Aus den Erinnerungen einer Siebzigjährigen

Textdaten
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Autor: N. v. B.
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Titel: Aus den Erinnerungen einer Siebzigjährigen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 330
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Kleiner Briefkasten (Die Gartenlaube 1874)#Heft 22
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[330] Aus den Erinnerungen einer Siebzigjährigen. Die vor Kurzem an die Oeffentlichkeit gezogenen Ereignisse in Münster rufen eine lebhafte Erinnerung in mir wach an einen Aufenthalt in jener Stadt, die wohl zu den schlimmen, jedoch zu den nie zu vergessenden gehört. Mit Hülfe meiner „Erinnerungsblätter“ und meines treuen Gedächtnisses will ich hier von dem berichten, was ich in jener Stadt in meiner frühesten Jugendzeit erlebte, leider nur ein Zeugniß mehr unter den zahllosen heute zu Tage tretenden, wie schwer es der vorwärts schreitenden Zeit wird, tief eingewurzelte Uebel zu besiegen.

Im Winter des Jahres 1809 brachte ein Brief aus Münster meiner Mutter die Einladung ihrer Freundin, der Gräfin Plettenberg-Mietingen, sie auf längere Zeit zu besuchen. In der ersten Hälfte des März langten wir in Münster an, fanden aber die Gräfin krank und für längere Zeit an das Zimmer gefesselt. In gütiger Rücksicht für mich veranlaßt sie es, daß wir einige der als Merkwürdigkeiten geltenden Dinge kennen lernten. Der düstere, unheimliche Eindruck, den der Ort sogleich auf mich gemacht, ward dadurch nicht gemildert, daß wir, in der vielgepriesenen Kapuzinerkirche im stillen Gebete auf einer Bank sitzend, nicht allzu sanft an der Schulter uns berührt fühlten und die Worte aus eines Kapuzinermönches Munde hörten:

„Machen Sie, daß Sie ’raus kommen! Man hat bemerkt, daß Sie nicht des Glaubens sind. Wenn Sie nicht Unangenehmes erleben wollen, so trollen Sie sich fort.“

Als wir vor dem Rathhause anlangten, zeigte der uns Begleitende auf die dort aufgehängten Zangen, Ketten, Halseisen, all jene Denkmäler mittelalterlicher Grausamkeit, womit man den halb wahnsinnigen Johann von Leyden und seinen bösen Rath Knipper-Dolling gemartert und sie dann todeswund in einsamen Käfigen an den beiden Thürmen der nahe gelegenen Lambertikirche hinaufgehißt und elend hatte verschmachten lassen.*[1]

Das Grauen, das damals mein junges Herz durchschauerte, steigerte sich, als man uns nach dem Domplatze führte, dessen düsterer Eindruck mir unvergeßlich geblieben. Es war, als flüsterten unheimliche Stimmen in den noch unbelaubten hohen Bäumen von schauerlichen Dingen, die hier geschehen und von denen auch die Sage im Volke sich noch erhalten. – In der Mitte des Platzes zeigte man uns einen viereckigen Stein, auf welchem, der Sage nach, der Richtblock gestanden, auf welchem Johann von Leyden diejenige seiner zwölf Frauen, die so unglücklich gewesen, durch ein Wort, eine Miene seinen Zorn zu erregen, durch den Henker hinrichten ließ, während welches Actes er mit den elf anderen einen Rundtanz mit Gesang um die Schauerscene aufführte.

Ich erholte mich erst von all diesen Eindrücken, als unser Begleiter uns verständiger Weise auf die Promenade um die Stadt führte, die sehr wohlgehalten, mit herrlichen Bäumen und vielen Ruhesitzen versehen war.

Es standen mir noch andere, mich persönlich berührende Eindrücke bevor. Die Stimmung der Bevölkerung unter Hoch und Niedrig gab sich so erkennbar kund, daß sie selbst meinem so jugendlich unbefangenen Gemüthe bemerkbar wurde. Die mir völlig fremde Erscheinung von Mönchen, denen man dort immer begegnete, war mir zwar als Neuheit interessant, allein der finstere Ausdruck dieser Gesichter, der stechende Blick, dem ich öfter begegnete, machten mir den Eindruck, als sähen sie es mir an, daß ich nicht „des Glaubens“ sei. Bei den wenigen Personen, die wir bei der Gräfin sahen, gab sich eine eisige Zurückhaltung kund.

Man konnte es nicht ertragen, sich unter einer ketzerischen Regierung zu befinden, und als nun diese Regierung es wagte, eine der vielen Kirchen der Stadt für den protestantischen Gottesdienst in Beschlag zu nehmen, da entbrannte ein fanatischer Haß, ein Groll, den nur die Furcht vor der Macht zurück in’s Innere drängte und der bis jetzt nur selten laut wurde. Wir hatten wohl schon von Störungen des protestantischen Gottesdienstes gehört. Da mich, die ich vor Kurzem erst eingesegnet worden, unter all diesen mir widerstrebenden Umgebungen herzlich nach der Kirche verlangte, besuchten wir diese am nächsten Sonntage. Auf dem Hinwege war Alles ruhig; kaum ertönte aber von der Orgel das erste Lied, so flogen Steine gegen die Kirchthür; der Küster, der draußen stehen sollte, um zur Ruhe zu ermahnen, ward verhöhnt und zuletzt so pöbelhaft bedrängt, daß er sich, um Mißhandlungen zu entgehen, eiligst in die Kirche flüchtete und die Thür schnell schloß. Das Bombardement dauerte fort, so lange die Orgel tönte. – So toll hatte der Pöbel noch nicht getobt. Der Consistorialrath führte Beschwerde und von jenem Sonntage an wurden die Kirchgänger durch ein an den Kirchthüren aufgestelltes Piquet Militär geschützt.

Da die völlige Genesung der Gräfin sich länger, als man erwartet, verzögert hatte, konnte meine Mutter nicht umhin, es auszusprechen, daß es endlich Zeit sein dürfe, der Baronin von Ketteler, Schwiegermutter der Gräfin und früheren verwittweten Reichsgräfin Plettenberg, mit welcher sie schon einige Male zusammengetroffen, den schuldigen Höflichkeitsbesuch zu machen, da sie sonst der Dame gegenüber als aller gesellschaftlichen Bildung baar erscheinen müsse.

„Ach!“ entgegnete die Gräfin, „meine Schwiegermutter weiß sehr wohl, daß Sie ihr nicht eher Ihren Besuch machen können, als bis Sie einen andern gemacht haben, über den zu sprechen mir schon lange schwer auf dem Herzen liegt.“

„Weshalb?“

„Ja, das ist mir Ihnen gegenüber deshalb schwer,“ sagte die Gräfin nicht ohne sichtbare peinliche Verlegenheit, „weil ich die Visite bei Plettenberg’s Großmutter als ein Freundschaftsopfer von Ihnen erbitten muß.“

„Das klingt ja sonderbar! Und wer ist diese Dame?“

„Es ist die hochbetagte Gräfin Galen Excellenz, ci devant Oberhofmeisterin der Kaiserin Maria Theresia.“

„Nun, darin kann doch weder für Sie, noch für mich etwas peinliches liegen?“

„Darin freilich nicht, aber dennoch dürfte bei diesem Besuche sich Manches zutragen, was Sie verletzen würde, denn, gerade herausgesagt, die alte Dame ist entsetzlich bigott und weiß es längst, daß Sie –“

„Daß ich eine Ketzerin bin,“ unterbrach meine Mutter lachend die peinliche Rede der Gräfin. „Beruhigen Sie sich, Liebe! Lassen Sie morgen schon anspannen und mich das Wagniß unternehmen, mir einige innerliche Anathema nachgesandt zu wissen! Als Frau von Welt werde ich blind und taub sein für Alles, was meinem Ketzerthume gilt.“

Am nächsten Vormittage führte uns die Gala-Equipage des Grafen zu dem Hause der alten Excellenz, das ich nicht ohne ein gewisses Bangen betreten konnte. In der Vorhalle schon umgab uns eine Wolke von Weihrauch, der das ganze Haus zu erfüllen schien. Durch ein großes mit Teppichen belegtes Vorzimmer geführt, ward die Hälfte einer Flügelthür geöffnet und wir traten in ein großes, aber dennoch düsteres Gemach. Alle Wände waren mit schwarzeingerahmten Bildern bedeckt, welche Heilige darstellten, die in ihrem Martyrium begriffen waren. Die alte Dame, deren Antlitz trotz des hohen Alters Spuren großer Schönheit zeigte, saß im Lehnsessel, von welchem sie sich ein wenig erhob. Mit der Hand auf zwei nicht allzu nahe von ihr stehende Stühle zeigend, begrüßte sie uns mit einigen Worten. Sie war höflich, aber äußerst reservirt, und so bewegte sich die Unterhaltung in den gewöhnlichen Phrasen der Leute aus der großen Welt.

Mir war die Erscheinung dieser in Formen erstarrten Seele zu merkwürdig, als daß ich nicht mit jugendlicher Neugier hätte auf Alles achten sollen. Das schwere schwarzseidene Kleid, die schönen Points am Kragen und an den Händen, die breiten Spitzenbarben an der Haube, die Insignien ihrer früheren Würde und vor Allem der prächtige Rosenkranz, der an ihrem Gürtel herabhing und den sie während der kurzen Zeit dieses Besuches sehr oft in die Hände nahm und durchgleiten ließ, nichts entging meinen Augen, wenn ich sie auch nicht unbescheiden umherschauen ließ.

Nur so lange als strengste Etiquette einen solchen Besuch gestattet, verweilte meine Mutter. Wie es schien, wurden wir etwas freundlicher entlassen, als wir empfangen worden. Kaum hatten wir die Thür geöffnet, so sahen wir dicht an derselben die Kammerfrau stehen, in der einen Hand den stark tröpfelnden Weihwedel, in der andern das dampfende Rauchbecken, und sobald unser Fuß die Schwelle des Zimmers überschritten, besprengte die Person, deren Blicke feindselig unsere Schritte zu überwachen schienen, hastig die durch die Füße der Ketzerinnen entweihte Schwelle und folgte uns Schritt für Schritt, den Weg bis zur Ausgangsthür, die der Lakai schnell aufriß, besprengend, räuchernd und Worte zwischen den Lippen murmelnd, von welchen mein scharfes Gehör jedoch nicht unterscheiden konnte, ob es Gebete oder Flüche waren.

Ich war ganz empört über das Erlebte, das einen tiefen Eindruck auf mein junges Gemüth machte.

Es ward nun sogleich auch der Besuch bei der Baronin von Ketteler abgestattet. Dort war soeben ihr Enkelsohn, der jetzige Bischof von Mainz, eingetreten, der sich, glückselig herumstolzirend, Großmama in den ersten Höschen, die er heute bekommen, präsentirte. Wer hätte wohl ahnen können, welche Rolle dieses, in echt kindlicher Weise sich brüstende Knäblein dereinst spielen werde? Aber zu verwundern hat man sich wohl nicht, daß auf solchem Boden solche Pflanzen gedeihen.

N. v. B.



  1. * Die Marterwerkzeuge und Käfige sind nicht mehr dort.