Die Gartenlaube (1874)/Heft 22
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No. 22. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Es ging dem Frühling entgegen. Draußen im Forste keimte es schon lustig auf, und ein duftiger Harzgeruch strich mit dem Winde durch die Tannenreihen, um die sich das Unterholz gehorsam gruppirte, wie geneigt vor der Majestät der Kraft und Größe. So war es aber nur am Tage. Bei Nacht spukte noch der Winter mit Schneewehen oder kaltem Regengeriesel und rächte sich für die lauen Tageslüfte und die Sonnenstrahlen, die hurtigen Spinnen gleich in den Tannenalleen umhergehuscht waren, ein Netz von Licht auf dem Moosboden webend. Stürmisch und fröstelnd war es auch in der Nacht, in der diese Geschichte beginnt.
Um das Forsthaus, das eine Viertelstunde von dem Dorfe Ebensee sich so reinlich und weiß hineingebettet hatte in den grünen Forst, wie eine Glasperle in das Moos, pfiff der Wind, und die Schatten der Hasenußstauden, die das weiße Gebäude umkränzten, nickten gespensterhaft hinein in die braungetäfelte Stube, in der die Lampe so friedlich brannte und der Ofen so freundliche Wärme spendete.
Der Förster Waldraff war drüben in Ebensee in der „Blauen Ente“ und trank seinen Abendschoppen. In der braunen Stube waren nur seine beiden Kinder Ellen und Felix. Der kleine, etwa achtjährige Felix, lag auf dem Sopha und zog das Deckbett, das ihm Ellen gebracht, wie frierend über sich her. Er fieberte, und sein hübsches, kleines Gesicht brannte, während die Glieder froren. Der kleine, eigensinnige Knirps wollte nicht zu Bette, bis Papa käme, obwohl ihm Schwester Ellen aus mehr als zwanzig Gründen, die sie an den schlanken Fingern abzählte, die Nothwendigkeit des Schlafes demonstrirte.
Ellen war etwa zwanzig Jahre alt, hoch und schlank, biegsam wie eine Weide und sanft wie eine Taube; das hörte man schon an der Stimme, die so süß und beschwichtigend reden konnte. Ihr Haar war blond und ihr Auge blauschwarz, wie die Einbeere. Es lag viel Seele darin, und heute war es wie feucht verklärt, als habe sie einen Kummer und möchte lieber weinen als lachen. Sie setzte sich jetzt an ein kleines Piano, das vor dem Spiegel stand, von dem zwei riesige Hirschgeweihe herabdrohten, und sang mit ihrer zarten Altstimme zu dem sanften Tone des Instrumentes ein altes Schlummerliedchen und wiederholte mit eindringlich mahnender Stimme:
„Schlaf, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist du,
Schließe die blauen Guckäugelein zu!“
Aber die blauen Guckäugelein wollten sich eben nicht schließen, obwohl Ellen jetzt mit ihrer feinen weißem Hand darüber hinstrich und eine ihrer schweren Flechten, die sich gelöst, wie ein Windhauch die heißen Wangen des Kindes kühlte.
Auf einmal sagte das Mädchen, ganz in sich verloren, indem ihre schönen Augen das Fenster suchten:
„Wenn nur Felix nicht kommt. Es ist gar so stürmisch.“
„Ich bin ja schon da, lieb Schwesterchen,“ sagte der Kleine erstaunt. „Träumst Du? Sieh, wie die Haselstauden hereinnicken! Das ist schaurig, und – hu, ein Geist!“ schrie er auf einmal auf und preßte zitternd die Hand der Schwester, während seine glühenden Augen entsetzt an dem Fenster hingen, um das die Haselstauden wogten.
„Ein Geist?“ fragte Ellen zitternd, und suchte verwirrt den Boden mit den schönen Augen. „Du phantasirst, Felix. Schlafe doch, bis Papa kommt!“
„Ich sag’ Dir, ein Geist,“ behauptete der Kleine fest, „ich habe ihn deutlich gesehen; er hat sein Gesicht ganz an das Fenster gedrückt, und aus dem Gesichte sahen zwei große glühende Augen schrecklich nach Dir her.“
„Nach mir?“ forschte Ellen.
„Nach Dir – gieb Acht, er kommt noch einmal. Du hast gewiß noch nicht zu Nacht gebetet. Wenn er Dir nur nichts thut! O, er ist so schrecklich und hat einen so langen Bart.“ Und der Kleine spannte seine Arme aus, so weit er konnte.
Ellen mußte lächeln.
„Geister haben wohl keinen Bart,“ meinte sie. „Du hast jedenfalls geträumt. Schlafe jetzt – dann paßt das Träumen.“
Und der Knabe schloß wirklich die Augen und athmete bald tief und schwer. Er schlief.
Ellen schlich nun leise an’s Fenster. Sie schien keine Gespensterfurcht zu kennen, denn sie öffnete es, trotz des kalten Luftzuges, der straußfröhlich seinen Kampf mit dem Lampenlichte begann und daran zerrte, daß es ängstlich zitterte. Es war ja so schwach.
Das Mädchen hatte freilich nicht bemerkt, daß der kalte Luftzug auch den Knaben geweckt hatte, der nun mit weit offenen Augen nach dem Fenster starrte und während der folgenden Scene still und wie gebannt von Entsetzen verharrte. Und es war eigentlich gar nicht entsetzlich, was sich dort am Fenster begab. Aus den Haselstauden trat eine dunkle Gestalt und näherte sich schnell dem Fenster. Der Knabe sah nur einen Augenblick den langen Bart – es war also der Geist.
Der Geist aber faßte nach der Hand Ellen’s und fing an, sie heftig zu küssen. Dann, als er die weichen Haare an seiner [348] Wange fühlte, suchte er nach den frischen Lippen und trank sich dort fest wie ein stiller Zecher. Und Ellen fürchtete sich gar nicht, was dem Knaben schrecklich vorkam. Ja, sie begann sogar mit dem Geiste zu reden.
„Wie kalt Du bist,“ hörte der kleine Kranke sie sagen, „und bei diesem Wetter kommst Du aus dem Dorfe zu mir heraus, und es ist doch schon mehr als elf Uhr.“
„Die Geisterstunde,“ murmelte der kleine Felix, „er wird vom Dorfkirchhofe kommen. O Gott!“
„Alles um Dich, geliebte Ellen,“ sagte der Geist mit dem langen Barte. „Aber darf ich nicht ein wenig hinein in die warme Stube? Mich friert; nur meine Lippen sind warm von Deinen Küssen.“
„Bst!“ warnte Ellen, „der Kleine liegt dort auf dem Sopha; ich habe ihn nicht zu Bett bringen können, aber gottlob, er schläft wenigstens und ich kann doch wieder einmal eine Minute bei Dir sein, lieber Felix, eine Minute nur, denn Papa wird bald kommen.“
„O, er sitzt noch fest in der ‚Blauen Ente‘; ich bin eben erst noch dort gewesen,“ sagte heiter der Geist, der Felix hieß.
„Er ist also unsichtbar,“ calculirte der Knabe, „sonst müßte man ihn in der ‚Blauen Ente‘ gesehen haben. Und Felix heißt er – das ist schrecklich.“ Er schloß die Augen und zog die Decke über die Ohren, um nichts mehr zu hören.
„Es kann nicht gut enden, Felix,“ sagte Ellen, „wenn der Vater von unserer Liebe erfährt. Du bist nur ein armer Unterlehrer, und er ist so stolz und hat mich, wie Du weißt, einem Andern versprochen; sein Wort hält er, und wenn er mehr als ein Herz damit bräche.“
„Wir sind jung, Ellen, und können warten,“ erwiderte der Geist leichthin. „Wenn er sieht, daß Du lieber eine alte Jungfer wirst, als daß Du Dein Herz um Geld verkaufst, wird er nachgeben. Und noch etwas – der Schuldienst in Ebensee ist vacant, weil der alte Lehrer sich pensioniren läßt; ich werde um ihn anhalten.“
„Das wäre etwas, aber nicht viel,“ war Ellen’ s Antwort. „Und dann ist es auch so ungewiß. Der alte Baron Bisam hat das Patronatsrecht, und der ist mehr als kindisch, denn er mag fast hundert Jahre alt sein. Er lebt in nichts als in seiner Münzsammlung, und ich glaube, wer ihm eine alte Münze bringt, die er noch nicht hat, der erhält den Dienst –“
„Und wenn er Bileam’s Esel wäre,“ meinte der Geist, der um einen Schuldienst anhalten wollte, „immerhin! Ich werde es thun; ich verlasse mich auf meinen Mutterwitz, und mit dem alten Herrn wird sich auch reden lassen.“
„Etwas Gutes mag es freilich haben,“ meinte Ellen, „wenn Du den Dienst erhältst; man kann Dich dann doch nicht nach Belieben versetzen, und Du kannst bei mir bleiben.“ Sie preßte den Geist fest an sich und drückte ihr Gesichtchen in den langen schwarzen Bart. Es war ja so kühl draußen.
„Ja – kommt Zeit, kommt Rath,“ erwiderte mit der Logik der Liebe der Geist. „Noch etwas jetzt, Ellen. Sehen wir uns bald wieder in der alten Waldkirche drüben?“
„Bald, aber wann, weiß ich noch nicht,“ gab das Mädchen zurück, „Du wirst es an der Zahl der Rosen erkennen, die ich am Sonntage an der Brust trage. Mein Vater schilt immer, daß ich unsere Topfrosen so schrecklich plündere – o, wenn er die Wahrheit ahnte! Wenn er wüßte, daß der Mann, der mir Clavierstunden gab, mehr mit wegnahm als das Honorar! Es ist eine Sünde von mir, und ich bin so schwach.“
„Drum bist Du ein Weib geworden,“ tröstete der Geist, der früher Clavierstunden gegeben hatte. „Noch eins“, fügte er bei, „ehe ich gehe. Heute habe ich die erste Schlüsselblume gefunden, da ist sie. Und einen Vers habe ich auch dazu gemacht, für Dich und mich.“ Er sagte heiter, indem er die Blume an Ellen’s Brust befestigte:
„Diesen Schlüssel will ich stecken
An Dein Herz, das freudenwarme,
Und es dann voll Kraft bedecken
Mit der Klammer meiner Arme.“
Und er that, wie er gesagt, umklammerte die zarte Gestalt und löste die Klammern nicht eher, als bis er in der Ferne einen Hund anschlagen hörte. Jetzt gab es ein schnelles Trennen. Der Geist verschwand, wie weggehaucht, unter den Haselstauden, und Ellen schloß das Fenster. Gleich darauf trat der Förster ein und hing die Flinte an das Hirschgeweih, das über dem Sopha angeheftet war.
„Ich habe lang warten lassen,“ begann er, „es ist aber auch ein Hundewetter und der Wein war gut. Dann ist auch noch der alte Baron Bisam heruntergekommen und hat eine ewige Geschichte von seinen Münzen erzählt. Und man muß ihn doch anhören. Wie geht es denn dem kleinen Schlingel da?“ fuhr er fort, während Ellen sich in den Schatten vergrub, der in der Tischecke herrschte. Waldraff beugte sich über den Knaben, der schweißgebadet unter der Decke lag und die kleinen Hände zitternd um die großen des Vaters schlang.
„O Papa,“ konnte er nur sagen; dann fing er zu weinen an.
„Es ist schlimmer mit dem armen Felix,“ meinte der Förster und sah besorgt in die großen Pupillen des Kleinen. „Ich will Dich hinauftragen – aber weine nur nicht! Thut Dir etwas weh, liebes Herz?“
Der Knabe richtete sich auf und sagte dann hastig:
„O Papa, Ellen muß sterben.“
„Sterben? – warum sterben?“
„Sie hat einen Geist geküßt.“
Ellen stieß einen leisen Schrei aus; sie wollte vorspringen und ihre Hand auf den Mund des Schwätzers legen. Aber der Förster sagte beschwichtigend zu ihr:
„Er phantasirt; wir müssen morgen zum Arzt schicken.“
„Was heißt phantasiren, Papa?“ fragte hartnäckig der Knabe.
„Das heißt im Traume reden von Dingen, die gar nicht sind, oder verkehrt reden,“ erläuterte der Förster, dem eben keine bessere Erklärung bei der Hand war und der eine genauere auch nicht für nöthig hielt.
„Aber ich habe ja nicht geträumt und träume auch jetzt nicht,“ sagte eigensinnig der Knirps. „Ich bin wach gewesen. Dort am Fenster sind sie beieinander gewesen, Ellen und der Geist, und haben sich geküßt, o, so oft, es war schrecklich. Der Geist hat einen langen Bart und heißt Felix, wie ich. Er hat gesagt, er sei auch in der ‚Blauen Ente‘ gewesen und habe Dich gesehn. O, ich hab’ es wohl verstanden, dann aber habe ich die Decke über die Ohren gezogen. Es ist so schrecklich, und Ellen muß gewiß sterben.“
Die Genannte verhüllte das Gesicht, und Todesangst durchzitterte ihr Herz.
Der Förster hatte sich stumm erhoben, trat auf sie zu und zog sie in das Licht der Lampe. Er sah in ein todtenbleiches Gesicht mit scheuen Augen, und die Hand, die er hielt, zitterte wie draußen die Zweige der Haselstauden.
„Rede!“ donnerte er sie an und die Enden seines weißen Schnurrbarts zitterten.
Aber die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht reden. „Hat Dir der Geist die Blume da gegeben?“ fragte mit zornigem Hohne der Förster, „ich habe sie vorher im Knopfloche eines Menschen gesehen. Rede!“ donnerte er noch lauter.
Und der Donner fand endlich ein schwaches Echo.
„O Vater, zürnt nicht zu sehr! Ich will ja Alles gestehen,“ sagte Ellen mit bebenden Lippen. „Es ist der Felix gewesen. Es war in allen Ehren – und – und wir lieben uns und können uns nicht lassen.“
„Ich kenne den Felix,“ knurrte der Alte, „Du brauchst nicht weiter zu reden.“ Er schleuderte die Hand seiner Tochter hinweg und durchmaß die Stube mit mächtigen Schritten. Er kämpfte schwer mit sich, sonst wäre wohl die sehnige Faust auf das blonde Haar seiner Tochter niedergefallen, die jetzt mit gefalteten Händen im Lichte der Lampe stand – eine büßende Magdalena.
„Du weißt,“ grollte jetzt Waldraff dumpf, „daß ich Dich mit meinem Mannesworte dem jungen Leon Eiler versprochen habe, seinem Vater eigentlich, aber das ist dasselbe. Geh’ zu Bett!“ fuhr er dann auf einmal auf. „Hinter dem Rücken des Vaters sich an einen jungen Menschen wegwerfen, ohne Amt, ohne Vermögen, heimlich, einem gegebenen Worte entgegen. Und das ist meine Tochter! Geh’ zum – geh’ zu Bett!“ verbesserte er sich.
[349] Ellen ging stumm mit schwankenden Schritten; sie konnte nicht mehr gute Nacht sagen.
Als der Vater den kleinen Felix, der wie Espenlaub zitterte, hinauftrug in die Kammer, sagte dieser mit Thränen in den Augen: „Du wirst sehen, Papa, Ellen muß sterben.“
Der Baron Bisam hauste fast wie ein Einsiedler in dem alten verwitterten Schlosse Ebensee. Er hatte Niemanden bei sich als eine taube Haushälterin und einen uralten Diener, der seinem Herrn im Alter wenig nachstand und ebenso kindisch war wie der gnädige Herr, den unser Herrgott vergessen hatte von der Welt abzurufen. Der Verwalter wohnte im Dorfe und führte Rechnung für seinen Herrn, der reiche Forsten und viele hundert Morgen Felder besaß. Er selbst kümmerte sich um nichts mehr auf der Welt als um seine Münzsammlung, für die er sein altes Leben gelassen hätte, wenn sie mit ihm gegangen wäre in’s Jenseits. Im Sammeln alter Münzen war der Alte von Ebensee unermüdlich, und seine Gedanken drehten sich nur um diese seine Welt. Es hatte sich in seinem Gehirne eine Art Manie festgesetzt, die den Mittelpunkt seiner geistigen Thätigkeit schon seit langen Jahren bildete. Er wußte nicht mehr, wie alt er war. „Fast hundert,“ sagte er, wenn man ihn fragte.
An dem verrosteten Klingelzuge am Schlosse zog, einige Tage nach den eben erzählten Begebenheiten, ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, der einen langen schwarzen Bart trug. In seinen braunen Augen blitzte froher Muth, und ein etwas schwärmerischer Zug um den Mund ließ ihn jünger erscheinen, als er war.
Der uralte Diener öffnete und fragte mit einem faden Lächeln nach seinem Begehr.
„Ich wünsche den Herrn Baron Bisam zu sprechen,“ erklärte bescheiden der Ankömmling.
„Droben bei seinen Kindern,“ sagte der Alte mit einem schlau sein sollenden Lächeln, indem er mit den beiden Zeigefingern eine kreisende Bewegung machte. „Frau Mike wird Sie hinaufführen.“ Dann fügte er noch leise hinzu:
„Haben Sie einen?“
„Was für einen?“
„Einen Nero?“
„Ist mir unverständlich.“
„Wird schon werden. Gehen Sie nur!“
Frau Mike, eine uralte Person mit schneeweißen Haaren, führte unsern Geist, denn er war es, die alte Eichentreppe hinauf und suchte in seinen Zügen zu lesen, was ihn wohl herführe.
Felix redete sie freundlich an, indem er sie auf die Schulter tippte und sagte:
„Es geht eben etwas langsam im Alter, gute Frau.“
„Ein neues Kleid, meinen Sie?“ antwortete sie mitleidig lächelnd. „Es ist wenigstens seine vierzig Jahre alt.“ Sie hatte aus seiner Handbewegung die Frage nach dem Alter ihres Kleides geschlossen.
Er rief ihr jetzt laut in das Ohr: „Können oder wollen Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen bei dem gnädigen Herrn? Ich bin ein Bewerber um den Schuldienst in Ebensee.“
„Ein Gerber sind Sie aus Ebensee?“ war die erstaunte Antwort. „Dann müssen Sie wohl noch nicht lange in das Dorf gezogen sein; mir ist nichts von Ihnen bekannt. Nimmt mich Wunder, was Sie bei dem Baron wollen. Haben Sie vielleicht in einer Lohgrube Münzen gefunden?“
„Nein,“ sagte er lachend und schüttelte den Kopf.
„Dann haben Sie einen ‚Metzgergang‘ gemacht,“ meinte die Alte mitleidig.
„Einen Metzgergang als Gerber?“ murmelte Felix leise und klopfte an die bezeichnete Thür.
„Herein!“ schnarrte eine unangenehme Fistel.
Der Unterlehrer von Ebensee befand sich in einem hohen gewölbten Gemach mit zwei Fensterstöcken, durch deren bleiumrahmte kleine Fenster das Morgenlicht fiel. Der Baron, ein gebücktes Männchen mit einem weißen Haarkranz unter dem schwarzen Hauskäppchen, schlittete in ungeheueren Filzschuhen in dem Gemache auf und ab und warf die Schöße seines Schlafrockes immer wie fröstelnd übereinander. Von Zeit zu Zeit blieb er vor einem riesigen Secretäre stehen, in dem eine Unmasse kleiner Fächer sich befand, so daß er mit seinen Aufschriften auf Porcellan fast einem Arzneikasten glich.
Er schien den Eingetretenen schon wieder vergessen zu haben, denn er murmelte unverständliche Worte vor sich hin, und sein wasserfarbenes Auge streifte den Besuch so kalt, als ob er ein Luftgebilde wäre, durch das er hindurchsähe. Endlich schien er sich zu finden und schnarrte:
„Wie heißen Sie?“
„Felix, gnädiger Herr,“ war die Antwort.
„Felix – der Glückliche,“ murmelte der alte Baron und schien an diesen Namen eine lange Reihe von Gedanken zu knüpfen, denn er schlittete wieder emsig murmelnd auf und ab.
„Wie noch?“ fragte er endlich. „Den Geschlechtsnamen meine ich.“
„Kaiser, Herr Baron.“
„Kaiser? Kaiser Nero?“ entfuhr hastig den Lippen des Alten. Doch besann er sich gleich wieder und sagte wie entschuldigend: „Ich muß immer an ihn denken. Aber –“ und er trat eilfertig näher – „haben Sie vielleicht einen?“
„Was für ‚einen‘?“ fragte Felix erstaunt, wie vorher unten am Schloßthore.
„Einen Nero meine ich, haben Sie keinen Nero?“ fragte der Baron ungeduldig.
Felix vermochte die Frage nicht zu fassen. Dann glaubte er endlich den Sinn derselben zu verstehen und sagte bescheiden:
„Der kärgliche Gehalt eines Unterlehrers erlaubt den Luxus eines Hundes nicht.“
Mit kindischem Erstaunen betrachtete ihn der alte Baron von oben bis unten und schien nicht zu begreifen, wie man mit solch einem langen Barte so einfältig sein könnte.
„Einen Kaiser Nero meine ich, erklärte er endlich.
„Ich habe noch nicht die Ehre, die Frage des gnädigen Herrn zu begreifen.“
„Nun, so will ich sehr deutlich sein,“ sagte der Alte wichtig. „Ich suche schon viele Jahre nach einem Goldstücke aus der Zeit und mit dem Bildnisse des Kaisers Nero. Es gehört zur Vervollständigung meiner Sammlung, und ich habe keine Ruhe, bis ich einen Nero habe.“
„Nero, Nero,“ schnarrte auf einmal eine sonderbare Stimme aus der Ecke des Gemachs, so daß Felix erstaunt herumfuhr.
Er mußte unwillkürlich lachen, als er eine Dohle herbeihüpfen sah, die unermüdlich „Nero, Nero!“ knarrte und die scharfen Augen auf die glänzenden Stiefeln des Besuchers richtete, um diese gleich nachher mit ihrem Schnabel zu bearbeiten.
„Mein kleiner Nero,“ sagte kindisch lächelnd der Baron und ließ die Dohle eine Krume Brod von seinen Lippen nehmen. „Sie erinnert mich immer an das, was mir fehlt.“ Dann schlittete er, mit der Dohle auf der Hand, wieder auf und ab und sagte wie zu sich selber: „Ja, der Graf Hinko drüben auf Hackenburg, der hat einen herrlichen Nero, und ich soll ihn erben, wenn er stirbt. Aber er ist fast dreißig Jahre jünger als ich – und ich bin fast hundert,“ sagte er mit weinerlicher Stimme. – „Ja, was wollen Sie denn,“ wandte er sich endlich wieder an Felix, den er eine Zeitlang vergessen hatte, „wenn Sie keinen Nero haben?“
Dem Bewerber war es ziemlich schwül und unheimlich zu Muthe hier, in diesem engen Gemache bei dem kindischen Alten und seiner boshaften Dohle. Doch wagte er einen Anlauf und sagte laut: „Ich bin gegenwärtig Unterlehrer in Ebensee, wie der gnädige Herr wohl wissen, und da der Schuldienst erledigt ist, bitte ich geziemend, der gnädige Herr Baron möchte ihn mir kraft seiner Patronatsgerechtigkeit übertragen. Hier ist meine Supplik mit den nöthigen Zeugnissen. Er zog ein Paket aus der Rocktasche und überreichte es dem Patronatsherrn, der es mit einer wichtigen Miene entgegennahm und dann kurz sagte:
„So? Richtig. Wie alt sind Sie denn?“
„Dreißig Jahre, gnädiger Herr.“
„Ein halbes Kind noch,“ murmelte der Alte und betrachtete dann wie erstaunt den langen schwarzen Bart. „Haben Sie gar nichts mitgebracht?“ forschte er weiter.
„Ich besitze nichts als meinen guten Namen und sehr gute Zeugnisse. Belieben der Herr Baron nur zu lesen!“
[350] „Hm, das ist ungeschickt,“ sagte der Alte mitleidig. „Es sind schon drei Bewerber hier gewesen, und jeder hat mir ein interessantes Stück gebracht.“ Er riß einige der Schubladen auf und nahm aus einem Sammetetui eine dreieckige Münze. „Sehen Sie, das ist ein seltenes Stück; der hat Aussichten, gegründete Aussichten. Aber,“ fügte er hinzu, „Sie gefallen mir. Bringen Sie mir einen Nero, dann sollen Sie den Dienst haben!“ Er schlittete wieder weiter und rieb seine alten runzeligen Hände.
„Das ist sehr schwer, Herr Baron,“ wagte Felix einzuwerfen. „Dürfte es nicht ohnedem gehen? Offen gestanden, ich habe mein Herz an ein holdes Mädchen verloren, und – ich denke, wenn ich den Dienst nicht erhalte, so sind Herz und Dienst und Mädchen zugleich verloren.“
Er konnte den Humor selbst jetzt nicht lassen und erwartete die Wirkung seiner Argumente.
„Hm, hm, gerade da fällt mir ein,“ sagte wichtig der Alte, „der Förster war neulich bei mir und meinte, man solle darauf hinwirken, daß der Unterlehrer von Ebensee versetzt werde. Hm, hm, wissen Sie auch, warum?“
Felix erbleichte, erwiderte aber nichts.
„Die Ellen, die schöne Ellen!“ kicherte der Baron. „Ich begreife es, erinnere mich auch – – in den Haselstauden im Herbste, … nicht wahr? hm, hm!“
„Ja, da haben wir Nüsse gesucht, Herr Baron,“ versicherte Felix mit möglichster Unbefangenheit.
„Nüsse und Küsse, hab’s wohl gesehen,“ krächzte der Alte und schlittete weiter. „Nun, junges Blut, kann mir gleich sein; aber dem Förster ist es nicht gleich,“ fuhr er fort.
„Nero, Nero,“ krächzte die Dohle aus ihrem Winkel und kollerte einen goldenen Ring über die Diele, den ihr der Baron zum Spielen gegeben hatte.
„Ja, ja, Wütherich, gut gemacht, gut gejagt, kleiner Nero! Aber“ – er blickte stumpf auf seine Fächer – „einen Nero müssen Sie mir schaffen! Dann bekommen Sie den Dienst und vielleicht die schöne Ellen auch. Der Förster ist hochmüthig, fast hochmüthiger als ich,“ setzte er mit naiver Selbstironie hinzu. „Ich werde noch einmal mit ihm reden.“ Sogleich aber auf den alten Gedanken überspringend, den er wie ein Tretrad bearbeitete, sagte er, indem er ein altes vergilbtes Register aus einem Fache hervorholte:
„Mein Großvater hat eine herrliche Münzsammlung angelegt. Hier ist Stück für Stück verzeichnet und darunter war ein Nero –“
„Nero, Nero,“ heulte die Dohle als Echo.
„Ein Nero, sage ich Ihnen, wie der Graf Hinko keinen hat. Es ist zum Verzweifeln. Denken Sie, die Münzsammlung ist fort, gestohlen, verkauft, versteckt, verloren, was weiß ich!“ Er weinte fast, der alte kindische Mann, und schlittete in heller Verzweiflung auf und ab. „Geben Sie mir meinen Nero wieder, und Sie sollen den Dienst und die schöne Ellen und Alles haben. Nur meinen Nero möchte ich.“
„Nero, Nero!“ echote die Dohle.
Felix wußte nicht, sollte er lachen oder weinen. Er that aber keines von Beidem, sondern sagte mit sauersüßem Gesichte, indem er sich empfahl:
„Ich will einmal nachforschen und bitte nur, die Verleihung des Dienstes nicht übereilen zu wollen. Kommt Zeit, kommt Rath,“ sagte er wie beschwichtigend zu dem alten Kinde, das wieder trostlos auf seine Fächer starrte.
„Meinen Sie?“ fuhr der Baron auf. „Also suchen Sie – aber nicht Nüsse und Küsse – suchen Sie meinen Nero!“
„Nero, Nero!“ kreischte die Dohle noch, und im nächsten Augenblicke stand Felix auf dem Gange und freute sich, wenigstens nicht ganz dem Wütherich Nero zum Opfer gefallen zu sein.
Er ging an dem uralten Diener vorbei, der ihn wieder fade anlächelte, und schlug den Weg nach der sogenannten Waldkirche ein. –
Die Waldkirche war der Rest eines alten Klosters, dessen Bewohner längst weggezogen waren. Sie gehörte zu dem Gute des Barons Bisam, diente aber längst nicht mehr zum gottesdienstlichen Gebrauche. Unter ihren Steinfliesen, die mit alten Figuren und ausgetretenen Steinlettern bedeckt waren, ruhten die ehemaligen Aebte des Klosters in Metallsärgen. Alles war alt und zerfallen; das Weihwasserbecken war umgestürzt; die Fenster waren zerborsten; selbst das Crucifix auf dem Hauptaltare, der noch stand, war in Stücke zerfallen, und nur der eiserne Fuß ragte kahl in die Höhe. Die Steine hatten alle Risse und Höhlungen, und aus ihren Ritzen krochen die Ranken der Brombeere und falbes Moos. Zu den Fenstern herein nickten, wie am Forsthause, Haselstauden, die sich eben begrünten. Sie waren das Bild des Lebens gegen den Tod da innen. Ueberall zitterte der Staub nieder, wenn ein Fußtritt in dem alten Gemäuer hörbar wurde, und dann schrieen die Schwalben und Elstern, die in den alten Winkeln hausten.
Auf den Stufen des Altars saß Ellen; sie glich einem Engel, der an den Gräbern der Vergangenheit trauert. Ja, sie trauerte, aber über die Gegenwart, die so gar nicht frühlingsgrün war für sie, sondern herbstlich kahl. Sie war heimlich herübergeschlichen vom Forsthause, das nicht weit entfernt war – sie wartete auf Felix.
Was hätten wohl die alten Herren da unten gesagt, wenn sie gesehen hätten, wie es da oben ein Stelldichein gab zwischen Liebenden? Wer weiß es? Sie hätten vielleicht trübe gelächelt mit ihren bleichen Gesichtern und geschwiegen, wie jetzt.
Bald saß Felix an der Seite Ellen’s und drückte sie fest an sich, denn es war gar kühl in den alten dicken Mauern. Er hatte an den Rosen, die sie am Sonntage an der Brust getragen, die Bestellung für den heutigen Tag erkannt.
„Was bringst Du Gutes?“ fragte sie.
„Wenig,“ antwortete er. „Der Baron ist ein completer Narr, und wenn ich ihm nichts vorschwindeln kann, mit einer Goldmünze nämlich, die er verlangt, kann mein Stündlein in Ebensee bald schlagen.“ Er erzählte kurz, aber mit so komischen Randglossen seine Audienz, daß auch über Ellen’s Lippen ein Lächeln hinzitterte.
„Es könnte schlimmer sein,“ meinte sie, „obwohl es schlimm genug ist, daß mein Vater auf Deine Beseitigung sinnt. Ich bringe Schlimmeres.“ Und jetzt erzählte sie die Begebnisse jener Sturmnacht, deren Nachwehen ihn bei diesen Eröffnungen kühl durchschauerten. „Das Schlimmste ist,“ endete sie, „daß mein Vater den Sohn seines Freundes, dem er meine Hand zugesagt, zum Besuche eingeladen hat. Warum, kannst Du Dir denken. Es ist drei Jahre, daß er auf Besuch bei mir war, und ich fürchte für diesmal Alles.“
„Es muß bald eine Wendung zum Bessern nehmen, Ellen,“ beruhigte Felix. „Mein fröhlicher Sinn hat mich noch nicht verlassen, und das ist ein gutes Zeichen. Da, ein neues Andenken!“ Er nahm ein Sträußchen von Veilchen aus dem Knopfloche und steckte es, wie damals die Schlüsselblume, an Ellen’s Brust, indem er sagte:
„Erst wenn Du ein Paar Thränen auf diese Blümchen geweint hast, paßt mein Vers, den ich dazu gemacht habe, denn bei dem Thau habe ich an Deine Thränen gedacht.“ Er recitirte:
„O mein Veilchen, zartes, blaues!
Sag’ mir eine Blume, welche
Schöner sei als mit des Thaues
Perlrund du in deinem Kelche.“
„O wie schön das ist und wie lieb Du bist!“ sagte Ellen mit ihrer verschleierten Stimme und gab ihm einen süßen Kuß.
„Jetzt mußt Du mir aber auch ein Andenken schenken,“ bat Felix.
„Was kann ich Dir geben, daß es der Vater nicht erführe?“ meinte sie sorgend. „Einen Ring vermißt er sogleich; die Halskette hier ist von meiner Mutter selig und sonst habe ich nichts.“ Sie suchte in ihrer Tasche, und plötzlich ging ein schelmisches Lächeln sonnig über ihre frischen Lippen. „Weißt Du noch, Felix,“ sagte sie dann mit einem Anfluge des frühern Jugendübermuthes, „wie wir im letzten Herbste so oft Haselnüsse zu suchen gingen und –“
„Nüsse und Küsse,“ lachte Felix, dem der Baron Bisam einfiel.
„Ich habe einen ganzen Korb voll zusammengebracht. Aber wie gewonnen, so zerronnen; der große Felix hat sie mit Mühe und Noth gesammelt und der kleine Felix hat sie leichtfertig aufgegessen – bis auf eine, die ich heute gefunden habe und aufheben wollte als Andenken an Dich. Da Du aber eines
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von mir willst und ich nichts Besseres habe, sollst Du sie bekommen, bis etwas Besseres nachkommt.“
Sie nahm eine schön gebräunte Haselnuß aus der Tasche und hielt sie mit ihren rothen Lippen fest. Sie sah dabei so komisch aus, daß Felix laut auflachen mußte.
„Ich will sie von Deinen Lippen picken oder küssen, wie man sagen will,“ rief er scherzend und erhaschte wirklich mit einem Kusse die Frucht, die aus einer so schönen Blume wuchs. Und beide lachten wieder herzlich miteinander nach langer Zeit.
„Wer weiß, zu was die Nuß gut sein mag,“ meinte Ellen mit komischer Wichtigkeit. „Man muß nichts verachten, sie kann vielleicht Glück bringen und wir könnten es wohl brauchen.“
„Hoffen wir es,“ sagte Felix heiter, dem schon wieder Alles voll Sonne erschien, „Sieh, wie die Haselstauden hereinwinken! Sie wünschen uns Glück.“
„Jawohl, wir wünschen Euch Glück,“ rief eine zarte Stimme zum hohen Kirchenfenster herein und eine große Haselstaude verneigte sich bis in die Fensteröffnung. Obenauf saß der kleine Felix und klatschte in die Hände.
„Jetzt weiß ich,“ rief der boshafte Knirps, „wer der Geist ist, der Felix heißt und einen so langen Bart hat.“ Er spreizte die Hände auseinander und schaukelte übermüthig auf der schwanken Staude. Indem er aus der Fensteröffnung auf den Altar sprang und von diesem zu den zwei Bestürzten, setzte er mit kindischer Wichtigkeit hinzu:
„Ich weiß jetzt, daß Ellen nicht sterben muß,“ und indem er sie küßte, flüsterte er ihr in’s Ohr: „Ich werde Papa nichts sagen. Bist Du dann zufrieden, lieb Schwesterchen?“
Und sie war zufrieden.
Madame Tallien ist die lächelnde Grazie der Revolution; Madame Roland ist ihre ernste Muse. Das Leben der Madame Tallien ist ein Roman, dasjenige der Madame Roland ein Heldengedicht, eine Tragödie.
Freilich, man darf sich unter Madame Roland keine jener Jeanne d’Arcs, jener gewaltigen Heldinnen denken, welche das heroische Bühnenmaß besitzen und um Haupteslänge über die andern Sterblichen emporragen. Sie hatte nur die Seele, nicht die Statur der Heldin. Ebensowenig hatte sie das wilde Temperament, die weitgreifenden Gesten einer Theroigne von Mericourt; sie hat sich nie mit dem Schwerte gewaffnet, nie nachstürmende Volksmassen begeistert; sie hatte nicht einmal das revolutionäre Blut, die Freude an Tumult und Aufruhr. Sie hat sich in die Revolution hineinstudirt und hineingelesen. Der Weg der Madame Roland ging aus dem Lesezimmer in den Salon und auf das Schaffot; auf diesem Wege aber zeigte sie geistige Kraft und Seelengröße, wie wenige Frauen der Geschichte.
Interessant ist ihre geistige Verwandtschaft mit ihrem gefährlichsten Gegner, Maximilian Robespierre. Sie theilte mit ihm die Begeisterung für die Tugenden des Alterthums; auch von ihm kann man sagen, daß er sich in die Revolution hineingelesen habe. Die Roland war für die Partei der Gironde, was Robespierre für die Partei des Berges war: der geistige Mittelpunkt, die Doctrin, das System, das begeisterte Priesterthum. Beide schwärmten für Rousseau und die Republik, und wie Robespierre den König, so haßte die Roland die Königin als Urheberin des ganzen über Frankreich hereingebrochenen Unglücks. Beide zeigten im Leben und Sterben eine heroische Gesinnung, nur war der Heldenmuth der Roland dem Tode gegenüber ein herausfordernder und beredsamer, derjenige Robespierre’s das Schweigen dumpfer Apathie.
Ueber ihr Leben hat uns Madame Roland selbst in ihren Memoiren Auskunft gegeben. Diese Memoiren, im Kerker und gleichsam im Angesichte des Todes geschrieben, sind schon an sich ein merkwürdiges Denkmal eines starken Charakters. Man merkt die Schatten des Todes kaum, welche auf diese Blätter fallen, so angelegentlich ist die Beschäftigung mit den kleinen und großen Interessen des Lebens, so unbefangen die Hingabe an alle Erinnerungen, selbst an diejenigen, welche dem Bereiche des „ewig Weiblichen“ angehören. Sie schrieb diese Memoiren, fortwährend unterbrochen theils vom Lärme todgeweihter Kerkergenossen, theils von den eindringenden Häschern, vor denen sie dieselben sorgfältig verbergen mußte; sie vertheilte Blatt auf Blatt zur Erinnerung an ihre Freunde.
Madame Roland war im Jahre 1754 zu Paris als die Tochter eines kleinen Goldschmieds Philipon[WS 1] geboren, der nicht ohne künstlerische Bildung und künstlerische Neigungen war, aber in beschränkten Verhältnissen sich ihnen nicht hingeben konnte. Seiner Tochter Manon ließ er indeß eine vorzügliche Erziehung zu Theil werden. Frühzeitig schon zeigte sie hervorstechende Anlagen, indem sie mit vier Jahren lesen lernte und dann im Zeichnen, in der Musik, Arithmetik und Geometrie große Fortschritte machte. Sie selbst erzählt Anekdoten aus ihrer Kindheit, welche beweisen, daß sie bereits damals einen sehr unbeugsamen Sinn hatte, der sich besonders strengen Erziehungsmaßregeln auf das Aeußerste widersetzte; sie erzählt diese Anekdoten mit einer Naivetät, welche für die damalige Zeit sowohl wie für die Ungenirtheit dieser spartanisch gesinnten Frau charakteristisch ist. Die älter werdende Manon las viel, alte Classiker, Tasso, Voltaire, Reisebeschreibungen, Romane, Predigten, aber außer Plutarch, von dem sie erklärt, daß er die Kraft und den Stolz, welche den Charakter machen, in ihr erweckt, ihr den wahren Enthusiasmus für die öffentlichen Tugenden und die Freiheit eingehaucht habe, war ihr Lieblingsautor Rousseau, mit dem sie für den stillen Reiz der Natur schwärmte und sich gegen die Ungleichheiten der Gesellschaft empörte.
Die „confessiones“ Rousseau’s waren damals Mode und sie sind für die Memoiren der Roland geworden, was der „contrat social“ für Robespierre’s politische Beredsamkeit. Es gehörte zum guten Ton, von einer erstaunlichen Offenherzigkeit zu sein, die eigenen Sünden und Laster aller Welt zu verkünden, ja mit ihnen zu kokettiren. Im Haß gegen die Heuchelei und gesellschaftliche Verlarvung ging man bis zu einer antiken Nacktheit; alles Natürliche schien verklärt und geweiht; es gab keine Mysterien des Körpers und der Seele. Hierfür spricht die Art und Weise, wie uns Madame Roland ihr eigenes Portrait entwirft und uns ihre körperliche Beschaffenheit photographisch und stereoskopisch wiedergiebt. Und während sie sich so der Erinnerung an ihre Jugendschönheit hingiebt und unbefangen erwägt, wie viel und was ihr davon noch geblieben sei, fällt ihr plötzlich ein, daß der garstige Camille Desmoulins, dieser von der Natur verwahrloste Witzbold der Revolution, dem nichts heilig war, nicht einmal die Reize einer Manon, seine Verwunderung ausgesprochen, wie sie in ihrem Alter und bei so wenig Schönheit noch so viele Verehrer habe finden können, und da weiß sie zu seiner Entschuldigung nichts anzuführen, als daß er sie nie gesprochen, und wohl nur deshalb sie falsch beurtheile. „Freilich,“ fügt sie hinzu, „wäre ich gegen einen Menschen solcher Art kalt, schweigend, vielleicht sogar abstoßend gewesen.“
Der garstige Camille! Ob Manon Roland in diesem Augenblicke Robespierre, der sie auf das Schaffot schickte, mehr haßte, als Camille, der ihre weiblichen Reize bezweifelte: das ist eine offene Frage für die Nachwelt. Eine Frau, die zu den großen Seelen ihres Geschlechts zählte, die dem Tode auf dem Schaffot entgegensah und später mit bewunderungswerthem Heroismus entgegenging, kann doch nicht umhin, einem kleinen Groll gegen den Spötter Ausdruck zu geben, der ihre körperliche Vollkommenheit nicht anerkennen wollte.
Doch kehren wir zur kleinen Manon zurück. Das zudringliche und ungebührliche Benehmen eines Lehrjungen gegen das elfjährige Mädchen reifte in ihr den Entschluß, sich auf ein Jahr in ein Kloster zu begeben. Sie erlangte die Erlaubniß ihrer Eltern dazu und verweilte dann ein Jahr bei den Damen der Congregation im Faubourg Saint-Marcel. Ihre religiösen Gefühle verschmolzen in jener Zeit mit einem innigen Naturgefühl; die Schönheit der Natur, das Wehen des Windes, der Duft der Blumen: alles stimmte ihr Gemüth andächtig. Noch später, als sie in ihr elterliches Haus auf dem Pont-neuf zurückgekehrt war, hatte sie mitten in dem tumultuarischen Treiben der Hauptstadt ihr tiefes Naturempfinden sich bewahrt; sie war ergriffen von dem Schauspiele des Abendhimmels, dessen prächtiges azurnes Gewölbe sie betrachtete, von dem bläulichen Ostrande, weit hinter dem Pont-aux-champs bis gegen Westen, wo er, von Gold und Purpur umsäumt, sich hinter die Bäume der Tuilerien und die Häuser von Chaillot hinabsenkte. Noch glücklicher war sie bei einem Sommeraufenthalte in Meudon, wo sie den Reizen des Landlebens sich mit voller Seele hingab.
Die Begabung der jungen Manon entwickelte sich immer mehr mit der eifrigen Lectüre, welche sie pflegte. Bald fing sie an, gegen die religiösen Ueberlieferungen sich aufzulehnen; das Studium der freigeistigen Schriftsteller machte sie immer unabhängiger von ihren klösterlichen Erinnerungen. Am meisten fühlte sie sich zu den stoischen Philosophen des Alterthums hingezogen; mit Seelengröße der Tugend zu huldigen, mit Opferfreudigkeit die Pflicht zu erfüllen, das wurde ihr Lebensideal. Tief ergriff sie der Tod ihrer Mutter, einer schönen und edeln Frau, an der sie mit Hingebung hing; sie hatte diesen Tod Tags vorher in einem ahnungsvollen Traume vorausgeschaut. Lange konnte sie sich über diesen Verlust nicht trösten; erst die Lectüre der „Nouvelle Héloïse“ von Rousseau weckte ihre Lebensgeister wieder. Durch regelmäßige Correspondenzen mit ihren Jugendfreundinnen aus dem Kloster hatte sie ihren Stil gebildet, und ihr wissenschaftliches Streben war so ernst, daß sie sich sogar an der Lösung einer von der Akademie von Besançon gestellten Aufgabe mit betheiligte.
Inzwischen waren nach dem Tode der Mutter die Verhältnisse des Vaters in arge Zerrüttung gerathen; auch knüpfte dieser zu mehreren Frauen Beziehungen an, welche der Tochter [353] das Verweilen im väterlichen Hause verleideten. In diese Zeit fällt ihre erste Bekanntschaft mit Roland de la Platière, der sich durch den Brief einer Jugendfreundin bei ihr einführte. Er war zwanzig Jahre älter als Manon, und seine Persönlichkeit hatte nichts Gewinnendes. Hochgewachsen, von nachlässiger Haltung, dabei starr und steif in seinem Wesen, lakonisch in seiner Sprechweise, außer wenn er von sich selbst sprach, was er mit Vorliebe zu thun pflegte, dabei mit einem rauhen, unharmonischen Organe ausgestattet, war er nicht dazu geschaffen, bei dem ersten Anlaufe das Herz einer Frau zu erobern. Eine nähere Bekanntschaft zeigte freilich Vorzüge des Geistes und Charakters, welche für das Unvortheilhafte seiner äußeren Erscheinung entschädigen konnten. Er hatte sich dem Studium des Alterthums, für dessen große Männer er sich wie Manon begeisterte, mit Eifer hingegeben und war außerdem ein Anhänger der freigeistigen Encyklopädisten und Mitarbeiter an dem großen Sammelwerke in der technischen industriellen Abtheilung, in welcher er bedeutende Kenntnisse besaß. Dies Alles flößte der jungen Manon Sympathie und Achtung ein, und da sie sich aus dem Vaterhause fortsehnte, so war es ihr Wunsch, sich zu verheirathen. Wohl fehlte es ihr nicht an Bewerbern, doch sie zog den Pedanten Roland als einen tüchtigen Mann den geistlosen Freiern vor, die sich um ihre Gunst bemühten. Der Vater wies zwar Roland’s Antrag anfangs zurück; doch Manon sagte sich inzwischen ganz von demselben los, und als Roland von einer italienischen Reise zurückgekehrt war, reichte sie ihm am 4. Februar 1780 ihre Hand. Die Reisebriefe, die er ihr aus Italien geschrieben hatte und die später in sechs Bänden herausgegeben wurden, mögen die Achtung, die sie für seinen Charakter und seine Kenntnisse hegte, noch gesteigert haben.
Manon hatte, im Drange der Verhältnisse und dem Gefühle der Achtung folgend, eine Vernunftheirath geschlossen, die ihr niemals volle Befriedigung gewähren konnte.
Daß das Glück oft weit von ihnen war, bekennt sie ganz offenherzig. In der That, so groß ihre Achtung vor dem braven Gelehrten sein mochte, der sein Interesse für die alten Römer mit demjenigen für die Statistik der Schafzucht und der Baumwollenmanufacturen zu vereinigen wußte, so vollständig der Einklang ihrer politischen Ueberzeugungen war: sie konnte sich doch nicht, als die glühende Jugend der Gironde sich in ihrem Salon versammelte, dagegen verblenden, daß ihr Gatte ein etwas hölzerner antiker Römer war, verglichen mit diesen geistig hochbegabten jungen Männern, die sich zum Theil auch durch körperliche Schönheit auszeichneten. Die Schwerfälligkeit ihres Gatten, die ihn oft geistig vollständig hülflos machte, trat immer mehr hervor; sie lenkte ihn wie der Kornak den Elephanten, leider! zuletzt auch in gefährliche Untiefen, in denen Beide zu Grunde gingen.
Anfangs lebten die Neuvermählten in Paris, wo Roland einige wissenschaftliche Schriften herausgab; sie war seine Abschreiberin und Correctorin und gab seinem ungelenken Stile dabei Glätte und Abrundung. Später siedelten sie nach Amiens über, wo die Roland Mutter einer Tochter wurde. Sie lebte hier sehr zurückgezogen und verließ das Haus nur, um botanische Excursionen zu machen, da die stille Poesie der Pflanzenwelt sie schon lange angezogen hatte. Außerdem sorgte sie als echte Hausfrau für die Küche.
Eine Reise nach England unterbrach diese Idylle in der Provinz. Im Jahre 1781 wurde Roland nach Lyon versetzt, wo er eine vortheilhafte Stellung erhielt; er verdankte dieselbe den Bemühungen seiner Frau, die in Paris sich eifrig für ihn verwendet hatte. Die ausbrechende Revolution wurde von Beiden mit Begeisterung begrüßt. Als in Lyon im Jahre 1790 das große Föderationsfest gefeiert wurde, gab Madame Roland im „Courrier de Lyon“ eine begeisterte und so glänzend stilisirte Beschreibung desselben, daß die betreffende Nummer in mehr als sechszigtausend Exemplaren verkauft wurde. Gehoben durch diesen schriftstellerischen Erfolg, begab sie sich mit ihrem Gatten nach Paris, um die großen Männer der neuen Bewegung persönlich kennen zu lernen. Sie lauschte den Worten eines Mirabeau und Barnave; sie betrachtete die düstere Gestalt eines Robespierre, die sich unheimlich am Horizont der Revolution abzeichnete; ihr imponirte jetzt wie später die Charakterfestigkeit und die Zähigkeit, mit welcher dieser Volksmann an seinen Ueberzeugungen festhielt; doch es waren Männer wie Bristol, Petion, Buzot, welche, durch gleiche politische Anschauungen eng verbunden, im Hause Roland’s heimisch wurden und einmal wöchentlich hier ihre Abende zubrachten. Roland und seine Frau besuchten auch den Jacobinerclub und ließen sich ganz von den Wogen der politischen Bewegung treiben. Er selbst war diesmal als Abgesandter des Gemeinderaths von Lyon in Paris, um die trostlose Lage der Stadt, wo fast alle Fabriken stillstanden und zwanzigtausend Arbeiter brodlos waren, der Nationalversammlung zu schildern, und er setzte auch günstige Beschlüsse durch.
Nach Lyon zurückgekehrt, gründete Roland in dieser Stadt ebenfalls einen Jacobinerclub, der mit dem Pariser in nahe Beziehungen trat; doch war seines Bleibens in Lyon nicht; die Stelle, die er bekleidete, wurde aufgehoben und er begab sich nach Paris, um eine Pension zu erlangen und seine encyklopädischen Arbeiten fortzuführen. Hier schloß er sich noch enger an die gleichgesinnten Abgeordneten der gesetzgebenden Versammlung an und wurde auf ihren Vorschlag in das Ministerium gewählt, welches König Ludwig der Sechszehnte aus Dumouriez und Mitgliedern der Gironde zu bilden sich durch seine Machtlosigkeit und völlige Abhängigkeit von der Versammlung genöthigt sah.
Das Ministercabinet, der Ministersalon – welch ein Tummelplatz für eine begabte und unternehmende Frau, welche jetzt erst, wie sie selbst bekennt, ihre ganze Bedeutung zu fühlen anfing! Die geringe Begabung der damaligen Staatsmänner, welche nur in einer gewissen Entfernung zu imponiren vermochten, war in der Nähe unverkennbar. Madame Roland sprach ihre Verwunderung aus über die allgemeine Mittelmäßigkeit, die Alles übertreffe, was die kühnste Einbildungskraft sich denken konnte; ihr Ideal von großen Männern, das ihr Gatte so schlecht verwirklichte, kam auch bei den anderen Berühmtheiten des Ministeriums zu kurz. Doch wie viele berühmte Staatsmänner auch anderer Zeiten sind im Grunde mittelmäßige Köpfe gewesen, die nur durch gewisse Charaktereigenschaften und glückliche Erfolge sich einen weitreichenden Ruhm erwarben! Sie hatten die Hände voller Trümpfe und machten einen Stich nach dem andern; aber es fehlte eine Roland, um ihr Spiel zu controliren.
Manon Roland wurde der Cabinetssecretär ihres Mannes, aber einer jener Secretäre, welche mehr dictiren als nachschreiben. Sie selbst erzählt, daß sie bei allen Rundschreiben, bei Instructionen, bei wichtigen Veröffentlichungen selbst zur Feder gegriffen habe; sie erkennt das Administrationstalent ihres Mannes an; aber sie meint doch, daß mit ihrer Beihülfe Alles, was er schrieb, mehr Nachdruck und Wirkung gewonnen habe, „denn es gelang mir, in seine Manifeste eine Mischung von Kraft und Milde, die Macht der Vernunft und den Reiz der Empfindung zu bringen, die vielleicht nur bei einer Frau vereinigt zu finden sind, welche Gefühl und einen klaren Kopf besitzt.“
Ohne Frage unterschätzte sich Manon Roland nicht – und wenn in ihrem Zimmer die Girondisten berathschlagten, während sie selbst mit weiblichen Arbeiten beschäftigt war oder Briefe schrieb, ohne daß ihr ein Wort der Berathung verloren ging, da hatte sie oft das Gefühl, daß sie nicht nur der einzig klare Kopf, sondern daß sie auch als Weib weit entschiedener sei als diese Männer. „Was mich am meisten befremdete,“ sagt sie, „war das Hin- und Herreden und der Leichtsinn, mit welchem Männer von tüchtigem Verstande drei bis vier Stunden zubrachten, ohne zu einem festen Entschlusse zu kommen. Ich hätte den Ehrenmännern, die ich wegen des Adels ihrer Gesinnung und der Reinheit ihrer Absichten täglich mehr achten lernte, vor Ungeduld Ohrfeigen geben können.“ Das that sie nun freilich nicht, aber sie redete jedem Einzelnen in’s Herz; sie citirte Einen nach dem Andern vor ihren politischen Beichtstuhl, hielt ihm eine Strafpredigt und mahnte ihn, sich zu bessern. Sie war mißtrauisch gegen den Hof und dessen Intriguen, besonders gegen die Königin Marie Antoinette. Als Jemand Mitleid bei der Beschimpfung derselben und des kleinen Dauphin zeigte, wandte sie sich ab mit den Worten: es handle sich in der Revolution um größere Dinge, als um ein Weib und ein Kind. Während ihre Freunde noch Vermittelungen mit dem Königthume suchten, hatte sie vollständig mit ihm gebrochen. Die Royalisten ihrer Zeit verglich sie mit jener Wirthsfrau, die, als einmal über Manon’s Vater der Betthimmel bei dem Zusammenziehen der Vorhänge [354] herabgefallen war, erstaunt ausrief: „Aber, mein Gott, wie ist das möglich! Seit siebenzehn Jahren ist er in Gebrauch und hat sich noch nicht gerührt.“
Es ist ein eigenthümlicher und seltener Anblick, eine geistvolle, liebenswürdige Frau als die Seele einer politischen Partei! Numa hatte seine Egeria, Perikles seine Aspasia; doch es waren das gleichsam Haus- und Privatgottheiten, welche ihre Offenbarungen nur im traulichen Verkehre verkündeten. Die Roland war die Egeria und Aspasia der ganzen Gironde; ihr Einfluß reichte in das Ministerium wie in die gesetzgebende Versammlung; sie war eine parlamentarische Größe hinter den Coulissen des Parlaments. Welch eine Zahl hervorragender Männer versammelte sich in ihren Salons! Da war der träge Vergniaud, vielleicht das größte Rednertalent der Revolution, dessen schlummernde Beredsamkeit es zu wecken galt; da war Brissot, der rührige Journalist, ein tumultuarischer Kopf, der Freude hatte an der Unruhe und Verwirrung; da war der feurige, jugendliche schöne Barbaroux, der ungestüme Guadet und andere, welche eine klar denkende Frau zu mäßigen und zu zügeln wußte; da war vor allem Buzot, der Einzige, dem sie sich unterordnete, den sie verherrlichte, weil sie ihn liebte.
Nicht, wie man oft annahm, Barbaroux, nicht der hochbegabte Vergniaud, nicht Bancal des Issarts, mit dem sie in einem 1835 veröffentlichten Briefwechsel stand – Buzot war es, den sie mit der glühendsten Neigung ihres Herzens umfaßte. Man hat neuerdings vier Briefe aufgefunden, die sie an ihn geschrieben, zwei Portraits mit einer von ihr selbst verfaßten Charakteristik des Originals. Ihm errichtet sie ein glänzenden Piedestal; man fühlt es heraus, er ist ihr nicht berühmt genug; seine Tugenden, seine geistige Bedeutung sind nicht genug anerkannt; sie will gut machen, was die undankbare Mitwelt versäumt. Sie schildert ihn als einen Mann von erhabenem Charakter, von stolzem Sinne und feurigem Muthe, gefühlvoll, auflodernd, als einen leidenschaftlichen Bewunderer der Natur, einen Freund der Menschheit, empfänglich für die zartesten Regungen der Seele, des höchsten Aufschwungs fähig, als einen begeisterten Republikaner; sie vergißt nicht sein gefälliges Aeußere, sein edles Gesicht zu erwähnen, und was sie an ihm tadelt, jene Trägheit, die er mit Vergniaud gemein hatte, das war ein Fehler, der ihr nicht unwillkommen war; denn gerade hier konnte sie, die stets entschlossene Frau, ihren Einfluß, ihre Macht auf sein Gemüth bewähren. Mit Eifer vertheidigt sie ihn gegen alle Gegner. Buzot war verheirathet wie Manon Roland; beide opferten ihre Neigung der Pflicht. Erst im Gefängnisse vollzog sich ein Umschwung im Gemüthe der heldenmüthigen Frau; sie opferte sich für Roland, um seine Unschuld zu beweisen. Durch dieses Opfer aber glaubte sie ein Recht zu gewinnen, nun auch ihrem Herzen zu folgen, die Sprache der Leidenschaft zu sprechen, frei von Schranken, aber auch frei von Vorwürfen. Es sind merkwürdige Bekenntnisse in diesen Briefen an Buzot, die auf das Geheimniß ihres Lebens ein ungeahntes Licht werfen. Die stolze Denkerin wird zur Sophistin; das Palladium der Pflicht zerbricht in ihren Händen; über die Todgeweihte bricht überwältigend das volle Bewußtsein vom Glück des Lebens und der Liebe herein, und fast klingt es wie Reue über die lange pflichtgetreue Entsagung, wenn sie in ihrem dritten Briefe an Buzot schreibt: „Du kannst Dir, mein Freund, den Reiz einer Gefangenschaft nicht vorstellen, in welcher man von dem Thun und Lassen jedes Augenblicks nur seinem eigenen Herzen Rechenschaft abzulegen braucht. Keine verdrießliche Störung, kein peinliches Opfer, keine langweilige Berufspflicht, nichts von jenen Pflichten, die um so drückender auf uns lasten, je mehr ein reines und edles Herz sie glaubt aufrecht halten zu müssen, nichts von jenen Gesetzen und Vorurtheilen der Gesellschaft, die mit den süßesten Empfindungen der menschlichen Natur in Widerspruch stehen.“
Ueber mir den tiefblauen Himmel, der sich wie eine ungeheure Kuppel aus leuchtendem Azur über das Hochgebirge herwölbte, lag ich, von tagelanger Wanderung müde, auf der wild zerklüfteten Felsenspitze des Sonnwendjochs und schaute hinüber zu den hinter dem Zillerthale emporragenden krystallblanken Eisgipfeln der Tauern, an denen sich die Strahlen der Abendsonne purpurfarbig brachen, und hinab in’s tiefe, sonnige Innthal, das in der bunten Fülle herbstlicher Farbenpracht tief unter mir schwamm. Winzig kleine blaue und rothe Punkte wimmelten auf dem marmorweißen Straßenstreifen, der sich am silberblinkenden Strome entlang von der Mündung des Alpach- zu der des Zillerthales erstreckt. Es sind die Sommerfrischlerinnen aus Brixlegg, die ihre reichen städtischen Gewänder, vielleicht zum letzten Male in diesem Jahre, in der Alpenwildniß zur Schau tragen. Ein eigenthümliches Gefühl der Sehnsucht nach Seinesgleichen übermannt häufig, wie Heimweh, den Menschen, der sich aus dem lärmenden Gewühle der Großstadt in die Stille der Einsamkeit geflüchtet, wenn er aus sicherer Ferne einen Blick in’s wirre Wogen der großen Welt wirft. So erging’s auch mir, der ich hoch erhaben über dem Treiben der Menschheit auf dem Gipfel des Sonnwendjochs stand und mit mitleidigem Spotte auf das fremdartige Gebahren der Leute da unten herabsah, die all ihren städtischen Putz und Plunder in das stille Alpenthal mit sich geschleppt, wo sie Jedermann, zumeist aber sich selber, damit zur Last fielen. Ich mußte lächeln über die Leutchen da unten, und dennoch zog’s mich unwiderstehlich hinab, wieder einige Stunden mit ihnen zu verleben. Noch einen Blick warf ich zurück zu der grünen Alme auf dem fernen Guffertjoche, wo ich mondelang in beschaulicher Einsamkeit gewohnt, dann flog ich über stundenlanges Gerölle am schwanken Bergstock in’s Innthal hinunter.
Während ich den steilen Abhang des Sonnwendjoches hinabsauste, zogen am östlichen Himmel schwarze Wetterwolken empor, die mit unheimlicher Eile über das Ziller- und Alpachthal herüberrückten und langsam von den jenseitigen Bergspitzen in’s Innthal hinabkrochen. Mit langen, gellenden Athemzügen pfiff der Sturmwind durch das Thal, daß sich die Lärchen, die an den Berghalden hinaufwuchsen, zitternd neigten, und dichte Staubwolken vor ihm auf zum verfinsterten Himmel emporwirbelten, den schwarzen Nebelballen entgegen, die sich schwerfällig von den Bergen herabwälzten. Ein wüstes Wolkenmeer, wirr durcheinanderwogend, lag unter mir und füllte mit seinen hochgehenden Wogen das Thal aus, in das ich mit rasender Eile hinabflog. Aus der qualmenden Finsterniß züngelten blaue Blitze herauf zu mir, um den noch die Lichtfluthen des Tages wogten, und vor der Stimme des Donners erbebte das Gebirge in all seinen Fugen, so daß ich wähnte, die Gipfel des Sonnwendjoches brächen krachend über mir zusammen. Jetzt rauschten die nassen Wellen des Nebelmeeres auch über mich herein, und von allen Schauern des Unwetters überfluthet, kam ich nur mit Mühe vollends nach Brixlegg hinunter.
Während mir des „Judenwirths“ freundliches Töchterlein, die braunäugige Marie, die durchnäßten Kleider am Herdfeuer trocknete, verzog sich fast ebenso schnell, wie es gekommen war, das Gewitter, und der Mond schüttete seine goldgrünen Strahlen durch die zahllosen Spalten und Luken, die der siegende Sturmwind in den Wolkenhimmel gerissen. Von einer warmen Wollendecke umhüllt, lag ich am Fenster meines Stübchens, der trockenen Kleider harrend, und schaute hinab in den Garten des Judenwirthes, der im taghellen Mondenlichte vor mir lag. Eine mächtige Gruppe alter Kastanienbäume schloß ihn nach hinten zu ab und warf ihren unheimlichen tiefen Schatten weit hinein auf die hellbeleuchtete Grasfläche. Plötzlich flackerten blutrothe Lichter zwischen den schwarzen Blättermassen hindurch und ein dumpfes Summen von vielen Menschenstimmen drang aus dem Hintergrunde des Gartens hervor. In demselben Augenblicke trat mit in die Augen fallender Eilfertigkeit die flinke Tochter des Judenwirths in meine Stube, um mir die mittlerweile getrockneten Kleider zu bringen. Sie war mit auffälliger Sorgfalt in die ernst-anmuthige Tracht des untern Innthales gekleidet.
[355] Ich frug sie, wohin sie denn noch so spät am Abend gehen wollte.
„In’s Theater,“ war die Antwort.
„Habt Ihr denn ein Theater im Orte?“
„Versteht sich, und ein recht schönes dazu.“
„Da sind wohl Schauspieler aus Innsbruck heruntergekommen?“
„Warum nicht gar! Das können wir selber besorgen.“
„So! da spielst Du am Ende gar die erste Liebhaberin?“
„Wer denn sonst! Sehe ich nicht hübsch genug dafür aus?“ Dabei wiegte sie sich keck auf den schlanken Hüften und machte den vergeblichen Versuch, einen selbstgefälligen Blick in den alten Spiegel zu werfen, der viel zu hoch für den zierlichen Wuchs des hübschen Mädchens an der Wand hing.
„Da spielt Ihr wohl eine heilige Geschichte?“ frug ich weiter.
„So fromm sind wir heute nicht; für diesmal giebt’s ein Lustspiel.“
„Ein Lustspiel!“ rief ich verdutzt und muß dabei ein ziemlich einfältiges Gesicht gemacht haben, weil das muthwillige Mädchen in ein glockenhelles Lachen ausbrach.
„Von wem ist denn Euer Lustspiel?“ fuhr ich fort zu fragen.
„Von unserem Roßknecht.“
Jetzt war die Reihe des Lachens an mir, damit kam ich aber bei der zungenfertigen Tirolerin übel an, denn sie meinte schnippisch:
„Wenn der Herr lachen will, so komm’ er nur in unser Lustspiel – da giebt’s mehr zum Lachen als hier.“
„Das werde ich gewiß nicht unterlassen, mein kleines Mariechen, und hoffe heute noch recht nach Herzenslust lachen zu können. Wie heißt denn das Lustspiel Eures Roßknechtes?“
„Der Müller und sein Schatz.“
„Dann machst Du wohl den Schatz des Müllers?“
„Und wie!“ rief die leichtfüßige Dirne und sprang mit einem Jodler die Treppe hinab.
„So sehen wir uns einmal das Lustspiel an, das im Kopfe eines Tiroler Roßknechts gewachsen! Zu lachen wird es da wohl mancherlei geben, wenn auch in anderem Sinne, als meine lustige Wirthin meint,“ dachte ich bei mir selber, während ich in meine getrockneten Kleider schlüpfte.
Mittlerweile war es im Garten unten lebendig geworden. Zahlreiche dunkle Gestalten huschten eilfertig dem Kastaniengehölze zu, in dessen Schatten sie verschwanden. Ich eilte hinab und schloß mich dem allgemeinen Zuge an. Hinter dem Kastanienhaine stand ein langes Gebäude, dessen vorgeschobene Langseite auf kurzen massigen Steinpfeilern ruhte. Es sah aus, wie die große Stallung eines alten wohlhabenden Bauerngutes. Zwischen den Pfeilern waren plumpe Tische aufgestellt, auf denen trübrothe Oellampen flackerten. Vereinzelte Gäste saßen noch herum vor halbgeleerten Bierkrügen, die Mehrzahl aber drängte nach einer großen Thür, hinter der eine altersmorsche Treppe zu den oberen Räumlichkeiten des Gebäudes hinaufführte. Ein struppiger Bursche stand unter ihr und erhob das Eintrittsgeld in das Theater, zwanzig Kreuzer für den ersten, zehn für den zweiten und letzten Platz. Das Theater selbst wurde durch einen großen, von qualmenden Oellampen spärlich erleuchteten, von Rauch und Ruß geschwärzten Saal vorgestellt, in dem eine lange Reihe von plumpen Holzbänken hintereinander aufgestellt war; diese bildeten den „ersten Platz“; sie waren durch eine Stange vom zweiten geschieden, wo es keinerlei Vorrichtung zum Sitzen gab. Die nur mäßig erhöhte Bühne war durch einen plump, aber nicht ohne sinnige Auffassung gemalten Vorhang verhüllt. Zwischen ihr und dem ersten Platze saßen auf einer Schranne drei Musikanten, die auf Geige, Cither und Flöte einen Ländler spielten.
Die Gesellschaft der sehr zahlreichen Zuschauer war eine in des Wortes ureigentlichster Bedeutung gemischte zu nennen. Im Hintergrunde des Saales, auf dem zweiten Platze, standen eng zusammengedrängt ausschließlich Männer, zumeist Tiroler Bauernbursche, schlanke, schöne Gestalten mit sonnverbrannten Gesichtern und offenen, kühn geschnittenen Zügen, den Hut mit der herausfordernden Spielhahnfeder trutzig in die kurzgeschnittenen dunkeln Kraushaare gedrückt, zwischen ihnen vereinzelte Baiern, leicht kenntlich am kürzeren vierschrötigen Wuchse und den tückisch schielenden Augen.
Manche von ihnen hielten schwere Holzäxte in breiter, schwieliger Hand, alle aber rauchten aus großen Pfeifen mit kurzen Röhren, so daß der ganze Raum mit dichten Tabakswolken erfüllt war, durch welche die ohnedies trüben Flämmchen der qualmenden Oellampen kaum durchzudringen vermochten. Auf dem ersten Platze saßen Mädchen und Frauen aus dem untern Innthale; ihre freundlichen Gesichter, von braunen neugierigen Augen belebt, waren halbverdeckt von den breiten Rändern ihrer schwarzen Strohhüte. Unter die Kinder des Innthales hatten sich dicke bairische Bauernweiber gemischt mit großen Mützen aus Fischotterpelz auf den unförmlichen Köpfen. Zwischen den Bewohnern der Berge aber waren in bunter Abwechslung zahlreiche fremdartige Gestalten zerstreut, in gewählten, ja zum Theil reichen und prunkhaften Gewändern, was der Versammlung einen eigenthümlichen phantastischen Anstrich gab; neben der grauen Lodenjoppe des Tiroler Wildschützen wogten weiße oder rosenrothe Atlasmieder unter dem widerspenstigen Drucke eines eingezwängten jugendlichen Busens; braungoldige Sammetjacken schimmerten dazwischen und an der kurzen verschossenen Lederhose des Gemsjägers rieb sich das schillernde Seidenkleid der Wiener Baronin. Spielhahnfedern, Adler- und Straußenflaume schwankten und flatterten, vom Windzuge bewegt, durch einander und zwischen Edelweiß und Almenrosen prangten lackglänzende Camelien und farbenprächtige Pariser Blumen in modisch aufgedonnerten Haaren.
Auch manches wohlbekannte Gesicht entdeckte mein suchendes Auge in dem bunten Gedränge; da war, mir zunächst, eine ganze Bank mit Münchener Malern angefüllt, zum Theil alten lieben Freunden; neben dem sinnigen Kurzbauer saßen Laupheimer[WS 2], der den besten deutschen Nachtwächter gemalt, und der jugendliche Zügel, einer der genialsten Thiermaler Deutschlands; aus dem Winkel dahinter winkten die spaßhaften Augen meines Landsmannes Gustav Mayer hervor, der beim Judenwirth in Brixlegg die volksthümlichen Gestalten zu seinem „erste Rausche“ gefunden. Vor ihnen, zwischen zwei lieblichen Mädchengestalten mit flachsblonden Haaren und Wangen, frisch und rosig wie Apfelblüthen, die mit ihren Vergißmeinnichtaugen so fromm und lustig zugleich in die Welt hineinschauten, wie die Posaunenenglein auf den Bildern der Renaissancemaler, saß ein stattlicher Mann mit gedankenvoller Stirne und lockigem, schon ergrautem Haupt- und Barthaar, Ludwig Steub, der anziehendste unter den Beschreibern des heiligen Landes Tirol. Das seelenvolle blaue Auge, das mit leuchtenden Blicken aus der Ecke dort drüben herübergrüßt, gehört dem schönen Kopfe einer der anmuthigsten unter den deutschen Schauspielerinnen, der liebenswürdigen Anna Glenk. Marmorbleich, wie eine lebendig gewordene Statue, lehnte vor ihr die „geschiedene Frau“, die in der „Passionsgeschichte eines Idealisten“ eine so dämonische Rolle spielt: alle Schauer der Verdammniß zuckten in düstern Blitzstrahlen aus der dunkeln Tiefe ihrer wunderbaren Glühaugen empor, und unheimliche Schatten zitterten zwischen den stolzen Brauen hervor über die königliche Stirn hin, von der die Haare, gleich schwarzen Schlangen, sich hinab zu der halbenthüllten Pracht ihrer Schultern ringelten. Eine gnomenhafte Erscheinung wand und krümmte sich ihr zur Seite in qualvoll spaßhaften Krämpfen, welche an die Todeszuckungen eines Heupferdchens erinnerten, das in’s Erntefeuer geflogen. Hinter dem Lockenkopfe der steirischen Amazone blitzte das Auge des Philosophen Du Prel hervor, der sich mit dem Darwinismus so eingehend beschäftigt hat.
Jetzt hörte die echt tirolermäßig gemüthliche Tanzmusik auf, und der Vorhang ging langsam in die Höhe. Die Scene stellte eine Landschaft aus dem Hochgebirge dar; die Coulissen waren plump zwar und mit dilettantenhafter Aengstlichkeit, aber nicht ohne liebevolles Naturverständniß entworfen und gemalt. Das Lustspiel des poetischen Roßknechts behandelte in vier Acten einen dürftigen und in seinen Hauptwirkungen ziemlich hausbackenen Stoff: ein junger Müller, fromm und bieder, liebt die Tochter eines reichen Bauern, die ihn selbstverständlich wieder liebt; derselbe hat aber einen vom Vater des Mädchens ausschließlich begünstigten Nebenbuhler – an dem Bader, der „schon ein gesetzter Mann, aber noch in seinen besten Jahren ist“, obgleich er die Seifenschüssel bereits so lange durch’s Leben getragen hat, daß er sich schon etwas Namhaftes zurücklegen konnte; trotzalledem wird er gründlich angeführt, ein Loos, in das er sich [356] mit dem Vater des Mädchens zu theilen hat, der ein ehrwürdiger, aber etwas einfältiger und, wie alle alten Väter, eigensinniger Greis ist. Den Schalk im Stücke spielt der Barbiergeselle, ein junger Schlingel, „der mit allen Hunden gehetzt ist und an keinen Teufel glaubt“ und zum Ueberflusse gleichfalls in das Mädchen verliebt ist; ebenso entschieden, wie er letzteres liebt, haßt er seinen Brodherrn, der neben seinen sonstigen respectabeln Eigenschaften auch ein gut Theil Heuchelei besitzt und „es faustdick hinter den Ohren hat“, und nimmt jede Gelegenheit wahr, ihm, wie ein richtiger Figaro, „auf die sauberen Schliche zu kommen“. Die Heldin endlich ist ein recht verständiges Bauerndirnchen, ohne jeglichen Anflug von Sentimentalität, überhaupt, wie ein echtes Bauernkind, mehr praktisch als poetisch gestimmt; obwohl sie dem Müllerburschen, der, wie alle Liebhaber im Lustspiele, nicht gerade an Ueberfülle von Verstand leidet, „von Herzen gut ist“, zieht sie doch auch die Heirath mit dem ökonomisch so wohlsituirten Bader ernstlich und, wie mich fast bedünken will, für eine richtige Liebhaberin fast allzu ernstlich in Erwägung, dabei hat sie zu allem Ueberflusse in einer geheimen Falte ihres Herzens eine kleine, stille Zuneigung halb mütterlicher, halb schwesterlicher Gattung, die jedoch nicht ganz über jeden Verdacht erhaben ist, zu dem pfiffigen Barbiergesellen versteckt, der freilich als Heirathscandidat für die kluge Tochter der Berge nicht wohl in Betracht kommen kann, immerhin aber die leichten Herzensregungen, die sie von Zeit zu Zeit für ihn verspürt, noch am ehesten verdient. Nimmt man noch dazu zwei zufällig des Weges kommende Handwerksburschen, die keinen Heller in der Tasche haben, und eine alte Dorfklatschbase, so hat man die Träger der Handlung beisammen.
Selbstverständlich „kriegen sich“ die Liebenden am Schlusse des vierten Actes trotz aller Dorfcabalen, und zwar weil der verliebte Müllerbursche mit Gefährdung seiner biedern Persönlichkeit seinen Schatz aus einem brennenden Hause rettet, das der heimtückische Dorfbarbier angezündet. Man sieht hieraus, daß der Theaterdichter von Brixlegg es sich nicht minder bequem gemacht hat als seine bekannteren Collegen an den verschiedenen Hof- und Stadttheatern des deutschen Reiches, und daß er, wie diese, sein Publicum kennt, das eben überall nur sich selbst und seine guten Bekannten, seine häusliche Noth und Misère auf den Schaubuden sucht und sehen will. Auf der andern Seite aber müssen wir dem poetischen Roßknecht das Zugeständniß machen, daß er es unleugbar verstanden hat, seinen an und für sich einfachen Stoff dramatisch wie sprachlich zu gestalten; so waren namentlich einzelne Episoden von urkomischer Wirkung und machten einen geradezu hinreißenden Eindruck; vor Allem müssen wir hervorheben, daß der aufgeklärte Dorfpoet den bäurischen Aberglauben ganz meisterhaft komisch zu verwerthen gewußt hat. Was mir aber am meisten auffiel, war das vortreffliche Zusammenspiel der Darsteller, zu denen durchweg Dorfbewohner aus Brixlegg verwandt worden waren. Sie hatten ihre Rollen so musterhaft auswendig gelernt, daß sie, obwohl das Stück zum ersten Male aufgeführt wurde, keines Souffleurs bedurften.
Nach der Vorstellung brachte ich noch in Erfahrung, daß der Vater, der neben dem jungen Georg gerade am besten gespielt, ein vollständig tauber Greis war, der sich also sein Stichwort lediglich aus dem Mienenspiele der Mitspielenden ablesen mußte. Das Spiel selbst war zwar entschieden schablonenhaft, aber nicht ungefällig, und zeugte unleugbar von ganz sorgfältiger Einübung. Die ganze Darstellung machte den wohlthuenden Eindruck vollendeter Sicherheit, und die Ausstattung des Stückes war durchaus sachgemäß, obgleich sie mit den allereinfachsten Mitteln bewerkstelligt wurde.
Meine Theilnahme an dem ländlichen Kunstinstitute wurde noch um ein Merkliches gesteigert, als ich mich nach dem Leiter desselben erkundigte und zu meiner Verwunderung erfuhr, daß derselbe Niemand anders sei, als wieder „der Roßknecht des Judenwirths“. Selbst Vorhang und Coulissen, sowie sämmtliche Inventarstücke und die ganze Maschinerie des Theaters hatte er allein mit eigener Hand angefertigt. So war er Theater-Dichter, ‑Director, ‑Maler, ‑Maschinist, ‑Inspicient und ‑Hauptdarsteller, Alles in einer Person, denn die Rolle des jugendlichen Komikers, des Barbiergehülfen Georg, hatte er gleichfalls gespielt.
Die unleugbar hohe geistige Begabung dieses Bauernknechtes und das ernste Streben, das ihn beseelt, in den enggezogenen Grenzen seines künstlerischen Wirkens etwas Tüchtiges zu leisten, würden genügen, ihm unsere volle Achtung zu erwerben; dazu kommt aber noch ein eigenthümliches Lebensschicksal, das er mit einem bekannten norddeutschen Grafen gemein hat, der seiner Liebhaberei für die Schauspielkunst eine glänzende Stellung und einen fürstlichen Reichthum zum Opfer gebracht, obwohl, wenn wir die beiden Schicksalsgenossen nach den Erfolgen ihrer künstlerischen Neigungen messen, die Wagschale entschieden zu Gunsten des „gemeineren“ Mannes sinken wird.
„Des Judenwirths Roßknecht“ nämlich war vor Zeiten ein reicher Bauer, so reich, wie nur irgend einer im Innthale; die stattliche Mühle, die der Alpbach treibt, ehe er sich in den Inn ergießt, war sein eigen und dazu Wiesen und Felder und manches schöne Stück Vieh. Allein der unselige Hang zur Schauspielkunst ließ ihm nicht eher Ruhe, bis er in seiner Mühle ein Theater eingerichtet und seine Bekannten und Freunde alle zu Schauspielern abgerichtet hatte. Jetzt wurde gespielt und gedichtet, was das Zeug hielt, aber die Mühle ging dabei von Tag zu Tag langsamer, bis sie schließlich ganz stille stand. Und der Müller verkaufte zuerst die Kühe und dann die Wiesen, die er doch nicht mehr brauchte, weil er keine Kühe mehr zu füttern hatte, zuletzt aber kam das Gericht und jagte ihn von Haus und Hof. Da gab ihm der pfiffige Judenwirth ein enges Kämmerlein neben seinem Pferdestalle und das tägliche Brod dazu, wofür ihm der Arme die Gäule seiner Gäste verpflegen und in seinen Freistunden in einer alten Scheune ein Theater einrichten mußte. Und der Judenwirth hatte seine Rechnung gut gemacht, denn so oft sein Roßknecht ein Stück aufführte, war das Theater ausverkauft und die erheiterten Gäste tranken an einem Abende mehr von seinem Wein und Bier, als er sonst in einem ganzen Monat verbraucht hatte. So ward allen Theilen geholfen, das Dörflein Brixlegg aber kam zu einem Theater, und der Dichter fand sein ordentliches Auskommen, was wohl schwerlich bei allen seinen Collegen der Fall ist.
Als ich am anderen Morgen die gastliche Herberge verließ, stand der Roßknecht in Hemdärmeln unter dem Thore und striegelte einen Fuhrmannsgaul. Freundlich und bescheiden wünschte er mir Glück auf die Reise, ich aber mußte bei mit selber denken: Wie wenig braucht ein braver Mensch, um glücklich zu sein!
Der Menge zufälliger Zerstörungen der Vogelnester anläßlich des menschlichen Verkehrs und der umgestaltenden Anordnungen eine eingehende Aufmerksamkeit zuzuwenden, liegt nicht in Plan und Entwurf des nachfolgenden kleinen Artikels, Wohl aber sind es die bisher wenig in Betracht gezogenen Einflüsse der Witterung zunächst, auf die meine Mittheilungen umfassendere Rücksicht nehmen sollen, und ich werde nachweisen, daß jene Einflüsse das Gedeihen der Bruten vielfach beeinträchtigen.
Schon im März erwacht der Paarungstrieb einiger unserer Sängerarten. Schwarzamsel und Singdrossel wählen sich geeignete Nistorte aus, und der aufmerksame Waidmann findet schon zu Ende dieses Monats oder zu Anfang des April gelegentlich der Schnepfensuche manchen brütenden Vogel. Da erfolgt plötzlich ein empfindlicher Rückschlag, der uns wieder in den Winter hineinwirft und die Landschaften in eine dicke Schneedecke hüllt, die von dem herrschenden eisigen Nordwinde widerstandsfähig erhalten wird gegen die Wirkungen der höher gestiegenen Sonne. Was bleibt da oft den brütenden Vögeln anders übrig, als schließlich den mächtigen Fortpflanzungstrieb unter den noch mächtigeren Ernährungstrieb zu beugen und den Kampf um Dasein und Selbsterhaltung zu unternehmen? Wohl wird, wie ich mich überzeugt habe, das Aeußerste von den Paaren gewagt, um die Brut zu retten. Aller Scharfsinn, alle zu Gebote stehenden Erinnerungen und gemachten Erfahrungen [357] werden zusammengenommen, um trotz der hemmenden und die Quellen der Nahrung verstopfenden Elemente treu in dem begonnenen Unternehmen auszuharren. Mit unermüdlicher Sorgfalt schützen die Brutvögel ihre Eier vor dem Zutritt der Kälte, indem sie die Brutfedernlage am Bauche fester an die Brut anschmiegen und sich tiefer in das Nestinnere niederdrücken, während der Ehegatte pflichtgetreu der Nahrung nachgeht, um sich und die Gefährtin dem drohenden Verderben zu entziehen. In vielen Fällen beobachtete ich Tage lang unter solchen Verhältnissen Schwarzamselpaare, die wahrhaft heldenmüthig sich durchkämpften und ihre Brut retteten. Es kommt dabei wesentlich darauf an, ob die Eier längere Zeit schon bebrütet worden sind oder ob das Brüten kürzlich erst begonnen hatte; in letzterem Falle bedürfen die Eier der gleichmäßigen und höheren Erwärmung nicht in dem Maße, wie in dem ersteren. Auch entscheidet der Grad der Härte des Frostes vor dem Schneefalle, da Drossel und Amsel den Boden mit dem Schnabel bearbeiten müssen, um sich Nahrung zu verschaffen. Gar häufig habe ich übrigens unter der Ungunst solcher Frühlingswitterung die Nester der Drosseln und theilweise auch der rauheren Amseln verlassen und den Lebenskeim der Eier durch die Kälte getödtet gefunden. Mein Bruder Adolf fand in Frühjahren bei Spätfrost mehrmals schon erstarrte Brut in Drossel- und Amselnestern. Aehnliche Beobachtungen machte ich bei Edelfinken, die ihre vollständig ausgebauten Nester beim Eintritte strenger Unwirthlichkeit der Witterung gänzlich verließen. Nicht minder gefährlich als Frost mit Schneefall ist der Brut schwerer Hagelschlag, der den brütenden Vogel zuweilen verletzt oder ihn nöthigt, das Nest zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Entweder zerschlägt dann der Hagel die Eier oder er häuft sich im Neste an und wirkt zerstörend durch die Kälte. In gleicher Weise wird im Sommer gar manchen Nestern der Gewitterhagel, der sie sammt Eiern oder Jungen zerschlägt, verderblich.
Heftige Stürme, die während der Fortpflanzungsperiode der Vögel sich erheben und, wenn auch nur durch Gewitter veranlaßt, kurze Zeit toben, zerreißen das eine oder andere Nest auf Baum und Strauch, oder werfen es auf die Seite, so daß der Inhalt über Bord geschleudert wird oder durch die defecten Stellen zu Boden fällt.
Selbstverständlich leiden die solid und dauerhauft gebauten Nester unter solchen Umständen nicht so leicht, wie die lose und lüderlich gebauten, sowie im Allgemeinen die auf schwankenden Zweigen stehenden den Gefahren durch Sturm weit mehr ausgesetzt sind, als die auf stärkerer Grundlage erbauten. So werden zum Beispiel Eier und Junge des wagehalsig bauenden Stieglitzen bei solchen Naturereignissen aus den Nestern geworfen, obschon die Eltern gewöhnlich durch festes Anklammern auf den Nestern das Ihrige aufbieten, um das Herausgeworfenwerden der Brut zu verhindern.
Anhaltende Regenströme erweichen nach und nach die freistehenden Nester und durchwässern den brütenden Vogel dermaßen, daß er sich zur Bewegung und Einölung seines Gefieders bewogen fühlt, ja in gar nicht seltnen Fällen das Nest gänzlich seinem Schicksale überläßt. Bei solcher andauernden Nässe fand ich nackte Junge im Neste liegen, die erstarrt waren; selbst halbflügge Nestlinge werden unter Tage lang währendem Landregen zur Flucht aus der durchnäßten Wohnung bewogen und sterben dann auf dem Boden, wenn sie nicht einen sicheren Schutzwinkel erreichen. Die frühere oder spätere Zeitigung der Eier wird wesentlich durch die Witterungseinflüsse bedingt.
Unter der Herrschaft naßkalter Tage und Nächte steht den Insectenfressern natürlich weit weniger Nahrung zu Gebote, als zur Zeit trockener und warmer Witterung. Da wird der brütende Vogel nicht immer von dem ihm Futter zutragenden Gatten in der erforderlichen Weise versorgt, und seine Entfernung von den Eiern zum Zwecke des Aufsuchens von Insecten und deren Larven wiederholt sich öfter, wodurch eine langsamere Entwickelung der Embryonen eintritt. Ebenso unleugbar ist die günstigere oder ungünstigere Entwicklung der ausgeschlüpften Jungen von der Fülle oder dem Mangel der Ernährung abhängig, welche letztere durch den Witterungseinfluß gefördert oder geschmälert wird. Die Erscheinung stärkerer oder schwächerer Exemplare unter den Vögeln derselben Art ist nicht blos zurückzuführen auf die ursprünglich in Stärke und Größe sehr verschiedenen Insassen eines jeden Nestes, sondern auch auf die durch bedeutende Witterungseinflüsse bedingte Ernährung während der Zeit der Unmündigkeit.
Die in Feldern und Wiesen bauenden Lerchen und Wiesenschmätzer erfahren es häufig, daß Platzregen ihre Nester zerstört, zumal an abschüssigen Stellen, wo sich rasch durch starken Zufluß Wassermengen zur Fluth zusammendrängen. Die an den Ufern der Gewässer nistenden Vögel haben es der Gunst der Witterung in erster Linie zu danken, wenn ihre Brut gedeiht. Wie oft aber machen der Eisvogel in der Uferhöhle, die Wasseramsel unter den Wurzelausschlägen, die gelbe und die Gebirgsstelze in ihrem Schlupfwinkel, der Rohrsänger in seinem angehängten Kunstbaue die schlimmste Erfahrung! Anhaltende Regengüsse verursachen Anschwellungen der Gewässer und das Eindringen des Wassers in die Wohnungen der liebenswürdigen Flußbewohner. Man hat von einem Ahnungsvermögen der Rohr- und Schilfsänger selbst von wissenschaftlicher Seite geschrieben, welches die Thierchen bestimmen soll, in denjenigen Sommern, welche Fluthen und Hochwasser mit sich führen, ihre Nester in gefahrloser Höhe anzulegen, aber damit ein Dogma verkündet, welches genügender Begründung entbehrt, ja sogar durch unsere Erfahrung widerlegt wird. Noch jedesmal habe ich viele Jahre hindurch an schilf- und rohrbewachsenen Flüssen und Bächen nach zurückgetretenem Hochwasser überschwemmte Nester der Rohrfänger gefunden. Das Anlegen der Nester in Sicherheit versprechender Höhe kann nur, wenn nicht zufällig die anlockende passende Gelegenheit geboten ist, auf die Erfahrung älterer und gewitzigter Paare zurückgeführt werden.
Tiefer noch greifen befiederte und unbefiederte Räuber aus der Thierwelt in das Familienheiligthum unserer Lieblinge ein. Hier ist’s die sausende Wucht des Falken oder Sperbers, dem der eine oder andere Ehegatte zur Beute wird, und durch den Schlag des Mörders wird zugleich ein ganzes Gelege der Eier oder das Leben hülfloser Nestlinge vernichtet. In seltenen Fällen füttert der überlebende Gatte dennoch die Kleinen unter doppelter Anstrengung groß, ja ich habe wahrgenommen, daß das Weibchen einer schwarzköpfigen Grasmücke, das vor meinen Augen den Ehegatten durch den geschickt ausgeführten Sprung eines alten Katers nach dem Neste verlor, die stark bebrüteten Eier völlig ausbrütete und die Jungen sämmtlich allein erzog. Das war auch nur dadurch möglich, daß die Brütezeit beinahe beendigt und das Wetter warm und schön war.
Während die edleren Raubvögel nicht als unmittelbare Nestzerstörer gelten können, sondern nur in der erwähnten Weise mittelbar die Brut vernichten, erscheinen die Bussarde hier und da als wirkliche Plünderer der auf dem Boden angelegten Nester. Derartige Plünderungen beobachtete ich mehrmals auf Wiesen, auf welchen durch die Schur Lerchennester bloßgestellt worden waren. Die Würgerarten erlauern auf Büschen und Bäumen den Standpunkt der Nester an dem Ab- und Zufliegen der sie umgebenden Paare der Kleinvögel und rauben Eier und Junge. Elster und Heher durchforschen Baumgruppen und junge Hegen und ermitteln mit ebenso viel Scharfsinn wie List in der Benutzung des günstigen Augenblicks die Nester vieler Singvögel, von denen nur diejenigen Gnade vor ihnen finden, die leer stehen. Aber sie wissen genau die ausgedienten von den neuerrichteten zu unterscheiden, und ich habe mit Bewunderung ihrer Intelligenz und Berechnung ihre tägliche Wiederkehr zur Stelle ihrer Entdeckungen wahrgenommen. Sobald ein Ei gelegt war, stahl es der Heher während der kürzeren oder längeren Abwesenheit der Nesteigenthümer. So trieb es der Frevler einige Male, bis das Weibchen des betrogenen Paares, mißtrauisch und der ferneren Hingabe an das Legegeschäft müde, dem Männchen das wohlverstandene Zeichen zum Verlassen des Nestes gab. Kolkrabe, Krähe und Dohle entdecken auf der Flur manches Nest, das sie plündern, ersterer nicht minder häufig in der Nähe seines Brutortes zur Zeit, wo das Gebüsch noch nicht belaubt ist, Amsel- und Drosselnester, die er schonungslos ihres Inhaltes beraubt. Der mordsüchtige Storch findet auf seinen Gängen durch Flur und Wiesengründe theils zufällig und unwillkürlich, auf Grund solcher Zufälligkeiten nachher aber auch auf dem Wege der Ausspähung manches Vogelnest. Selbst unser vielgepriesener Staar verdient insofern an den Pranger gestellt zu werden, als er im Frühjahre die Nester der Finken und [358] anderer früh nistender Vögel zerreißt und die Baustoffe seiner Höhle zuträgt. Seine Kühnheit geht sogar so weit, daß er die nackten Jungen kleiner Vögel raubt, um seine eigenen flüggen Nestlinge damit zu füttern. Wir Brüder haben eine derartige Beobachtung in unserem Buche über nützliche und schädliche Thiere als eine von uns erforschte neue Thatsache bereits zur allgemeinen Kenntniß gebracht. Die mehrfachen Eingriffe eines Kukukweibchens in das Eheleben einer Menge insectenvertilgender Vögel sind keineswegs als unbedeutend zu betrachten. Es wird indessen der durch die Zerstörung der fremden Bruten zu Gunsten der untergeschobenen Leibesfrucht von diesem Vogel verursachte Schaden insofern ausgeglichen, als die Nützlichkeit der Kukuke als unersättlicher Raupenfresser zweifellos feststeht. Uebrigens ist es nach den Beobachtungen meines Bruders Adolf sehr wahrscheinlich, daß gar manche Nester von Kleinvögeln von dem Kukuke aus Raubsucht ihrer Brut beraubt werden, da der Kukuk Eier und selbst Nestlinge nicht verschmäht.
Wer kennt nicht die entschiedene Neigung unserer Katzen, der Brut der Kleinvögel auf die Spur zu kommen?
Weit gehen oft erfahrungsmäßige Klugheit und Sicherheitsmaßregeln der hartnäckig gestörten Paare. Ich habe gesehen, daß ein gelber Spötter seinem angeborenen Triebe zuwider das Gebüsch mit der Krone eines hohen, einzeln stehenden Zwetschenbaumes zur Anlage seines Kunstbaues, eine graue Grasmücke die Gartenhecke mit einem hochragenden Zweige einer Linde der Allee zur Sicherung ihres dünnen Halmennestes vertauschte. Marder, Iltis, großes und kleines Wiesel entdecken und zerstören auf der Erde sowohl wie in Löchern, Höhlen und auf Zweigen auf ihren Raubzügen viele Vogelnester; auch der Igel ist hierbei nicht auszunehmen.
Die große Haselmaus usurpirt manches Drossel- und Amselnest, Eier oder Junge verzehrend und die Wohnung ihren eigenen Bedürfnissen gemäß für sich einrichtend. Aber auch in die Mauerspalten und Baumhöhlen dringt sie ein und zerstört mörderisch die Brut der Höhlenbrüter. Wasser- und Landspitzmäuse gelangen auf ihren Raubzügen zu Lande an die Nester der Rothkehlchen, Fitise, Buchenlaubvögelchen und Bachstelzen, gierig über den Inhalt herfallend. Auf das Pfeifen der Spitzmäuse und das erregte Gebahren eines Rothkehlchenpaares hinzugeeilt, fand ich in dem Neste der Vögelchen zwei sich wüthend bekämpfende Spitzmäuse mitten unter nackten, bereits mißhandelten jungen Vögelchen. Selbst einen Maulwurf sah ich im Sommer ein halb flügges Fitischen (Laubvögelchen) aus dem Neste zerren und seinem daneben geöffneten unterirdischen Gange zuschieben, indem er sich weder um das Geschrei des Opfers, noch um das verzweiflungsvolle Flattern und Klagen der alten Vögel kümmerte. Im Walde zerstört das Eichhörnchen weit mehr Vogelnester, als der Uneingeweihte sich denken mag; ihm sind Eier und nackte Vögelchen wahre Leckerbissen.
Eine weniger in die Wagschale fallende Ursache der Nestzerstörung ist der Kampf der verschiedenen und gleichartigen Vogelpaare um den Besitz eines geeigneten Nistplatzes. Der Sperling verdrängt die Schwalbe und schleudert Eier und nackte Schwälbchen aus der Lehmwohnung. Der Mauersegler verfährt mit dem Sperlingspaare in derselben rücksichtslosen Weise, um in der Mauerspalte geeigneten Platz zur Wiege seiner Nachkommenschaft zu gewinnen. Männliche Blaumeisen unternehmen zu diesem Zwecke untereinander Kämpfe, die nicht selten mit dem Tode des unterliegenden Theiles endigen. Es ist eben wiederum der Kampf um das Dasein, der sich durch die Schöpfung in tausend und aber tausend Erscheinungen und Formen unter der Macht mannigfaltiger Veranlassungen und der Anziehungskraft der Ziele und Zwecke hindurchzieht und so viele harmlos glückliche Verbindungen, so viele Werke friedlichen Stilllebens, so viele Bilder ergreifender Fürsorge und Pflege, so viele Keime und Grundlagen neuer Generationen vernichtet. Auf die Selbstsucht des Individuums führen uns diese Auftritte alle zurück, und doch nehmen wir zugleich zu unserer Aussöhnung nicht blos an den Thaten der gebildeten Vernunftwesen, sondern auch an der Naturanlage tiefer stehender Geschöpfe den edlen, rührenden Zug der Opferfähigkeit und der Hingebung an das Leben der Gemeinschaft wahr.
Die Ueberschrift des nachstehenden Artikels scheint gewählt zu sein, um Sensation zu verursachen, ist aber leider der nur allzu treffende Ausdruck für einen Menschenschacher, der während der letzten Jahre unter dem Aushängeschilde „Auswanderung nach Brasilien“ in unserem Vaterlande schwunghaft betrieben worden ist. Es ist in der Presse schon mehrfach vor einer Auswanderung nach Brasilien gewarnt, ohne daß jedoch selbst der größte Schwarzseher eine Ahnung davon gehabt haben kann, gegen welche Fülle von Gewissenlosigkeit auf der einen und Unglück auf der andern Seite er seine Feder erhebe.
Anfang Mai dieses Jahres kam das Schiff Polyxena mit circa hundert Angehörigen des deutschen Reiches aus Brasilien zurück. Diese im traurigsten Zustande befindlichen Unglücklichen bildeten die erste Sendung von Auswanderern, welche die brasilianische Regierung auf die energischen Vorstellungen der deutschen Reichsregierung für ihre Kosten in die Heimath befördert.
Was diese Menschen erduldet haben, übersteigt geradezu alles Maß. Die Beschreibung des von ihnen erlittenen Elends kann als Warnung vor weiterer Auswanderung nach Brasilien nicht weit genug verbreitet werden. Die Geschichte ihres Unglücks ist ungefähr die folgende.
Vor etwa zwei Jahren entstand in Westpreußen, besonders in der Nähe von Stargard, unter der zumeist polnisch redenden Bevölkerung plötzlich das Gerücht, die Auswanderung nach Nordamerika sei ganz verfehlt, aber in Brasilien seien goldene Berge zu erwerben. Zuvörderst traute natürlich der dort wie überall mißtrauische Bauer nicht dem allenthalben entstehenden Gerüchte. Aber es erschienen gedruckte Prospecte und in allen Kneipen wurden dieselben vorgelesen; der Eine erzählte dem andern von den Wunderdingen, die darin ständen; bald hieß es hier und da, der Bauer X. und der Arbeiter Z. hätten bereits ihre Habe verkauft, um nach Brasilien zu reisen, und schließlich ergriff ein solcher Rausch die Köpfe, daß Jeder Hab’ und Gut um den halben, ja um den vierten Theil des Werthes verkaufte, um nur recht rasch das transoceanische Eldorado zu erreichen.
Was stand nun in den Prospecten, das so die nüchternen Phantasien ergriff? Man höre!
„Die brasilianische Colonie Santa Leopoldina – oder die brasilianische Colonie Moniz, wofür ein anderes Haus arbeitete – liegt in einer höchst gesunden Gegend; die Hitze ist wenig höher, als in Deutschland, die Kälte nie größer als acht Grad Réaumur. Jedes deutsche Getreide und Gemüse (natürlich auch Kartoffeln) wächst daselbst im Ueberfluß; Fieber und Ruhren sind fast unbekannt; Arzt und Apotheker werden zwar eigentlich nie gebraucht, sind aber doch unentgeltlich für die Colonisten zu haben. Für Schulen und Kirchen ist auf’s Beste gesorgt, auch für Wohnung. Die brasilianische Regierung unterstützt jeden Einwanderer dreiviertel Jahre lang und liefert unentgeltlich oder doch für wenige Silbergroschen bebautes und in unbeschränkter Menge unbebautes Land. Viele Einwanderer, welche ganz mittellos angekommen sind, haben in wenigen Jahren sich einen bedeutenden Wohlstand verschafft. Und alle diese Herrlichkeiten sind zu haben, wenn man mir für den Kopf siebenzehn Thaler Passagegeld bezahlt.“
Soweit der Prospect, unterschrieben Louis Knorr und Compagnie in Hamburg oder, falls man nach Moniz auswandern will, L. Hermes in Antwerpen.
Ja, die beiden Geschäftsinhaber gehen noch weiter. Wer per Kopf die fraglichen siebenzehn Thaler bezahlen kann, nun gut, der bezahlt sie; wer dies aber nicht kann, der bezahlt weniger, nämlich per Kopf nur fünf Thaler oder gar nur zwei und einen halben Thaler, oder endlich blos fünf Thaler für eine ganze Familie. Wer kann da widerstehen? Also nur schnell einen Vorschuß von fünf Thalern an Louis Knorr und Compagnie in Hamburg oder L. Hermes in Antwerpen geschickt! Ist das Geld glücklich angekommen, so trifft allsobald ein schön
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versiegelter Prospect – einen Contract nannten es die guten Leute – ein und die Reise kann vor sich gehen. In Hamburg oder Antwerpen eingetroffen, werden den Auswanderern noch schnell per Familie circa zehn Thaler für Blechgeschirr abgenommen, was der hochherzige Expedient natürlich ebenfalls liefert, und es geht zu Schiffe.
Knorr und Compagnie denken jedoch vorab: besser ist besser, und lassen sich alle Prospecte – die sogenannten Contracte – von den Auswanderern zurückgeben, um (sic) dieselben nach Brasilien vorauszuschicken. L. Hermes in Antwerpen hält solche Vorsicht nicht für nöthig. Die Brust geschwellt von den kühnsten Hoffnungen, ertragen unsere etwa dreihundert Auswanderer die Unannehmlichkeiten der Seereise mit stoischer Geduld. Endlich aber wird eine ferne Küste sichtbar, und vor den erstaunten Blicken liegt das lang ersehnte herrliche Land Brasilien.
Wer nach der Colonie Moniz will, fährt dann noch den bei Bahia mündenden Commandantuba einige Tagereisen hinauf; wer nach Santa Leopoldina trachtet, geht in Victoria an’s Land.
In Victoria geht es noch etwas wild her, aber das wird in Leopoldina besser werden. In Leopoldina nun – doch hier [360] fängt die Sache an, so entsetzlich tragisch zu werden, daß nur das objective Imperfectum am Platze ist. In Leopoldina – so erzählten übereinstimmend alle Zurückgekehrten – wies man etwa achtzig Familien einen mit Schilf bedeckten Schuppen an, in welchem Männer, Frauen und Kinder ungetrennt nebeneinander lagerten. Wenn es regnete, floß es in Strömen durch’s Dach. Dann jagte man uns in den Urwald, um Wege zu bauen. Hier war nun erst die rechte Hölle. Sechs bis zwölf Familien zusammen, lagerten wir in den Negerhütten, die Tags nicht vor der glühenden Sonne, Nachts nicht vor Thau und Regen schützten. Rings um uns her war eine uns vollkommen fremde Natur. Affen hockten auf den Bäumen und warfen mit Aesten nach unseren Kindern; Schlangen lauerten in jedem Busche, und was das Schlimmste war, eine Unzahl Insecten peinigten uns Tag und Nacht. Aasfliegen setzten sich in die Augen- und Ohrenhöhlen, ja selbst in die Mundhöhle, legten dort ihre Eier und brachten so Würmer hervor, welche die fürchterlichsten Schmerzen erzeugten. Sandflöhe ferner krochen unter die Nägel und hoben dieselben ab.
Kein Wunder, daß unter solchen Umständen Krankheiten nie aufhörten und die Colonisten schaarenweise starben. Einen Arzt oder Apotheker hat Niemand gesehen. Hautkrankheiten und Fieber waren die größte Plage. Dabei war die Kost in jeder Beziehung unzulänglich. Bohnen, Mehl und getrocknetes Fleisch war das Einzige, was wir erhalten konnten. Alles war furchtbar theuer, so daß wir mit dem jämmerlichen Tagelohne von fünfundzwanzig Silbergroschen bis einen Thaler zwei Silbergroschen durchaus nicht auskamen und Hunger litten. Bohnen kosteten beispielsweise fünf Silbergroschen, Mehl vier Silbergroschen das Pfund. Wir Männer arbeiteten mehrere Meilen von Leopoldina entfernt und mußten Alles von dort herbeischaffen. Manche baten sich Land aus und klagten dem Director der Colonie, daß man sie betrogen habe. Letzterer aber fragte, ob sie Contracte hätten, und erklärte Anderen, sie müßten erst auf den Knieen zu ihm kommen, ehe sie Land erhielten. Dasselbe Unglück wiederholte sich auf der Colonie Moniz, welche im Gegensatze zu Santa Leopoldina Privateigenthum ist und dem Herrn Egoz Moniz Baretto de Aragao gehört.
Auch hier wieder hat es den Auswanderern – von Schule und Kirche natürlich ganz abgesehen – an allem Nothwendigsten gefehlt, nur sind die Krankheiten hier in der Nähe des Mangrove-Sumpfes noch entsetzlicher gewesen. Land haben sie dort allerdings in Hülle und Fülle bekommen, aber durchaus unfruchtbares. Der Boden – eine dünne Schicht Humus auf Quarzsand und Grauwacke, mit Eisen vermischt – hat selbst für Mais und die gewöhnlichsten Getreidearten nicht die erforderlichen Voraussetzungen enthalten.
Im Laufe weniger Wochen sind auf der Colonie Moniz von etwa zweitausend Colonisten circa hundertdreißig gestorben. Daß unter diesen Umständen von Reinlichkeit und Moralität gar keine Rede sein konnte, liegt auf der Hand.
All’ dieses Elend, dem die Einwanderer schließlich durch das Dazwischentreten des deutschen Consuls in Rio de Janeiro entronnen sind, haben jene Unglücklichen neben ihrer eigenen Leichtgläubigkeit zunächst dem speculativen Geschicke einiger deutschen (!!) Auswanderungsagenten zu verdanken. Bedenkt man, daß in den letzten zwei Jahren über zweitausend Deutsche so aus der Heimath, aus größtentheils ganz leidlichen Verhältnissen, gelockt sind, um in fernen Landen einem finanziellen Ruine, dem Tode oder doch mindestens der Zerrüttung ihrer Gesundheit entgegenzugehen, so kann man nicht hart genug über diese Handlungsweise urtheilen. Wollte man selbst den kaum denkbaren Fall annehmen, daß diese Expedienten von dem eigentlichen Zustande jener Colonie keine der Wahrheit gleichkommende Vorstellung gehabt hätten, so verdient mindestens die Gewissenlosigkeit gebrandmarkt zu werden, mit der sie in’s Ungewisse hinein Versprechungen gaben, die zu erfüllen sie gar nicht versuchten.
Welch ein Glück, daß des deutschen Reiches Macht überhaupt im Stande ist, seine irregeleiteten Unterthanen aus solchen Höllen zu befreien! Schmach und Schande aber über jenen Krämergeist, dem wenige Silberlinge höher stehen, als das Wohl und Wehe von Tausenden seiner Landsleute!
In der aufblühenden Großstadt am Patapsco, die seit vielen Jahren mit Stolz den Namen „Stadt der Monumente“ trägt, hat die deutsche Bevölkerung kürzlich einen Bau aus der Erde steigen lassen, welcher wohl mit Recht als ein neues Monument bezeichnet werden darf, als ein Denkmal, das der Deutsche der Humanität auf fremder Erde errichtete.
Dieses Denkmal ist das Allgemeine deutsche Waisenhaus, eine Heimstätte für die Kinder, welche der sterbende Emigrant an einem Gestade zurückläßt, wo eine fremde Sprache geredet wird, wo die verschiedensten Nationalitäten untereinander gewürfelt sind und das arme vater- und mutterlose Kind allein und ohne Schutz umherirren würde, wenn nicht deutsche Hände dasselbe in ihre Obhut nähmen und für dessen Pflege und Erziehung Sorge trügen. Mancher Emigrant langt sterbend in amerikanischen Häfen an. Bereits vom Alter geschwächt, ergreift er noch den Wanderstab und tritt die Reise nach dem Lande an, dessen Name seit einem halben Jahrhundert wie ein Zauberwort durch Europa gehallt und Manchem ein Bild aus „Tausend und einer Nacht“ vor die Augen gegaukelt, aber nur sterbend erreicht er das Land der Verheißung. Welch ein Trost erblüht ihm jedoch noch in der letzten Stunde, wenn er weiß, daß seine Kinder nicht verlassen das Gestade der neuen Welt betreten, sondern eine Heimath finden, wo ihnen keiner der Stürme, denen die Einwanderer in Amerika so oft ausgesetzt sind, Etwas anhaben kann! Wenn aber Jemand dafür gepriesen zu werden verdient, daß den Kindern der Deutschen, die auf den Friedhöfen der Monumentenstadt kühle Ruhestätten gefunden, eine Zuflucht bereitet wurde, so ist es die ganze deutsche Bevölkerung Baltimores, denn jeder deutsche Adoptivbürger hat zum Gelingen des Werkes beigetragen. – Das Deutschthum Baltimores, welches gegenwärtig ungefähr achtzigtausend Seelen zählt, spielte vor vierzig Jahren eine sehr untergeordnete Rolle. Von den Hunderten deutscher Vereine und Gesellschaften, die zur Zeit existiren, war damals noch keine Rede. Es war nichts vorhanden, was ein geistiges Band um die deutschen Einwohner Baltimores hätte schlingen können, weder ein Gesang- noch ein Bildungsverein, weder eine Unterstützungs- noch eine Versicherungsgesellschaft, weder eine deutsche Sparbank noch ein deutsches Zeitungsblatt. Eine deutsche Wochenschrift war allerdings, so unglaublich dies auch klingen mag, bereits im Jahre 1792 unter dem Namen „Maryländer Bote“ erschienen, doch nach kurzer Dauer wieder eingegangen. Der erste größere Verein, welcher in Baltimore in’s Leben trat, war der „Liederkranz“, ein seit achtunddreißig Jahren bestehender Gesangverein, der noch heute unter den vielen, später entstandenen ähnlichen Organisationen den ersten Rang einnimmt. Diesem Vereine folgten bald andere.
Die Einsetzung einer deutschen Loge der „Odd Fellows“ gab Veranlassung zur Gründung neuer geheimer Orden und Gesellschaften, und seit zwanzig Jahren schossen derartige Körperschaften massenhaft aus der Erde. Es giebt gegenwärtig in Baltimore „Freimaurer“, „Tempelritter“, „Sonderbare Brüder“, „Ordenssöhne der Freiheit“, „Harugari“, „Pythias-Ritter“, „Johanniter“, „Schwarze Ritter“, „Rothmänner“, „Druiden“ und unzählige andere geheime Orden, die ausschließlich wohlthätige Zwecke verfolgen. Vor zwölf Jahren zählte Baltimore schon mehr als hundert deutscher Vereine und Gesellschaften, aber selbst damals existirte noch kein Band, welches sich gemeinsam um die Organisationen schlang und die Deutschen Baltimores näher aneinander brachte. Der gebildete deutsche Einwohner war Mitglied der größeren Gesangvereine und der „Baltimorer Schützengesellschaft“, auf deren Park in diesem Sommer das erste Bundesschießen des „Nordöstlichen Schützenbundes“ stattfindet; Derjenige dagegen, welcher keinen Anspruch auf höhere Bildung machte, „belongte“ (wie es auf gut Deutsch in den Vereinigten Staaten heißt) zu dieser oder jener Loge und hielt sich den Gesangvereinen meistens fern.
[361] Erst dem Jahre 1863 war es vorbehalten, die verschiedenen deutschen Elemente näher aneinander zu bringen, indem in diesem Jahre der Grund zu einer Anstalt gelegt wurde, welche im Laufe der Zeit der Liebling, das Schooßkind und sogar der Stolz des ganzen Deutschthums Baltimores geworden ist – wir meinen das Allgemeine deutsche Waisenhaus. Keine von Deutsch-Amerikanern in’s Leben gerufene Anstalt, selbst in New-York, St. Louis und Chicago nicht, ist von allen Seiten so thatkräftig unterstützt worden, wie die obige Anstalt, deren Name schon besagt, daß dieses Unternehmen, soweit es die Unterbringung und Versorgung der Waisenkinder anbetrifft, dem ganzen deutschen Publicum der Monumentenstadt zu gute kommt, weil die Anstalt weder unter der Controle, noch unter dem Einflusse einer besonderen Gemeinschaft steht.
Seine ursprüngliche Gründung verdankt das Waisenhaus Herrn Martin Kratt, einem lutherischen Geistlichen Baltimores. Derselbe organisirte am 12. Juli 1863 in Verbindung mit mehreren Mitgliedern seiner Gemeinde einen Waisenverein, aus welchem eine Anstalt unter dem Namen „Das deutsche protestantische Waisenhaus“ hervorging. Das junge Institut hatte in den ersten Jahren seines Bestehens mit vielen Mühsalen zu kämpfen, und die Gründer wurden bei dem materiellen Ringen um die Existenz desselben häufig von Zagen ergriffen, aber stets rafften sie ihren Muth auf’s Neue wieder zusammen. Am 8. November 1863 ward das erste Gebäude für die Anstalt angekauft. So dürftig dasselbe auch anfangs eingerichtet wurde und so sehr man sich in jeder Weise einschränkte, so hatte man doch mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen, um die fällig werdenden Rechnungen zu bezahlen, denn bei dem Ankauf des Gebäudes hatte man nicht den kleinsten Fond in den Händen gehabt. Herr Kratt sah bald ein, daß das schöne Werk in Trümmer zusammensinken müsse, wenn es nicht zum Eigenthum der ganzen deutschen Bevölkerung gemacht werde. Jetzt trat eine neue Aufgabe an die Männer heran, deren Entschluß feststand, den Waisen eine Heimath zu schaffen; es galt, das Waisenhaus auf der Basis der Gleichberechtigung aller Confessionen neu zu begründen. Der Lösung dieser Aufgabe traten neue Schwierigkeiten in den Weg; man hatte mit Vorurtheilen zu kämpfen, und die Gründer waren sogar persönlichen Verfolgungen ausgesetzt. Nach und nach lernte man jedoch die Verdienste der Männer, welche so warm für die Sache der Waisen stritten, würdigen, und die Klippen, die sich anfangs um das Unternehmen aufgethürmt hatten, schwanden allmählich. Die Gesuche um Aufnahme mehrten sich, und als die Zahl der Kinder von acht auf vierunddreißig angewachsen war, stellte sich die Nothwendigkeit heraus, ein größeres Haus anzuschaffen. Lange mußte man jedoch suchen, ehe man ein geeignetes Gebäude fand. Endlich erstand man ein geräumiges dreistöckiges Haus an der Nord-Calvertstraße um den Preis von sechszehntausend Dollars. Mehrere Vereine und Logen traten dem Waisenvereine bei und ihren vereinten Bemühungen gelang es, in verhältnißmäßig kurzer Zeit die Summe des Ankaufs zu decken.
Am 7. Juli 1867 fand die Einweihung des Gebäudes statt, bei welcher Gelegenheit ein Festzug veranstaltet wurde, an dem sich die Mitglieder von fünfundfünfzig deutschen Gesellschaften, Logen und Vereinen betheiligten. Im neuen Waisenhause blühte das Unternehmen ersichtlich immer mehr auf. Die stetige Zunahme der Kinder, sowie die schädliche Ueberfüllung der Räume mußten indessen das Directorium, nachdem erst vier Jahre seit dem Einzuge in das Waisenhaus an der Calvertstraße verflossen waren, auf Mittel und Wege weisen, den Verhältnissen eine entschieden andere Gestaltung zu geben.
Man entschied sich für den Ankauf eines Carmeliterinnenklosters an der Aisquithstraße und beschloß einen gänzlichen Neubau auf dem erworbenen Grundstücke zu unternehmen. Nachdem ein Plan für den Bau angenommen worden war, wurde sofort mit dem Abbruche des Klosters begonnen, und nicht lange währte es, so war das alte finstere Gebäude, welches schon seit geraumer Zeit eine Unzierde der Aisquithstraße gewesen, von der Erde verschwunden, und langsam wuchs der neue Prachtbau aus dem Boden.
Am Sonntag, den 22. Juni 1873, fand die Grundsteinlegung statt, und die hiermit verbundene Feier war vielleicht die erhebendste, welche jemals von Deutschen in Amerika veranstaltet wurde. Fast jeder Deutsche, von dem Interesse für die edle Sache getrieben, nahm an der Feier Theil. Der Festzug, welcher ebenso wenig fehlte wie bei der Einweihung des alten Waisenhauses im Jahre 1867, bestand aus mehr als hundert Gesellschaften und Vereinen. Die Häuser der Stadt waren mit unzähligen deutschen und amerikanischen Fahnen geschmückt und die Straßen, durch welche sich der Zug bewegte, allenthalben mit einer dichten Menschenmenge besäet. Ganz Baltimore schien auf den Beinen zu sein; selbst die frommen, strenggläubigen Amerikaner vergaßen an diesem Tage die Kirche zu besuchen. Die Tempel der Methodisten, Baptisten, Unitarier, Quäker etc. standen verlassen, und die Verkündiger des Evangeliums in diesen Bethäusern predigten vor leeren Bänken.
Schon dreimal vor diesem Feste hatte Baltimore große von Deutschen ausgehende Processionen aufzuweisen: beim Steubenfeste, bei der Ankunft des ersten Bremer Dampfers und bei dem Friedensfeste nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges. So groß die Begeisterung auch bei jenen Gelegenheiten gewesen, so schnell war sie doch wieder, nachdem der specielle Zweck erreicht und der Jubel verklungen war, verraucht. Anders war es bei der Grundsteinlegung des Waisenhauses. Während sich in früheren Jahren die Vereine, nachdem eine derartige Festlichkeit ihr Ende erreicht, wieder auf ihr eigenes Feld zurückgezogen und isolirt dastanden, wurden die einzelnen Organisationen durch die Grundsteinlegung nur noch näher verbunden, und diejenigen Körperschaften, welche dem Waisenvereine noch nicht beigetreten und nicht durch Repräsentanten im Directorium der Anstalt vertreten waren, beeilten sich, diese bisher versäumte Pflicht einzuholen.
Natürlich wurden bei der Feier der Grundsteinlegung auch Reden gehalten, und selbst der damalige Gouverneur des Staates Maryland, der Achtb. W. Pinkney Whyte, erschien an jenem Tage unter seinen Mitbürgern und hielt die englische Festrede. Seine Worte fanden den Weg zu Aller Herzen, und gewaltig war die Wirkung, welche dieser Redner, der zur Zeit Mitglied des Bundessenats ist, mit seinen Worten auf die Masse ausübte. Als deutsche Redner traten Herr Gustav Facius, der Präsident des Waisenhauses, Herr Heinrich Scheib, Geistlicher der deutschen Zionsgemeinde, und Herr Martin Kratt, der Gründer der Anstalt, auf.
Eine während der Feier unter der versammelten Menge veranstaltete Collecte ergab den hübschen Betrag von mehr als dreitausend Dollars.
Die Arbeiten an dem Baue nahmen jetzt einen rüstigen Fortgang, und seit wenigen Wochen ist das Gebäude, wenn man von einigen Arbeiten im Innern absieht, als vollendet zu betrachten. Am 22. Juni, dem Jahrestage der Grundsteinlegung, wird die Einweihung der neuen Waisenheimath stattfinden, und daß dieser Tag sich abermals zu einem Festtage für die ganze deutsche Bevölkerung, deren Schooßkind das Asyl geworden ist, gestalten wird, kann nur Der bezweifeln, der nicht den Geist des Wohlthuns und der Mildthätigkeit kennt, welcher unter den Deutschamerikanern herrscht und in deren Herzen tiefe Wurzeln gefaßt hat.
Mit dem Waisenvereine ist ein Damennähverein verbunden, der für die Bedürfnisse der Kinder sorgt und den Haushalt der Anstalt mit Dem versorgt, was gerade nothwendig ist. Dieser Nähverein, ein wackerer Compagnon des Directoriums, zählt gegenwärtig dreihundertfünfundsiebenzig Mitglieder, von denen jedes einen jährlichen Beitrag von drei Dollars zahlt. Der Verein befindet sich, obwohl er jährlich Hunderte von Dollars für Bekleidungs- und Haushaltungsgegenstände ausgiebt, dennoch finanziell in einem blühenden Zustande und überwies erst kürzlich dem Baucomité zur Bestreitung von Baukosten für das neue Waisenhaus einen Beitrag von tausendfünfhundert Dollars.
Die Kinder der Anstalt erhalten freien Unterricht in verschiedenen deutschamerikanischen Schulen, doch wird hoffentlich der Tag nicht mehr fern sein, wo das Waisenhaus seine eigene Schule aufzuweisen haben wird.
Das neue Asyl, dessen Einweihung nunmehr vor der Thür steht, umfaßt ein Front- und ein Hintergebäude nebst Waschhaus. Der Hauptbau beginnt in einer Entfernung von vierundzwanzig Fuß von der Baulinie und schließt sich mit seiner nördlichen Seite unmittelbar an die Capelle, ein kleines Gebäude, welches
[362] von den Carmeliterinnen als Betsaal benutzt wurde und beim Abbruche des Klosters stehen blieb, um für die Zwecke der Waisenanstalt eingerichtet zu werden. In Zukunft beabsichtigt man, die Capelle als ein Hospital zur Aufnahme solcher Kinder zu benutzen, welche an ansteckenden Krankheiten leiden. Die Länge der Front des Hauptbaues beträgt hundertvier Fuß. Durch die Mitte des Gebäudes laufen zwei durch alle Stockwerke gehende Scheidewände, welche den Hauptgang oder die Halle einschließen. Das Gebäude besteht aus einem Erdgeschoß, drei Stockwerken und den nöthigen Dachräumen. Zum Haupteingange gelangt man mittelst einer von zwei Seiten hinaufführenden Granittreppe, zwischen welcher sich der geräumige Eingang zum Erdgeschosse befindet. Im ersten Stockwerke sind der geräumige Speisesaal, das große Zimmer des Damennähvereins und mehrere andere Räumlichkeiten, die größtentheils den Zwecken des Directoriums dienen, gelegen. Auf der Südseite des zweiten Stockwerks befindet sich der Schlafsaal für die Mädchen nebst Balkonzimmer. Der bedeutende, zweitausendvierhundertachtzig Quadratfuß haltende Raum des Schlafsaales gestattet die Aufstellung von zweiundachtzig Betten. Die nördliche Seite dieses Stockwerks enthält zwei große und drei etwas kleinere Zimmer, welche letztere als Krankenzimmer für die Knaben und Mädchen dienen sollen. Im dritten Stockwerke liegt außer anderen Räumlichkeiten der Schlafsaal für die Knaben, dessen Dimensionen genau mit dem für die Mädchen bestimmten Schlafraum übereinstimmen. Vor dem Haupteingange des neuen Gebäudes liegt ein von Bogen, Säulen und Pfeilern gebildeter Porticus. Das Hintergebäude hat eine Breite von sechsundzwanzig und eine Länge von vierzig Fuß und enthält die Küchen, die Speisekammer, die Backstube, zwei Waschzimmer, zwei Badezimmer etc. Das Waschhaus stößt an die Küche, von der aus es zu jeder Zeit mit heißem Wasser versehen werden kann.
Obgleich der ganzen deutschen Bevölkerung Baltimores die Ehre gebührt, zum Ausbau der Waisenanstalt beigetragen zu haben, so sind es doch besonders zwei Männer, die seit Jahren fast alle ihre Kräfte dem Waisenhause gewidmet und unendlich viel für dessen Aufblühen gewirkt und gethan haben. Der Eine dieser beiden Männer ist der Präsident des Waisenvereins, Herr Gustav Facius, und der Andere der Secretär, Herr E. C. Linden. Beiden hat das Schicksal keine goldenen Schätze in den Schooß geworfen, aber ein edles Herz für ihre Mitmenschen schlägt in ihrer Brust, und die Sache der Waisen geht ihnen über Alles. Manchen Tag und manche Nacht haben sie für das Wohl der verlassenen Kinder gearbeitet, ohne eine andere Entschädigung zu erwerben, als den Dank ihrer Mitbürger. Und ist dies nicht der schönste Lohn für ihre Mühe und Arbeit?
Ein neuer Märtyrerstein. (Mit Abbildung S. 359.) Daß die großen Ereignisse unsrer Zeit auch auf die Anschauung und Beurtheilung unserer näheren Vergangenheit klärend und versöhnend wirken, hat schon vor zwei Jahren die Gartenlaube anzuerkennen gehabt, als sie (1872, Nr. 37) in Bild und Wort das Denkmal brachte, welches zu Kirchheimbolanden in der Rheinpfalz den Volkskämpfern errichtet worden ist, welche in der Vertheidigung der auf dem gesetzlichsten Wege zu Stande gekommenen deutschen Reichsgrundgesetze von 1849 den Tod fanden.
Heute schon können wir unsere Leser vor ein zweites Erinnerungsmal jener Zeit führen. Diesmal hat es jedoch nicht den Tod mit den Waffen in der Hand zu preisen, sondern es trauert jenen Opfern nach, welchen der Spruch eines Kriegsgerichts das rasche Ende bereitete.
Die Namen auf der Denkmalplatte nennen die Fünfe, welche auf dem Mannheimer Friedhofe jenseits des Neckar erschossen und begraben worden sind. An ihrer Spitze steht – Trützschler, – einer der edelsten und hochsinnigsten Männer der That, welcher der nationalen Bewegung des Jahres Achtundvierzig mit allem Feuer idealer Begeisterung sich anschloß, in der festen Ueberzeugung der Reinheit seines auf Deutschlands Größe und Einheit gerichteten Strebens. Standen vielleicht auch die andern Vier, die sein Schicksal theilten, nicht ganz auf seiner Bildungshöhe, so waren sie ihm doch gleich im tapferen Streben nach dem Ziele, das erst unsere Zeit, wohl auf viel blutigerem Wege, aber auch mit größerem Triumphe und Heimführung altverlorener Länder- und Städte-Perlen, endlich erreicht hat.
Wer an einem so errungenen Ziele steht, errungen nicht durch einen siegreichen Feldzug allein, sondern auch durch das vorhergegangene fünfzigjährige Bekämpfen des bösen Geistes der Undeutschheit, des Freiheitshasses und der Machteifersucht in den Kreisen, die den sogenannten deutschen Bund beherrschten – wer an dem Ziele steht, wo der deutsche Kaiser und der deutsche Reichstag gemeinsam für die Geistesfreiheit der Nation eintreten und die Einigkeit durch die Einheit der Macht gesichert ist – der darf sich wohl umsehen auf der langen Kampfbahn und gerecht und treu die Leiber der zerstreut gefallenen Helden desselben Kampfes zusammensuchen und unter einem Denkstein bestatten.
Dieser Gedanke ist’s, der in Mannheim zur Ausführung vorbereitet wird. Die im Mannheimer Friedhofe zerstreut begrabenen Opfer jener Zeit sollen in einer Gruft beisammen ruhen und über ihnen sich das Denkmal erheben, das unsere Abbildung mittheilt. Die dazu gewählte Stätte findet sich gleich am Anfang der zweiten Abtheilung des Friedhofs auf einem durch Wege abgegrenzten und nach der Eingangseite der Abtheilung abgestumpften Vierecke und umgeben von reich durch die Kunst geschmückten Familiengrüften.
Möge der gute Gedanke recht bald verwirklicht werden! Solche Märtyrersteine sind in unseren Tagen nicht Merkmale nachträglichen Vorwurfs und kleinlicher Genugthuung, sondern Zeugnisse der Versöhnung und der Gerechtigkeit, denen selbst der ehemalige Gegner jener Todten nunmehr, nachdem viel Vorurtheil und Wahn mit der alten Zwietracht versunken ist, die verdiente Ehre und Theilnahme nicht mehr versagt.
Das Scherflein der Kinderlosen. Unsere „Deutschen Blätter“ („Literarisch-politische Beilage zur Gartenlaube“) veröffentlichten im Jahre 1873 eine den Lehrerstand betreffende Anregung des Herrn Gustav Rietz, eines deutschen Kaufmanns in Bukarest. Der in der Ferne lebende patriotisch fühlende Mann beschäftigt sich seit Jahren ebenso herzlich wie emsig mit der Frage, wie Deutschland seinen Volksschullehrern eine ihrer wichtigen Aufgabe, der Hohheit und Würde ihres Berufes angemessene Lebensstellung verschaffen und sichern könne. Deutschland habe große Ziele errungen, sei zu machtvollem Aufschwunge gediehen, aber die bedrängte Lage seiner Lehrer, denen es doch zum großen Theile diese Erfolge zu danken habe, von denen es einen so wirksamen Einfluß auf die glückliche Gestaltung der weiteren Zukunft erwarten müsse, sei ein schwacher Punkt seiner Kraft und ein unleugbarer Flecken auf dem Glanze seines Ruhmes. Ob der Staat den Lehrern nicht durchgreifend helfen wolle, oder ob er es nicht könne, ist wirklich zunächst für die Nothleidenden gleichgültig, denn ihre Bedrängniß bleibt bis zur Entscheidung der Streitfrage nach wie vor dieselbe. Während aber der Staat doch etwas thut, verhält sich das Volk und der Bürgerstand dem argen Schaden, der schweren und beschämenden Calamität gegenüber noch immer theilnahmlos und unthätig, als ob es eine Sache beträfe, die sie nichts anginge, in die sie nicht gleichfalls aus eigenem Antriebe einzugreifen hätten. Eltern freilich, denen die Erziehung von Kindern obliegt, zahlen dem Schulwesen und somit den höheren Aufgaben der Gesellschaft schon einen entsprechenden Tribut, und man weiß, wie sauer ihnen das in zahllosen Fällen wird. Was aber thut die große Masse der Kinderlosen und Unverheiratheten, die sich doch gleichfalls aller Segnungen, Vortheile und Annehmlichkeiten erfreuen, welche die Förderung und der Fortschritt der Cultur der Gesammtheit aller Staatsbürger bringt?
Hier ist der Punkt, an welchen der Vorschlag des Herrn Rietz sich knüpft. Ungefähr nach der Organisation des Gustav-Adolf-Vereins will er einen über ganz Deutschland sich verbreitenden, etwa in Berlin centralisirten Verein gegründet sehen, in dessen Casse jeder selbstständige Mann, der keine Kinder zu ernähren und zu erziehen hat, jährlich nicht mehr als einen einzigen Thaler zahlt. Aus den reichen Mitteln, die hierdurch zusammen kämen, sollen dann Volkspensionen für alte und gebrechliche Lehrer, für Wittwen und Waisen von Lehrern und zur Aufbesserung von Lehrergehalten in armen Gemeinden bestritten werden. Der Anreger des Gedankens setzt voraus, daß in jeder Stadt, in jedem Städtchen und Dorfe sich einige Männer finden, die sich der Sache annehmen, und daß kein „Kinderloser“ sich der kleinen Steuer entziehen wird, wenn er den Blick auf den Nachbar richtet, der jährlich so viele Thaler für die Kinder ausgeben muß. Wir unsererseits setzen das nicht so ohne Weiteres voraus, aber schon die „Deutschen Blätter“ bemerkten zur Zeit, daß Schwierigkeiten allein nicht von der Verwirklichung eines guten und edlen Planes zurückschrecken dürfen. In der That ist die Idee schon in vielen Kreisen mit warmer Theilnahme aufgenommen worden, so daß Herr Rietz sich ermuthigt fühlte, die Verwirklichung der von ihm sehr rüstig betriebenen Angelegenheit der binnen Kurzem in Breslau tagenden „Allgemeinen deutschen Lehrer-Versammlung“ in einem besonderen Flugblatte an’s Herz zu legen. Was freilich die Lehrer selber in Bezug auf eine Dotation thun können, die ihnen von dem dankbaren Pflichtgefühle des Volkes entgegengebracht werden soll, steht noch dahin. Jedenfalls aber hielten wir uns für verpflichtet, auch unsererseits die Aufmerksamkeit auf ein immerhin der ernsten Erwägung würdiges, aus den reinsten und selbstlosesten Motiven hervorgegangenes Project zu lenken.
H. M. in Minden. Lieber Herr, warum so viel Lärm über die „Erinnerungen einer Siebzigjährigen“? Wer es trotz „dieses Lebens Ungemach“ zu so hohen Jahren gebracht hat, der darf sich wohl einmal ungestraft einen kleinen Gedächtnißfehler zu Schulden kommen lassen. Es ist nach so langen Jahren kein Verbrechen, der Lamberti-Kirche in Münster, welche – Sie haben Recht – nur einen Thurm hat, einen zweiten anzudichten und die Käfige der Wiedertäufer zu vergessen.
- Mit nächster Nummer beginnt die bereits angekündigte Novelle: