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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[463]

Der Loder.

Eine Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Der Alte erwiderte den Händedruck, mit dem Th’res diese Versicherung begleitete, mit gleicher Herzlichkeit, aber über sein Antlitz flog ein Schatten des Befremdens und der Ueberraschung. „Ich nehm’ Dein Versprechen an, Th’res,“ sagte er, „aber was ist das für eine sonderbare Red’ – ‚wenn einmal da Eures Bleibens nimmer ist‘ … wie kommst auf solche Gedanken? Warum sollt’ auf dem Lindhamerhof mein’ Bleiben nimmer sein?“

„Nun, ich hab’ nur so gemeint,“ erwiderte Th’res in sichtbarer Befangenheit – „ich hab’ nichts damit sagen wollen – es wär’ halt, wenn Ihr Euch mit dem Dickl nimmer vertragen könntet oder mit der Schwieger …“

Sie kam mit ihrem Satze nicht recht zu Ende. Der Alte mußte ihr Stocken gewahr werden und fand darin eine Bestätigung des gleich zuerst in ihm aufgestiegenen Argwohns, daß sie etwas vor ihm zu verbergen suche.

„Wie, Th’res?“ sagte er kopfschüttelnd, „das bin ich nit gewohnt von Dir, daß Du nit frei herausgehst mit der Sprach’ … Du hast was Andres sagen wollen und jetzt möchtest Du’s wieder herumdrehn und vertuschen … das steht Dir nit an, Th’res. Man merkt’s, und es ist doch gerad’ so viel als wie gelogen. – Frisch von der Leber weg! Was hat das heißen sollen: ‚wenn einmal da Eures Bleibens nimmer ist‘ – auf dem Lindhamerhof bin ich geboren; auf dem Lindhamerhof hab’ ich gehaust in Ehren; auf dem Lindhamerhof will ich sterben und geh’ freiwillig nit fort.“

„Ich glaub’s“, sagte Th’res, „wenn Ihr aber müßt?“

„Müssen? Ha, Du Narr!“ rief der Alte mit einem Lachen, das nicht sehr fröhlich klang. „Wer wollt’ mich zwingen? Da hab’ ich allemal auch noch ein Wort d’rein zu reden – ich, als der alte Lindhamer und der – – –“

Er verstummte. Plötzlich, wie ein Blitz, zuckte ein Gedanke in ihm auf der ihn auch blitzähnlich traf und, als er aufzuspringen versuchte, ihn mit brechenden Knieen und verschwimmenden Sinnen auf die Bank zurückgleiten ließ. „Herrgott, im Himmel!“ stieß er beinahe lallend heraus. … „Es wird doch das nit sein. … Red’, Th’res … der Dickl haust sich nit gut?“

Er sah starr in Theresens Angesicht, als wollte er mit seinen blinden Augen die Antwort davon herunterlesen; seine Hände streckten sich nach ihr aus, eine Stütze suchend, an der er sich anklammern könne, denn ihm war, als wolle der Boden unter ihm weichen.

„Es ist einmal nit anders,“ erwiderte Th’res schmerzlich, „was hilft’s, wenn man es noch länger vertuschen wollt’, Ihr müßt es doch einmal erfahren. – Ja, der Dickl haust sich schlecht, das ist nit mehr zu leugnen. Ich weiß wohl nit, wie weit es gefehlt ist, denn er läßt mich natürlich nit hineinschaun, und zu fragen steht mir nit zu, aber daß es schief geht, das sieht Jeder, wer Augen im Kopf hat, und Ihr müßtet’s auch schon lange gemerkt haben, wenn man nit Alles gethan hätt’, um Euch Alles zu verblümeln, was man Euch hat weis machen können mit Euren schwachen Augen. … Ihr habt gefragt, warum sich nichts rührt auf dem Hof? warum Ihr nichts hört von der Tenne und vom Stall? Weil die paar Ehhalten, die noch da sind, ihrer Lustbarkeit nachgehn – weil das Vieh der Jud’ fortgenommen hat, dem der Dickl schuldig war, und weil er das Getreid’ gleich auf dem Feld verkauft hat …“

Vernichtet stützte der Alte die Arme auf den Tisch und verbarg sein Gesicht in den Händen; nun war es an ihn gekommen, zuzuhören und zu vernehmen, daß Dickl gleich vom Anfang sich um die Wirthschaft nicht viel gekümmert und die Arbeit auf die leichte Achsel genommen habe; er sei nur seinem Vergnügen nachgegangen, Tage und Nächte lang von Haus und Hof weggeblieben und in lustiger Gesellschaft am Spieltisch gesessen. Er habe schwere Summen verloren und mit der verwöhnten Straßenwirthstochter sei vollends die Unordnung und die Verschwendung eingezogen; dazu habe Dickl Geld aufgenommen, wo es nur zu finden gewesen, habe immer höhere Zinsen und Summen verschrieben und sich so immer tiefer hineingearbeitet, daß es nun ungewiß sei, ob noch ein Ausweg zur Rettung übrig geblieben.

Der Alte starrte und stummte, unfähig jeder Regung und jeder Erwiderung – die Gewißheit, den herrlichen Lindhamerhof so erniedrigt, so herabgekommen denken zu müssen, war über ihn hereingebrochen, wie ein Steinrutsch, unter dem er wie begraben lag, vernichtet und doch noch lebend, unfähig ein Glied zu bewegen, aber wohl im Stande, den Einen entsetzlichen Gedanken fort und fort zu denken und an seiner Qual langsam zu verenden.

„Also so weit ist es gekommen!“ murmelte er nach einer Weile. „So hat man mich betrogen und zum Narren gehalten! O, der unnütze heimtückische Bub, der …“ Wieder hielt er inne und sprach das Wort nicht aus, das sich ihm aufdrängte, [464] und das er immer wie etwas von sich abhielt, das ihm schon einmal Unheil gebracht; dann fuhr er plötzlich mit einem Anklang des alten Ungestüms auf. „Dann ist es gewiß auch nit wahr,“ rief er, „was er mir wegen des Lindenbrünnl’s vorgemacht hat? Daß es angefangen hat auszubleiben, daß er es neu hat fassen lassen müssen – daß Alles auf dem besten Weg’ ist, und daß es bald noch stärker fließen wird, als zuvor?“

„Es ist Alles nit wahr,“ sagte Th’res leise und betrübt. „Der Brunngrabersepp hat so lang zugesetzt und eingeredt, bis er’s ihm erlaubt hat, das Brünnl’ weiter zu machen, damit es stärker und ganz sicher rinnen sollt … wie sie aber eine Weil’ gegraben haben, ist das Wasser auf einmal ganz ausgeblieben … die Nachbarn sagen, die Quellen hat sich erfallen und kommt nimmermehr an’s Tageslicht …“

„Ja, nachher ist’s aus – nachher ist das Glück fort und der Segen – nachher ist der Lindhamerhof fertig,“ ächzte der Alte und erhob sich an Th’resens Arm. „Mir wird auf einmal so ängstig in der Stuben; führ’ mich hinaus in die frische Luft … ich kann zwar ganz gut allein gehn, aber wenn Du mir Deinen Arm geben willst, ist es mir doch recht – mich hat auf einmal eine völlige Schwäche angewandelt …“

Schweigend nahm Th’res seinen Arm und führte ihn vor die Thüre, der Lindenbank zu. Der Tag hatte sich nicht aufgehellt. Trübes nebelhaftes Gewölk war noch dichter vor die Sonne gelagert, und ein frischer feuchter Luftzug strich über die Höhe hin, den Regen verkündend, der hinter ihm heranrauschte. Der Alte athmete tief auf, dann ging er einige Schritte, blieb aber wieder stehn und hielt auch das Mädchen an – er schien etwas sagen zu wollen, was ihm das Herz drängte und was er doch auszusprechen scheute.

„Wollt Ihr was, Vater?“ fragte Th’res.

„Nichts,“ sagte er zögernd und so leise, als wolle er selber es nicht vernehmen. „Es ist mir nur so eingefallen … ich hab’ Dich nur fragen wollen … hast Du nie was gehört?“

„Von was, Vater?“ fragte Th’res mit bewegter Stimme hinwieder; sie wußte wohl, was er meinte, aber eben darum griff es ihr an’s Herz – in den fünf langen Jahren war es das erste Mal, daß er des Verstoßenen gedachte.

„Nun von dem Andern – Du wirst schon wissen, wen ich mein’ …“

„Ich hab’ nie was gehört,“ lautete die betrübte Antwort, „es ist selbiges Mal gerad’ ein Schiff in Rosenheim auf dem Inn gelegen … da ist der … der Andere eingestiegen und damit fortgeschwommen, nach Passau und nach Wien hinunter, und Gott weiß, wohin weiter …“

Das Gespräch brach ab, denn sie waren an der Linde angekommen; zu gleicher Zeit aber wurden laute Stimmen vernehmbar, als käme eine größere Anzahl Menschen die von Gebüsch umrandete Anhöhe herauf. „Was giebt es denn?“ sagte der Alte. „Ich glaub’ es kommen Leut’ – wenn’s Fremde sind, geh’ ich hinein – ich kann das Geschau nit leiden und das Gefrag’ und das Gespött’ …“

Th’res wollte eben vortretend den Abhang hinunterblicken, als über demselben der rothe Kopf und der dicke Körper des Geschäftmachers Unterberger auftauchte, der sie plötzlich erblickte und durch lauten Zuruf festhielt. „Aha, da sind wir ja schon!“ rief er lachend und näher kommend. „Wenn ich nicht irre, ist das die Person, über die ich so viel hab’ lachen müssen, wie ich das letzte Mal da war, die nicht gewußt hat, wer sie ist und als was sie eigentlich auf dem Hof’ ist … ‚Ich bin halt die Th’res,‘ setzte er, die damalige Rede des Mädchens nachäffend, unter erneutem Gelächter hinzu. „Vielleicht weiß sie es jetzt – es hat sich ja allerlei geändert da auf dem Lindhamerhof – schon der neue bequeme Fahrweg, während man früher steigen und schwitzen mußte, als wenn’s auf eine Alm’ hinaufginge. Das ist schon ein Vortheil – ein zweifacher obendrein, denn jetzt kann man Alles, was oben ist, fein kommod herunterbringen …“

Th’res stand dem redseligen Spötter gegenüber, als wäre sie in eine Steinsäule verwandelt, theils vor eigener Ueberraschung, theils aus Bestürzung darüber, daß das, was sie nun kommen sah, auch dem Alten sogleich nach seinem ganzen Inhalte bekannt werden mußte; war er auch bereits auf Schlimmes vorbereitet, würde sie doch, wenn es in ihrer Macht gestanden, den unmittelbaren Hereinbruch des letzten Schlages von ihm abgelenkt oder durch Zögern abgeschwächt haben – nun war an ein Halten oder Vermitteln nicht mehr zu denken. Der Alte hatte Alles mit angehört und sich in einer der Aufwallungen aus der alten Zeit seiner Herrschaft und Kraft hoch aufgerichtet, den Gast zurecht zu weisen, der sich erdreistete, hier solche Sprache zu führen. Dieser hatte ihn ebenfalls bereits bemerkt und kam ihm zuvor.

„Ah, da ist auch der Lindhamer von Lindham,“ rief er ihm höhnend zu. „Nun, Alter, wie geht’s? Wie schlägt der Austrag an? Nicht gut, habe ich gehört – Ihr sollt ja fast blind geworden sein. Thut mir leid – aber weit muß es mit Euren Augen nie her gewesen sein, sonst hättet Ihr schon früher Euren Vortheil besser eingesehen.“

„Herr!“ stammelte der Alte.

„Wer hat jetzt Recht behalten?“ unterbrach ihn der Andere hämisch. „Ich hab’ Euch damals ein schönes Gebot gelegt – hättet Ihr eingeschlagen, es wäre Euer Vortheil gewesen – jetzt ist der Lindhamerhof doch mein, wenn ich will, und jetzt kann ich erst recht ein gutes Geschäft machen, wenn ich den Wald abholze, denn jetzt bekomme ich ihn noch um ein Gutes billiger.“

„Ich kenn’ den Herrn nit,“ sagte der Alte wie verloren, „es ist mir wohl, als wenn ich die Stimm’ schon einmal gehört hätt’ – aber ich versteh’ nit, was er von mir will, was das Reden bedeuten soll …“

„Ah, Ihr werdet doch wissen, was hier geschieht,“ rief der Unterhändler mit noch frecherem Lachen. „Was ich will? Was meine Reden bedeuten? Daß der Lindhamerhof auf der Gant ist und von Gerichtswegen versteigert wird, und daß ich mitsteigern und mir das Zeug noch einmal ansehen will, ob’s noch der Mühe werth ist, daß man sich damit einläßt …“

Der Landrichter, in grauer Lodenjoppe und die Dienstmütze mit dem stehenden Löwen auf dem Kopfe, war inzwischen sammt Schreiber und Gerichtsdiener näher gekommen und unterbrach das Gespräch. „Grüß’ Euch Gott, Lindhamer,“ sagte er mit dem Tone der Leutseligkeit, der ihm zur Gewohnheit geworden war, „wie geht es Euch? Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen, und damals, wie Ihr das letzte Mal bei mir wart, hätte ich auch nicht gedacht, daß mich ein so trauriges Geschäft wieder auf den Lindhamerhof führen würde …“

„Ich auch nit,“ sagte der Alte, der nach Athem und Fassung rang.

„Es wäre vielleicht doch klüger gewesen,“ fuhr der Beamte fort, „wenn Ihr den Hof Eurem ersten Sohne, dem Wolf, gelassen hättet – schlimmer hätte der Loder es auch nicht machen können. Und wer weiß, ob er sich nicht noch geändert hätte … Ihr habt Euch eben übereilt, Alter …“

„Ja, ich habe mich übereilt,“ entgegnete der Lindhamer finster – „das macht, weil ich damals keinen einzigen guten Freund gehabt hab’, der mir abgeredt hätt’ … es hat Alles gehetzt und geschürt an mir … Aber, wenn ich fragen darf, was wollen denn Gnaden Herr Landrichter eigentlich auf dem Lindhamerhof?“

„Was werde ich wollen?“ antwortete der Landrichter verwundert. „Der Hof ist verschuldet – eine Menge Gläubiger haben Euren Sohn eingeklagt. Der Hof wird gerichtlich versteigert, wenn nicht über Nacht ein Geldsack vom Himmel fällt, daß der Lindhamerbauer wieder zahlen kann … Wo ist er denn?“

„Ich weiß nit, Ihr’ Gnaden … er ist schon in der Früh’ fort …“

„Was? Fort, wo er doch weiß und wissen muß, daß heut’ die Gerichtsschätzung kommt? Nun – das ist in der That eine Sorglosigkeit, wie sie mir noch nicht vorgekommen ist …“

Der Brunngraber, der indessen durch den Obstgarten unbeachtet näher geschlichen war, trat jetzt unter den Bäumen hervor. „Der Bauer wird halt vergessen haben,“ sagte er mit einem halb spöttischen, halb gutmüthigen Lächeln – „ich hol’ ihn aber, wenn er nöthig ist, ich weiß, wo er ist. Er sitzt drunten im Straßwirthshause bei ein paar ungarischen Viehhändlern und pascht mit ihnen …“

[465] „Das ist noch schöner!“ rief der Landrichter. „Aber laßt ihn nur – wir bedürfen seiner nicht – die Bäurin wird wohl zu Hause sein?“

„Auch nit,“ sagte der Brunngraber tückisch, „die ist zum Kindlmahl gefahren …“

„Nun, das muß ich sagen, eine Musterwirthschaft!“ rief lachend der Landrichter. „Dann müssen wir Jemand Andern vom Hause nehmen, daß er bei der Schätzung zugegen ist und das Protocoll unterschreibt … Wie ist’s, Lindhamer, wollt Ihr dabei sein?“

„Ich nit –“ sagte der Alte, der sich wieder so weit gesammelt hatte, um mindestens äußerlich sich aufrecht zu erhalten – innerlich lag er zu Boden wie eine vom Stabe losgerissene Hopfenranke … „Es geht nimmer bei mir mit dem Schreiben und –“

„Und es wäre wohl auch zu viel von Euch verlangt,“ unterbrach ihn der Landrichter, „daß Ihr das Protocoll unterschreibt, das Euren Hof unter den Hammer bringt … Dann wird die Jungfer aushelfen müssen … Th’res heißt sie – nicht wahr? Sie gehört ja auch so halb und halb zum Hof …“

„Freilich – so halb und halb!“ entgegnete Th’res, mit ihren Thränen kämpfend –, „aber wenn es sein muß, will ich thun, was man von mir verlangt …“

Der Landrichter ging an’s Geschäft und mahnte die mitgebrachten Schätzleute und die als Zeugen gekommenen Landleute aus der Umgegend zur Eile: bei einem der adeligen Gutsbesitzer in der Nähe wurde ein kleines Fuchsriegeln abgehalten, dessen Schluß er noch mitzumachen wünschte. Der Unterhändler schloß sich an und erzählte mit so lauter Stimme, daß dem Alten kein Wort entgehen konnte, wie er das Gut nicht auslassen wolle, wenn es irgend, wie nicht anders zu erwarten, um einen leidlichen Preis hergehe, wie er sich schon seinen Plan für die Zertrümmerung gemacht und welchen Gewinn er davon zu ziehen gedenke. „Ich will den Hof tranchiren wie eine fette Gans,“ sagte er, „die Portionen verkaufen, den besten Schnitz aber und das Fett für mich behalten.“

„Jesus Christus …“ murmelte der Alte und sank schwindelnd in Th’resens Arm, die den Wankenden fest umfing und hielt, „der Lindhamerhof auf der Gant – vom Gericht versteigert … zertrümmert … das überleb’ ich nit …“

Th’res hatte ihn wieder an die Lindenbank geleitet und beugte sich, selber weinend und trostlos, auf den Trostlosen herab, dessen kranke Augen brannten, aber nicht weinen konnten. Keines von Beiden vermochte dem unendlichen Leide Ausdruck zu geben, das ihnen auf Herz und Seele lag – der Wind strich wieder über die Anhöhe und weckte die Windharfe, daß sie klagend ertönte, plötzlich aber mit einem schrillen Mißlaut verstummte …

„Jetzt hören wir s’ nimmer,“ sagte Th’res schmerzlich leise – „jetzt ist die letzte Saiten abgesprungen …“



4.

Der Herbst hatte seine Herrschaft gewaltsam ergriffen und mit strenger Hand behauptet – da sie gewiß in seiner Hand lag, schaltete er als ein milder Gebieter. Es war, als gereute es ihn, den Sommer so früh verscheucht zu haben, und als wollte er es dadurch wieder gut machen, daß er ihm den Abzug erleichterte und ihn wenigstens noch eine Weile als freundlichen Gast beherbergte.

Mit den letzten Ereignissen auf dem Lindhamerhofe waren starke Regengüsse auf die Landschaft niedergegangen; dann aber hatte das Unwetter zugleich mit dem Unheil sich erschöpft – der Himmel leuchtete Tag um Tag in unumwölkter Bläue und die Sonne ging jeden Morgen strahlend auf, um nach einem schönen Lauf noch strahlender zu sinken. Ueber den Wäldern hing weicher Duft, wie die Ahnung eines neuen Grüns; auf den Wiesen sproßten junge Halme und gaben dem Gelände einen beinahe frühlinghaften Schein; nur die durchsichtig gewordenen Hecken und Wipfel blieben kahl und die weißen Fäden des fliegenden Sommers, die sich schleiergleich an den Aesten anhefteten, vermochten nicht den verlorenen Blätterschmuck zu ersetzen. Dennoch gab es Stellen, an denen man sich in den Sommer zurückversetzt glauben konnte; eine solche war an dem Höhenzuge, auf dem die Straße zum Lindhamerhof emporsteigt: ein leichter Hügelabhang, von Schlehen- und Haselgesträuchen eingefaßt und mit so frisch-grünem Rasen bedeckt, daß es sich ansah wie ein absichtlich angelegtes und gehegtes Gartenstück, und daß der am Fuße der Anhöhe liegende Eichstamm wie eigens hingewälzt schien, damit der Wanderer bequem ausruhen könne, ehe er sich daran machte, den einen oder andern der drei Wege zu betreten, die sich davor schnitten und kreuzten.

Auf dem Stamme saß ein Mädchen in abgetragener, aber sauberer städtischer Tracht. Ein schwarzes Kleid umhüllte vollständig die schlanke Gestalt, und ein breiter dunkler Strohhut beschattete und verbarg ein Gesicht, dessen Hagerkeit und Blässe vermuthen ließ, daß schwere Krankheit oder schweres Leid darüber hin gegangen, oder daß wohl gar beide zugleich die Rastende wie die Griffe einer Klammer zwischen sich gefaßt und ihr Kraft und Lust zu leben aus Herz und Sinn gepreßt hätten – es war ihrem Anblick zu glauben, daß Müdigkeit sie gezwungen, durch Anhalten an der Eiche sich von der überstandenen Wanderung zu erholen und Kräfte für die neue zu sammeln. Sie hatte kein Auge für das wunderbare Bergland, das sich vor ihr aufgethan, kein Ohr für das Zwitschern der Amseln, die den rothen Dolden der Vogelbeerbäume ihren Besuch abstatteten und dafür in den Aesten ihren freundlichen Wirthen ein Danklied zwitscherten; ihr Blick war starr auf den Boden geheftet, wo ihr Bündel und ein als Wanderstab dienender Schirm lagen – sie schien ihre Habe zu zählen und zu überschlagen, wie lange sie damit wohl noch aushalten könne.

In dieser Stimmung hatte sie den Mann nicht beobachtet, der von der alten Römerstraße her den Seitenweg längs des Höhenzuges eingeschlagen hatte, bald langsam, bald rascher schreitend, bald völlig einhaltend, wie Jemand, der an einem bestimmten Orte ein verabredetes Zusammentreffen abwartet. Es war der Brunngraber Sepp. Als er näher kam und die Sitzende bemerkte, blieb er stehen und sah scharf auf sie hin, indem er die Hand über die Augen hielt, um die täuschende Sonnenblendung abzuwehren. Als auch dieses Mittel nicht ausreichen wollte, ging er anscheinend achtlos seinen Weg weiter, um an der Sitzenden vorüberzukommen und sich zu überzeugen, ob seine Einbildungskraft ihm einen Streich spiele oder ob wirklich der Zufall ihm das Werkzeug in die Hand gegeben habe, das er seit mehreren Tagen vergebens gesucht und durch das ihm das Gelingen seiner Pläne unfehlbar verbürgt schien.

Im Vorbeigehen rief er dem Mädchen einen Gruß zu, den diese, ohne aufzublicken, leise erwiderte; dennoch genügten die wenigen Laute, alle Ungewißheit zu beseitigen; er kehrte nach wenigen Schritten zurück und rief, vor das Mädchen hintretend, verwundert aus: „Nichts für ungut! Ich glaub’, ich kenne Dich, Mädel.“

„Kann wohl sein,“ entgegnete sie, ihn rasch von der Seite anblickend, „ich kenne Euch aber nicht.“

„Das glaub’ ich auch,“ sagte Sepp, der nun seiner Sache vollkommen sicher war, „das kann auch nicht leicht anders sein. Ich hab’ Dich recht gut in Erinnerung; Du aber wirst mich unter den Vielen, die Dir zugeschaut haben, wohl nicht bemerkt haben. Bist Du nicht die Seiltänzerin, die Komödiantin, die vor fünf Jahren am Aiblinger Markt ihre Kunststücke gemacht hat?“

„Und wenn es wäre?“ fragte das Mädchen, indem sie das bleiche Gesicht erhob und ihn aus den finsteren Augen durchdringend anblitzte. „Wenn ich’s wär’, ging’s Euch was an?“

„Nein, mich gewiß nit – es freut mich nur, daß ich Dich so treff’,“ entgegnete Sepp lachend. „Das war selbigsmal eine eigene Geschichte … Wirst Dich wohl noch erinnern, wie Du zwischen den Eiern getanzt hast, und wie der schönste, reichste Bauernbursch aus der ganzen Gegend, der Lindhamer-Wolf, Dir dazu aufgespielt hat.“

Das Mädchen verwandte den Blick nicht von dem Fragenden; sie athmete hoch auf und war der Verwirrung nicht völlig Meister, die über ihre Züge glitt.

„Wohl erinnere ich mich daran,“ sagte sie. „Warum fragt Ihr mich darnach?“

„Warum? Ha, weil ich halt ein gutherziger Narr bin,“ war Sepp’s Antwort. „Weil ich’s nicht über mich bringen kann, Jemand eine Bitt’ abzuschlagen, und weil ich das Herz aus dem Leibe hergäb’, wenn ich wem eine Freud’ machen könnt’. Mit Verlaub!“ setzte er hinzu, indem er neben dem Mädchen auf dem [466] Stamme Platz nahm. „Der, auf den ich wart’, will noch eine Weile ausbleiben, wie’s scheint; da will ich mich auch niedersetzen und derweil mit Dir schwätzen. Ich weiß Jemand, der gäb’ einen Finger aus der Hand, wenn er von dem schönen Citherspieler was erfahren könnte. Wie ist’s? Willst Dir den Gotteslohn nicht verdienen und von ihm was erzählen? Du mußt es wohl können – ich weiß freilich nicht, ob es wahr ist; aber es hat geheißen, er hätte sich in Rosenheim auf dem Inn eingeschifft und wäre fortgefahren, er und Du und Deine ganze Gesellschaft mit –“

„Das ist wahr,“ sagte das Mädchen, „aber ich weiß doch nichts von ihm …“

Sepp lachte laut auf.

„Na, das kann schon auch wahr sein,“ sagte er, „so geht’s ja meistens. Will’s Dir schon glauben, daß Du jetzt nichts mehr von ihm weißt. Er ist Dir davon, nit wahr? Nachdem er sich satt geschleckt hat, hat er sich aus dem Staub gemacht und hat Dich sitzen lassen. Gelt, ich kann gut rathen?“

Sie sah ihn starr und wortlos an, aber sie widersprach nicht.

„Na, red’ nur,“ fuhr er fort, „brauchst Dich nicht zu schämen! Sind ja natürliche Sachen! Er ist ein schöner Bursch und hat Dir gefallen; Du hast ihm auch gefallen; so ist’s ja ganz natürlich, daß er anfangs wegen Deiner mitgangen ist, und nachher hat er sich bei Nacht und Nebel davon gemacht und hat Dich verlassen …“

„Ja, ich bin verlassen worden,“ sagte das Mädchen traurig.

„Na also!“ begann Sepp wieder. „Wenn’s denn gar so hart ’raus kommt, muß ich Dir schon Courage machen und muß Dir noch mehr sagen: – ich weiß nicht blos Das, ich weiß auch, warum Du da bist; Du willst da hinauf, wo der Lindhamerhof liegt; Du meinst, der Wolf könnte jetzt daheim sein, und willst ihm nachfragen –“

Die Tänzerin nickte, sah aber den Forschenden noch forschender an, als wäre es nicht sie, die ausgeholt werden sollte, sondern der Frager.

„Da gehst aber umsonst,“ fuhr Sepp fort. „Da oben erfährst Du nichts; da haben sie, seit er fort ist, kein Sterbenswörtchen mehr von ihm gehört.“

„Das macht nichts; ich gehe doch hinauf,“ erwiderte sie.

„O, ich will Dich auch gar nicht abhalten – fällt mir nicht ein! Ich rede Dir eher zu. Schon vor acht Tagen hab’ ich gehört, daß Du wieder in der Gegend sein sollst, und hab’ den Leuten droben versprochen, daß ich Dich aufsuchen wollt’. Gehe ja hinauf; den Alten, so harb er auf den Buben ist, freut’s doch, wenn er von seinem Herzkäferl was hört, und dann ist da ein Mädel – Du verstehst mich schon – die hat sich ihn in den Kopf gesetzt und wartet darauf, daß er wiederkommt, wie die Juden auf den Messias. Für die wär’s ein wahres Glück, wenn sie die Wahrheit inne würde. Sie verschlägt sich sonst die ganze Zukunft; hätt’ schon oft heirathen können, aber sie bringt halt den Loder nicht aus dem Kopf –“

Die Augen des Mädchens funkelten. „Ich will mit dem Vater und dem Mädchen reden,“ sagte sie hastig.

„Das ist gescheidt – aber nit jetzt gleich musst Du das thun,“ rief Sepp, „jetzt kämst Du nicht gelegen; Du weißt vielleicht nicht, wie schlecht es da droben aussieht. Wie der lüderliche Bursch fort ist, ist’s just gewesen, als wenn er das Glück mitgenommen hätt’ – der Hof wird verkauft und heute wird die Sache beim Gericht fertig gemacht. Laß Dir d’rum rathen von mir! Siehst Du dort das Dorf mit dem spitzigen Kirchthurm? Da ist ein gutes Wirthshaus, in dem rast’ aus bis gegen Abend, dann geh’ hinauf, dann triffst Alle beieinander. Komm’ so um die Zeit des Gebetläutens, dann kannst vielleicht über Nacht bleiben und Alles recht ausführlich erzählen – brauchst keine Sorg’ zu haben, ich werd’ auch da sein und zuhören.“

„Ich danke Euch,“ sagte die Tänzerin, sich erhebend, „aber im Wirthshause habe ich nichts zu thun. Was ich brauche, trage ich bei mir; doch wenn Ihr meint, dass es so besser ist, will ich bis zum Abend warten –“

„Und Du kommst gewiß?“ rief Sepp, der seine tückische Freude nicht mehr zu verbergen wußte.

„Gewiß,“ erwiderte sie, „so gewiß, als ich den weiten Weg nicht umsonst gemacht haben will.“

Der Brunngraber sah der Enteilenden nach, bis sie im Gebüsch verschwunden war. Dann brach er in lautes Lachen aus. „Das geht ja besser, als ich hätt’ wünschen können,“ rief er. „Na, der Alte wird eine Freud’ haben, wenn ihm die Schwiegertochter in’s Haus kommt, und der hoffährtigen Gretel druckt’s das Herz ab, wenn sie die Nachricht hört. Darauf wett’ ich, wenn sie sich auch noch so verstellt!“

Fernes Wagengerassel unterbrach ihn; auf einem Seitensträßchen rollte in einiger Entfernung ein leichtes Fuhrwerk dahin.

„Wie ist mir denn?“ sagte Sepp unsicher. „Ist denn das nicht der Dickel? Er fährt dorthin, auf der Hauptstraß’, während er mich daher bestellt hat und warten läßt? Oho, Brüderl, ist’s so gemeint? So haben wir nicht gewettet. Fahre Du so geschwind als Du willst, ich schneide Dir den Weg ab and komm’ Dir doch zuvor. Mir kommst Du so leicht nicht aus.“

In den Geschicken des Lindhamerhofes war in den letzten Tagen eine ebenso unerwartete als günstige Wendung eingetreten. Die Versteigerung, welche am achten Tage nach der Schätzung stattfinden sollte, war vom Gericht eingestellt worden, denn unvermuthet hatte sich durch einen benachbarten Anwalt ein Käufer gemeldet, der für den Hof eine so ansehnliche Summe bot, daß nicht nur alle klagenden Gläubiger vollkommen befriedigt werden konnten und für Niemand Verlust zu befürchten war, sondern daß Dickel sogar noch eine nicht unbeträchtliche Summe übrig blieb, die ihm gestattete, anderswo einen neuen Haushalt zu begründen. Ueberglücklich durch diesen überraschenden Zwischenfall, hatte derselbe das Angebot mit beiden Händen ergriffen, und war auf dem Wege nach Aibling, wo der Kaufpreis erlegt und die Vertheilung der Gelder vorgenommen werden sollte.

Sturmgeschwind jagte er über die Ebene dahin, denn sein schönes Gespann war ihm ebenfalls geblieben; er war doppelt froh, weil er der Sorge um den Hof, der doch nur als Last auf ihm gelegen, enthoben war und obendrein die Aussicht auf eine Beschäftigung gewonnen hatte, die er seinem Sinne mehr angemessen glaubte. Eine gut besuchte Wirthschaft im nahen Tirol war eben feilgeboten; die hatte er zu erwerben beschlossen, und Mann und Frau stimmten darin auf’s Vollkommenste überein. Er versprach sich davon eine leichte vergnügliche Thätigkeit, angenehme gesellige Tage und leichten Gewinn, während sie sich schon wieder in der von Jugend auf gewohnten und liebgewordenen Beschäftigung einer Wirthin erblickte, mit leichter Mühe den großen Hausstand regierend und sich mit Stammgästen und Reisenden unterhaltend, die der schönen, gefälligen Frau den Hof machten.

„Gott sei Dank!“ rief die Bäuerin, als sie abfuhren und Dickel auf die Pferde hieb, „Gott sei Dank, daß wir von der Fretterei los sind; jetzt soll’s aus einem andern Tone gehen!“

Nicht einen Blick warf er auf die Heimath zurück; er hatte keinen Augenblick Zeit gefunden, um dem Vater Lebewohl zu sagen.

Das war auch nicht leicht zu bewerkstelligen gewesen, denn seit dem Tage der unglückseligen Entdeckung hatte der Alte sich in sein Austraghäuschen eingeschlossen und würde Niemand den Einlaß gestattet haben, wenn er auch verlangt worden wäre; aber es kam kein Mensch, und nur Th’res war es, die den Greis besuchte und seine Gefangenschaft theilte; auch ihr war ja der Aufenthalt in den Hofgebäuden längst verleidet. Die Gefangenschaft des Alten war übrigens keine ganz freiwillige; die Erlebnisse hatten ihn so schwer getroffen, daß ein minder stark gebauter Körper unter der Wucht wohl völlig zusammengebrochen wäre; in den ersten Tagen hatte es geschienen, als ob eine ernstliche Krankheit sich seiner bemeistern wollte, so starr und schweigend war er, brütend über seinen licht- und trostlosen Gedanken, Tag und Nacht aufrecht gesessen, ohne nach Ruhe oder Stärkung zu verlangen, und selbst Th’resens Fragen, Zureden und Bitten vermochten keinen Laut als Antwort von ihm zu erhalten – mit Einem Male aber war es wie ein Umschwung über ihn gekommen; das Federwerk in ihm hatte mindestens einen Theil der alten Schnellkraft gewonnen, daß er sich aufrichtete, nach Nahrung verlangte und ruhig und fest mit Th’res über Das zu verhandeln begann, was nun zu geschehen

[467] 

Maler auf der Studienreise. Nach seinem Oelbild auf Holz gezeichnet von Konrad Grob.

[468] habe. Des Vorgefallenen, der ganzen Vergangenheit wurde nicht erwähnt, die Zukunft war es, die ihn ausschließlich beschäftigte. Er kündigte ihr seinen Entschluß an, den Lindhamerhof zu verlassen, und sie widersprach nicht, weil sie wohl begriff, daß es ihm unerträglich sein mußte, an dem Orte, der seine Heimath, seine Freude und sein Stolz gewesen, unter fremden, vielleicht mißgünstigen Leuten als ein Gegenstand der Abneigung oder mindestens des Mitleids einherzugehen, wie er vielleicht gekonnt hätte. Sein Recht auf Wohnung und Austrag war als Grundlast auf dem Gute versichert und bestand fort, wenn auch die bedungene Ausstandssumme als verloren betrachtet werden mußte; aber er zog es vor, sich sein Reichniß, wenn auch um einen noch so geringen Preis, ablösen zu lassen; was er dafür erhalten würde, dünkte ihm immer noch hinreichend, die kurze Lebenszeit zu fristen, die er sich noch gegönnt glaubte. Er hatte Th’res beauftragt, in dem nahen Aibling nach einer kleinen, wohlfeilen Wohnung umzusehen, wo der einst so reiche Bauer mit seiner Schmach und Armuth sich verbergen könne. Auch ihr schien dieser Ausweg der beste, wenn sie auch in herzbrechender Wehmuth der Nothwendigkeit gedachte, von dem Orte zu scheiden, wo ihr so viel Gutes geworden, wo sie so viele geheime Freude gefunden, und der ihr durch das dort erlittene Leid nur noch theurer geworden. Auch hoffte sie, in dem gewerbsamen, bewegten Markte Arbeit und Verdienst zu finden, die ihr eine zerstreuende Thätigkeit, für den Alten aber die Mittel gewinnen sollte, seine doppelt verfinsterten Tage mindestens in Etwas zu erhellen. Sie gedachte auch, daß es ihr von dort aus leichter sein würde, Nachricht von Mutter und Schwester zu erhalten, denn seit der Erzählung des Alten war es in ihr aufgegangen, wie eine neue bisher im Boden verborgene Quelle, die, plötzlich an das Tageslicht emporsprudelnd, eine Fülle neuer Gedanken und Empfindungen, wie Wellen, mit sich brachte. Der Lindhamerhof, das fühlte sie tief, war und blieb ihre Heimath; an den Menschen, die sie hier kennen gelernt, hing ihr Herz mit allen Fasern der Liebe und des Glückes; doch seit sie wußte, daß auch anderswo Herzen schlugen, die ihr so nahe angehörten; seit sie wenigstens beiläufig den Ort kannte, wo sie eine Schwester und eine Mutter suchen durfte, war ihr eine ganz neue Welt aufgegangen.

Obwohl, wie ihr der Alte auf spätere Fragen gesagt, seit jenem Augenblicke am Grabe ihres Vaters Niemand von den Ihrigen auch nur mit einem Worte nach ihr gefragt hatte, war es ihr doch ein eigenthümlich süßer und schmeichelnder Gedanke, wenn sie vor’s Haus trat und die längst bekannten und vertrauten Berge vor sich liegen sah. Jetzt kamen sie ihr vor wie ein Wall, der sie von ihren natürlichen Angehörigen trennte, und wenn es sonnenhell auf die Spitzen und Gipfel schien, während draußen im Lande Schatten lagerten, war es ihr wie ein Fingerzeig von oben, der ihr dahin deuten und sie führen wollte. Ihr Entschluß stand fest, sie wollte getreulich bei dem alten Lindhamer aushalten, so lange er ihrer bedurfte; das sollte sie aber nicht hindern, über die Ihrigen Erkundigung einzuziehen und, sobald sie frei geworden, sie aufzusuchen.

So war sie Morgens im Markte gewesen, hatte glücklich eine Wohnung ausgekundschaftet und kam gegen Mittag eben noch rechtzeitig heim, um dem Alten die Suppe zu kochen und ihm beim Genuß derselben die Neuigkeiten zu erzählen, die sie mitgebracht.

„Du meinst also,“ sagte der Alte, „das Logis wird für uns taugen?“

„Gewiß,“ sagte Th’res; „es ist eine große Stube, wo wir den Tag über sein können, und ein paar Kammern, in denen wir schlafen; hinten am Haus aber ist ein Garten mit Obstbäumen; da könnt’ Ihr Euch an’s Fenster setzen und die Luft zu Euch hereinlassen, und die Kirche ist auch nit weit –“

Der Alte nickte. „So hast Du wohl gleich eingestiftet?“ fragte er.

„Nein, das hab’ ich nit gethan,“ erwiderte zögernd Th’res und fuhr, als er verwundert nach der Ursache fragte, in gleichgültig sein sollendem Tone fort: „ich hab’s nit thun wollen, ohne Euch noch einmal zu fragen.“

„Zu was die Umstände?“ rief der Alte. „Ich hab’ Dir freie Hand gelassen; mir muß es doch recht sein, in welchen Winkel man mich hineinschiebt, bis man mich in den letzten hineinlegt, in den an der Kirchhofmauer …“

„So müßt Ihr nit reden,“ sagte Th’res; „es steht wohl noch bei Euch, wo Ihr bleiben wollt, und – damit ich es nur sage – die Wohnung hab’ ich nit gestiftet, weil es Euch nur ein Wort kostet, dann könnt Ihr auf dem Lindhamerhof bleiben.“

(Fortsetzung folgt.)




Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
IX.


Der Erfolg ist ein kräftiger Magnet, der Ruhm leuchtet wie ein lockendes Licht, und das Glück hat viele Freunde. Unser auf der Weltbühne mehr und mehr Figur machender Wolfgang erfuhr das auch und zwar, wie es zu geschehen pflegt, eben so sehr zu seinem Vortheil wie zu seinem Schaden. Denn wie es wahr ist, daß ein Menschenkind nur in dem „Geräusch der Welt“ zu einem „Charakter“ sich „bildet“, so ist es nicht minder wahr, daß von diesem Weltgeräusche die inneren Stimmen, welche dem Menschen doch das Beste sagen, oft, zu oft überlärmt werden. Gar viel von unserm Eigensten, Ursprünglichsten bleibt an dem Dorngestrüppe hängen, durch welches der Weg zur Charakterbildung sich hinwindet. Erfahrung ist ein recht hübscher Besitz, gewiß; aber es fragt sich am Ende doch sehr, ob dieser Besitz sich der Mühe lohne, so viele Zeit auf den harten Bänken der Schule „Enttäuschung“ versessen zu haben. In späterer Zeit, als Fünfundsiebenzigjähriger, war Goethe sehr geneigt, diese Frage verneinend zu beantworten; denn am 27. Januar 1824 hat er zu seinem Famulus Eckermann gesagt: „Mein Leben ist im Grunde nichts als Mühe und Arbeit gewesen. Es war das ewige Wälzen eines Steins, der immer von neuem gehoben sein wollte. Der Ansprüche an meine Thätigkeit, sowohl von außen als von innen, waren zu viele. Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und Schaffen. Allein wie sehr war dieses durch meine äußere Stellung gestört, beschränkt und gehindert! Hätte ich mich mehr vom öffentlichen und geschäftlichen Wirken und Treiben zurückgehalten und mehr in der Einsamkeit leben können, ich wäre glücklicher gewesen und würde als Dichter weit mehr gemacht haben.“ Glücklicher? Das ist möglich. Als Dichter productiver? Nein. Die goethe’sche Poesie ist nicht vom Genius mit der Einsamkeit gezeugt worden. Sie hat von jungauf nicht das Zeug zur Einsiedlerin gehabt. Sie war und ist ein Weltkind, natürlich im schönsten und besten Sinne des Wortes. Sie mußte in und mit der Welt leben; wie hätte sie sonst so lebenswahr, so weltverständig, so realistisch sein können?

Selbstverständlich waren die enttäuschungsmüden und erfahrungsschweren Stimmungen des Goethe von 1824 nicht die des glaubenden, liebenden und hoffenden Goethe von 1774 bis 1775. Da trieb er es laut und lustig oder auch trüb und traurig, wie es eben kam, mit im Getriebe der Welt, schob und ließ sich schieben und hatte gar nichts dagegen, wenn der Kreis seiner Bekanntschaften von Tag zu Tag sich erweiterte und ihm von allen Seiten her Freunde zuströmten. Im Gegentheil, er ging auch wohl selbst welche suchen. So Klopstock, dessen Einfluß und Ansehen dazumal im Zenith standen; so Lavater, den Propheten der Physiognomik. Auch eine eigenthümliche Gestalt der Sturm- und Drangzeit, dieser Sanct Lavatus, der von Christlichkeit, Menschenbrüderlichkeit und Eitelkeit – denn eitel war er wie ein Franzose – aufgespannte Helfer beim Sanct Peter in Zürich. Insofern er die biblisch-christliche Orthodoxie als ein [469] Gährungsmittel in dem Gefühls- und Gedankenchaos von damals zu verwenden und zu verwerthen trachtete, hatte er Aehnlichkeit mit Hamann; aber er war in jedem Betracht reinlicher und wohlduftender als dieser aufgeschwemmte Schmarotzer, welchen seine Verehrer den „Magus im Norden“ nannten, der aber, weil er so zu sagen die Bibel mit dem Contrat social Rousseau’s verkuppelte, eigentlich der Oberconfusionsrath Germaniens heißen sollte. Im Uebrigen ist Lavater bei all seiner rahmtortesüßen Fühlsamkeit und kraftgeniemäßigen Ueberschwänglichkeit ein praktischer Schweizer gewesen, welcher seine Apostelgänge und Physiognomikerwanderungen zugleich zu Geschäftsreisen zu machen verstand. Es ist doch ein deutliches Zeichen, wie unser junger Titan in dem allgemeinen Nebel der siebenziger Jahre redlich mitnebelte, daß er im Sanct Lavatus einen congenialen Bruder zu erkennen glaubte.

Gar zu lange hielt diese Illusion freilich nicht vor. Aber im Sommer von 1774 war sie stark. Da, zu Ende Juni, kam der Prophet von Zürich nach Frankfurt und trat beim Wolfgang ein.

„Bist’s?“

„Bin’s!“

So die Begrüßung, ganz im Kraftstil der Wild, La Feu und Blasius in Klinger’s Drama. Der Wolfgang machte den also im Sturme gewonnenen Freund mit der „schönen Seele“ Klettenberg und anderen Frömmlichkeiten bekannt, und der Züricher Apostel schwamm eine Woche lang mit Behagen in dieser Atmosphäre parfümirter Christlichkeit. Dann hub er sich von dannen gen Ems. Sein ganzes Auftreten muß aber immerhin einen bedeutenden Eindruck gemacht und hinterlassen haben. Sogar unser darmhessischer Kriegszahlmeister Merck mephistophelisirte zwar die frommen Frankfurter Weiblein, welche in ihrem süßen Enthusiasmus dem Herrn Helfer wohl gern gethan, wie Maria Magdalena vor Zeiten Jesu that, d. h. ihm gern liebsam das Haupt gesalbt und ihn mit ihren Haaren abgetrocknet hätten; aber doch konnte auch der Schalk nicht umhin, im August über Lavater an Nikolai zu schreiben: „Wenige Menschen habe ich gesehen, die auf mich einen so erbaulichen Eindruck gemacht hätten wie dieser außerordentlich gute Mensch.“

Ob Lavater schon damals mit seinem orthodoxen Entweder – Oder: „Entweder Christ oder Atheist!“ gegen unsern Dichter herausrückte, möchte zu bezweifeln sein; denn der Wolfgang wäre doch wohl darob schon jetzt kopfscheu und widerlavaterisch geworden, wie er es später wurde, als ihm die Seelenfischerei Sancti Lavati weniger harmlos erschien, als sie trotz alledem war.

Im Juli bewerkstelligte ein anderes Original jener an Originalen so reichen Zeit seine Epiphanie im goethe’schen Hause, der pädagogische Kraftstoffel Basedow, ein Stark- und Schwarmgeist aus dem ff, Reformer des Erziehungswesens nach Rousseau’-schen Grundsätzen, item unermüdlicher Tabakraucher und unerbittlicher Weinvertilger. In letzterer Eigenschaft inspirirte er, d. h. die Erinnerung an ihn, unsern Dichter lange Jahre nachher zu seinem lustigen Trinklied „Ergo bibamus!“ Basedow, in seiner Art nicht minder, sondern sogar noch mehr als Lavater ein Geschäftsreisender, begab sich zu dem Herrn Helfer nach Ems, um diesen zu vermögen, daß er ihm für sein Dessauer Philanthropinum Zöglinge „weible“, wie die Schweizer sagen. Der Wolfgang reiste bald den beiden sonderbaren Schwärmern nach, traf am 15. Juli zu Ems ein und trieb es da mit Maskiren, Tanzen, Zechen verschiedene Tage und Nächte lang kraftgenialisch genug. Zwischenhinein hat er auf einer Lahnfahrt seine schönen ernsten Strophen „Geistesgruß“ gedichtet. Sonst war die Knittelreimlaune obenauf und wie! Zeugniß hierfür das vom Wolfgang aufgenommene Protokoll über den Verlauf des Mittagessens, so unsere drei Reisenden auf ihrer Fahrt rheinabwärts im Gasthause „Zu den drei Reichskronen“ zu Koblenz eingenommen haben: –

„Zwischen Lavater und Basedow
Saß ich bei Tisch, des Lebens froh.
Herr Helfer, der war gar nicht faul,
Setzt’ sich auf einen schwarzen Gaul,
Nahm einen Pfarrer hinter sich
Und auf die ‚Offenbarung‘ strich,
Die uns Johannes der Prophet
Mit Räthseln wohl versiegeln thät;
Eröffnet die Siegel kurz und gut,
Wie man Theriaksbüchsen öffnen thut.
Und maß mit einem heiligen Rohr
Die Kubusstadt und das Perlenthor
Dem hocherstaunten Jünger vor.
Ich war indeß nicht weit gereist,
Hatt’ ein Stück Salmen aufgespeist.
Vater Basedow unter dieser Zeit
Packt einen Tanzmeister an seiner Seit’
Und zeigt ihm, was die Taufe klar
Bei Christ und seinen Jüngern war,
Und daß sich’s gar nicht ziemet jetzt,
Daß man den Kindern die Köpfe netzt.
Drob ärgert sich der Andre sehr
Und wollte gar nichts hören mehr
Und sagt, es wüßt’ ein jedes Kind,
Daß es in der Bibel anders stünd’.
Und ich behaglich unterdessen
Hatt’ einen Hahnen aufgefressen.“

Die Rheinreise wurde gemeinsam bis Köln fortgesetzt, „Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten.“ Dann suchte das „Weltkind“ seinen Straßburger Mitstudenten und Tischgenossen Jung-Stilling in Elberfeld auf, wo er außerdem mit Fritz Jakobi und Heinse zusammentraf. Auch Sanct Lavatus langte von Köln her mit einem Schweife von mehr oder weniger Erweckten an. Der gute Jung gibt eine wider Willen ergötzliche Schilderung von einer im Hause eines Elberfelder Frommen abgehaltenen Conventikelsitzung, wobei sich die drei durch Jakobi, Heinse und Goethe dargestellten Schattirungen von Kraftgenies sonderbarlich genug ausgenommen haben mögen. Jung hatte aber doch selber seine Freude daran, wenn der Götz- und Wertherdichter die versammelten Mucker, so der eine oder andere ihn „mit starren und gleichsam bemitleidenden Augen ansah“, mit „großem hellem Blick darniederschoß“.

Mit dem ganzen Freundschaftsüberschwang jener Zeit schloß sich Jakobi unserm Groß- und Hellblicker an, welcher den neugewonnenen Freund nach Düsseldorf begleitete, von wo sie Ausflüge nach Köln und Schloß Bensberg machten. Achtunddreißig Jahre später hat Jakobi den großen Freund daran erinnert, daß derselbe in einer Laube des Schloßgartens damals begeisterungsvoll über Spinoza sich ausgelassen habe, woraus zu schließen, daß Goethe diesem erlauchten Denker, der ihn seine erhabene Resignation lehrte, zu jener Zeit schon recht nahegetreten sein mußte.

Am 13. August war der Dichter wieder daheim in Frankfurt, wo er dann im October durch den schon früher gelegentlich erwähnten Besuch Klopstock’s geehrt wurde. Der Messiassänger kam von Göttingen und ging nach Karlsruhe, wohin der Markgraf Karl Friedrich ihn eingeladen hatte. Am erstern Orte war ihm von Seiten der Hainbündler, die ihn vergötterten, ein Weihrauchopfer gebracht worden und der Duft desselben lag ihm noch in der Nase, als er in Frankfurt unsern jungen Titan für den Hainbund werben wollte. Aber der Wolfgang mochte sich erinnern, daß Freund Merck wohl im Hinblick auf die Hainbündelei einmal gesagt hatte: „Die Anderen wollen das Poetische, das Imaginäre verwirklichen und das gibt nur dummes Zeug; deine Bestimmung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben“ – und ließ sich nicht weiter auf die wohlgemeinte Phantasterei ein. Seinem Gaste, der sich, wie Goethe meldet, als „Stellvertreter höherer Wesen, der Religion, Sittlichkeit und Freiheit“ betrachtete und gab, las er Faust-Fragmente vor, welche gnädig aufgenommen wurden. Aber ein dauerndes gutes Verhältniß hat sich zwischen den Beiden nicht hergestellt, und der offene Bruch erfolgte bekanntlich unlange nach Wolfgang’s Uebersiedelung nach Weimar.

Klopstock war nicht der Mann, mit guter Miene oder gar mit herzlicher Freude sich darein zu finden, daß Goethe über ihn hinauswuchs, wie wir das den guten Papa Wieland thun sehen werden, und der über den Priester der Muse von Zion Hinausgewachsene seinerseits hatte auch bald kein Hehl, daß der von Klopstock „auf Golgatha’s Hügel geführte überepische Kreuzzug“ eigentlich nur in’s theologische Nebelheim geführt habe und im Grunde herzlich langweilig sei. Der Patriarch der deutschen Literatur rächte sich in einer Weise, wie sie weder seiner Christlichkeit noch seiner mit Recht verehrten Ehrwürdigkeit anstand, indem er handschriftlich-epigrammatische Nadelstiche auf Goethe versuchte, [470] die allesammt sehr stumpf ausfielen.[1] Die Sache ist, Klopstock und Goethe waren grundverschiedene Naturen und konnten auf die Länge unmöglich zusammengehen. Die Götter, an die sie glaubten, litten es nicht. Klopstock glaubte an den jüdisch-christlich-außerweltlichen Bibelgott, Goethe, zum pantheistischen Heiden angelegt und durch Spinoza erzogen, glaubte an den innerweltlichen Allumfasser, Allbeweger, Allerhalter, von dem er im Gegensatze zum Klopstock’schen gesagt hat:

„Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So daß, was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.“

Zwei bedeutsame Erlebnisse waren dem Wolfgang bis zum Jahresschlusse aufgespart. Das eine war die erste Anknüpfung mit dem Weimarischen Hofe, das andere die Bekanntschaft mit Lili (Anna Elisabeth Schönemann), von welcher Schönen, so wir der mehr als billig flunkernden Bettina („Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde“, I, 130) trauen dürften, die Frau Rath gesagt hätte, daß dieselbe „die erste Heißgeliebte“ ihres Sohnes gewesen sei. Das ist aber sicherlich nur eine Bettina’sche Schrulle und Schnurre.

In der Abenddämmerung des 11. December trat ein Fremder in unseres Dichters Stube und gab sich ihm als Hauptmann Karl Ludwig von Knebel zu erkennen, welcher gekommen, dem Verfasser des „Götz“ und „Werther“ seine Achtung zu bezeigen. Knebel war der Erzieher des Prinzen Konstantin von Sachsen-Weimar, jüngeren Bruders des Erbprinzen Karl August, und waren die Prinzlichkeiten mit Gefolge auf einer Reise nach Karlsruhe begriffen. Der Wolfgang und der Hauptmann fanden rasch großes Gefallen aneinander und jener ging daher um so lieber auf das Ansinnen ein, sich den beiden Prinzen vorzustellen, welche begierig waren, seine persönliche Bekanntschaft zu machen.

Diese erste Zusammenkunft mit dem nachmaligen Herzoge Karl August, welcher damals auf seiner Brautschaureise zu der Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt begriffen war, wurde für unseres Dichters äußere Stellung im Leben entscheidend und somit ohne Frage auch für den Gang und Wandel seines Genius. Der jugendliche Karl August ist durch Goethe’s Persönlichkeit so sehr ergriffen und gefesselt worden, daß rasch in ihm der Gedanke aufstieg und bald bestimmtere Gestalt gewann, den „lieben Menschen“ in seine Nähe zu ziehen. Dem Dichter seinerseits gefiel der junge, muntere, burschikose, von der Kraftgenialität ebenfalls sehr merkbar angefaßte Fürst auch ganz gut und er ging daher auf das schnell sich entwickelnde Freundschaftsverhältniß zu demselben bereitwillig ein. Viel bereitwilliger, als es dem ehrensteifen Herrn Johann Kaspar gefiel, welcher zu der sich bildenden Kameradschaft zwischen Fürst und Bürger bedenklich den alten Kopf schüttelte und nachdrucksam sein reichsstädtisch-abmahnendes „Weit vom Jupiter, weit vom Blitz; lang’ bei Hof, lang’ bei Höll’!“ vorbrachte. Allein im Verlaufe des nächsten Jahres wurde das Pflaster seiner Vaterstadt dem Wolfgang allmälig so brennend heiß – wir werden sehen, warum –, daß er allen väterlichen Bedenken zum Trotz die Einladung seines fürstlichen Freundes Karl August, welcher im September 1775 aus einem Erbprinzen ein Herzog wurde und vier Wochen später seine Braut Luise von Hessen heimführte, ja die bestimmt ausgesprochene und dringlich wiederholte Einladung, nach Weimar zu kommen, annahm und seinen Vorsatz, derselben nachzuleben, verschiedener Weiterungen und Hindernisse ungeachtet zur Ausführung brachte. Einmal in Weimar, kam er dann nicht wieder los.

Doch soweit sind wir noch nicht, sondern vorerst noch bei der nicht sehr erquicklichen Lili-Geschichte.




Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten.
3. Der Graf Hahn. Von Adolf Meyer.
(Schluß.)


„Was steht zu Ihren Diensten, mein Herr?“ fragte mich der alte Herr, indem er das Ungethüm von Meerschaumpfeife bei Seite setzte.

„Ich wünsche dem Herrn Grafen Hahn-Neuhaus meine Aufwartung zu machen,“ stotterte ich mit leiser Stimme.

„Der bin ich selbst, mein Herr,“ erwiderte er freundlich.

Das also ist der Graf Hahn? Mein Erstaunen kannte keine Grenzen. So hatte ich den merkwürdigen Mann nicht zu finden gedacht. Der Graf, der mein Erstaunen bemerken mochte, nickte mir freundlich zu, strich mit seiner eleganten Hand die Brille von seiner hohen Stirn auf das Nasenbein und fragte mich noch einmal, indem er seinen Silberbart durch die Finger gleiten ließ, auf das Freundlichste: „Was wünschen Sie von mir, mein Herr?“

Noch vermochte ich dem repräsentablen alten Herrn, der kerzengerade vor mir stand und mich so von oben herunter betrachtete, nicht zu antworten. Stumm überreichte ich ihm meinen Contract nebst Brief des Herrn von Alvensleben. Nachdem er Brief wie Contract gelesen, legte sich seine hohe intelligente Stirn in düstere Falten. Alle Freundlichkeit verschwand aus dem schönen Greisenantlitz. „Alle Donnerwetter!“ platzte er grimmig heraus. „Ist denn dieser Alvensleben verrückt? Wie kann der Mensch mir einen solchen Knirps von Tenor auf den Hals schicken! und gleich mit festem Contract! Herr, Sie sind ja fast noch ein Knabe!“

„Sehr gern, mein Herr Graf, entbinde ich Sie des Contractes,“ erwiderte ich gereizt.

Ohne darauf etwas zu erwidern, riß er heftig eine Thür auf und sang in höchst komischer Weise ein Recitativ, das ich dem geneigten Leser hier mittheile, in das geöffnete Zimmer hinein:

„Urspruch komm einmal sogleich!“

Ein gedrungener Mann mit einem mächtigen, grau melirten Haarwuchs und kupferrothem Gesicht erschien nach verklungenem Recitativ, trat mürrisch, mich wie einen Gaul musternd, in’s Zimmer und fragte den Grafen in nicht sehr noblem Tone: „Na, was soll’s schon wieder, Erlaucht?“

Dieser mürrische, wie es schien, mit sich selbst zerfallene Mensch war der in Cöln einst gefeierte Heldentenor Urspruch.

„Da schickt mir der Alvensleben diesen kleinen Herrn als lyrischen Tenor,“ und dabei sah er mich spöttisch von der Seite an. Augenblicklich machte ich Miene, das Zimmer zu verlassen. „Halt da, junger Mann! Urspruch! lasse doch den jungen Herrn einmal etwas singen.“

Ohne eine Silbe zu erwidern, warf Urspruch sämmtliche Sachen, die auf einem Fortepiano lagen, Kleider, Waffen, Helme, Noten, Rollen, unbarmherzig auf den Boden, öffnete das Instrument und fragte mich kurz: „Was wollen Sie singen?“

Unter den so ohne alle Rücksicht heruntergeworfenen Sachen sah ich die Partitur von „Joseph in Aegypten“, halb von einem Rittermantel bedeckt, so hervorschauen, daß gerade der Titel der [471] Oper zu lesen war. Mein Entschluß war augenblicklich gefaßt. „Die Austrittsarie des Joseph,“ war meine schnelle Antwort. „Dort liegt die Partitur am Boden.“

Sogleich hob der Graf die Partitur auf und legte sie auf das Pult des Instrumentes. „Allons, Urspruch! Accompagnire dem Kleinen!“

Urspruch setzte sich, ohne ein Wort zu erwidern, an’s Instrument, schlug die Arie auf, und ich sang sie ohne alle Scheu. Meine Stimme schien Herrn Urspruch sehr zu gefallen, denn während des Accompagnements nickte er mehrere Male mit dem Kopfe, der Graf aber trippelte leise, sich die Hände reibend, im Zimmer umher. Nachdem die Arie beendet, rief er: „Sie bleiben bei mir!“ Er beehrte mich mit Lobsprüchen über meine Manier zu singen und nannte mich nach seiner Weise sogleich „Du“. „Charmant! Charmant!“ rief er ein über das andere Mal; „der Alvensleben hat doch keinen Mißgriff gethan. Hast Du den ganzen Joseph im Kopfe, mein Sohn?“ Als ich dies bejahte, sprang der alte Herr wie ein Jüngling im Zimmer umher, schlug Urspruch etwas sehr unsanft auf die Schulter und rief: „Na, dann heraus mit dem Joseph! Du singst den Simeon, die Stein singt den Benjamin, der Kleine hier den Joseph, Riese den Jakob, nota bene, wenn er nicht besoffen ist.“ Dieser Riese gehörte früher, zu Spontini’s Zeiten, der Berliner königlichen Oper an; er hatte eine prachtvolle, kolossale Baßstimme, die er leider gar zu oft unter Spiritus setzte. Plötzlich ließ der Graf ein zorniges Recitativ erschallen: „Wo bleibt der verdammte Knüpfer mit Bibliothek, Garderobe und Moneten?“ Der Graf hatte seinen Gläubigern in Magdeburg, wo er vor Altenburg war, Bibliothek und Garderobe als Pfand zurücklassen müssen. Dieser so besungene Knüpfer war das Factotum des Grafen, das von ihm nach Lübeck gesandt, um das auf den Strand gerathene Schiff wieder flott zu machen.

Ehe ich zum Auftreten kam, lernte ich sämmtliche Mitglieder der gräflichen Gesellschaft kennen, unter denen ich später eminente Talente fand. Besonders zeichnete sich die Gattin des Herrn Urspruch aus; obgleich eine lorbeerumrankte Ruine, war sie zu jener Zeit noch eine ganz vortreffliche dramatische Sängerin. Sehr begabt war ein Fräulein Emilie Handstein; sie spielte jugendliche Liebhaberrollen. Das Geschick war ihr nie hold. Als eine Frau Pfister fand ich sie später soufflirend bei verschiedenen Bühnen wieder. Bost, der gegenwärtig noch der königlichen Bühne in Berlin angehört, war damals schon ein vorzüglicher Baßbuffo und spielte viel im Lust- und Schauspiel; er war für das Unternehmen des Grafen eine sehr schätzbare Acquisition.

Endlich sollte ich den vom Grafen mit Sehnsucht erwarteten Knüpfer von Angesicht zu Angesicht kennen lernen. „Knüpfer ist da! Knüpfer ist da!“ so ging es von Munde zu Munde, und mit ihm Garderobe, Bibliothek und, was das Beste war, Geld! Dieser Herr Knüpfer wird mir unvergeßlich bleiben. Er war das Urbild eines echten Komödianten. Relegirt von irgend einer Universität, hatte er zu Thaliens Fahne geschworen, that jedoch in ihrem Tempel nur Laiendienste, seine Garderobe, die er mit einem großen Stolz trug, bestand aus einem schwarzen Sammetrock, der mit Schnüren besetzt war und so abgeschabte Flächen zeigte, daß man füglich die Sammetweberei daran studiren konnte; dazu trug er stets weiße Tricots, die gar oft mit ihrer Farbe im Zwiespalt waren und die sich in ungeheure Kanonenstiefeln mit klingenden Sporen verloren. Sein bemoostes Haupt zierte ein schwarzes ramponirtes Sammetbarett, das Abends, hatte er einen Ritter zu mimen, mit einer einmal weiß gewesenen Feder geschmückt wurde. Dergleichen Gestalten, wie die eben beschriebene, sah man damals nicht selten beim Theater; jetzt sind sie unmöglich geworden.

Endlich hörte bei Allen das dolce far niente auf. Der Graf entwickelte eine ungeheure Thätigkeit; überall sah man ihn hämmern, malen, kleben, Costüme zertrennen, sogar mit dem Garderobeschneider nähen; kurz, er war in seinem Elemente.

Die erste Vorstellung war der Joseph in Aegypten; sie übertraf die Erwartung des Publicums und des Hofes. Noch einmal tauchte ein Theil jener alten Prachtliebe des Grafen auf. Decorationen und Costüme waren glänzend. Das Arrangement des Triumphzuges leitete Graf Hahn selbst. Nach der Vorstellung ließ ihn der Herzog von Altenburg durch einen Kammerherrn in seine Loge rufen, um ihm seine Zufriedenheit auszudrücken.

Ritter- und Zauberstücke beherrschten von nun an das Repertoire. Selten kam eine Oper zu Stande. Bengalische Flammen leuchteten; Feuerwerk prasselte, wo es nur anzubringen war; Graf Hahn ließ es sich nicht nehmen, dasselbe anzuzünden.

Wie all dieser Teufelsspuk nicht mehr so recht ziehen wollte, entschloß sich der Graf, selbst aufzutreten. Er spielte den Herrn von Langsam in Kotzebue’s „Wirrwarr“. Mit ihm spielte der geniale, leider schon damals sehr verkommene Karl Unzelmann den Fritz Hurlebusch. Nie sah ich diese Rolle wieder so meisterhaft spielen. Um Unzelmann nüchtern zu erhalten, ließ ihn der Graf nicht aus den Augen. Jedes Glas Schnaps wurde sogleich entfernt, wenn er nahte. Dieser Vorsicht verdanken wir die herrlichste Kunstleistung. Auch spielte ferner der Graf den Thomas im „Geheimniß“; beide Rollen hatte er früher dem großen Unzelmann, Vater des Karl Unzelmann, abgelauscht. Graf Hahn gefiel dem Publicum ausnehmend, doch der Hof billigte diese Debuts durchaus nicht. Der Herzog äußerte dem Grafen gegenüber sein Mißbehagen, einen Grafen Hahn Komödie spielen zu sehen. Doch dies genirte den Grafen sehr wenig. – Eines Abends spielte er in dem Spectakelstück „Napoleon’s Anfang, Glück und Ende“ einen französischen Marschall. Bei seinem Auftritt sollten zwei Kanonenschüsse fallen. Als er auf sein Stichwort wartend an der Thüre stand, bemerkte er den Inspicienten, wie derselbe sich bereit machte, zwei Pistolen in ein leeres Faß abzuschießen, um so eine stärkere Detonation zu ermöglichen. Schnell entreißt er dem erschrockenen Inspicienten die Pistolen und hält sie gravitätisch, zum Abdrücken bereit, in’s Faß. „Jetzt, Herr Graf!“ ruft der das Scenarium führende Inspicient. Der Graf drückt los; beide Pistolen versagen. Ohne sich im Geringsten dadurch aus der Fassung bringen zu lassen, öffnet er schnell die Thür, macht, indem er die Bühne betritt, eine halbe Wendung und ruft nach rückwärts in die Scene: „Bum! Bum! Majestät, der Feind rückt an!“ Das Publikum bricht in ein wieherndes Gelächter aus, selbst der große Franzosenkaiser, der auf der Scene stand, vermochte vor Lachen keine Silbe mehr hervorzubringen.

Unzelmann trieb, in Altenburg sich selbst überlassen, einen solchen Unfug, daß sich die Behörde veranlaßt sah, den täglich betrunkenen Menschen per Schub aus der Stadt zu schaffen, was dem Grafen, obgleich Unzelmann nicht mehr zu retten war, sehr nahe ging. Ueberhaupt hörte die Herrlichkeit in Altenburg bald auf. Die Theatersaison ging ohnedies zu Ende. Ich kann nicht umhin, noch eine sehr komische Episode hier einzuschalten, die sich noch mit dem oben erwähnten Karl Unzelmann kurz vor Schluß der Saison ereignete.

Die letzte Oper in der Saison war „Romeo und Julia“. Vor Anfang der Probe zur genannten Oper stand das ganze Personal vor dem Theater um den Grafen geschaart, seinen Erzählungen zu lauschen. Graf Hahn, in Mitte einer seiner Erzählungen die schwarze Hornbrille auf seine Sokratesstirn schiebend, zeigte mit dem Finger auf den Weg nach Borna hin. Plötzlich rief er: „Alle Wetter, was giebt es da!?“ Alles sah nach der vom Grafen angegebenen Richtung. Ein Gensdarm hoch zu Roß, umgeben von einer Schaar Menschen, führte am Steigbügel gebunden einen Menschen als Arrestanten mit sich. Als sich uns diese seltsame Karawane näherte, brüllte eine mächtige Stimme aus dem Menschenhaufen: „Herr Graf, retten Sie mich! Man arretirt mich als Mordbrenner!“ Alle erschraken. Der Arrestant war Karl Unzelmann. Nachdem der Graf den vernichteten Unzelmann einigermaßen beruhigt hatte, fragte er den Diener des Gesetzes, wie er dazu käme, den Mann zu verhaften? Darauf erwiderte der Gensdarm sehr höflich: „Ja, sehen Sie, mein Herr, der Mensch hier heißt Moor.“ – „Unzelmann heiße ich!“ brüllte der geknebelte Mime, doch der Gensdarm fuhr in seinem Berichte unverdrossen fort: „Sehen Sie, mein Herr, der Lump hier ist Ihnen ein Mordbrenner, den ich von Borna nach Altenburg zu transportiren habe.“ Und damit zog er mit dem verzweifelten Unzelmann unter dem Jubel der Straßenjungen dem Stadtgefängnisse zu. Die Arretirungsgeschichte Unzelmann’s löste sich auf eine höchst komische Weise.

[472] Unzelmann hatte sich unweit Borna in einem Kruge betrunken und fing in seinem Rausche mit den ebenfalls angeheiterten Bauern Händel an. Die Bauern setzten den schimpfenden Mimen ohne Weiteres an die Luft. Erzürnt über seine schnelle Beförderung, schrie er von draußen den tobenden Bauern zu: „Hallunken! Wißt Ihr, wer ich bin? Moor bin ich! Karl Moor, Räuber und Mordbrenner! Ich zünde Euch Eure Baracken über den Köpfen an.“ Und damit taumelte er von dannen, um sich irgendwo ein Plätzchen zu suchen, seinen Rausch auszuschlafen. In derselben Nacht bricht zu des Mimen Unglück in der Nähe ein Feuer aus. Sofort wird von den Bauern auf den Räuber Moor eifrig gefahndet. Endlich finden sie unsern Mimen in tiefem Schlummer in einer Scheune liegen. Der Ortsschulze rüttelt den Schläfer etwas unsanft und fragt. „Sie da, mein Gutester! Heißen Sie Moor?“ Karl Unzelmann, noch im Dusel, springt sofort auf und ruft: „Ja wohl! Räuber und Mordbrenner!“ Ehe er sich’s versah, war er gebunden und dem Amte in Borna übergeben.

Graf Hahn befreite Unzelmann, nachdem er fünf Tage als Räuber Moor im Stadtgefängniß gefangen gesessen, aus seiner Haft, indem er dem Herzog von Altenburg die Arretirung Unzelmann’s mittheilte, der herzlich über die Geschichte lachte und den Befehl gab, Unzelmann in Freiheit zu setzen und ihm ein Reisegeld unter der Bedingung zu geben, nie wieder Altenburg mit seiner holden Gegenwart zu beglücken. Das Ende dieses so reich begabten Künstlers war ein höchst tragisches. Einige Jahre später fand man die Leiche Unzelmann’s im Goldfischteich des Berliner Thiergartens.

Nachdem in Altenburg die Theatersaison beendet, verließ ich den Grafen, um in Schwerin ein Engagement als lyrischer Tenor anzutreten. Doch interessierte mich das Leben und Treiben des alten liebenswürdigen Herrn so sehr, daß ich mir von demselben stets Nachricht zu verschaffen wußte. Von Altenburg wanderte er mit dem Stamm seiner Gesellschaft nach Gera, Chemnitz, Erfurt etc.

Im Jahre 1837 übernahm Graf Hahn abermals das Theater in Altona. Dort erkranke er und entließ demnach seine ganze Gesellschaft, lebte nach seiner Genesung theils bei seinem Sohn in Neuhaus, oder hielt sich, wenn er Theatersehnsucht bekam, in Lübeck auf, wo er dann an der artistischen Leitung des Stadttheaters sehr regen Antheil nahm; denn hier konnte er seinen seltsamen Passionen, Statisten zu schminken, den Souffleur zu spielen, zu donnern und zu blitzen, bei Zügen als Anführer zu figuriren, die Jungen von der Bühne zu treiben, die sich dort eingeschlichen, so recht den Zügel schießen lassen.

Das Schicksal wollte es, daß mich der Graf Hahn von Königsberg in Preußen aus im Jahre 1842 zum zweiten Male engagirte. Er hatte das Kieler Stadttheater übernommen. Als er mich in’s Zimmer treten sah, sang er aus Weigel’s Schweizerfamilie mir entgegen: „Ich habe Dich wieder – noch glaub’ ich es kaum“, drückte mir dabei herzlich die Hand und gab mir eine feine Havannacigarre, die er stets für ganz besondere Gäste bereit hielt. Er selbst aber rauchte noch immer aus dem mir bekannten Meerschaumkopf. Ich fand den alten Herrn trotz seiner Gicht, die ihn eben plagte, sehr heiter und wohl, ja unverändert. Nun mußte ich ihm meine ganzen Erlebnisse erzählen; denn er fragte, wo ich während unserer Trennung überall gespielt habe, erkundigte sich nach diesem oder jenem Schauspieler, der einmal bei ihm engagiert gewesen etc. Die Gicht plagte damals den alten Herrn so, daß er nicht im Stande war, sich vom Platze zu regen. Nachdem wir noch ein Weilchen geplaudert, brach er mit einem Male kurz die Unterhaltung ab und sang nach seiner gewohnten Weise:

„Reiche mir einmal das Glöckchen, mein Sohn!“

„Erlauben Sie, daß ich läute?“ erwiderte ich.

„Nein, mein Sohn, das verstehst Du nicht. Die Bande da draußen ist nach Commando von mir dressirt. Sieh Dir einmal das Glöckchen an. Es hat keinen Knöpfel. Schlage ich mit dieser Scheere nur einmal an dieses Aladinsglöckchen, so kommt mein Theaterdiener Kramer, ein prächtiger Junge, sage ich Dir! zweimal, meine Haushälterin, die Schmidtchen; dreimal, Schlawittzer.“ Darauf berührte der Graf das Glöckchen dreimal mit der Scheere. Kaum waren die hellen Töne verklungen, so öffnete sich eine Thüre und herein schritt ein Männchen mit eingekniffenen Mundwinkeln, wie wenn es Essig verschluckt hätte, und fragte mit schnarrendem Tone, sich katzenartig dem Grafen nähernd:

„Was haben Erlaucht zu befehlen?“ Dabei streifte sein schielender Blick meine Wenigkeit.

„Das hier ist unser neuer Tenor,“ und indem er sich freundlich nickend zu mir wandte, sagte er: „Mein Sohn, das ist Schlawittzer, mein Factotum. Den Knüpfer hat der Satan geholt. Er war ein liederlicher, undankbarer Mensch. Dieser hier, sein Nachfolger, ist mein Secretair, Hausmakler, Regisseur und Bösewichtspieler.“

Dieser Herr Schlawittzer machte auf mich einen höchst unangenehmen Eindruck. Noch ehe wir ein Wort gewechselt, waren wir Feinde. Ich hatte mich nicht getäuscht, denn später lohnte er des Grafen Güte mit dem bittersten Undank.

Graf Hahn fing nun in Kiel an, seine ganze Thätigkeit zu entwickeln. Was hätte dieser Mann in der Welt für eine Rolle spielen können! Geburt, körperliche und geistige Anlagen, eine seltene Bildung und zu alledem ein fast unerschöpfliches Vermögen berechtigten ihn dazu, wie wenig Andere. Seine Welt waren nun einmal die Bretter, die die Welt bedeuten. Durch sie, für sie, auf ihnen zu wirken, erschien ihm die Mission seines Lebens und um diese zu erfüllen, war ihm kein Opfer, keine Erniedrigung in den Augen der Welt zu groß.

„Ich vollbringe das, wozu mich Gott berufen – auf Dank habe ich nie gerechnet und werde es auch nicht thun,“ sagte er oft.

O Ironie des Lebens! Eben für das, wofür sich Graf Hahn berufen fühlte, woran er Alles setzte, wofür er kämpfte, litt, duldete, um dessen willen er sich mit seinen Verwandten verfeindete – besaß er die allerwenigste Begabung. Er war nichts als ein leidenschaftlicher Dilettant in der Schauspielkunst. Von Goethe’s Dramen schätzte er nur den „Götz von Berlichingen“ wegen der vielen Verwandlungen und Gefechte, die darin vorkommen. Schiller’s „Jungfrau“ gab er nur des Krönungszuges wegen. Denselben zu arrangiren war sein Stolz, seine Lust. Allem aber zog er den „Freischütz“ vor, nicht der Musik, sondern der Wolfsschlucht wegen; für die Ausstattung desselben opferte er vieles Geld.

Wahrhaft rührend erschien es, daß der Graf Hahn in den kärglichsten Verhältnissen auch nicht einen Augenblick an der Wahrhaftigkeit seiner Mission den mindesten Zweifel hegte, denn einst sagte er zu mir in einer drückenden Situation. „Ich kann doch mit Heine sagen: Ich habe ein schönes Leben gelebt.“

Nun fing der Graf an, Vorbereitungen zu einem großen Unternehmen zu treffen. Niemand von uns wußte, was er vorhatte, selbst Schlawittzer nicht, und das wollte viel sagen. Während nun Garderobe angefertigt wurde, verreiste er sehr oft; Niemand wußte, wohin. Endlich offenbarte sich das Geheimniß. Der Graf hatte das Actientheater auf St. Pauli in Hamburg gepachtet. Dort sollte noch einmal ein matter Stern seiner ehemaligen Größe leuchten. Es wurden die bedeutendsten Opernkräfte engagirt. Der Chor wurde vervollständigt, die berühmte Balletgesellschaft Kobler gewonnen, kurz, der Graf wollte dem Stadttheater in Hamburg, damals unter Cornet’s und Mühling’s Leitung, Concurrenz machen.

Wenige Tage vor seiner Abreise von Kiel erhielt er plötzlich die Nachricht, daß der König von Dänemark der Stadt einen Besuch machen wolle. Ueber diese Nachricht war der Graf hocherfreut und nahm sich vor, in seinem Theater etwas Großartiges zu veranstalten und dazu die Majestät von Dänemark einzuladen. Er wählte den „Wasserträger“ von Cherubini.

Als der König eingetroffen, begab sich Graf Hahn in voller Galauniform, geschmückt mit Orden und Kammerherrenschlüssel, auf’s Schloß, um den König zu bitten, sein Theater mit dero hoher Gegenwart zu beglücken. Als der König den Grafen gewahrte, rief er:

„Ah sieh da, Graf Hahn! Treiben Sie sich denn immer noch mit Ihren Komödianten umher? Lassen Sie doch endlich einmal die verdammte Theaterwuth fahren und gehen Sie zu Ihrem Sohne nach Neuhaus, um dort Ihre Tage in Ruhe zu verleben!“

Darauf erwiderte Graf Hahn: „Majestät, mein einziger Wunsch ist, dermaleinst auf der Bühne zu sterben.“

[473] „Sie sind unverbesserlich,“ antwortete der König. „Gott befohlen! Ich komme heute Abend in’s Theater.“

Die Probe zu der genannten Oper war im vollen Gange, als der Graf in oben erwähntem Staate auf die Bühne kam. In demselben Momente sollte Graf Armand aus dem Fasse entfliehen. Der Karren, worauf das Faß lag, war sehr ungeschickt gebaut und daher sehr schwer zu regieren, so daß der Sänger des Wasserträgers seine Noth mit demselben hatte und durchaus damit nicht zurecht kommen konnte. Graf Hahn, der ein Weilchen den Sänger sich abquälen sah, rief: „Ach was da! Das Ding muß ja gehen,“ und spannte sich in voller Gala selbst vor den Karren. Auch half er, ohne sich umzukleiden, dem Theatermeister beim Arrangement der Scenerie.

Am Abend vor der Vorstellung stand er, ebenfalls in Gala, am Eingange des Theaters, um den König zu empfangen. Es machte sich höchst possierlich, den alten besternten Herrn die Jungen forttreiben zu sehen, die sich unentgeltlich in’s Theater schleichen wollten, oder einem Matrosen, der die Galerie besuchte, das Billet abnehmen zu sehen.

Endlich hörten die Vorstellungen in Kiel auf. Am 4. April 1843 reiste Graf Hahn mit seiner ganzen Gesellschaft per Extrapost, je zu Vier, nach Hamburg. Das Eintreffen der Gesellschaft erregte auf St. Pauli ein förmliches Aufsehen. Dort war man gar nicht gewohnt, solche Schauspieler und Schauspielerinnen zu sehen; man kannte dort nur Komödianten, die ganz ungenirt ihr Wesen trieben; mit einem Male gewahrte man anständige Menschen in feinen Toiletten und mit feinen Tournuren. Der Graf war entzückt über das Benehmen seiner Kinder, wie er uns stets nannte.

Nun begannen für das Actientheater Vorstellungen, die vielleicht nie wieder dort stattfinden werden. Graf Hahn entwickelte eine Pracht, einen Luxus, daß sogar die Noblesse Hamburgs entzückt von diesen Vorstellungen war und daher das Theater fleißig besuchte. Ich habe den Grafen seine Recitative nie so vergnügt und heiter singen hören, als gerade zu dieser Zeit. Gab er irgend welchem Schauspieler eine Rolle, so sang er: „Hier, mein Sohn, hast Du eine schöne Rolle. Lerne und spiele sie gut!“

Im „Freischütz“, den er mit Massen von Feuerwerk und Hokuspokus in der Wolfsschlucht ausstattete, gab er selbst den Samiel. Hatte er einen Augenblick Zeit, so lief er als Teufel unter das Podium, zerrte den Souffleur aus dem Kasten und setzte sich ganz behaglich selbst hinein, um zu souffliren, aber auf eine ganz possierliche Weise. Bald rief er einer Chorsängerin zu, daß ihr Unterrock zu lang sei und vorsehe, bald blätterte er im Buche oder im Clavierauszuge umher, um eine Stelle zu lesen, die gerade sein Interesse erregte. Geschah nun auf der Bühne dadurch eine Verwirrung, so schlich er sich leise aus dem Kasten auf die Bühne und that so, als wenn er gar nicht in dem Souffleurkasten gesteckt hätte.

Auber’s Maskenball ging mit einer Pracht in Scene, die eines Hoftheaters würdig gewesen wäre. Der Balletmeister Kobler schmückte besonders den fünften Act der Oper durch sinnige Arrangements. Der Graf war unermüdlich, bald Dies, bald Jenes anzuordnen. Es lag ihm Alles daran, im fünften Acte die Ermordung des Königs durch Ankarström so treu wie möglich wiederzugeben. Hatte er doch, wie oben erzählt, selbst jene historische Ballnacht mit erlebt.

Bei dieser Gelegenheit schilderte uns der Graf das historische Ereigniß folgendermaßen: „Als der Schuß fiel, drangen durch alle Thüren die Garden, bildeten um alle Anwesenden einen Ring und bemächtigten sich sofort Ankarström’s. Vier Pagen, unter denen ich mich befand, holten einen großen Sessel herbei, worauf der zum Tode getroffene König von seinen Cavalieren aus dem Saal getragen wurde. Der König lebte noch vier Tage; ich und ein Graf Löwenskjold waren bei seinem Tode zugegen. Der Schandbube hatte den König mit gehacktem Blei in den Rücken getroffen. Es sind jetzt einundfünfzig Jahre verflossen, und dennoch erinnere ich mich ganz deutlich jener verhängnißvollen Ballnacht, sehe noch deutlich, wie man diesen Ankarström aus dem Saale mit Kolben stieß; wie ein Blödsinniger folgte er den Wachen. Der Bube war nicht einmal von Adel; er war nichts als ein dummer Projectenmacher, ein Querulant, der sich von einer gewissen Partei benutzen ließ, den König zu ermorden.“ Gerade so, wie der Graf die Ermordung des Königs uns schilderte, ließ er sie auf der Bühne darstellen. Alle Costüme waren treu der Zeit angemessen. Doch die Ausgaben überstiegen bei Weitem die Einnahmen. Ueberhaupt erregte das Treiben im Actientheater auf St. Pauli das größte Aufsehen. Die damaligen Directoren des Hamburger Stadttheaters, Cornet und Mühling, besuchten mit ihrem genialen Capellmeister Krebs, wenn möglich, fast jede Oper, die der Graf Hahn auf seinem Theater gab.

Das Unternehmen auf St. Pauli endete mit Schrecken. Graf Hahn sah sich mit einem Male mit einer Schuldenlast von beinahe vierzigtausend Mark belastet, die er seiner Theaterliebe zum Opfer gebracht hatte. Er selbst brauchte außerordentlich wenig, denn er lebte in jeder Beziehung sehr mäßig. Während sein Herr Cassirer S. Champagner trank und dazu Caviar oder Austern speiste, begnügte sich Graf Hahn mit einem leeren Butterbrode und trank dazu einen dänischen Kümmel. Er war blind in der Hauptsache; „das Geld“, es war ihm stets Nebensache. Er gab nie Acht darauf; wenn er nur donnern und blitzen und mit seinem Theatermeister hantiren konnte, ließ er Gott einen guten Mann sein. Nie, war das Unglück noch so groß, verlor er seine liebenswürdige Heiterkeit. Nur der Undank einiger Schauspieler, denen er früher so viel Gutes gethan, kränkte den alten Herrn tief. Zu diesen Undankbaren gehörte zu der Zeit ein Herr Benroth. Als die Noth am höchsten war, trat eines Tages dieser Herr Benroth in’s Zimmer des Grafen und forderte von demselben brutal den Rückstand seiner Gage.

„Herr Graf,“ brüllte der Mime, „ich verlange meine Gage, ich habe nichts zu essen!“

„Ah, das ist ja sehr traurig und bedauernswürdig,“ erwiderte der Graf. „Da muß ich Sie wohl zu Gaste laden, denn ich bin ja reicher als Sie, lieber Herr Benroth.“

Damit zog der Graf die Thür eines Schrankes auf und nahm aus demselben einen Teller, worauf einige kalte Kartoffeln und ein Stückchen Häring lagen. „Hier! theilen Sie mein Diner!“

Roth vor Scham, entfernte sich der Mime, ohne weiter eine Silbe hervorbringen zu können.

Bei meiner Abreise von Hamburg ersuchte mich der Graf, mit meinem Rückstande so lange zu warten, bis ihm bessere Zeiten würden. Der Sohn des Grafen deckte sämmtliche laufende Wechsel. Die Herrlichkeit auf St. Pauli hatte ihr Ende erreicht.

Mein Guthaben an Gage erhielt ich zwei Jahre später ganz unverhofft in Mainz, begleitet von einem kurzen Schreiben:

„Meine Schulden von St. Pauli!

          Herzlichen Gruß von

Altona, den 10. Oktober 1844.

          Carl Graf Hahn-Neuhaus.“

Des Grafen letzte Pilgerfahrt in der Theaterwelt fand im Jahre 1856 statt, wo er in Sommerhude bei Altona das Semmertheater leitete. Zunehmende Schwäche und Kränklichkeit hießen ihn endlich aufhören, Direction zu führen. Er bezog in Altona sein eigenes Haus. Alle seine Verbindlichkeiten wurden geordnet, so daß der alte Pilger sorglos die Stunde erwarten konnte, die den Vorhang seines Lebensspiels fallen lassen würde.

Von Gicht geplagt, Rollen und Noten zum Zeitvertreib abschreibend, lebte Graf Hahn-Neuhaus bis zum 25. Mai 1857; man fand ihn vom Schlage gerührt todt im Bette. Als ich gerade zur Zeit seines Todes in Hamburg eintraf, um dort ein Engagement anzutreten, folgte ich still und unbemerkt als einziger Repräsentant der deutschen Bühne seiner Leiche, die von den Spitzen der Stadt Altona bis zum Bahnhof geleitet wurde, um in der Familiengruft des gräflichen Hauses beigesetzt zu werden. Der Sarg des Verblichenen war mit der Grafenkrone und seinen sämmtlichen Orden geschmückt. Sanft ruhe des Biedermanns Asche!


[474]

Ilmenau und Umgebungen.
Nach der Natur aufgenommen und auf Holz gezeichnet von Herm. Heubner in Leipzig.

Schmücke. Markt-Platz. I[LME]NAU. Camerberg u. Manebach. Gr. Hermannstein.
Kickelhahn. Schneekopf.
Gabelbachhäuschen. Fridolin (Grenzhammer. Rabenthal. Aufgang zum Gabelbach.

[475] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[476]

Eine erinnerungsreiche Sommerfrische.

Mit Abbildungen.

Amnuthig Thal, du immergrüner Hain,
Mein Herz begrüßt euch wieder auf das Beste!
Entfaltet mir die schwerbehangnen Aeste,
Nehm’ freundlich mich in eure Schatten ein.
Erquickt von euren Höhn, am Tag der Lieb’ und Lust,
Mit frischer Luft und Balsam meine Brust! …

Wo am südöstlichen Abhänge des Thüringer Waldes die Ilm nach ungefähr zweistündigem Laufe aus dem Gebirge heraustritt in das System seiner Vorberge, dehnt sich, auf der einen Seite durch die Höhenzüge des Hochgebirgs, auf der andern durch sanft abfallende Hügelketten umgrenzt, viertelstundenweit[WS 1] eine Thalsenkung, deren Oberfläche aus duftigen Wiesenmatten und fruchtbaren Feldern gebildet wird, zwischen denen hie und da ein glatter Wasserspiegel aufschaut. Mitten hindurch wandert das muntere Gebirgskind, die Ilm, die ihrer Jugend ungeachtet schon wacker schafft, wie das Klappern verschiedener Triebwerke verkündet. Dort wuchs nach und nach ein nettes Städtchen heran, welches sich im Halbkreis um den vorspringenden Höhenzug der Sturmhaide anschmiegt und dort die liebliche Aue der Ilm beherrscht: die Bergstadt Ilmenau.

Alljährlich um die Pfingstzeit, wenn der lachende Frühling dem grämlichen Winter das Schneekleid vom Leibe gerissen hat und das Gebirge zugänglich geworden, da beginnt der Strom der Wanderlustigen sich durch die Gegend zu ergießen, und späterhin, wenn die Blumen der Au am vollsten blühen, wenn das duftige Gras in Schwaden fällt und die Aehren schwerer und schwerer an den Fruchthalmen nicken, da erhöht sich die gewöhnliche Einwohnerzahl des Städtchens von Dreitausend und einigen Hunderten um tausend und mehr Personen. Was zieht sie herbei? Es ist der landschaftliche Reiz der Gegend, die herrliche Luft und das köstliche Quellwasser, es ist die Classicität des Platzes, an den sich heilige Erinnerungen knüpfen.

Ja, nach welcher Himmelsgegend wir auch wandern – so lange uns der Wald umfängt und die Höhen des Bergrückens tragen, ist’s überall schön, und Alles muthet uns herzerquickend an. Schauen wir uns vom Habichtsfang, einer Höhe bei Oberpörlitz, um. Zu unseren Füßen breitet sich die Aue. Kühn und gewaltig erhebt sich darüber hin der massige Gebirgsstock des Kickelhahns. Die höchste Höhe, mit einem steinernen, 1854 erbauten Aussichtsthurme bekrönt, ruht monumental auf einem ausgedehnten Unterbau von Bergen, aus denen sich verschiedene Kuppen in gefälligen Linien abheben. Coulissenartig schiebt sich Hang an Hang in die Thäler herab, bis der fernere Zug des Gebirges dem Blicke Halt gebietet.

Nach Nordost und Ost hin gleitet das Auge über ein Gewimmel bewaldeter Hügel hinweg in fruchtbare Fluren. Freundliche Orte grüßen herüber, und die Contouren eines Bergzuges in bläulichem Fernduft schließen das Bild ab. Es hat Natur

– „hier Berg an Berg gereiht.
Die Hügel dann bequem hinabgebildet,
Mit sanftem Zug sie in das Thal gemildet.
Da grünt’s und wächst’s –“

Und in Bergen und Wäldern drinnen, welch ein Reichthum großartiger und lieblicher Punkte und Gestaltungen! Steige vom vielbesuchten Gabelbach aus mit dem Thurmwart Kilian Merten, dem bewährten Kenner Thüringer Berge und Fluren, auf den Kickelhahnsthurm und laß dein Auge in weite Fernen schweifen, lagere dich am Fuße des großen Hermannstein, dem Lieblingsaufenthalte Goethe’s, dringe tief hinein in den dichten Gebirgswald, wohin die weit in der Runde gebahnten glatten Pfade nicht mehr reichen, wo das leise Sausen und Anschwellen jenes alten geheimnisvollen Liedes, das der Wind in den Baumgipfeln singt, nur durch fern herüberklingende Axtschläge der Holzhauer unterbrochen wird, durchwandere das Ilmthal an dem Rabenthal vorüber bis Stützerbach hinauf oder rechtsab in dem kerngesunden Walde hinaus bis zur überall gekannten Schmücke mit dem prächtigen Schneekopf, oder gehe der Schorte, die sich beim Grenzhammer mit der Ilm vereinigt, entgegen, belausche das Reh, das sich in einsamer Gebirgsschlucht langsam über die saftige Bergwiese hinäst: du wirst Bilder und Stimmungen finden, die dich in hohem Grade befriedigen, die dir wahrhaften Genuß verschaffen.

Und welche Luft weht hier durch Berg und Thal! Wie frisch und rein sprudeln diese Quellen! Wenn ich die Thatsache anführe, daß der Druck der Luftsäule auf den Menschen beispielsweise am Meere 30000 Pfund, in Berlin 29800 Pfund, in Ilmenau nur 27800 Pfund beträgt, so wird man leicht begreifen, wie bei so bedeutender Entlastung die menschlichen Organe hier ihren Dienst leichter und freier verrichten können. Dazu kommt der außerordentliche Ozongehalt dieser Luft, der den Verbrennungsproceß des Blutes so wesentlich befördert und so auf die natürlichste Weise die Reinigung des Blutes herbeiführt. Eine Sommerfrische in diesen Bergen hat schon vielfache Wunder gethan; hat sich der Acten- und Bücherstaub noch so dick angesetzt – hier muß er nach und nach herab. In Verbindung mit jenen natürlichsten aller Heilmittel sind zweckmäßig eingerichtete Badeanstalten bestrebt, Gesunden und Kranken Erfrischung der erschlafften Glieder oder Linderung und Heilung der Leiden zu verschaffen.

Weiter aber, welche Erinnerungen haften an diesem Boden!

„Meine Ufer sind arm; doch höret die leisere Welle,
Führet der Strom sie vorbei, manches unsterbliche Lied.“

Mit diesen Worten führte Schiller die Ilm unter seinen Flüssen ein, und Goethe ließ in dem berühmten Maskenzuge, der am 18. December 1818 zu Ehren der damaligen Kaiserin-Mutter von Rußland in Weimar veranstaltet wurde, die Ilm auftreten und verkünden:

„Droben hoch an meiner Quelle
Ist so manches Lied entstanden,
Das ich mit bedächtiger Schnelle
Hingeflößt nach allen Landen.“

Die Zeit, in welcher so manches unsterbliche Lied hoch an der Ilmquelle entstand, beginnt mit dem Jahre 1776, und der Dichter war Goethe selbst. Bald nach seiner Ankunft in Weimar kam er mit seinem fürstlichen Freunde Karl August nach Ilmenau. Nachdem der Herzog sich überzeugt hatte, wie schädlich die Hegung des Wildes nicht allein dem Ackerbau, sondern auch der Forstcultur werden müsse, und die Verringerung des Wildstandes beschlossen worden, ging es an’s Jagen, und als die Reihen der Hirsche und Rehe genügsam gelichtet waren, an ernstere Arbeiten, namentlich an die Wiederherstellung des gänzlich niederliegenden Bergbaues.

In diese Zeit fällt die Entstehung des Gedichtes „Dem Schicksal“, welches Goethe mit folgenden Zeilen an [Johann Caspar Lavater|Lavater]] schickte: „Hier ein paar Zeilen meines Gefühles, aus dem Thüringer Walde geschrieben den 3. August, Morgens unter dem Zeichnen.“ In jener ursprünglichen Gestalt lauteten die ersten Verse des Gedichtes:

„Was weiß ich, was mir hier gefällt,
In dieser engen, kleinen Welt
Mit leisem Zauberband mich hält!
Mein Karl[2] und ich vergessen hier,
Wie seltsam uns ein tiefer Schicksal leitet;
Und ach! ich fühl’s, im Stillen werden wir
Zu neuen Scenen vorbereitet“ etc.

Um sich vom Zustande des lange verlassenen Grubenwerkes zu überzeugen, nahmen damals Karl August und Goethe eine Besichtigung desselben vor, wobei der Erstere beinahe das Leben verlor. Im Schachte brach eine Leitersprosse, und Karl August, der im Eifer vorangestiegen war, stürzte hinab in die Tiefe. Ohnmächtig wurde er hinaufgefördert und in’s Forsthaus getragen. Ein Husar jagte nach Jena, um Professor Loder zu holen. Inzwischen wurde vergeblich nach dem Ilmenauer Arzte und Feldscheer geschickt; beide waren gerade auswärts; nur ein junger Gehülfe des Letzteren wurde herbeigebracht. Dieser legte den ersten Verband so trefflich an, daß Loder bald wieder abreisen und den hohen Kranken der ferneren Behandlung des jungen Menschen anvertrauen konnte. Karl August wies dem Gehülfen die Mittel zum Studiren an; dieser aber schrieb eine [477] berühmte Bandagenlehre und starb in hohem Alter und hohen Ehren in Berlin. Es war Professor Bernstein.

Während jenes Aufenthalts in der Ilmenauer Gegend wohnten die Beiden vorzugsweise in Stützerbach in dem ehemals Gundelach’schen, jetzt Ephraim Greiner’schen Wohnhause, bisweilen auch in Ilmenau selbst. In das Jahr 1777 fallen bereits die ersten Anfänge von „Wilhelm Meister’s Lehrjahren“, an welchem Werke Goethe, freilich mit großen Unterbrechungen, an zwanzig Jahre gearbeitet hat. Vieles davon wurde in Ilmenau geschrieben; ja, man darf mit Bestimmtheit annehmen, daß manche Begebenheit des Romans und manche Scenerie hier erlebt, erschaut und von hier entlehnt wurde. Die dicke Eiche, deren gelegentlich des Rücktransports der entführten Kaufmannstochter Erwähnung geschieht, ist es nicht der mächtige Baum, der auf der Höhe zwischen Ilmenau und Martinrode stand? Vor einer Reihe von Jahren ist er den Stürmen erlegen. Noch jetzt erschaut man den Stumpf der riesigen Pflanzenleiche, auf Mauerwerk dürftig aufgebahrt, an dem Platze, wo der Baum den Wettern länger als tausend Jahre Trotz geboten hatte; durch das Luftrevier aber, wo schon in grauer Vorzeit ihr Blätterwerk spielte, zieht jetzt ein schwanker Draht hin, der Leiter des elektrischen Funkens. – Der Vorgarten zur Amtsfrohnveste, die Porcellanfabrik auf der Sturmhaide, die heutzutage noch herrschende Liebhaberei der Fabrikarbeiter in der Gegend, Theater zu spielen, ein am 2. Mai 1776 in Ilmenau stattgefundener Brand, welcher sechs Häuser vernichtete, der Marktplatz mit zwei gegenüberliegenden Wirthshäusern und manche andere Momente deuten darauf hin, daß Goethe hier nachgezeichnet hat.

Letzterwähnte Wirthshäuser anlangend (jetzt Sonne und Adler), so coquettirte von dem Fenster des einen aus Philine mit Wilhelm, welcher vor der Thür des andern Blumen kaufte. Auf dem Markte vor dem einen Wirthshause producirten sich die Seiltänzer, sollte Mignon den Eiertanz tanzen. Das unglückliche italische Kind! Wie viele Bilder, Scenen und Gedichte des großen Meisters lassen sich auf Ilmenau und dessen Umgebungen zurückführen, die Wenige so genau kannten wie der Dichter des Faust und der Iphigenie!

Am 6. September 1780 treffen wir Goethe auf dem Kickelhahn. An demselben Tage schreibt er unter Andern an die Freundin Charlotte von Stein: „Es ist ganz reiner Himmel, und ich gehe, des Sonnenunterganges mich zu freuen. Die Aussicht ist groß, aber einfach. – Die Sonne ist nieder. Die Gegend ist so rein und ruhig wie eine große schöne Seele, wenn sie sich am wohlsten befindet. Wenn nicht hie und da einige Vapeurs von den Meilern aufstiegen, wäre die ganze Scene unbeweglich.“

Während dieses seines Aufenthaltes mag auch die nächtliche Scene im Gebirge vorgekommen sein, welche er in dem Gedichte „Ilmenau“ für Karl August’s Geburtstag, 3. September 1783, beschrieben hat. Die Gartenlaube hat diese Scene bereits im Jahrgang 1861 durch die kundige Hand Diezmann’s und durch eine prächtige Xylographie des Thüringer Malers H. von Oer verewigt, und bedarf es daher keiner weitern Schilderung.

Und nun der Abend des 7. September 1783: Goethe, vom Fenster des einsamen Bretterhäuschens aus dem Kickelhahn hinabträumend in die Wälder! Plötzlich zuckt er auf, als habe er etwas gefunden. Rasch wirft er es mit Bleistift auf das erste beste Brettstück neben dem Fenster, und fortan war dort zu lesen das herrliche Nachtlied „Ueber allen Gipfeln etc.“ (vergl. Nr. 40 der Gartenlaube von 1872). Nachträglich zu jenem Artikel sei mir verstattet hier zu bemerken, daß die Thür zu dem Zimmer, in welchem Goethe das Nachtlied schrieb, noch existirt. Dieselbe wird schon seit einer Reihe von Jahren und heute noch, nachdem sie wandelbar und durch eine neue ersetzt worden, von Kilian Merten aus dem Gabelbach aufbewahrt.

Außer auf dem Kickelhahn hielt sich Goethe vorzugsweise gern auf dem Schwalbenstein, oberhalb des Manebacher Grundes, auf. Zu jener Zeit stand dort auf dem vorspringenden Felsen ein Bretterhäuschen, in welchem Goethe, wie er selbst zu Bergrath Mahr geäußert, den ersten Plan zur Iphigenie gefaßt hat. Hier schrieb er auch: „Schwalbenstein bei Ilmenau. Sereno die, quieta mente (hellen Himmels, froher Seele) schrieb ich, nach einer Wahl von drei Jahren, den vierten Act meiner Iphigenia an einem Tage.“ Es war dies am 19. März 1779; am 28. März war die ganze Dichtung beendigt.

Damals war es, daß die Männer des „lustigen Weimars“ oft und gern in den Wäldern Ilmenaus verkehrten. Seckendorf, Knebel, Herr von Stein, der Gatte der vielgenannten Freundin Goethe’s, Einsiedel, Jean Paul, Herder und Andere verlebten im Orte und auf den Bergen stille und zu Zeiten auch vielbewegte Tage, wenn der ewig heitere und gut aufgelegte Fürst und Freund Karl August dort eintraf. Einige Jahre später siedelte dann Corona Schröter, die schöne und liebenswürdige Sängerin, und nach ihr auch L. v. Knebel nach Ilmenau über.

Im Jahre 1813 lebte Goethe, wie er an Knebel schreibt, „sieben sehr vergnügte Tage“ in Ilmenau. Von da an ließ er sich viele Jahre nicht mehr hier sehen. Nur einmal noch kam er; es war bekanntlich zu seinem Geburtstage, den 28. August 1831. Er glaubte „die diesmal sehr gesteigerte Feier“ dieses Tages in der Nähe von Weimar nicht bestehen zu können und verfügte sich deshalb mit seinen beiden Enkeln nach Ilmenau, um die Geister der Vergangenheit durch die Gegenwart der herankommenden auf eine gesetzte und gefaßte Weise zu begrüßen. In Gesellschaft des vor mehreren Jahren hier verstorbenen Bergrath Mahr fuhr er hinauf auf den Kickelhahn, erfreute sich an dem herrlichen Walde und der prachtvollen Aussicht und schritt dann zu Fuße auf den Berggipfel hinauf, wo er noch das kleine Waldhaus in der Nähe wußte. Als er hier in dem oberen Zimmerraume angekommen war, äußerte er zu Mahr:

„Ich habe in früherer Zeit in dieser Stube mit meinem Bedienten im Sommer acht Tage gewohnt und damals einen Vers an die Wand geschrieben. Ich möchte ihn nochmals sehen.“ Er las: „Ueber allen Gipfeln ist Ruh“ und – wie wir bereits früher einmal erzählten – Thränen flossen ihm über die Wangen, und in sanftwehmüthigem Tone wiederholte er: „Ja, warte nur, balde ruhest du auch.“

Schweigend blickte er dann lange über die waldigen Höhen hin, und als er sich endlich zum Gehen wandte, gedachte er wiederholt seines „guten Großherzogs“, der ihm drei Jahre vorher in’s Jenseits vorangegangenen Karl August. – Diezmann, dessen „Weimar-Album“ ich dies entnehme, fährt fort: „Sechs Tage blieb er in Ilmenau, wo er am Geburtstage durch eine Morgenmusik, Abends durch einen Auszug der Bergknappen mit ihren Grubenlichtern und eine Aufführung des ‚Bergmann und Bauer‘ erfreut wurde. Mit besonderem Interesse erkundigte er sich auch, ob das kleine Haus auf dem Schwalbensteine noch stehe, in welchem er einen Theil seiner ‚Iphigenie‘ geschrieben.“

Wenn aus dem Gesagten schon genugsam hervorgeht, wie lieb und theuer Karl August und Goethe Ilmenau geworden war, wo sich das zwischen Beiden schon früher angeknüpfte Freundschaftsbündniß durch den engsten persönlichen Verkehr zu einer Intimität steigerte, die für die ganze Menschheit zu unermeßlichem Segen gedeihen sollte, so darf eine Scene nicht unerwähnt bleiben, worin Karl August selbst hiervon das rührendste Zeugniß abgab. Es war früh vor sechs Uhr am 3. September 1825, dem fünfzigjährigen Regierungsjubiläum dieses unvergleichlichen Fürsten, als Goethe, der Erste der Glückwünschenden, im römischen Hause zu Weimar zu dem Jubilar eintrat. Karl August erfaßte die Hände des Dichters, der vor tiefer Bewegung nur die Worte hervorbringen konnte: „Bis zum letzten Hauche beisammen!“ Der Fürst gedachte der schönen fernen Jugendzeit und tief ergriffen rief er aus: „O achtzehn Jahre und Ilmenau!“

Solche Erinnerungen sind wohl zu pflegen, und gern beschreitet man die Stätten, an welche sie sich knüpfen. Aber der Thüringer Wald und namentlich Ilmenau mit seinen Umgebungen müssen wohl außer diesen klassischen Erinnerungen auch einen eigenthümlichen wohlthuenden Reiz auf empfängliche Gemüther üben, denn Thatsache ist es, daß viele Reisende, wenn sie die Herrlichkeiten des Meeres und der Alpen gesehen, stets wieder auf die Thüringer Berge zurückkehren, weil es ihnen hier „doch am wohlsten sei“. – Ich selbst kannte einen viel gereisten jungen Mann, der diesem Reize nicht widerstehen konnte. Im Drange seiner Jugendlust war er, nachdem er ganz Deutschland gesehen, durch die lachenden Fluren Südfrankreichs bis zu den Wasserfällen der Pyrenäen gezogen, hatte von Nizzas Höhen [478] hinaus in das blitzende Meer geschaut und die Olivenhaine Corsicas durchwandert, um dann an den Schlössern und Schluchten des Bosporus und des goldenen Horns vorüber seine Schritte nach dem Morgenlande zu lenken, bis er durch die versunkene Culturwelt Kleinasiens hinab nach dem erinnerungsreichen Jerusalem zog, das er nur verließ, um weiter nach Aegyptens vielbewunderter Wüstenwelt zu schiffen. Mit lebhaften Farben malt er in seinen hinterlassenen Tagebüchern die sonnengluthige Schönheit des Südens und den berauschenden Eindruck der orientalischen Ruinenwelt, aber immer und immer kehrt am Schlusse seiner Schilderungen der rührende Wunsch wieder: „Wie gerne gäbe ich alle die Herrlichkeiten hin für einen einzigen Sonnenuntergang auf dem Kickelhahn!“ – Was muß es nur sein, was diesen kleinen Bergen im Herzen von Deutschland einen so frisch erquickenden ewig neuen Reiz verleiht?

Und nun, Reiselustiger, schaue Dir die beigegebenen einfachen Bilder an! Es sind reizende Skizzen, treu aufgefaßt und mit kunstfertigem Stifte durchgeführt. Aber – Freund Heubner verzeihe mir – die Originalien sind doch noch viel schöner!
Julius Keßler.




Blätter und Blüthen.

Maler auf der Studienreise. (Mit Abbildung, S. 467.) „Was ist denn eine Studienreise?“ So werden Viele fragen, und es wird nicht an Leuten fehlen, welche beim Anblick der Maler mit ihren langen Haaren und spitzigen und breitkrämpigen Hüten auf die Meinung verfallen, daß eine sogenannte Studienreise wohl nichts Anderes sei, als eine gut erfundene Ausrede zum Bummeln. Dieser Anschauung huldigte z. B. jener Bauersmann, der, einen Maler unter seinem Schirme sitzen und malen sehend, für sich murmelte: „Da sitzt auch so ein Tagedieb.“ Zum Trost der Welt können wir aber behaupten, daß das Bummeln nur eine Ausnahme ist von der ehrenwerthen Regel, nach welcher weitaus der größere Theil der Künstler es ernst meint mit seinen Studien.

Der Maler lebt fast das ganze Jahr in der Stadt innerhalb der vier Wände seines Ateliers; um seine Phantasie aufzufrischen, muß er einen oder zwei Monate hinaus in die Freiheit. Der Landschaftsmaler eilt nach dem Hochgebirge mit seinen Gletschern, Wasserfällen, Seen, Ahornbaumgruppen und Wettertannen; der Thiermaler sucht jene grünen Halden auf, wo prächtiges Vieh weidet und flinke Ziegen gleich Gemsen herumklettern; der Genremaler richtet seinen Weg dahin, wo er noch die gute alte Zeit findet, wo die Wirthe noch die einfache Kreide führen und nicht die Stahlfeder auf den langen Rechnungszetteln, wo nicht schon jeder Gartenzaun schweinfurtergrün angestrichen ist. Wo er ein Bauernhaus mit mächtigem Strohdache entdeckt, da tritt er ein, da findet er eine heimelige Stube mit Gupfenofen, wo die Sonne freundlich durch runde Fensterscheiben lächelt, wo der Großätti mit kurzen Hosen und Zipfelkappe sein Pfeifchen schmaucht, wo Frauen mit großen Spitzhauben und Mädchen mit Schwefelhütchen ihr Spinnrad drehen; da kann er auch eine rußige Küche finden oder eine trauliche Sommerlaube, wo zwischen Weinranken hindurch die blauen Berge herüberwinken.

Auf einer solchen Studienreise hat der Kunstbeflissene viel von Strapazen und von Unbilden der Witterung zu leiden. Da kann es ihm geschehen, daß, wenn er auf Wochen sich in einer hochgelegenen Sennhütte einlogirt hat, der Wind durch alle Fugen dringt und das Innere mit Rauch anfüllt, daß dem Ungewohnten die Augen übergehen, die Regengüsse ihn nicht vor die Thür lassen, weil die Umgebung der Hütte zur Pfütze geworden, und er am Ende gar noch eingeschneit wird. Da muß der gute Humor helfen, bis die Wolken sich zertheilen und das langersehnte Himmelblau sich wieder zeigt.

Der junge Maler auf unserm Bilde scheint auf eine der oben erwähnten Sommerlauben gerathen zu sein; die darf er nicht auslassen, die kann er vielleicht einmal trefflich verwerthen und rasch macht er sich an seine Arbeit. Er ist ja da ungestört, ungestörter wenigstens als sein College, der den alten Brunnen malt und der von der halben Dorfjugend belagert ist. Und auch er kriegt sein Publicum; doch es ist das Hausgesinde, und da braucht’s Nachsicht. Wie das Ueberwinden der Strapazen lernt sich auch die Geduld, derlei Störungen nicht zu beachten. Als Entschädigung dafür erscheint ihm, o welch Glück! eine neue Studie, eine willkommene Staffage, nein, sogar der Stoff zu einem Bilde.

Dieses Maidli, gewiß des Hauses Töchterlein, hat soeben die auf dem Vordache stehenden Blumen getränkt. Ob sie dieses Geschäft sonst immer zu dieser Zeit verrichtet, weiß ich nicht; aber es hilft nichts, sie muß dem Maler Modell stehen, bis er sie, wie wir sie da erblicken, mit der Gießkanne und halb beschattet von der Weinranke, in seine Mappe skizzirt hat. Aus Freude über das geglückte Tagewerk wird dann im Wirthshause ein Schoppen guter Waadtländer mehr getrunken, und im Qualme von Glimmstengeln und Pfeife stellt er sich das Bild zusammen, welches die Mitglieder des Kunstvereins in einigen Monaten zu sehen bekommen werden. Vielleicht verguckt sich da ein Engländer drein und nimmt es mit sich über’s Wasser.

Obigem Originalbilde, welches in der Schule des Professor von Ramberg gemalt wurde, ist letzteres Loos zu Theil geworden; es kam über Wasser, wenn auch nur über den Bodensee, indem es von der städtischen Galerie in Zürich angekauft wurde. Gegenwärtig befindet es sich im Ausstellungsgebäude in Wien.


Etwas von dem Leben der Fische. „Der ertrunkene Goldfisch“ hätte ich diesen Aufsatz auch überschreiben können. „Als ob ein Goldfisch ertrinken könnte!“ wird mancher Leser sagen. Ja, lieber Leser, ein Goldfisch kann ertrinken, wenn auch nicht auf dieselbe Weise wie Du, wenn Du das Unglück hättest, in das Wasser zu fallen, wovor Dich Gott behüten möge – aber er kann im Wasser ersticken, wie Du auch ersticken würdest. Höre! Als ich vor einiger Zeit eine mir befreundete Familie besuchte, kam mir der zehnjährige Knabe derselben entgegen und klagte mir, sein Goldfisch sei – plötzlich gestorben. Ich antwortete ihm, das Wasser desselben wäre wahrscheinlich alt gewesen. Er aber behauptete das Gegentheil und führte mich vor die Fischglocke, die mit klarem Wasser angefüllt war, in welchem der todte Goldfisch lag.

„Und was that der Goldfisch kurz vor seinem Tode?“ frug ich.

„Er streckte von Zeit zu Zeit das Maul über die Oberfläche des Wassers, als ob er nach Luft schnappen wollte. Das hat er auch gethan, aber es hat ihm nichts genützt.“

„Dein Goldfisch ist ertrunken.“

Der Knabe fing hell an zu lachen und meinte, das sei unmöglich. Ich ließ mir nun von ihm eine brennende Kerze bringen und hielt die Fischglocke darüber, um sie zu erwärmen.

„Was bemerkst Du nun?“ frug ich den Knaben.

„Nichts,“ antwortete er.

Ich ließ darauf das Wasser ausleeren und frisches Bachwasser in die Glasglocke gießen und hielt dieselbe wieder über das brennende Licht. Die Glocke war kaum unten etwas erwärmt, als kleine Bläschen aus dem Wasser in die Höhe stiegen und an der Luft zerplatzten. Diese Bläschen bestanden aber aus Sauerstoff, welchen jedes Wasser enthalten muß, wenn Fische darin leben sollen, welche ebenso des Sauerstoffs bedürftig sind, wie die an der Luft lebenden Menschen und Thiere.

Der Athmungsproceß durch Kiemen bei den Fischen ist insofern dem durch die Lungen vor sich gehenden gleich, als auch hier die im Blute enthaltene Kohlensäure gegen den im Wasser enthaltenen Sauerstoff ausgetauscht wird. Bei den meisten Fischen sind die Kiemen kammförmige Lappen von sehr schöner rother Farbe und liegen gewöhnlich in eigenen Höhlen, zu welchen das Wasser Zutritt hat. Nimmt man einen Fisch aus dem Wasser, so erstickt derselbe, weil die Kiemenblättchen zusammentrocknen, der Blutlauf unterbrochen und der im Wasser eingeathmete Sauerstoff verbraucht wird und nicht mehr erneuert werden kann. Es giebt Fische, welche besondere Wasserbehälter zum Feuchthalten der Kiemen besitzen, und diese können tagelang außer dem Wasser leben, wie zum Beispiel der Kletterbarsch. Daß Aale, welche eine enge Kiemenöffnung haben, lange Zeit auf dem Lande leben können, das weiß wohl Jedermann.

Also, lieber Leser, wenn Du ein Aquarium hast, so erneuere öfters das Wasser darin, wenn Du nicht willst, daß Deine Fische ertrinken oder, wenn es Dir besser gefällt, ersticken, nachdem der im Wasser aufgelöste Sauerstoff verbraucht ist.


Rosenkranz in Königsberg hat unter dem Titel „Von Magdeburg bis Königsberg“ Lebenserinnerungen herausgegeben, die viel Interessantes und Neues enthalten. In Halle lernte er den bekannten, früher viel gelesenen Romandichter Lafontaine kennen, mit dem er später in einem Hause zusammen wohnte. Unter mehreren anderen Charakterzügen des Dichters erzählt er auch den nachfolgenden: „Von Lafontaine’s außerordentlicher Gutherzigkeit könnte ich mancherlei Thatsachen erzählen. Um ihre Art und Weise zu schildern, will ich mich auf ein paar Beispiele beschränken. Wenn es im Sommer sehr heiße Tage gab, so pflegte er sich damit zu beschäftigen, aus Selterwasser, Zucker und verschiedenen Weinsorten erfrischende Getränke zusammenzubrauen. Glaubte er nun eine recht schöne Mischung erfunden zu haben, so lief er damit zu mir und brachte mir ein großes Glas voll. Wenn es mir recht mundete, so freute er sich wie ein Vater, der seinen schmachtenden Sohn erquickt hat. Einmal hatten wir scharf über die Beweise für das Dasein Gottes disputirt. Er verwarf sie ganz nach der Kant’schen Theorie. Ich suchte gerade den ontologischen Beweis aufrecht zu halten. Endlich gingen wir auseinander. Ich hatte anfänglich im ersten Stock des Hauses gewohnt, war aber nach unten gezogen, so daß nur der Hausflur uns trennte. Ich ging sofort in mein Schlafzimmer, zog mich aus und legte mich nieder. Kaum lag ich, so hörte ich die Thür meines Arbeitszimmers, das vor dem Schlafzimmer lag, sich öffnen. Ich horchte auf, wer da noch kommen könnte, da die Hausthür nicht geklingelt hatte. Bald klopfte es an meine Schlafstubenthür. Ich springe auf, den Riegel, den ich vorgestoßen hatte, wegzuziehen. Als ich, im Hemde, öffne, steht Lafontaine vor mir, einen brennenden Wachsstock in der einen Hand. ‚Mein junger Freund,‘ sagte er, ‚ich habe da zwar eifrig disputirt, daß man das Dasein Gottes nicht beweisen könne. Seien Sie aber versichert, daß ich an ihn glaube und noch eben recht innig zu ihm gebetet habe. Ich kann nicht schlafen, ohne Ihnen dies gesagt zu haben. Nun schlafen Sie ruhig!‘ Dabei liefen ihm die Thränen über die Backen. Er drückte meine Hand, die ich ihm mit bewegtem Gemüth reichte, und verschwand. Welch eine himmlische, rührende, liebevolle, wahrhaft religiöse Seele, dieser Lafontaine! Welch eine humoristische Scene für einen Maler!“


Kleiner Briefkasten.

E. H. in Mainz.

Geduld, Geduld, wenn’s Herz auch bricht!
So lang in Wien man fertig nicht,
Geht auch mit uns nicht in’s Gericht!

Sie werden bereits in einer der nächsten Nummern den Einleitungsartikel einer Reihe von Aufsätzen über die Wiener Weltausstellung mit und ohne Illustrationen finden.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Am kläglichsten erscheint die Befehdung Goethe’s durch Klopstock in Gestalt eines gegen den Goethe’schen „Faust“ gerichteten, im Jahre 1816 bekannt gewordenen Epigramms, welches ich anführe, weil es zeigt, was für absonderliche Verwerfungsurtheile unser Dichter sich gefallen lassen mußte. Es lautet:

    „Was man erzählt vom Doctor Faust,
    Ist weiter nichts als Lug der Möncherei;
    Die Dichtung, die vor uns in wilden Dramen braus’t,
    Wie Windsbraut braus’t
    Vom Doctor Faust,
    Ist lediglich
    Kraftmänniglich
    Verwünscht Geschrei
    Der traurigen Genieerei.
    Ob’s Alte oder Neue besser sei,
    Zu schlichten, wär’ Bockmelkerei.“

  2. Karl August.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage lückenhaft; ergänzt aus GDZ Göttingen