart in’s Gedränge. Die vorgelegte Bilanz, welche mit 126,000 Thalern Verlust abschließt (wir schätzen ihn höher) wurde nicht genehmigt und dem Aufsichtsrathe keine Decharge ertheilt. Die Prioritäts-Actien, welche noch bis 1883 (!) 6 Procent feste Zinsen erhalten sollen, stehen zur Zeit circa 25.[1]
Wie schon mehrfach betont, bauten die Baugesellschaften nur dem Namen nach, und zu bauen war auch nie ihre eigentliche Absicht. Sie gründeten und handelten mit Baustellen. Seit dem „Krach“ liegt dieser Schacher darnieder, und wir hoffen, für immer. Nur eine unverhältnißmäßig geringe Anzahl von Wohnungen ist hergestellt, und diese Wohnungen sind nicht billig, sondern theuer. An und für sich theuer, wegen der großen Selbstkosten, und doppelt theuer mit Rücksicht auf die entfernte Lage. Die „Colonisation“, für welche so viel Reclame gemacht wurde, hat keinen Anklang gefunden, hat sich überhaupt nicht als Bedürfniß erwiesen. Selbst wenn die Communication bestände, die nicht besteht – Pferde- und Locomotivbahnen – wäre das Wohnen in so weiter Entfernung für die arbeitenden Classen zu zeitraubend und zu kostspielig. Es thut aber auch gar nicht noth; es bietet sich in der Stadt selber noch zureichendes Unterkommen. Von den zahllosen Baugesellschaften befinden sich schon viele in Concurs oder in Liquidation (Auflösung), und die andern werden allmählich nachfolgen. Lebensfähig dürften nur äußerst wenige sein.
Unter den Schöpfungen der Schwindelperiode sind mit die schwindelhaftesten die Baugesellschaften. Es ist schwer zu sagen, welches die faulsten sind, und der Raum gestattet nicht einmal, alle die anzuführen, welche als „oberfaul“ gelten oder als solche bereits zusammengebrochen sind. Wir wollen zum Schlusse nur noch einige nennen:
Thiergarten-Westend, gegründet von Herm. Geber, R. A. Seelig, Gewerbebank H. Schuster etc. Cours circa 3.
Hofjäger, gegründet von Hermann Geber, R. A. Seelig, Julius Alexander, Baumeister Nicolaus Becker etc. Aufsichtsrath: Justizrath Hinschius. Cours circa 10.
Charlottenburg, gegründet von Jean Fränkel, Lindner, Karl Sachs, Bürgermeister Bullrich etc. Mit 105 an der Börse eingeführt, heute 6.
Nieder-Schönhausen, gegründet von Jean Fränkel, Max David, Weißbier-Director E. Gericke etc. Mit 102 an der Börse eingeführt, heute?
Residenz-Baubank, gegründet von Robert Herbig, Karl Dankberg, Baumeister Wuttke und Heinrich Enders etc. 3000 Interimsscheine à 40 Thaler, zusammen also 120,000 Thaler, verfielen wegen rückständiger Einzahlung. Die Besitzer trugen lieber diesen Verlust, als daß sie die restirenden 60 Thaler nachschossen, denn die Vollactie von 100 Thalern stand – 10 Brief. Heute?
Allgemeine Bau- und Handelsbank. Von dem Actiencapitale wurde über ein Drittel, circa 362,000 Thaler, wegen nicht rechtzeitig geleisteter Einzahlung für verfallen erklärt. Der 40procentige Interimsschein kam an die Börse zum Course von 106; heute steht die Vollactie 25.
Nordend, einst 140; heute?
Immobilienbank. Cours?
(Der „Verfasser“ dieser drei Baugesellschaften war Dr. Max Mattner, welcher sich seitdem Baron Mattner von Bibra nennt.)
Nordbaubank, gegründet von Karl Aulig, Maurermeister Ströhmer, Dr. Heinrich Ebeling etc. Aufsichtsrath: Rechtsanwalt Meyn. Der Cours, im März 1873 bis auf 209 getrieben, ist heute 0. Die Generalversammlung beschloß, eine Untersuchungscommission einzusetzen. Das Gericht lehnte die Einleitung des Concurses ab, weil es an Masse fehlte.
Westend-Potsdam-Baubank, gegründet von demselben Aulig und Genossen. Cours 0. Das Bureau ist geschlossen; das Mobiliar wurde gerichtlich abgepfändet. Aufsichtsrath Aulig und Director Fischer sind spurlos verschwunden.
Die in Berlin ansässigen und an hiesiger Börse gehandelten Bau- und Baumaterialiengesellschaften haben zusammen ein Actiencapital von, schlecht gerechnet, 100 Millionen Thalern in Anspruch genommen, welches zum weitaus größten Theile nun verpufft, für die Actionäre verloren ist. Dazu kommt das Agio (bis 150!), mit welchem die Actien eingeführt wurden, die Courssteigerung (bis 400!!), die sie in der ersten Zeit erfuhren. Die Baugesellschaften, welche mit Hypotheken belastet sind, müssen alle untergehen, denn in der Regel übersteigen die Hypotheken weit den eigentlichen Werth des „Bauterrains“. Diese Hypotheken befinden sich noch vielfach in den Händen der Gründer, welchen also das gegründete Object wieder anheimfallen wird, und schließlich werden die „Bauländereien“ von den ehemaligen Besitzern, von den Gärtnern und Bauern, um ein Billiges zurückgekauft werden. Binnen wenigen Jahren werden die im zweimeiligen Umkreise von Berlin abgesteckten Straßen und Plätze spurlos verschwunden sein; über die „Kaiserstraße“ wird wieder der Pflug gehen, und auf dem „Bismarck“- oder „Moltke-Platz“ wird der Schäfer wieder seine Hammel weiden. Aber wie viele Ernten sind inzwischen verloren gegangen, welche Kräfte haben seither gefeiert! – Das ist der volkswirthschaftliche Segen der Baugesellschaften und der Gründungen überhaupt.
Der Baustellenwucher hat seine Früchte bereits getragen, und der Häuserschacher wird vielleicht noch schlimmere bescheeren. Während der Schwindelperiode hat in Berlin etwa die Hälfte der Hausbesitzer gewechselt, über 8000. Die neuen Wirthe haben fast alle zu theuer gekauft oder zu theuer gebaut, als daß sie das gegenwärtige Fallen der Miethen verschmerzen könnten. Der hiesige Grundbesitz, schon vor dem Schwindel mit vier Fünftel des Werthes verschuldet, ist jetzt weit höher belastet. Nach den Aufstellungen des Stadtgerichts wurden an Hypotheken mehr eingetragen als gelöscht:
im Jahre 1869 9 Millionen Thaler „ „ 1870 10 „ „ „ „ 1871 20 „ „ „ „ 1872 79 „ „
Diese neuen Hypotheken sind meistens Restkaufgelder, die im Laufe der nächsten Jahre fällig werden, und deshalb prophezeien verschiedene Stimmen einen „Häuserkrach“.
Meine Vaterstadt ist eine Seestadt; sie liegt nicht unmittelbar am Meere, sondern etwa eine Stunde davon, aber ein Flüßchen verbindet sie mit der Rhede, und kleinere Schiffe kommen bis an die Stadt. Das Land umher ist eine gesegnete Scholle, die von tüchtigen Landwirthen kunstgerecht bestellt wird. Von größeren Städten liegt sie ziemlich fernab, und erst spät in neuerer Zeit ist sie durch eine Eisenbahn mit der großen Welt von der Landseite in Verbindung getreten. So trug sie den gemischten Charakter einer See- und Landstadt. Landwirthe, Schiffer und Kaufleute bildeten den Stamm der Bevölkerung, und jeder dieser Stände hatte seinen Stempel in irgend einer Weise der Stadt aufgedrückt. Am schärfsten und
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am meisten in die Augen fallend war aber der Kaufmannsstand, wenigstens in der Physiognomie der Baulichkeiten, ausgeprägt. Fast in jeder Straße gab es ein großes Kaufmannshaus, mit dem Giebel nach der Straße, im Stile der alten Hansestädte.
Ein solches Haus stand auch in der Knopfstraße; es war das einzige dieser Art darin und darum desto auffälliger. Schon als kleines Mädchen betrachtete ich das alte düstere Haus mit Scheu und Interesse. Die schmale Giebelfront zeigte vier Fenster und eine eichene Hausthür mit messingenen Klopfern in Form eines Rosses. Zwei alte Linden, welche alljährlich scharf beschnitten wurden, um die Zimmer nicht ganz zu verdunkeln, beschatteten die Fenster und die steinernen Ruhesitze, welche von der Hausthür bis zu den Lindenstämmen hinliefen. Ein langer Seitenflügel mit sechs bis acht hochgelegenen Fenstern nach der Fährstraße zu wurde von der Morgensonne beschienen. Wie schön blüheten an den beiden ersten dieser Fenster, welche nach der Ecke zu lagen, zu jeder Jahreszeit die herrlichsten Rosen, während hinter den anderen erblindeten Fenstern nur hohe Repositorien, mit Büchern angefüllt, sichtbar waren!
Das Haus gehörte dem Buchhändler Ritius, einem alten hageren Manne von stets tadelloser Toilette, mit glattrasirtem Kinn, weißer Halsbinde und kurzgeschorenem gepudertem Haar, welcher alten Mode er und einige andere hochbejahrte Herren der Stadt noch treu geblieben waren. Selten, vielleicht ein Mal im Jahre, sah man ihn ausgehen. Ein Garten, hinter dem Hause gelegen, diente zu seinen Spaziergängen, die er früh Morgens und spät Abends unternahm. Sonst saß er den ganzen Tag in dem einen Zimmer nach der Hauptstraße an einem Schreibtische, über welchen hinweg er durch ein kleines Fenster nach dem Hausflur jeden in den Buchladen Eintretenden bemerken konnte. Der Buchladen wurde von einem ebenso alten Herrn versehen, der schon seit der Gründung des Geschäfts die Kunden bediente. Nur wenige von diesen hatten den Vorzug, von Herrn Ritius selber nach ihrem Begehr gefragt zu werden, noch seltener kam er hinter seinem Schreibtische hervor.
Von meinem elften Jahre an ging ich täglich an dem Ritius’schen Hause vorbei, bald die eine, bald die andere Straße durchkreuzend, zu der nicht weit davon gelegenen Schule. Alle Schulbücher, welche ich brauchte, besorgte ich mir aus dem Buchladen des Herrn Ritius, und oft bekam ich von meinem Vater Bestellungen für Bücher, welche derselbe für seinen ausgebreiteten Wirkungskreis bedurfte. An heißen Sommertagen ruhte ich gern auf den kühlen Steinsitzen unter den schattigen Linden aus; wenn dieselben blühten und ihren wundervollen feinen Duft ausströmten, wünschte ich oft, dort sitzen bleiben zu können, und empfand nachher den Dunst der Bücherstube um so unangenehmer. Fast jedesmal, wenn ich den dunkeln Hausflur betrat, öffnete Herr Ritius das Fenster, um zu fragen, was ich begehre, und kam dann meistens aus seinem Zimmer, mir das Gewünschte selber zu geben oder auszusuchen, und bald war ich sein Liebling, mit dem er gern ein Viertelstündchen plauderte. Er ging auch wohl auf meine Bitte mit mir vor die Thür in den Schatten der Linden. Wie hübsch wußte der alte Mann auf das harmlose Geplauder des kleinen schwarzlockigen Mädchens einzugehen, das neugierig nach Allem fragte, was ihm hier sonderbar und abweichend erschien! Gewiß habe ich in dem Herzen des alten Mannes oft schmerzliche Saiten berührt, die vielleicht lange nachklangen, doch hinderte ihn dies nicht, mich jedesmal freundlich zu begrüßen, wenn ich wiederkam.
„Warum hast Du keine Frau, Onkel Ritius?“ fragte ich ihn einmal, „und keine Kinder? Dein Haus ist ja groß genug, viel zu groß für Dich und Herrn Schröder. Du kannst glauben, Deine Frau würde Alles hübsch hell und sauber machen, die Fensterscheiben von der alten Trine putzen lassen und weiße Gardinen vor die Fenster hängen – aber was ist Dir, Onkel Ritius? Ich glaube, Du weinst. O, sei mir nicht böse! Sie sind Dir wohl gestorben?“ fragte ich mit richtigem Verständnisse für die Ursache seiner Trauer.
„Jawohl, mein Kind, sie sind mir gestorben. Alles, was ich liebte, ist todt, in wenigen Wochen von schwerer Krankheit dahingerafft.“
„O, nun verstehe ich, warum Dein Haus so öde, so traurig aussieht; nicht einmal zu Pfingsten schmückst Du es mit Maien.“
„Zu Pfingsten schmücke ich stets die Gräber meiner Lieben, und dies ist mein einziger Ausgang im ganzen langen Jahre,“ sagte mit tiefem Seufzer mein alter Freund, „und jedesmal lege ich dann die Rosen, welche Du im Eckzimmer hast blühen sehen, so viel deren da sind, auf die stillen Hügel. Meine Frau liebte sie so sehr, die Rosen, besonders die weißen Theerosen.“
„O, ich liebe sie auch, alle Rosen, alle Blumen.“
„Mögest Du immer nur Freude daran haben und nicht wie ich mit Wehmuth jede neue Knospe sich erschließen sehen! Gott erhalte Dir den fröhlichen Sinn, mein liebes Kind! Du wirst gewiß manche Rose brechen, um Dich zu heitern Festen damit zu schmücken, und wenn Dir einmal solche im frischen Kranze fehlen sollten, so weißt Du, Onkel Ritius hat für seinen Liebling immer einige übrig – wenn es nur nicht zu Pfingsten ist.“
Der alte Herr war immer mild, auch in seiner Trauer noch wohlwollend gegen mich gestimmt. So waren allmählich drei Jahre dahin gegangen, für mich weniger bemerkbar, da ich nach beinahe zurückgelegtem vierzehnten Jahre, noch zart und behende am Körperbaue, dasselbe bald wilde, bald sinnige Kind geblieben war. Die Schularbeiten häuften sich; dazu kamen Musikstunden, und zu meinem Bedauern konnte ich meinen mir so lieb gewordenen Verkehr mit Herrn Ritius nur selten pflegen. Da, einmal nach Pfingsten, sah ich, daß zwei Fenster der Seitenfront geöffnet waren, blank geputzt und Vorhänge davor, die dem Hause sofort einen wohnlichen Charakter aufprägten. Die Repositorien waren entfernt. Die Ballen Bücher hatten ein Zimmer weiter Platz gefunden.
Was war nur das? Das mußte ich wissen. Ich hatte ja einige Musikstücke umzutauschen, und da am Sonnabend Nachmittag keine Schule und mein Musiklehrer erkrankt war, konnte ich ja ein Stündchen meinem alten Freunde zu Liebe verplaudern. Ich glaube gar, ich war neugierig. Kaum hatte die Glocke der Hausthür beim Oeffnen derselben ihren Ton erschallen lassen, da stand Herr Ritius schon von seinem Schreibtische auf; er hatte mich erkannt, und mit einem wirklich sonnigen Gesichte begrüßte er mich, indem er mir die schwere Notenmappe aus der Hand nahm.
Noch ehe ich mich zu einer Frage entschloß und wir Beide den Buchladen betraten, kam auf des alten Herrn Ruf „Arnold!“ ein Jüngling aus dem Nebenzimmer. Der von spärlichem Tageslichte beleuchtete Raum, der durch die alten Linden noch mehr verfinstert wurde und zu seinem steten Bewohner, dem alten Schröder, so gut paßte, schien sich plötzlich zu erhellen. Dieses frische Gesicht mit einem Paar lebendiger Augen, umwallt von blondem Lockenhaare, war mir ganz fremd; das hatte ich noch nicht in meiner Vaterstadt gesehen, wo sich doch sonst alle Leute kannten.
„Komm her, mein Junge, begrüße meine kleine Freundin, die mich oft bedauert, daß ich so allein in der Welt stehe! Ja, ja, mein Töchterchen, das ist eine Ueberraschung! Und auch Du bist gewiß davon überrascht – das sehe ich, denn Du kleines Plappermäulchen hast ja gar keinen Willkomm für meinen Neffen Arnold, den ich als Sohn in mein Haus genommen, und der mir wieder den Anfang einer Familie bilden soll.“
„Sie haben mir ja gar nichts davon gesagt, Herr Ritius; ich war zwar lange nicht hier, aber heute sah ich –“
„Was sahst Du?“ fragte er, indem er mein Kinn in die Höhe hob, und ich fühlte, vor Verlegenheit wie mit Blut übergossen, daß ich meine Neugierde verrathen hatte.
„Daß zwei Fenster nach der Fährstraße so hübsch von außen aussehen.“
„Ja, ja, das hat sie gleich mit ihren Mädchenaugen erspäht. Nun, siehst Du, da wieder ein Sonnenstrahl in mein altes Haus eingekehrt ist, der hoffentlich auch mein altes Herz wieder erwärmen und jung machen wird, da muß Alles in schöner Harmonie sein, wie in der Musik, die Du so sehr liebst. Und nun laß’ es Dir angelegen sein, Arnold, dem kleinen Fräulein immer recht hübsche passende Musikstücke auszusuchen! Du verstehst es besser als ich und Schröder.“
Und der junge Lehrling suchte mir Noten aus, und wir plauderten dabei. Aber es schien mir, als ob er zum Aussuchen viel mehr Zeit gebrauchte, als Herr Ritius und Herr [442] Schröder es thaten, und ich schob es auf die Unbekanntschaft mit dem vorhandenen Vorrath in den Repositorien.
Dann ging ich langsam nach Hause. „Also das,“ sagte ich unterwegs sinnend zu mir selbst, „also das ist ein Sonnenstrahl.“
Der junge Arnold war bald der Liebling Aller, welche den Buchladen des Herrn Ritius besuchten. Man sah nicht mehr die düstere Lage des Zimmers, nicht die altmodische Kleidung des alten Buchhalters. Jedermanns Auge ruhte mit Wohlgefallen auf dem freundlichen jungen Manne in altdeutscher, kleidsamer Tracht, im schwarzen, mit Schnüren besetzten Sammetrocke; schien er doch durch sein goldiges Haar und sein liebenswürdiges Wesen den ganzen Raum zu erleuchten. So ist es mir in späteren Jahren erschienen und vor die Seele getreten; damals empfand ich nur den Zauber des wohlklingenden Organs und den Blick des freundlichen sprechenden Auges. Das mußten auch wohl die meisten meiner Schulgefährtinnen finden; wenn sie sonst nicht gern dort verkehrt hatten, weil Herr Schröder so wortkarg war, so war bald keine einzige, welche den Herrn Arnold nicht gekannt und sein Loblied nicht gesungen hätte.
Nun war er schon drei Viertel Jahr in unseren Mauern. Ein harter Winter, wie wir deren an der nordischen Seeküste kennen, brachte die Freuden der Schlittenbahn über Land und auf dem Eise. Wir wohnten ganz nahe am Flusse, welcher sich eine halbe Meile von der Stadt bis zum Ausflusse in’s Meer erstreckt und die schönste Eisbahn bietet.
An einem klaren schönen Wintertage – es war Sonntag, und meine Eltern waren zur Kirche gegangen – kam der junge Arnold zu uns, um dem Vater eine Bestellung von Herrn Ritius zu überbringen und gleichzeitig an mich die Bitte zu richten, mit ihm auf’s Eis zu gehen, um entweder mit ihm Schlittschuh zu laufen, oder mich von ihm im Schlitten über die Eisfläche schieben zu lassen. Ein Paar nagelneuer Schlittschuhe hingen an seinem Arme, ein Geschenk des Onkels, wie er mir erzählte.
„Wie gern würde ich mit Ihnen Schlittschuh laufen! Es ist heute so wunderschönes Wetter, und gewiß so lustig auf dem Eise, doch geht es leider nicht an. In Abwesenheit der Eltern muß ich das Haus, die kleineren Geschwister und die Dienstboten überwachen, auch nach dem Mittagsessen sehen,“ sagte ich mit Selbstbewußtsein, „und dieses Schwesterchen hier geht nicht von meiner Seite, so lange Mama fort ist. Ja, es ist recht schade – es ist so herrliche Eisbahn.“
Arnold ließ betrübt den Kopf hängen und sagte, daß der Onkel ihn dazu besonders ermuthigt habe.
Eine Rolle, welche er in der Hand hielt, überreichte er mir mit dem Bemerken, es seien die gewünschten Variationen über das Thema „Die letzte Rose“. Freudig ergriff ich die Rolle; indem ich sie auseinander faltete, entfiel ihr eine herrliche weiße Theerose, welche Arnold aufhob und sie mir mit dem Bemerken übergab, daß der Onkel ihm gesagt, ich hätte diese Rosen so gern, und ihm erlaubt habe, dieselbe für mich abzuschneiden.
„O, ich danke Ihnen für diese Aufmerksamkeit. Wie wunderschön ist diese Rose mitten im Winter erblüht!“
„Ich sehe, Sie haben auch schon eine halb erblühte dort am Fenster, so frisch und roth. Es ist wohl eine Monatsrose?“ bemerkte er, sie betrachtend.
„Jawohl,“ erwiderte ich, „ich habe fast das ganze Jahr hindurch frische Rosen. Diese da wird in höchstens einer Stunde ganz aufgeblüht sein; sie ist nicht so gefüllt, wie die herrliche Theerose hier.“
„Da ist noch eine Knospe,“ sagte er, „wenn es helles, freundliches Wetter bleibt, ist auch sie in wenigen Tagen aufgeblüht. Es macht viel Freude, so eine Blume nach der andern kommen zu sehen, nicht wahr?“
Ich nickte bejahend mit dem Kopfe. Die gestörte Eispartie machte mich schweigsam.
„Da werde ich also heute allein auf’s Eis gehen müssen, komme aber hernach noch einmal heran, um die Bestellung von meinem Onkel an Ihren Herrn Vater selber auszurichten und seine Aufträge entgegen zu nehmen.“
Dabei stand er noch immer vor meinem Rosenstocke mit der halb erblühten Rose, richtete sie in die Höhe, roch daran und sah bittend zu mir herüber. Ich glaubte die stumme Bitte zu verstehen, nahm eine Scheere, schnitt die Rose ab und reichte sie ihm.
Er befestigte sie im Knopfloche, und noch heute sehe ich, wie schön sie sich auf dem neuen schwarzen Sammtrocke ausnahm, aus dem, umrahmt vom blendend weißen Umschlagkragen, der jugendlich schöne Kopf so froh und dankbar blickte.
„Aber nun müssen Sie sich beeilen, auf’s Eis zu kommen; wenn Sie zurückkehren, wird die Rose im Knopfloche wohl erfroren sein,“ sagte ich lachend.
„O, die Sonne scheint warm und hell, und im Laufen gegen den Wind werde ich sie mit der Hand schützen.“ Damit ging er. Ich begleitete ihn bis zur Hausthür und sah ihm so lange nach, bis er hinter dem Thorbogen verschwunden war, wo es abwärts auf den Fluß ging.
Ich setzte mich dann eine kurze Zeit in des Vaters Lehnstuhl und drückte die Hand vor die Augen; ein seltsames Gefühl kam über mich. War der Sonnenstrahl nicht allein in das alte Haus, war er auch in mein junges Herz eingezogen?
Die Glocken läuten wiederum; die Kirche ist aus. Einzelne heimkehrende Kirchgängen kommen vorbei und grüßen mich durch das Fenster. Heller scheint die Sonne; sie steht fast im Mittag. Von den niedrigen Dächern, die mit langen Eiszapfen geziert sind, tropft es hörbar. Ich war schon einige Male hinausgegangen, nach rechts zu schauen, ob die Eltern noch nicht aus der Kirche kämen, doch auch nach links; von dort mußte Arnold kommen. „Die Eltern machen wohl noch einen Besuch, und er ist gewiß bis nach Wyk gelaufen und hat Bekannte gefunden.“
Ich kehre in’s Zimmer zurück, öffne das Piano und versuche, die eben erhaltenen Variationen zu spielen. Nur das einfache Thema gelingt mir; zum Weiterspielen hatte ich heute nicht Zeit, nicht Ruhe; die Eltern mußten ja auch bald nach Hause kommen.
Wie die Knaben laufen, nach dem Eise zu kommen, hinunter an’s Bollwerk! Das muß ich sehen. Hinaus vor die Thür! Viele Menschen stehen da am Thore – jetzt theilt sich der Knäuel. Die Menge weicht zurück, um einen freien Durchgang zu gestatten. Zwei starke Männer, der Kleidung nach Fischer, kommen mit einer Tragbahre. Näher rückt der Zug. Die wachsende Menge folgt. „Es ist Jemand ertrunken,“ hört man jetzt rufen. Alles sieht hinaus, kommt heraus; ich war ja schon da. Jetzt sehe ich bei einem frei gewordenen Durchblicke zuerst an den Füßen des auf der Bahre Liegenden blanke Schlittschuhe, welche hell und stechend in der Sonne glänzen. Mir stockt das Blut – ich fliege heran; die Augen treten mir fast aus dem Kopfe. Der Körper des Ertrunkenen ist mit einem Fischerrocke zugedeckt.
„Wen habt Ihr da? Wer ist ertrunken, Vater Rüterbusch?“ Es ist ja unser Nachbar, der alte Fischer, der voran die Tragbahre trägt. Sie setzen sie nieder, um auszuruhen.
„Ja, schade um das schöne, junge Blut!“
„Mein Gott! es ist doch nicht – –?“ und die Menge durchbrechend, entferne ich mit hastiger Hand die deckende Hülle – kalt und starr liegt das noch soeben blühende Leben vor mir; die blonden Locken hängen in langen Strähnen herab. Dem alten gutmüthigen Fischer rinnen die Thränen über die rauhen Backen.
„O, mein liebes Fräulein Dortchen! Ich sah ihn noch eben, wie er so stolz daher segelte; er schwenkte sich rechts; er schwenkte sich links in großen Bogen. Die Sonne schien so hell auf ihn herab, und so recht stolz und selig stürmte er vorwärts. Aber die Sonne war für ihn zu hell; sie blendete ihn. Da unten bei der Schlemmkreidefabrik sind Wacken in’s Eis gehauen, und obgleich Pfähle mit Strohbündeln als Warnungszeichen daneben stehen – er hat nichts gesehen und mit voller Fahrt ging’s hinein, schneller als man’s denken kann. Hier, mit dem Bootshaken haben wir ihn nach langem Suchen gefaßt.“
Eine welke, halb entblätterte Rose steckte noch in seinem Knopfloche. Der alte Fischer wollte sie entfernen. „O, laßt sie ihm!“ rief ich, „rührt sie nicht an!“ Und heiß fiel aus meinem Auge eine Thräne auf die Blumenleiche.
In dem hellen sonnigen Zimmer nach der Fährstraße stand der Sarg aufgebahrt. In demselben Anzuge, worin er seinen Tod gefunden, lag der liebe Jüngling da – die entblätterte
[443] Rose noch an derselben Stelle; man hatte sie ihm gelassen. Wie traurig sah sie aus!
Die letzte Rose an meinem Rosenstock war erblüht. Mit thränenden Augen schnitt ich sie ab und brachte sie ihm, dessen herziger Blick noch vor wenigen Tagen darauf geruht und ihr Erschließen vorausgesagt. In dem Todtenzimmer war es von Theilnehmenden voll; alle jungen Mädchen der Stadt gingen in das Trauerhaus, ihn noch einmal zu sehen, Kränze und Blumen auf sein Todtenkissen zu legen und noch einen Blick, den letzten, auf das stille unveränderte Antlitz zu werfen. Ich konnte nicht mit den Anderen fortgehen. Zu ihm, dem verlassenen Greise, meinem alten Freunde, zog es mich.
Nebenan, im dunklen Zimmer, saß er einsam und still, nicht wie sonst hinausschauend durch das kleine Fenster, auf dem alten Lehnstuhl am Ofen zusammengesunken, die Hände über das Knie gefaltet und laut stöhnend, die trockenen brennenden Augen auf einen Punkt geheftet.
Ich kniete zu ihm hin: „Onkel Ritius!“ rief ich, legte meinen Kopf auf seine Hände, und laut aufweinend benetzte ich sie mit meinen Thränen.
Das alte Haus ward finsterer als vorher, das sonnige Zimmer durch düstere Läden dicht verschlossen; Staub und Spinnengewebe verdunkelten die auf so kurze Zeit hell gewordenen Fenster. Die Linden, die sonst beschnitten wurden, wuchsen wie sie wollten, streckten ihre Zweige gen Himmel und drängten sich in die Giebelluken hinein; die Blumen im Eckzimmer vertrockneten. Arnold hatte die letzte frische Rose für mich von ihren Zweigen gepflückt.
Wo war der Sonnenstrahl geblieben? Fort aus dem alten Hause, fort aus dem jungen Herzen.
Vom Grabe Mörike’s. In Stuttgart am 6. Juni war’s, um die Abendzeit. In Sonntagsgewändern wogte eine fröhliche Menge unter den frischen grünen Bäumen des Parkes, und seitwärts von demselben, auf dem schattenlosen, durch wenige hervorragende Denkmäler geschmückten Pragfriedhof hatte sich eine stille Gemeinde um ein offenes Grab versammelt. Voller Sonnenschein umfloß es; es war, als solle der, welchen hier die letzte Ruhestätte erwartete, nicht in das Dunkel, sondern in’s Licht gebettet werden – als wolle auch die Natur ihm ein würdiges Todtenopfer bringen. Und wohl hatte Eduard Mörike, dessen von Lorbeerkränzen überdeckten Sarg man langsam den Weg heraustrug, ein solches verdient als Sänger der Natur, deren geheimnißvolles Treiben er belauscht und mit dem Herzen erfaßt hatte.
Sie Alle, die ihm jetzt die letzte Ehre erwiesen, hatten sich an seinen lieblichen Liedern und sinnigen Märchen erfreut und klagten nun um sein Scheiden; Alle waren sie gekommen, die auf ihn als einen der Ihren blicken durften und die ihn lieb gehabt, sei es als Mensch oder als Dichter. Zunächst am Grabe standen, die am meisten an ihm verlieren, der Aesthetiker Vischer und Dr. Notter, der bekannte Dante-Uebersetzer, die Freunde seiner Jugend und seines Alters, stete treue Gesinnungsgenossen. Ihnen schlossen sich an Freiligrath, Karl Gerok, der geistliche Sänger und ehemalige Berufsgenosse des Geschiedenen, J. G. Fischer, Georg Scherer, Ludwig Pfau, Karl Schönhardt, die schwäbischen Dichter der Jetztzeit, die Schriftsteller von Walesrode und Arnold Wellmer, der Kunsthistoriker Professor Lübke, Hofrath Hemsen und viele Andere.
Der Geistliche sprach, wie es gewünscht worden, nur ein Gebet, dann trat Professor Vischer heran, dem Freunde den letzten Gruß hinunter zu rufen.
„Lebe wohl – Du fühlst es nicht,
Was es heißt, dies Wort der Schmerzen,“
hatte der verstummte Mund gesungen – tiefste Bewegung klang aus der Stimme des Redenden, der Mörike zuerst so treffend wie schön als Dichter charakterisirte:
„Hinabgesunken, theurer Freund, ist Dein Irdisches, und Du bist nun ganz Geist geworden, schwebst unkörperlich weithin in den Herzen und Geistern der Menschen. Nicht so weit wirst Du strahlen, wie jene größten Geister, die, mit dem vollen Maß der schaffenden Kräfte begabt, die Welt bezaubern; nicht so weit wirst Du glänzen, wie jene Talente, die es der Menge recht machen, weil sie in deren gewöhnlichen Darstellungen bleiben, sie nur mit farbreichen duftlosen Blumen ausschmückend. Du bist nicht berühmt und wirst es nicht sein bei Denen, die es nicht ahnen, welch ein Wesen es ist, das Dir bei Deiner Geburt die zarten Geisterhände auf Stirn und Lippen legte. Du wirst nicht berühmt sein bei Jenen, die es nicht fassen, was der Dichter sehnt und meint, wenn er aus Licht und Luft lauter magische Fäden spinnt und Herz und Welt, Geistesleben und Erde, Sonne, Mond, leuchtende Bäume und rauschende Wasser in ein Ganzes geheimnißvoll zusammenschlingt, nicht bei Jenen, die es nicht fassen, wie es kommt, daß der Dichter nicht von dieser Welt ist, daß er mitten in diese unsere Welt uns eine zweite, eine Welt von Wundern hineinstellt. Aber ist Deine Gemeinde nur im Vergleich mit der Menge klein, es ist eine Gemeinde, die sich labt und erquickt an Deinem wunderbaren seligen Treiben, es ist eine Gemeinde, die den Dichter nicht nach rednerischen Worten schätzt, sondern den Wohllaut trinkt, der aus ursprünglichem Naturgefühl der Sprache quillt.“
Aber auch von dem Menschen, dem schlichten, anspruchslosen und von seinem weichen Gemüthe sprach Professor Vischer. „Es ist ein guter Mensch gestorben –“ wer hätte nicht in der Runde mit eingestimmt? Treu und ehrlich, warm und hingebend, so wurde er als Freund vom Freunde geschildert. „Mein letztes Gespräch mit ihm,“ so fuhr der Redner fort, „galt Jenen, die das Dasein für schlecht und für das Beste das Nichts halten. Er nickte und blickte freundlich, als ich sagte, wir machten ja die Welt, falls sie schlecht wäre, noch schlechter, wenn wir in uns und Andern das große, wahre Gut der schönen Täuschung über die Uebel des Daseins und die Quelle aller wahren Freude, aller Lebenstüchtigkeit zerstörten, den Glauben an ein ewig Festes, an ein Bleibendes in den Wogen der Zeit, das Wesen hat, weil es unsichtbar ist. Und so freundlich blickend und nickend bleibt er mir nun in’s Gedächtniß geschrieben.“
Die ergreifende Rede schloß mit dem Citate:
„Denn hinter ihm, im wesenlosen Scheine
Lag Alles, was uns bändigt, das Gemeine.“
Im Namen der Stuttgarter Künstlergesellschaft „Bergwerk“ legte Karl Schönhardt einen Lorbeerkranz am Grabe „des Ehrenknappen, dessen stilles Grubenlicht so schön gestrahlt“, nieder, und G. H. Fischer brachte als „Jünger dem Meister“ einen Palmenzweig und warmempfundene Verse.
Dann fielen die ersten Händevoll Erde auf den Sarg, und schweigend zerstreute sich die Schaar – das war Eduard Mörike’s prunklose, aber tiefergreifende Leichenfeier.
„Keinen Lorbeer will ich, die kalte Stirne zu schmücken,
Laß mich leben und gieb fröhliche Blumen zum Strauß!“
hatte der Heimgegangene einstmals die Muse angefleht, und in der That, der volle Lorbeer senkte sich erst auf sein Grab, und richtig und ganz wird ihn die Nachwelt erkennen und schätzen – aber auch der „fröhlichen Blumen“ hat ihm das Leben nicht zu viel gebracht, wenn auch die Dauer desselben eine lange war. Eine wankende Gesundheit hat ihn auf manchen Lebensgenuß verzichten lassen.
Am 8. September 1804 ward er zu Ludwigsburg geboren; er erhielt seine Schulbildung auf dem Stuttgarter Gymnasium, wurde für das theologische Studium bestimmt und besuchte das Seminar zu Urach. Hier, an der Pforte der Rauhen Alb, in der wundervoll romantischen Umgebung, mochte sich seine Naturliebe voll entwickeln; auf den schattigen Pfaden zur Höhe, zwischen den Ruinen der alten Burg, am plätschernden Wasserfalle im Thale mochten die ersten Lieder in seiner Brust erklingen.
Mit achtzehn Jahren kam er nach Tübingen, wo er mit Strauß, Vischer und Bauer Freundschaft schloß. Nach Vollendung seiner Universitätsstudien wanderte er als Pfarrgehülfe von einem Dörflein zum andern, bis ihm 1834 die Pfarrstelle zu Cleversulzbach verliehen wurde. Während an seine Freunde theils der Kampf und die Bewegung herantrat, theils die Lust, zu sehen und zu hören, wie es draußen sei, lebte er in stiller Beschaulichkeit unter dem Dache des bescheidenen Hauses, wo einst Schiller’s Schwester als Pfarrerin gewaltet, freute sich der Blumen in dem kleinen Garten, durchstreifte die nahen Wälder oder schrieb unter der „Dichterbuche“ die Lieder nieder, welche in seinem Innern erblühten. Was ihn im engsten Kreise umgab, wurde Anlaß zu Poesien: jene Buche, in deren Rinde noch heute Hölty’s und anderer Dichter Namen zu lesen sind, der Thurmhahn auf dem Kirchendache, jeder Waldgang, ja, seine Berufsgeschäfte sogar, wie aus der „Pastoralerfahrung“ und der „Trauung“ hervorgeht. Das, was in der weiten Welt vorging, lag seiner Muse fern, nur in die Vergangenheit griff er zurück und schuf gelungene Uebersetzungen von Anakreon und Theokrit.
Die Einsamkeit des kleinen Pfarrhauses theilten bis zu seiner Vermählung die Mutter und Schwester Clara, welch Letztere er häufig in seinen Liedern erwähnt und die ihm lebenslang das wärmste und vollste Verständniß entgegen gebracht. Die Mutter bettete er während seines Dortseins an die Seite von Schiller’s Mutter.
Wie hoch er sie verehrt, spricht sich in den kurzen Versen aus:
„Siehe, von alle den Liedern nicht Eines gilt Dir, o Mutter,
Dich zu preisen, o glaub’s, bin ich zu arm und zu reich.
Ein noch ungesungenes Lied ruhst Du mir im Busen,
Keinem vernehmbar sonst, mich nur zu trösten bestimmt,
Wenn sich das Herz unmuthig der Welt abwendet und einsam
Seines himmlischen Theils bleibenden Frieden bedenkt.“
Während seines Aufenthaltes in Cleversulzbach verkehrte er viel mit Justinus Kerner in Weinsberg und Ritter, der damals Pfarrer in der Nähe war, in beiden verwandte Seelen findend. Seine Gesundheit gestattete ihm jedoch die Ausübung seines Amtes nicht auf die Dauer; er gab seine Stellung auf und siedelte nach Mergentheim, später nach Stuttgart über, so oft er frei von körperlichen Schmerzen war, sich mit dichterischen Arbeiten befassend.
Es sind nicht der Bände viele, die er mit Poesien und Erzählungen gefüllt, aber was er geschaffen, verdient einen Ehrenplatz in der deutschen Literatur; manche seiner Lieder stehen den lyrischen Gedichten Goethe’s am nächsten. Seine Novelle „Maler Nolten“ erschien 1832, die gesammelten Gedichte 1838, die „Idylle am Bodensee“, das „Stuttgarter [444] Hutzelmännlein“, „Mozart auf der Reise nach Prag“, „Vier Erzählungen“ folgten im Laufe der Jahre. So abgeneigt im großen Ganzen heute die Menge den Märchen ist, ich glaube, der Nüchternste aus ihr könnte das „Hutzelmännlein“ nicht lesen, ohne von dem Zauber seiner Poesie völlig umfangen zu werden. Er selber ruft einem kritisirenden Freunde zu:
„Die Märchen sind halt Nürnberger Waar’,
Wenn der Mond Nachts in die Boutiquen scheint:
Drum nicht so strenge, lieber Freund,
Weihnachten ist nur einmal im Jahr.“
Noch einmal versuchte Eduard Mörike einen Lehrstuhl der Literatur am Katharinenstift zu Stuttgart einzunehmen, auch das gestattete ihm sein leidender Zustand nicht lange; 1866 trat er ganz in’s Privatleben zurück. Im Verkehr mit seinen Freunden suchte er Freude und Erholung; er war der liebenswürdigste Gesellschafter; besonders gern und mit Meisterschaft las er dramatische Sachen vor und würzte häufig die Unterhaltung mit seinem köstlichen Humor. Ein jedes seiner Worte war von Bedeutung und des Festhaltens werth, aber nie war er anspruchsvoll, und jede Selbstüberschätzung lag ihm fern.
Schwester Clara, die unermüdlich treue Pflegerin, die nie von seiner Seite wich, erzählte mir, daß er seit zwei Jahren mit der Umarbeitung des „Maler Nolten“ beschäftigt war. Sehr oft wurde er in seiner Arbeitszeit von Besuchen unterbrochen und ihm so manche Stunde geraubt, in der er sich frisch und zum Schaffen angeregt fühlte. Aber nie konnte ihn die sorgende Schwester bewegen, sich mit seiner Thätigkeit entschuldigen zu lassen, das schien ihm zu anspruchsvoll. Diese Arbeit ist fast vollendet, und mit ihr werden wohl auch noch andere Sachen aus seinem Nachlasse der Oeffentlichkeit übergeben werden. Fast den ganzen Winter kränkelte er schon; früher war ihm der Gedanke, das Ende herannahen zu fühlen und den Schmerz der Seinigen sehen zu müssen, furchtbar gewesen, obwohl er den Tod selber als solchen nicht fürchtete. In der langen Krankheitszeit sah er der Scheidestunde immer fester in’s Auge, immer ruhiger. „Clärle,“ flüsterte er einmal Nachts der an seinem Bette Wachenden zu, „weißt Du, was der Uhland vor seinem Tode seiner Frau gesagt? ‚Emilie, wir müssen uns fügen!‘“ Und ohne weiteren Zusatz verstand das treue Schwesterherz die Bedeutung dieser Worte.
Eine zu seinen übrigen Leiden hinzutretende Wassersucht brachte ihn schnell dem Grabe näher; er litt furchtbar, aber gefaßt.
„Das ist der der Todeskuß,“ sagte er abschiednehmend zu den Seinen, und bald darauf, am Morgen des 4. Juni hatte er die Augen auch zum Todesschlafe geschlossen. Er hinterläßt die Gattin, zwei Töchter und die treue Schwester. Schätze hat er weder aus dem Erlöse seiner Werke noch seiner Berufsthätigkeit sammeln können, und seine Ansprüche gingen auch nie über das Maß des Nothwendigen hinaus. Kurz vor seinem Tode hatte ihm der König von Sachsen die Zusicherung einer Pension geben lassen, auch die Schillerstiftung hatte die Summe, welche er jährlich durch sie empfing, erhöht – er hat Beides nicht mehr genossen.
Ein Lieblingsgedanke der Schwester war der, ihn, wie er oft gewünscht, auf einem ländlichen Friedhofe ruhen zu lassen – Cleversulzbachs stiller Todtenort wäre ihr des Geschiedenen am würdigsten erschienen. Aber die bei jedem Todesfalle über die Angehörigen hereinbrechende Hülflosigkeit und andere Schwierigkeiten hatten den stillen Wunsch nicht laut werden lassen.
Eine besondere Freude hatte ihm, nach der Schwester Erzählung, die Zeichnung der Gräber von Schiller’s und von seiner eigenen Mutter in der Gartenlaube (Nr. 50 des vorigen Jahrganges) und die Erwähnung, daß er der Finder und Hüter des erstern gewesen, gemacht. Damals mochte er noch nicht ahnen, wie bald man auch ihm sein letztes Bett höhlen werde – und doch war es die Erfüllung des von ihm selber gesungenen Liedes vom Tännlein und Rosenstrauch, die wer weiß wo im Walde und in welchem Garten grünen und blühen:
„Sie sind erlesen schon,
Denk’ es, o Seele,
Auf Deinem Grab zu wurzeln
Und zu wachsen.“
Hübsch wäre es gewesen, man hätte dem Dichter der Dorfidylle ein Grab neben den beiden Dichtermüttern geben können; die Buche seines Gartens hätte leise zu ihm herüber gerauscht, der Wind auch wohl im Herbste ein dürres Blatt von ihr nach dem Hügel getragen. Aber auch dort, wo er schlummert, gleiten die Strahlen der Sonne über sein Bett, werden Blumen es überwachsen und wird der Morgenthau in ihren Kelchen wie Thränen funkeln – wer weiß, ob sich in der Nacht, nachdem sich über ihm die Erde geschlossen, nicht begab, was er einstmals „um Mitternacht“ geschaut:
„Gelassen stieg die Nacht an’s Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die gold’ne Wage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
Sie singen der Mutter, der Nacht, in’s Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.“
Hund und Katze. Im vorigen Jahre erhielt ich ein Hündchen männlichen Geschlechts, von einer den Wachtelhunden verwandten Bastardart, welches im Hause aufgezogen wurde. Als der Winter herannahte, fand sich dazu eine junge bereits erwachsene Katze ein, welche, in einem Winkel des benachbarten Hofes geboren, schon lange Zeit in der Nähe des Hauses sich herrenlos umhergetrieben hatte. Anfangs ungewöhnlich scheu und wild, nahm sie später, vom Hunger getrieben, die hingeworfenen Brocken an. Die rauhen Herbststürme trieben sie bald in Haus und Küche. Die ihr gebotene Gastfreundschaft vergalt sie durch zuvorkommendes Betragen gegen den kleineren Hund, der sie schließlich in seinen Korb mit aufnahm. Von diesem Augenblick an lebten beide hier in der zärtlichsten Gemeinschaft, schliefen, fraßen und spielten mit einander, und die Katze hatte sich auf diese Weise, als Spielkamerad des Hündchens, das Recht der Hausgenossenschaft erobert. Die Freundschaft erlitt dadurch keinen Abbruch, daß der Hund, als er ausgewachsen war, ungefähr die Größe der Katze erreichte, und ging zuletzt so weit, daß beide Thiere gegenseitig Eigenschaften von einander annahmen. Die ersten Anfangsgründe hündischer Bildung: das Aufwarten oder „Schönmachen“ erlernte die Katze, ohne jeden Unterricht, schneller als der Hund. Wenn sie bitten will, setzt sie sich, unaufgefordert, auf den Hinterbeinen kerzengerade in die Höhe. Der Hund dagegen begann sich nach Katzenart zu waschen, doch hat er diesen Trieb zur Reinlichkeit wieder verlernt, nachdem er die Erfahrung gemacht, daß seine Wäsche in eindringlicherer Weise, auch wider seinen Willen, von stärkerer Macht besorgt wurde. In ihren Spielen war die Katze jedoch ohne Ausnahme der nachgiebige Theil. Sie ließ sich vom Hunde am Fell durch den ganzen Hausflur zerren, so daß sie dabei häufig vor Schmerz schrie, ohne sich anders, als mit schwachen Pfotenhieben, bei eingezogenen Krallen, zur Wehre zu setzen. Offenbar machte ihr das Spiel Vergnügen, denn sie suchte den Hund immer wieder von Neuem auf und beide kugelten sich dann fröhlich über einander. Selbst der Ernst des Katzenlebens vermochte diese Eintracht nicht zu stören.
Im Frühjahre fanden sich Anzeichen, welche junge Familie in Aussicht stellten. Die Katze ließ sich seltener sehen, und bald entdeckte man auf dem Boden eine mit Stroh gefüllte Kiste, welche sie sich sorglich als Wochenbett zugerichtet hatte. Ich war begierig zu sehen, ob die innige Freundschaft beider Thiere unter so erschwerenden Umständen sich bewähren würde, als eines Tages sich im Stroh der Kiste ein lebendiges blindes Kätzchen, neben einem todten, bei der jungen Mutter vorfand. Aber was geschah? Die Katze, welche zum Fressen vom Boden herabgekommen war, suchte ihren Freund auf, und es war deutlich zu ersehen, daß sie sich bemühte, ihn die Treppe hinauf zu locken. Sie blieb von Zeit zu Zeit stehen, ging ihm, wenn er nicht gleich folgte, wieder entgegen und führte ihn endlich zu ihrer Kiste, um ihm das junge Kätzchen zu zeigen. Am nächsten Tage fand ich alle drei, die Mutter, das säugende blinde Kätzchen und den Hund, einträchtig im Stroh liegend und Hund und Katze sich gegenseitig leckend. Seitdem werden die Spiele zu Dreien fortgeführt. Die kleine Katze, welche jetzt schon laufen kann, bildet dabei den Gegenstand gemeinschaftlicher Zuneigung, und nicht ein einziges Mal ist beobachtet worden, daß diese Spiele in ernstliche Streitigkeiten ausgeartet wären, obgleich der kleine Hund das Kätzchen mitunter so gewaltsam behandelt, daß es laut schreit.
Unsere Hausthiere haben für gute Behandlung und Wohlthaten, die ihnen erwiesen werden, Sinn genug, um Liebe und Vertrauen für ihre lebendige Umgebung zu gewinnen. Daß diese Gefühle so weit gehen, ihnen den natürlichen Trieb, ihre Jungen zu schützen, unterzuordnen, ist freilich selten, aber ein Beweis dafür, in welchem hohen Grade das Geistesleben der Thiere gesteigert werden kann, wenn der Mensch sie zu sich heranzieht, statt, wie es leider so oft der Fall ist, den Keim der in ihnen ruhenden guten und liebenswürdigen Eigenschaften durch rohe und abstoßende Behandlung zu vernichten.
K. in Fth. In Zürich existirt, nachdem die Aussicht vom Hôtel Bauer vollständig zugewachsen ist, überhaupt nur noch ein Hôtel, von dem aus man den ganzen See überblicken kann, Hôtel Bellevue. Die Lage des Hauses hart am See und die Aussichten von den Balcons über den Seespiegel hinweg nach den Alpen sind entzückend schön.
Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die kommende Nummer beginnt mit einer Geschichte aus dem baierischen Oberlande von dem beliebten Erzähler
Herman Schmid, „Hund und Katz’“,
der, wie wir mit Bestimmtheit hoffen dürfen, noch in diesem Quartal die
„Namenlose Geschichte“ von E. Marlitt
folgen wird.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennige erhöht. (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennige anstatt 1 Mark 60 Pfennige). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.
- ↑ Wir entnehmen diese Daten unter Anderem dem soeben erschienenen 4. Theile von „Salings’s Börsenpapiere“, 4. Auflage, bearbeitet von C. A. Frenzel, einem Handbuche, das über Industrie-Gründungen, und namentlich über die Baugesellschaften sehr interessante Aufschlüsse giebt.