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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[383]

Der Loder.

Eine Geschichte aus den bairischen Bergen
Von Herman Schmid
(Fortsetzung.)


2.

Der Abend dämmerte bereits stark über die stillen Straßen und friedlichen Dächer von Aibling herein; die Werkstätten und die Fensterläden der Erdgeschosse begannen sich zu schließen; das Tagewerk war gethan, und die Glocken der Pfarrkirche läuteten die Zeit der Ruhe ein. Von der stattlichen Anhöhe schwebten die tiefen feierlichen Klänge über den friedlichen Marktflecken, der sich um den Hügel wie um eine Schutzwehr schmiegt, hinweg und in die sonnenrothe Landschaft hinaus. Aus der Tiefe der dunkelnden Häuser aber erscholl mit hellerem Tone das Glöcklein der kleinen Pestcapelle darein, als wäre es eine Antwort, daß die von oben tönende Botschaft des Friedens unten vernommen und verstanden worden sei.

Dennoch war es vor den Häusern noch lebhafter als sonst; wenn auch das Schreien und Spielen der Kinder verstummt war, stand doch hie und da ein Häuflein Nachbarn beisammen, denen der Stoff zum Gespräche nicht ausging, denn es war ja morgen Feiertag und obendrein Jahrmarkt, von welchem beinahe Jeder besondere Erwartungen hegte, und deshalb hatte auch Jeder vollauf von den Vorbereitungen zu erzählen, die er getroffen, um seine Pläne verwirklicht zu sehen. Auch in der Höhe war es noch keineswegs ruhig geworden; das bewiesen die verschiedenen Laute und Töne, die der abendliche Ostwind vom Hügel mitnahm und dann einzeln von den Flügeln schüttelte, wie zerstreute verflatternde Blüthen und Blumenblätter. Bald klang es wie Gesang heller fröhlicher Menschenstimmen, bald als ob Pfeife und Waldhorn zum luftigen Tanze bliesen. Dazwischen schollen in munterem Wechsel dumpfes Rollen und lautes Gelächter.

„Juhe, da geht’s noch lustig zu!“ rief ein Bursche, der mit mehreren andern aus der Thorhalle eines stattlichen Brauhauses am Marktplatze trat. „Droben auf dem Keller ist noch Alles lebendig – da gehn wir auch noch hinauf, da ist’s noch nichts mit dem Heimgehn.“ Es war eine abenteuerliche, beinahe etwas wüste Gesellschaft, der diese Worte galten: kecke, roh aussehende Bursche mit gebräunten und verwegenen Gesichtern, denen man es ansah, daß es ihnen nicht schwer fiel, bei harter Arbeit dem Wind und Wetter zu trotzen, daß sie es aber für ein unantastbares Vorrecht hielten, den durch eine schwere Woche mühevoll und langsam erworbenen Preis ihrer Anstrengung nach Gefallen in ein paar kurzen Stunden leicht und sorglos zu verjubeln. Es waren Arbeiter an der Eisenbahn, die eben damals zuerst ihre weltverknüpfenden Schienen gegen den Innstrom vorzuschieben begonnen hatte, aus mancherlei Gegend zusammengewürfelt, in mancherlei Gewand gekleidet, das ihnen aus der Zeit übrig geblieben, da sie noch einem andern minder unsteten Leben und Berufe angehört. Den Einen ließ die hellblaue Hose mit der vertragenen Spur des abgetrennten rothen Besatzstreifens als einen vormaligen Soldaten erkennen; ein Anderer hatte von den Tagen, wo er als Schlosser gearbeitet, Stücke eines Schurzfelles übrig behalten, die nun die Vorderärmel der Jacke als Ueberzug decken mußten; der Dritte ließ durch die verschossenen Ueberreste seiner Tracht, die Art, wie er das Halstuch geschlungen trug, und den gesteiften Hemdkragen errathen, daß er ein Stadtkind war, vielleicht ein Thunichtgut, dem, weil er nichts gelernt, nichts übrig geblieben war, als zu Spaten und Schaufel zu greifen. Die Uebrigen, mehr oder minder ländlich gekleidet, waren Bauernknechte, denen das freie ungebundene Herumschweifen lieber zu sein schien als der stets gleiche einförmige Dienst in irgend einem Dörflein oder gar auf einem waldverlorenen Einödhofe.

Auch Wolf war unter den Burschen – abstechend von ihnen durch die Frische und jugendliche Kraftfülle seiner Gestalt und Miene, wie durch wohlhabende Sauberkeit seines Anzugs, und doch unverkennbar ihnen verwandt in der lustigen Leichtfertigkeit, die über dem Vergnügen des Augenblicks weder der vergangenen noch der künftigen Stunde gedenkt und, der Eintagsmücke gleich, mit fröhlichem Summen über dem Pfuhle tanzt, der sie geboren – er war wie der Falke unter einer Rabenschaar, an Gestalt und Art von ihnen unterschieden und doch mit ihnen manchmal sich am Aase erfreuend. Er war aufgeregt. Sein glühendes Gesicht verrieth, daß er dem Gerstensafte weidlich zugesprochen haben mußte; der Hut mit Federstoß und Spielhahnfeder saß schräg gegen das Ohr zu, und die Enden der locker gewordenen Halsbinde hingen flatternd auf den grünen Hosenträger und den breiten Ledergurt herab, in welchen der Namenszug des Besitzers mit weißen Pfaufederstiften gezeichnet war.

Der Bursche in der blauen Soldatenhofe hatte seinen Arm in den Wolf’s gelegt und versuchte, den sich leicht Sträubenden gegen die Kirchgasse hinzuziehen, welche gemächlich ansteigend zum Keller hinaufführt. „Nichts da,“ rief er, „Du darfst noch nicht fort, Wolferl! Für das, daß wir heute nach so langer Zeit wieder so schön zusammengekommen sind, müssen wir noch beisammen bleiben! Wir gehen noch auf den Märzenkeller hinauf und trinken ein paar Stehmaß’ … weißt ja, wie’s im Schnaderhüpfel heißt …“ fuhr er fort, indem er mit hohen, widrig gellenden Fisteltönen zu singen anhub: [384]

„und ’s Jungholz is grea (grün),
Aber dürr der alt’ Stamm,
Und so jung als wie heut
Kemma (kommen wir) do’ nimmer z’samm’!“

Wolf hatte keine Lust mehr, an dem wilden Vergnügen Theil zu nehmen – er war noch immer besonnen genug, um durch die Aufregung und das lärmende Treiben hindurch ein Gefühl der Ernüchterung und der Leere zu empfinden, das, wenn es auch in dem steten Jubel nicht die Oberhand erringen konnte, sich dennoch als eine Last spürbar machte, gleich einem in’s Wasser gerollten Felsstück, das unverrückbar auf dem Grunde liegt, wenn es auch in der getrübten Fluth nicht sichtbar ist. Unwillig war er Morgens von Hause fortgestürmt und, ohne weiter des Morgens und seiner Schönheit zu achten, weit im Thale dahin geeilt; die Reden und Vorwürfe seines Vaters hatten ihn so recht in’s Herz getroffen und er empfand es mit heißem Grimme als ein ihm angethanes schweres Unrecht, daß man seine Lebensweise schalt und seine Neigungen verhöhnte. Mochte er sich selbst wie immer befragen, mochte er all’ seine Erinnerungen herbei rufen, er fand nichts darunter, als daß er gern eine Lustbarkeit mitmachte, wie andere Bursche auch, und daß er nicht widerstehen konnte, wo eine Geige lockte oder sonst Musik erklang. Das konnte doch kein so großes Verbrechen sein, daß es die Leute berechtigte, ihn mit einem Spitznamen zu brandmarken, oder seinen Vater, ihn wie einen faulen nichtsnutzigen Knecht zu behandeln. Zehnerlei widersprechende Gedanken und Entwürfe kreuzten sich in seinem Innern, und nur das Eine stand ihm fest: für diesen Schimpf mußte er Vergeltung, für diese Ungerechtigkeit Sühne haben. Welchen Weg sollte er dazu einschlagen? Welche Bahn führte ihn am gewissesten, welcher Pfad am kürzesten zu diesem Ziele? Manchmal war er entschlossen, sobald er wieder nach Hause käme, Schwegelpfeife und Schnitzmesser, Maultrommel und Stemmeisen zu zerbrechen und wegzuwerfen, die Musik wie die Baßlerei ganz aufzugeben und nur der Bauernarbeit zu leben – sein Vater sollte sehen, wozu er im Stande sei, weil er ja doch nichts Anderes aus ihm machen wolle, als einen tüchtigen Bauernknecht – rasch aber schlugen Stimmung und Vorsatz um, und er nahm sich vor, allen seinen Tadlern zum Trotz erst recht nach seinem Sinne zu leben, nur das zu treiben, wozu er Lust und Liebe hatte, und die Arbeit ganz fahren zu lassen, mochte auch daraus werden, was immer möglich war. Dazwischen kamen wohl Augenblicke, wo es ihn wie eine Ahnung beschleichen wollte, daß der Spottname, den man ihm angehängt, ihn vielleicht gerade deshalb so entrüste, weil er sich heimlich doch selbst gestehen müsse, daß er nicht ganz unverdient sei; aber es waren nur Augenblicke, in denen solche Regungen in seinem Gemüthe aufstiegen, wie die Luftblasen aus einer verborgenen Grundquelle – die Wellen des Schmerzes und der Kränkung gingen noch zu hoch und schlugen immer wieder und wieder darüber zusammen.

So war er in die Nähe des Marktfleckens gekommen, heiß von innen und zweifach mehr erhitzt durch die Hast, mit der er in seinen unwilligen Gedanken achtlos dahingewandert war, und durch die Gluth der Mittagssonne. Erfrischend und doch wie betäubend schlug ihm der feuchtkühle Lufthauch aus der Thorhalle des Brauhauses entgegen, als er dasselbe betrat, zugleich damit der Gruß und das Gejohle der lustigen Gesellen, die den Feiertag, den sie sich gemacht, schon seit geraumer Zeit mit Trinken, Singen und Kartenspielen begonnen hatten. Der ehemalige Soldat kannte Wolf, er war mit ihm ungefähr in gleichem Alter und hatte als ein wackerer, anstelliger Knecht auf dem Lindhamerhofe gedient, bis ihn das Loos als Recruten in die Stadt gerufen hatte, während Wolf, der reiche Bauerssohn, sich einen Ersatzmann kaufte und zurückblieb. Das Stadtleben war ihm aber übel bekommen; er hatte viel müßige Zeit gehabt, die ihn in lustige Cameradschaft brachte und ihm, als er vor der Zeit entlassen worden, den Geschmack an regelmäßiger Arbeit verdorben hatte. Der Bahnbau gab ihm Gelegenheit, ein regelloses, lungerndes Wanderleben weiter zu führen, und brachte ihn mit Anderen zusammen, die er von der Stadt her kannte: mit dem verdorbenen Bürgerssöhnchen, dem er früher bei seinen Streichen geholfen, und mit dem vagirenden Schlosser, der einmal ein trefflicher Geselle gewesen war, aber von keinem Menschen mehr in Arbeit genommen wurde, weil es munkelte, er habe seine Geschicklichkeit, mit Schlüsseln und Schlössern umzugehen, in anderm Sinne als in dem seines Handwerks benutzt.

Die Begegnung überraschte Wolf; sie war ihm sogar angenehm, denn es that ihm wohl, sich mit so lauter und offener Herzlichkeit begrüßt zu sehen, so daß er augenblicklich nicht daran dachte, wer die Grüßenden eigentlich waren; er schlug in die dargebotenen Hände freudig ein, that gern aus dem gereichten Kruge Bescheid und saß rasch an dem schnell geräumten obern Platze des Tisches, der unschwer erkennen ließ, daß das Gelage schon einige Zeit gedauert haben mochte. Rasch war die alte Bekanntschaft erneuert und die neue gemacht; Wolf’s gefüllter und leicht zu öffnender Beutel machte den Quell von Speise und Trank, der schon zu versiechen gedroht hatte, in neuer Fülle strömen, und bald saßen die Gesellen in der Zeche beisammen, als wären sie vertraute Freunde oder doch jahrelange Bekannte, und verbrachten die Stunden mit Gesprächen, die, nach dem häufigen und lauten Lachen zu urtheilen, mindestens ihnen selbst höchst unterhaltend vorkamen, mit dem Glück der Spielkarten oder lärmendem Gesang, je nachdem Einem oder dem Andern ein Lied durch den Sinn ging, das ihm aus der Erinnerung früherer Zeiten auftauchte und das sie alle miteinander sangen, auch wenn es ihnen nicht bekannt und meist nur ein unkennbar gewordenes Bruchstück war. So ging der Nachmittag vorüber, und wenn auch Wolf mehrmals des Aufbruchs und der Heimkehr gedachte, nie fehlte es den Andern an einem lustigen Vorwande, dieselben zu verschieben. Als es in der weiten gewölbten Stube zu dunkeln anfing, war er nicht mehr zu halten; eine Unruhe, die er sich selbst nicht erklären konnte, eine Nichtbefriedigung überkam ihn, als habe er etwas vergessen, zu dessen Besorgung er eigens gekommen und das er nun doch versäumt habe, und wenn er sich auch gleich besann, daß ihm der Vater das Modell seines künstlich ersonnenen Triebrades zertrümmert und dadurch den Gang zum Blechschmied überflüssig gemacht hatte, blieb doch ein starkes Unbehagen zurück, das ihn weiter trieb. Dazu kam, daß die Kellnerin, welche sie den Tag über bedient hatte, als sie wieder einen vollen Krug auf den Tisch stellte, ziemlich unverblümt zu verstehen gab, daß es nun doch bald an der Zeit wäre, daß sie gingen und ruhigeren Gästen Platz machten. Wolf rissen ihre Worte vom Sitz empor; die Anderen nahmen sie als einen trefflichen Spaß mit lautem Gelächter auf.

„Stell’ Dich an, wie Du willst, Du grandige Dingin,“ rief der Soldat, „solche Gäst’ wie wir sind den Wirthen doch die liebsten, und wenn Du Dir Einen von uns aussuchen müßtest, thät’ Dir doch die Wahl weh.“

„Das glaub’ ich kaum,“ sagte die Kellnerin, indem sie hastig den Tisch abwischte. „Ihr seid Alle von den gut tüchenen; die legt man übereinander und nimmt den obersten her.“

Lachend eilte der Soldat Wolf nach, der schon die Thorhalle erreicht hatte, hing sich ihm in den Arm und trat mit ihm vor das Haus. Wolf versuchte entschieden, sich loszumachen; es war ihm Ernst, sich auf den Heimweg nach Lindham zu machen. „Gute Nacht, Schützenpeter!“ sagte er. „Gute Nacht, Alle miteinander! Ich mag nimmer mitthun; ich hab’ einen weiten Weg vor mir und bin lang’ genug aus – ich bin schon in aller Früh’ fort von daheim.“

„Eben deswegen sollst Du auch nit eher heimgehn als in der Früh’,“ rief der Schlosser. „Eine Ordnung muß in der Sache sein – sonst bringt man nichts vor sich.“

„Freilich, freilich,“ lachte das Stadtkind, „sonst stellt Dir der Wirth ein schlechtes Schulzeugnis aus – in dem meinigen hat’s immer geheißen: Fleiß – unerschöpflich, Fortgang – niemals vor Mitternacht.“

„Nein, nein,“ sagte Wolf, „es langt schon für heut’ – wir kommen schon ein anderes Mal wieder zusamm’ …“

„Ei was, wer weiß, wann uns die Tauben wieder so zusammentragen!“ rief der Schützenpeter. „Komm’ nur noch mit auf ein halbes Stündel! Droben ist Musik; wir haben heut’ noch keine Musik gehabt … Hörst, wie sie blasen? Es ist gerad’, als wenn sie uns rufen thäten.“

In der That klang es durch die Dämmerstille wie ein weicher, langgezogener Hornruf herab. Wolf horchte zögernd auf; wenn irgend etwas seinen Entschluß ändern konnte, waren es solche Töne; sie besaßen eine bannende Macht über ihn; wenn er Musik hörte, bebten und klangen die Fibern seines [385] Wesens mit, wie an der Harfe, die er daheim gebaut, die Saiten erklangen, wenn der Wind über sie hinstrich. Er schwanke noch nicht; aber er blieb stehen, um zu lauschen.

„Nun, wenn er durchaus nicht mehr bleiben will,“ rief der Schlosser dazwischen, „so laßt ihn geh’n, den Bauernprinzen! Wird ihm wohl jetzt einfallen, daß wir ihm nicht gut genug sind zur Gesellschaft! Jetzt, weil wir mit ihm unser Geldel verzecht haben, und ausgesäckelt sind, jetzt fürchtet er wohl, daß er uns frei halten muß, und macht sich davon.“

„Nein, das ist nicht wahr,“ unterbrach ihn das Stadtkind, „das lass’ ich dem Lindhamer von Lindham nicht nachsagen. Ich kenn’ ihn zwar erst seit heute, aber er hat den reichen Bauernsohn gezeigt und hat’s nobel gegeben, und wenn er heim geh’n will, wird er schon wissen warum. Es wird halt strenge Polizeistunde sein auf dem Lindhamerhof – er wird keinen Hausschlüssel haben und wenn das Buberl nach Gebetläuten kommt, läßt es der Alte nicht mehr hinein oder steht schon mit der Ruthe hinter der Thür.“

Unbekannt mit den Verhältnissen, hatte der Geselle den wunden Fleck in Wolf’s Gemüth berührt; von aufloderndem Zorn und Schmerzgefühl erfaßt, sprang er auf ihn zu und hielt ihn würgend an der Kehle gepackt. „Wer untersteht sich, so was von mir zu sagen?“ rief er. „Ich drück’ Dir die Seel’ aus dem Leib, Kerl, wenn Du’s nicht zurücknimmst – Niemand hat mir was einzureden; ich bin mein eigner Herr.“

„So zeig’s!“ rief der Schlosser, indem er den Angegriffenen befreite, „zeig’s und geh mit – das ist eine bessere Widerlegung, als wenn wir uns zu guter Letzt’ noch selber in die Haare kommen.“

„Geh mit!“ rief der Soldat und umfaßte ihn neuerdings, „droben auf dem Keller haben sie gewiß eine Cither … Du kannst ja so gut Cither schlagen; ich weiß es noch von dazumal, wie ich auch noch auf dem Lindhamerhof mich geplagt und geschunden hab’ für nichts und wider nichts … Du mußt uns noch Eins aufspielen heut – wir bleiben bei einander heut, bis uns die Sonn’ in den Krug schaut …“

Freiwillig schritt Wolf die Kirchzeile hinan. Die Cameraden umgaben ihn jauchzend und johlend und sangen:

„Heim soll ich gehn, da soll ich bleiben,
D’ Kugel sollt’ ich nehmen, Kegel sollt’ ich scheiben –
Heim geh’ ich nit, da bleib’ ich gern,
Wissen muß ich, wer der Letzt’ wird wer’n.“

Auf dem Keller herrschte in der That noch fröhliches, vielfach bewegtes Leben. Die meisten Bürger des Marktfleckens waren mit ihren Frauen oder Töchtern auf den Hügel heraufgekommen, um unter den Bogengängen des Kellergebäudes, das weithin gleich einer Herrenburg die Gegend überschaut, ihren Abendtrunk einzunehmen – neben ihnen, in geselliger Verträglichkeit saßen die Beamten des Orts mit ihren Familien und den zahlreichen Fremden, die der Ruf von der Heilkraft der Aiblinger Moorbäder aus aller Herren Ländern im Sommer zusammenführt, und von denen Keiner an einem schönen Abend es versäumt, die herrliche Landschaft und das erhabene Bergbild zu bewundern, das sich in seltener Schönheit gerade hier ausbreitet, immer neu, immer wechselnd und doch so gerundet, so in sich abgeschlossen, als ob des größten Meisters Hand es kunstvoll zum Gemälde geschaffen. Eine kleine Gesellschaft wandernder Musikanten hatten sich ebenfalls einen Platz ausgesucht, um den Kreis zu unterhalten, der an den Liederstücken und Ländlern Gefallen fand, die sie mit Clarinette, Waldhorn und Geige roh genug aufspielten, so daß die etwas besser gespielte Harfe, die sie begleitete, nicht im Stande war, dagegen aufzukommen und das Ganze genießbar zu machen. Die Gesellschaft bestand aus drei Männern von abenteuerlichem Aussehen und einem Mädchen: es war eine herumziehende Bande von Seiltänzern und Springern, welche auf dem Jahrmarkte ihre kecken Künste zeigen und, da sie zugleich ihr eigenes Orchester bildete, den Vorabend durch musikalische Vorträge ausnützen wollte. Die Männer sahen ziemlich abgerissen und verwildert aus; nur der Eine, welcher die Geige spielte und eine Art Oberhaupt zu sein schien, trug in Kleidung und Wesen Spuren an sich, als habe er einmal andere Tage gesehen. Das Mädchen, obwohl armselig gekleidet und sonnenverbrannt, war eine unter solcher Umgebung ungewöhnliche und überraschende Erscheinung; reiches Haar von prachtvoller Schwärze hing in zwei mächtigen mit Band durchflochtenen Zöpfen weit über ihren Rücken hinab; unter dunklen Brauen funkelten ein Paar tiefe Augen von gleicher Farbe, und aus den feinen Lippen vom Roth einer reifen Erdbeere schimmerten Zähne von perlengleicher Weiße; sie hätte unbedingt schön genannt werden müssen, hätte nicht Blick und Geberde verrathen, daß ihr der Duft der Reinheit und Unentweihtheit längst verloren gegangen war, der auf einem Mädchenangesicht, damit es schön heißen dürfe, liegen muß, wie der blaue Reif auf der ungepflückten Frucht. Eben kam Wolf mit seinen Gefährten die breite Hügelstraße herauf; ihr Gesang verkündete voraus ihre Ankunft.

„Was kommt da für wüste Gesellschaft?“ sagte, zu seinem Nachbar gewendet, ein Badegast, den Aussehen und Haltung als Officier bezeichnet hätten, wenn er auch nicht das Bändchen im Knopfloch getragen hätte. „Gehören die Bursche auch zur Einwohnerschaft, Herr Landrichter?“

Der Angeredete, ein noch rüstiger Mann von offenem, wohlwollendem Wesen, nahm eine Lunette vor die Augen, um in der dämmergrauen Ferne besser unterscheiden zu können. „Gott sei Dank, nein, Herr Major,“ erwiderte er dann, „das sind auswärtige Arbeiter, die der Eisenbahnbau vorübergehend in die Gegend geführt hat – und doch,“ fuhr er kopfschüttelnd fort, „soeben bemerke ich, daß auch ein einheimischer Bursche sich unter ihnen befindet … Ich irre mich nicht – er ist es wahrhaftig – das hätte ich doch nicht gedacht.“

Der Major und die fremde Gesellschaft waren aufmerksam geworden und wollten wissen, welche Bewandtniß es mit den Ausrufungen des Landrichters habe, welche auf besondere Verhältnisse und anziehende Ereignisse schließen ließen – er konnte nicht umhin, von dem älteren Sohne des Lindhamer von Lindham zu erzählen, der, begabt mit allen Anlagen und Fähigkeiten, das Beste in seinen Lebenskreisen zu leisten, im Begriffe stehe, auszuarten und alle seine vorzüglichen Eigenschaften nur als Untergrund für Unkraut und als fetten Fruchtboden zu verwerthen, in dem es mit doppelt wuchernder Ueppigkeit gedeihen könne. „Das hätte ich nicht gedacht,“ wiederholte er am Schlusse seines Berichts. „Mir thut der alte Lindhamer leid, der ein so braver Mann ist, und der junge auch – bisher habe ich noch immer gehofft, aber wenn er anfängt, sich in solcher Gesellschaft zu gefallen, dann bleibt wohl nichts übrig, als ihn verloren zu geben.“

„Pah, dazu ist es immer noch Zeit genug,“ entgegnete der Major und drehte seinen grauen Schnurrbart empor. „Man muß Keinen zu früh aufgeben; der Dienst hat schon manchen verbohrten Querkopf wieder zurecht gebracht … warum steckt man das Bürschchen nicht in die Uniform?“

„Er ist reich,“ sagte der Beamte, „er hat sich einen Einstandsmann gezahlt – kann also zum Dienste nicht herangezogen werden.“

„Da haben wir’s!“ rief der Major unwillig, indem er aufstand und nach dem Hackenstocke griff, der ihm seines lahmen Fußes wegen zur Krücke dienen mußte. „Ich sage es ja immer, daß all’ das Wesen nichts taugt. Bei uns in Preußen ist Jeder Soldat, und wenn ich den Burschen zwei Monate in meiner Compagnie hätte, Gott soll mich strafen, wenn ich ihn nicht zurecht gestutzt hätte, daß es nur so klappen müßte … Aber Sie haben mich neugierig gemacht, Herr Landrichter; ich will hin und mir das Menschenkind einmal ganz in der Nähe besehen … Man soll Niemand zu früh aufgeben!“ wiederholte er lachend, und hob den Hackenstock lustig in die Höhe.

Er schritt der Kegelbahn – der Bräuer hatte ein großes Kegelschieben veranstaltet – zu, begleitet von einem Theile der Gesellschaft, worunter auch Damen nicht fehlten; sie bemerkten wohl, wie hübsch der Bursche war, der, ohne es zu ahnen, der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden war – wäre er ein gewöhnlicher Mensch gewesen, von dem es nichts zu erzählen gab, er wäre unbeachtet geblieben – daß er ein leichtsinniger Bursche war, der den gewöhnlichen breit und flach getretenen Lebensweg langweilig fand, machte ihn zu einer anziehenden Erscheinung, denn das geheime Wohlgefallen an dem Ungewöhnlichen konnte sich nun Theilnahme und Mitleid nennen und in der Klage Luft machen, wie schade es sei, daß ein so hübscher junger Mensch dem Verderben verfallen sein solle.

Das Kegelspiel war eben zu Ende, als sie an der Bahn ankamen, bei der auch die Bursche kurz vorher sich aufgestellt hatten; man war eben daran, die Preise zu vertheilen, und der Kupferschmied des Orts machte sich daran, als Kegelkönig [386] das erste Bestfähnchen in Empfang zu nehmen. Das Vergnügen leuchtete ihm aus den Augen und im Gefühl seines Triumphes rief er Wolf, den er wohl kannte, einen Gruß zu. „Ho, diesmal hast Du Dich verspätet, Lindhamer. Diesmal bin ich Dir zuvorgekommen und habe die Besten abgeräumt – nun hast Du das Nachsehen.“

„Das ist just noch nit gewiß,“ entgegnete Wolf lachend, indem er in die Tasche griff und das Geld klappern ließ. „Ist das Fahnl mein mit Allem, was d’ran hängt, wenn ich noch eine Kugel hinausscheib’ und triff alle Neune? Ich setz’ Dir zwei Kronthaler entgegen – gilt’s eine Wett’?“

Der Preisträger sah ihm etwas verblüfft in’s Gesicht und schien unschlüssig, während die Umstehenden ihm lachend zuriefen, sich den Gewinn nicht entgehen zu lassen und zu dem Preise auch noch die zwei Kronthaler einzustecken. „Auf das könnt Ihr’s ankommen lassen, Meister Kupferschmied; es ist ja schon so dämmrig, daß man die Kegel kaum noch draußen stehen sieht!“ – „Und zumal,“ setzte ein Anderer hinzu, „wenn er, wie’s den Anschein hat, nicht mehr ganz nüchtern ist.“

Der Kupferschmied war seines Sieges gewiß geworden: „Es gilt, Lindhamer!“ sagte er einschlagend; „wenn Du übrige Kronthaler aufzuwenden hast – ich kann sie mitnehmen und lasse sie mir dann anöhreln als Uhrgehäng’.“

Der Ruf der überraschenden Wette hatte sich schnell unter allen Anwesenden verbreitet; dichtgedrängt umstanden sie die Bahn und sahen Wolf zu, der, während der Junge draußen die Kegel aufsetzte, rasch die Kugel gefaßt hatte und nun, mit vorgebeugtem Körper in die Dämmerung hinausspähend, Entfernung und Abstand zu bemessen schien. Ein kräftiger, sicherer Wurf ließ die Kugel mitten auf dem Langbrett aufschlagen; wie aus einer Büchse geschossen, rollte sie dahin und in der nächsten Secunde schlug sie die neun Kegel nieder, als ob sie an einer Schnur hingen und an ihr niedergerissen würden.

Kaltblütig drehte sich Wolf auf dem Absatz um, nahm dem halb versteinerten Kupferschmied das Preisfähnlein aus der Hand und schritt dem Keller zu, umgeben von dem Beifall und dem lauten Gelächter der fröhlich erregten Menge. Verdrießlich trollte sich der unglückliche Preisträger den dunkeln Weg zum Markte hinab; Wolf aber mit seinen Genossen nahm an einem der Tische Platz, hing an einer Säule das Fähnlein wie eine Trophäe auf und ließ in ausgelassenster Laune herbeibringen, was Küche und Keller vermochten. „Her da, wer mittrinken will!“ rief er lachend, „Alles ist eingeladen – der Kupferschmied von Aibling und sein Preisfahnl’ halt’ heute Alles frei.“

Es gab Manche, die sich die Einladung nicht wiederholen ließen; ein Kreis lustiger Zecher bildete sich um den Tisch, und auch die Musikanten, deren Anwesenheit über dem Zwischenfall fast vergessen worden war, zogen sich in die Nähe heran, gelockt von der Hoffnung, daß der lustige und freigebige Bursche nicht gegen sie allein den Kargen spielen werde. Sie spielten ein paar Stücke, die auch ihre Wirkung nicht verfehlten und die Bursche veranlaßten, mitzusingen oder mit Juchzen, Schnalzen oder Händeklatschen nach dem Ländlertacte einzusetzen. Während einer Pause stieß Schützenpeter, der die ganze Zeit über kein Auge von der Harfenspielerin verwendet hatte, Wolf mit dem Ellbogen an und flüsterte ihm zu: „Schau’ Dir einmal das Mädel an, das mit der Harfen, und sag’ mir einmal, ob Du nicht auch findest, daß sie der Th’res wie heruntergerissen gleich sieht!“

„Th’res?“ fragte Wolf verwundert. „Was für eine Th’res?“

„Frag’ noch eine Weil’!“ war die Antwort; „was für eine könnt’ ich denn meinen, als die bei Dir daheim, die Th’res auf dem Lindhamerhof?“

„Du hast Recht,“ entgegnete Wolf, indem er die Harfenspielerin etwas näher in’s Auge faßte, die, ihre Harfe im Arme, den Kopf, wie um auszuruhen, an dieselbe angelehnt hatte und unverwandt, als wäre sie in Gedanken in ganz andere Gegenden entrückt, in das unterdessen vollständig hereingebrochene Nachtdunkel hinausstarrte. Die Aehnlichkeit war unverkennbar, nur daß Th’res jugendlicher und frischer war, einer eben aufknospenden Rose gleich, auf der noch der Thautropfen des Morgens glänzt, während das Harfenmädchen einer bereits voll aufgeblühten ähnlich sah, die, in der Mittagsgluth verschmachtend, den Kelch senkt und ein erstes fallendes Blatt niedergleiten läßt. „Du hast ganz Recht,“ sagte er noch einmal, indeß eine bittere Regung in ihm aufstieg, die ihm früher noch nie in den Sinn gekommen – „aber woher kennst denn Du die Th’res?“

Der Soldat lachte laut auf. „Woher ich sie kenn’?“ flüsterte er ihm dann in’s Ohr. „Dir muß es schon arg in den Kopf gestiegen sein, wenn Du das nicht mehr weißt! Bin ich denn nicht lang’ genug auf dem Lindhamerhof gewesen und hab’ meinen Löffel in eine Suppenschüssel mit ihr getaucht? Meinst Du, ein so bildsauberes Madel vergißt man so leicht und so ganz und gar? Vielleicht hast Du sie noch gar nicht darum angeschaut, aber ich hab’s schon dazumal gethan und hab’ sie nicht vergessen … sie kommt mir gar oft in Sinn, daß ich selber nicht weiß, wie – und wenn ich vielleicht,“ setzte er etwas stockend und fast verschämt hinzu, „wenn ich vielleicht doch noch einmal wieder an’s Arbeiten und an ein ordentliches Leben komm’, oder wenn ich wo einen vergrabenen Schatz find’, dann geh’ ich auf den Lindhamerhof und hol’ mir die Th’res.“ …

Wolf wußte nicht, wie ihm geschah; er hörte zu wie ein Träumender, indem es ihm wechselnd heiß und kalt über den Rücken lief – er hatte von Jugend auf mit Th’res zusammengelebt; sie war, seit sie in’s Haus gekommen, neben ihm aufgewachsen. Er hatte als Knabe mit ihr gespielt und war als Bursche neben ihr hergegangen, ohne etwas Anderes in ihr zu sehen, als eine Hausgenossin, die eben zu Haus und Hof gehörte. Er hatte viel mit ihr zu verkehren, aber sie war ihm vollkommen gleichgültig, und darauf, ob sie schön war, hatte er sie noch niemals angesehen; denn er war zu sehr mit allerlei anderen Dingen beschäftigt. Dennoch war ihre Nähe ihm ein Bedürfniß, aber er hatte es nicht gewußt, oder es doch so hingenommen, wie etwas, das sich von selbst versteht und gar nicht anders sein kann. Die Worte des Soldaten machten, daß ihm mit einem Male die Augen aufgingen – jetzt, da er die Harfenistin darauf ansah und sich Th’res vor die Seele rief, jetzt erkannte er erst, daß sie schön war, noch um Vieles schöner als diese; jetzt, da die Möglichkeit ihm nahe trat, daß dieses Verhältniß einmal geändert und Th’res ihm entführt werden könne, jetzt zuckte es ihm mit einem Male schmerzlich durch’s Herz, als solle ihm ein Theil desselben losgerissen werden, und ein eifersüchtiges, unsagbar feindseliges Gefühl wallte in ihm auf – er ballte unwillkürlich die Fäuste, und es war ihm, als müsse er den frechen Schützenpeter an der Kehle fassen, daß er es wage, an die Th’res solche Gedanken, Wünsche und vollends Hoffnungen zu knüpfen. Er schwieg, weil er nicht gleich zu antworten wußte. Der Soldat fuhr fort:

„Vielleicht wär’ sie froh um mich,“ sagte er, „sie wird nicht viele Hochzeiter finden; denn sie ist ja doch nur ein Bettelkind und hat nichts vor ihr, als eine Magd zu bleiben ihr Leben lang … und weil sie doch so lang’ auf Lindham gewesen ist, läßt sie Dein Vater auch nicht mit ganz leeren Händen gehen und giebt ihr ein Heirathgut – was meinst?“

„Was ich mein’?“ sagte Wolf, der sich allmählich besonnen. „Ich mein’, daß, wer auf dem Lindhamerhof eine Heimath gefunden hat, kein Bettelkind ist, und daß der Lindhamer die Th’res, wenn sie einmal fortgehen und heirathen wollt’, nicht fortgehen läßt, wie eine Magd, die aus dem Dienste geht, und daß bei einem solchen Madel ein Kerl wie Du sich das Maul wischen muß, oder …“

(Fortsetzung folgt.)




Album der Poesien.
Das Grab im Busento.


     Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder;
Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder.

     Und den Fluß hinauf, hinunter ziehn die Schatten tapfrer Gothen,
Die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Todten.

     Allzufrüh und fern der Heimath mußten hier sie ihn begraben,
Während noch die Jugendlocken seine Schultern blond umgaben.

     Und am Ufer des Busento reihten sie sich um die Wette;
Um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Bette.

[387]

Alarich’s Begräbniß im Busentoflusse. Nach seinem Cartonbilde auf Holz gezeichnet von Prof. Baur in Düsseldorf.

     In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde,
Senkten tief hinein den Leichnam, mit der Rüstung auf dem Pferde,

     Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe,
Daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Heldengrabe.

     Abgelenkt zum zweiten Male, ward der Fluß herbeigezogen:
Mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen.

     Und es sang ein Chor von Männern: „Schlaf in deinen Heldenehren!
Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je das Grab versehren!“

     Sangen’s, und die Lobgesänge tönten fort im Gothenheere;
Wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Meer zu Meere!

August von Platen.
[388]
Der Modoc-Krieg.[1]


Die Klamath und die Modocs. – Richter Steele als böser Dämon. – Captain Jack geht vor. – Vergebliche Unterhandlungen. – Eröffnung des Kampfes. – Das „Lavabett“. – Neuer Versuch zur friedlichen Beilegung des Streites. – Gewaltthat gegen Canby und Dr. Thomas. – Folgen dieser Frevelthat. – Strategische Schwierigkeiten. – Der Glaube der Indianer an einen befreienden Messias. – Persönlichkeit und Charakter Jack’s.

Der in der südwestlichen Ecke des Staates Oregon vor Kurzem zum vollen Ausbruch gekommene Krieg mit den Modoc-Indianern verdient, klein und unbedeutend, wie er dem fernerstehenden Beobachter erscheinen mag, einer größeren Beachtung als die gewöhnlichen Indianerplänkeleien, und zwar nicht nur innerhalb der Grenzen der Union, sondern auch in weiteren Kreisen. Einmal verleiht die besondere Situation der kämpfenden Parteien diesem Conflict ein, man möchte fast sagen romantisches Interesse, dann aber ist es nicht unmöglich, ja, unter gewissen Umständen sogar wahrscheinlich, daß der hartnäckige Widerstand des Häuptlings, Capitain Jack’s, in seiner Felsenfestung nur der Anfang, das Vorspiel eines Indianerkrieges ist, der in seiner Ausdehnung, Allgemeinheit und Furchtbarkeit alles bisher Dagewesene übertreffen und auf beiden Seiten sehr viel Blut kosten dürfte. Es wird gewiß der Tendenz eines überall gelesenen Blattes, wie die Gartenlaube es ist, angemessen sein, seinen Lesern Mittheilungen bezüglich dieser Ereignisse darzubieten, insofern solche Kämpfe zwischen Civilisation und Barbarei nicht blos ein nationales, sondern ein kosmopolitisches Interesse haben. Und sollten sie sich selbst, wie wir natürlich hoffen, nur auf den gegenwärtigen Kampf mit dem kleinen Modoc-Stamm beschränken, so würden die besonderen Umstände und eigenthümlichen Verhältnisse gerade dieser Fehde die Aufnahme einiger Artikel, welche diesen Gegenstand behandeln, sicherlich rechtfertigen.

Im südwestlichen Theile des Staates Oregon entströmt dem nicht unbedeutenden Klamathsee am Fuße der Cascade-Berge der Klamathfluß, wendet sich bald südlich nach Californien und ergießt sich endlich in den stillen Ocean. An den Ufern dieses Flusses wohnten seit Jahren zwei Indianerstämme, die Klamaths und die Modocs, die, obwohl sie durch gleiche Sprache und Abstammung eng zusammen gehörten, doch bis zum Jahre 1846 als zwei völlig getrennte, von einander ganz unabhängige Banden nebeneinander existirt hatten. Die Klamaths hatten die Gegend nördlich vom Flusse inne; die Modocs lebten am südlichen Ufer desselben und am „Lost-River“. Die Ersteren hatten sich niemals feindlich gegen die Weißen gezeigt, und als die Ansiedelungen dieser sich mehrten, bequemten sich die Klamaths zuerst von allen Indianern Oregons, einen Vertrag mit der Regierung abzuschließen, in welchem sie ihr Land verkauften und dafür eine Reservation angewiesen bekamen, die sie ohne allen Widerstand bezogen. Dies war im Jahre 1860.

Unter der Verwaltung des vom Präsidenten Lincoln ernannten Agenten machten sie nicht unerhebliche Fortschritte in der Civilisation und befanden sich in ihrer neuen Lage so wohl, daß es dem Agenten Huntingdon im Jahre 1864 gelang, auch die Modocs zu bewegen, ihr Land abzutreten und zu ihren Stammesgenossen auf die Klamathreservation zu ziehen. Die Ratification dieses Vertrages durch den Senat zog sich indeß in die Länge, so daß, als General Grant im Jahre 1868 seinen Amtstermin antrat, die Verhandlungen noch nicht endgültig abgeschlossen waren. Grant beschloß zu Anfang seiner Administration die bisher befolgte Indianerpolitik zu ändern und die Wilden unter militärische Verwaltung zu stellen. Ungeachtet dessen brachte der neue Agent der Klamathreservation, Capitain Knapp, den Vertrag mit den Modocs zu einem befriedigenden Abschluß, und der ganze Stamm, Schonchin, der erste Häuptling, und Capitain Jack, der Anführer in diesem Kriege, an der Spitze, zog auf das ihnen als Eigenthum überwiesene Land. So weit schien Alles in bester Ordnung zu sein.

Da wurde durch einen Mann, welcher der so oft Unheil stiftenden Advocatenzunft angehört, der Same des gegenwärtigen gräuelvollen Krieges gesäet. Richter Steele in Yreka war der böse Dämon, der dem ihn consultirenden schlauen Capitain Jack den Rath gab, er und seine Leute sollten, statt auf die Reservation zu ziehen, Regierungsland für Heimstätten beanspruchen und die Abgaben dafür zahlen; dann würden sie nicht mehr unter der Aufsicht des Indianerdepartements von Oregon stehen, sondern kraft des vierzehnten Amendements der Constitution der Vereinigten Staaten, welches allen Bewohnern der Union gleiche Rechte verleiht, als Bürger anerkannt werden müssen. Die nicht einmal streng gesetzliche Auslegung der Constitution fiel wie ein Funke in ein Pulverfaß. Capitain Jack verließ sofort mit seinen Leuten die Reservation und erklärte kurzweg, er werde nicht mehr hingehen, auch nicht den Agenten aufsuchen, sondern ihn in seinem Lager erwarten, wenn er ihm etwas zu sagen habe. Herr Odinell, der derzeitige Agent, übergab die Angelegenheit, wie er nicht anders konnte, der Militärbehörde, das heißt zunächst dem in Fort Klamath commandirenden Obersten Green. Da dieser nur eine unbedeutende Anzahl Truppen zur Verfügung hatte, auch nicht glaubte, daß die Indianer bei ihrer geringen Stärke ernstlich an Widerstand denken würden, so schickte er nur eine kleine Abtheilung Cavallerie (35 Mann) unter Major Jackson ab, um den Streit zu schlichten oder Gehorsam zu erzwingen. Sie fanden Capitain Jack’s Lager an beiden Seiten des „Lost-River“. Ein Dutzend Ansiedler aus der Nachbarschaft erbot sich mit den am östlichen Ufer befindlichen, ihnen gut bekannten Indianern zu unterhandeln, während Jackson mit den Truppen auf der Westseite des Flusses hinaufrücken wollte.

Bei Tagesanbruch, den 29. November (vorigen Jahres) erreichte er das Lager, befahl seinen Leuten abzusitzen und rückte mit nur dreiundzwanzig (die übrigen mußten bei den Pferden bleiben) auf die überraschten Wilden los. Aber, obwohl nicht vorbereitet, reizte sie wahrscheinlich die geringe Zahl der Weißen zum Widerstand, zumal sie den Vortheil hatten, hinter ihren Hütten ziemlich gut gedeckt zu sein, während die Soldaten völlig bloßgestellt waren. Ivan Applegate wurde als Parlamentär abgeschickt, um sie zu bewegen, nachzugeben und mit den Truppen umzukehren. Die erfolglose Unterredung währte etwa eine halbe Stunde, während welcher Zeit die Indianer sich zum Kampfe rüsteten. Zunächst erschien „Scarfaced Charley“ (Karl mit dem Narbengesicht), ein sechs Fuß hoher athletischer Krieger, mit drei Büchsen bewaffnet, vor der Front und forderte durch Worte und Geberden die Weißen zum Kampfe heraus. Major Jackson befahl dem Lieutenant Boutell den Wilden zu verhaften, als dieser, schnell wie der Blitz, eine Büchse auf Boutell abschoß, dann, ehe noch die Soldaten erwidern konnten, sich zu Boden warf und zum Lager zurückkroch, wobei er seine sämmtlichen Büchsen abschoß, um endlich, ohne eine Wunde empfangen zu haben, mit der Miene eines triumphirenden Siegers zwischen den Lagerhütten zu verschwinden.

Jetzt begann das Gefecht im Ernst. Die Indianer feuerten in guter Deckung mit großem Erfolg, während die Soldaten kaum eine einzige Kugel an den Mann bringen konnten. Selbst ganz schutzlos und nur mit kurzen Carabinern bewaffnet, befanden sie sich in einer überaus bösen Lage: acht waren schon gefallen; der Rückzug nach den Pferden war sicherer Tod für Alle. Der Major gab daher den Befehl, das Lager zu stürmen. Mit verzweiflungsvoller Wuth stürzten sich die Leute auf die Hütten und räumten dieselben in kurzer Zeit von ihren Bewohnern, die in wilder Hast in die nahen Gebüsche flüchteten. Major Jackson marschirte eine Strecke weiter den Fluß hinauf, von den berittenen Indianern eine kurze Zeit verfolgt, ging dann über den Fluß und vereinigte sich mit den auf der Ostseite befindlichen, ebenfalls geflohenen Ansiedlern. Die Indianer machten eine halbe Stunde von den Truppen Halt und feierten Abends ihren Sieg mit den üblichen Tänzen und Freudenbezeigungen. Dieses Gefecht war für die Indianer der Ostseite das Signal zu einem blutigen Angriff auf die wenigen Ansiedler am „Lost-River“; siebzehn Weiße wurden ermordet. Capitain Jack und seine Krieger nahmen an diesen Unthaten keinen Theil, sondern zogen sich an der Westseite des Rhettsees nach dem sogenannten „Lavabett“ zurück, der Felsenfestung, in der sie sich gegenwärtig noch befinden und wohin die Mörder von der Ostseite ihnen [389] bald nachfolgten. Major Jackson erreichte mit dem Rest seiner Leute unbelästigt Fort Klamath.

Die Festung der Modocs, welche bisjetzt der Schauplatz der Kämpfe gewesen, ist eine der höchst interessanten Naturmerkwürdigkeiten, an welchen namentlich das westliche Nordamerika so reich ist. Sie ist, was man dort zu Lande mit dem technischen Ausdruck „Pedregal“, einem dem Spanischen entlehnten Worte, bezeichnet. Man versteht darunter eine unebene, felsige Fläche, aus vulcanischem Gestein (Basalt, Trachyt etc.) bestehend, welche durch mächtige Erdrevolutionen in größeren und kleineren Massen in die Höhe geschoben worden ist und dann während des Abkühlungsprocesses auf alle nur erdenkliche Weise zerrissen und zerborsten ist.

Das hier in Betracht kommende „Pedregal“ hat eine Ausdehnung von ungefähr hundert Quadratmeilen und ist eines der größten und wildesten wahrscheinlich des ganzen Continents. Ein Augenzeuge schildert es in folgender drastischer Weise: „Man stelle sich eine glatte solide Masse Granit, zehn Meilen lang und breit und fünfhundert Fuß dick, vor, unter welcher zahllose, unwiderstehliche Minen in unregelmäßigen Zwischenräumen angebracht sind; man stelle sich dann vor, daß diese Minen gleichzeitig entzündet werden, und nun das ganze Felsenbett durch eine ungeheure Explosion in Stücke von der Größe eines Kästchens bis zu der einer Kirche zerrissen wird, und daß diese wild über- und durcheinander geworfenen Trümmer sich hier zu ungeheuern Riesenbauwerken zusammenthürmen, dort wieder tiefe Abgründe zwischen sich lassen; man denke sich endlich dieses ganze wüste Chaos in einen gigantischen Schmelztiegel Vulcan’s geworfen und so erhitzt, daß die Masse anfängt flüssig zu werden, um schnell wieder zu erkalten – und man hat eine schwache Idee davon, was dieses Pedregal der Modocs ist.“ Der obere Theil des Felsenmeeres ist rauh und mehr compact geblieben, während der untere Theil durch den Abkühlungsproceß den Zellen eines ungeheuren Bienenstocks ähnlich geworden ist. Es ist aus dieser merkwürdigen Beschaffenheit der Localität ersichtlich, daß dieses „Lavabett“ für den mit allen unterirdischen Felsenhöhlen und Gängen desselben vertrauten Indianer eine fast uneinnehmbare Felsenburg vom riesenhaftesten Umfange ist. Ein guter Scharfschütze kann von der Spitze einer der Felspyramiden einen Angreifer niederschießen, ohne auch nur einen Zoll seines eigenen Körpers bloßzustellen; er kann, ehe sein Gegner über Felsblöcke und nie geahnte Risse an ihn herangeklettert ist, zehn Mann ohne alle Mühe erschießen, bevor ein einziger zum Schuß gelangen kann. Muß er endlich dem andringenden Feinde weichen, dann darf er nur aus seiner Höhle in einen der unzähligen, ihm bekannten unterirdischen Gänge schlüpfen, um eine andere Stellung zu erreichen, aus der er nur mit demselben Menschenverlust auf Seiten der Angreifer vertrieben werden kann.

Dies ist der Ort, nach welchem Capitain Jack und seine Modocs sich zurückzogen und den sie ohne allen Zweifel schon längst für einen solchen Fall als letzten Zufluchtsort sich ausersehen und aller Wahrscheinlichkeit nach auf längere Zeit für sich selbst und ihre Familien hinreichend verproviantirt hatten. Daß sie dieses Felsennest erreichen möchten, war eben, was Oberst Green befürchtet hatte, und vielleicht um sie nicht zu diesem letzten Schritte zu treiben, hatte er eine so geringe Truppenzahl detachirt, in der Hoffnung, sie dadurch versöhnlicher zu stimmen. Jetzt war das Schlimmste eingetreten, und an eine schnelle Beendigung der Affaire auf gewaltsame Weise kaum mehr zu denken. Kein Wunder daher, wenn die Regierung beschloß, noch einmal eine Beilegung der Unruhen auf friedlichem Wege zu versuchen, zumal Capitain Jack sich eigentlich keine Mordthaten hatte zu Schulden kommen lassen, sondern nur im offenen Gefecht sich den Truppen widersetzt hatte.

So wurde eine Commission ernannt, bestehend aus General Canby, Dr. Thomas, A. B. Meacham und Dyer, um mit den Ruhestörern zu verhandeln. General Edward Canby war einer der vorzüglichsten und geachtetsten Officiere der Armee; während einer vierunddreißig jährigen Dienstzeit hatte er in allen Kriegen, namentlich während der großen Rebellion der Südstaaten, mit Auszeichnung für die Armee gefochten. Seine vorzüglichen Kenntnisse des Civilrechts, verbunden mit seiner anerkannten Treue und Befähigung als Militär, hatten seine Berufung auf verschiedene schwierige Posten veranlaßt, und es wurde als ein besonders günstiger Umstand betrachtet, daß gerade ein so ausgezeichneter Mann zur Zeit dieser Unruhen das Commando über das Departement des Columbia hatte, zu welcher Oregon gehörte. Er ging mit großem Eifer an seine schwierige Aufgabe. Mehrere Zusammenkünfte mit den Indianern fanden statt; aber alle Unterhandlungen scheiterten an der Hartnäckigkeit der Rothhäute, so daß General Canby endlich die Hoffnung aufgegeben zu haben schien, auf friedlichem Wege die Sache zu schlichten, und schon Vorbereitungen traf, die Beschlüsse der Commission mit den Waffen zu erzwingen.

So war der April dieses Jahres herangekommen. Der General wollte indeß noch einen letzten Versuch machen, den Weg zur Güte zu gehen, und entschloß sich, die übrigen Commissäre noch einmal zu einer Zusammenkunft mit den Häuptlingen der Wilden zu begleiten. General Gillem befand sich mit den für etwaige Eventualitäten schon zusammengezogenen Truppen am 10. April unweit des Lavabettes; unter ihm commandirten die Obersten Mason und Green. Am Nachmittage erschienen fünf Indianer und vier Weiber im Lager, die von den Commissären mit Kleidern beschenkt wurden und dann wieder umkehrten mit dem Auftrage, den Häuptlingen im Namen der Commission eine Unterredung eine Meile von der Vorpostenlinie anzubieten. Am Abend erschien ein bekannter Krieger, Bogus Charley, bei den Wachtposten, gab sein Gewehr ab, indem er vorgab, nicht wieder zu seinen Landsleuten zurückkehren zu wollen, und blieb die Nacht im Lager. Früh am nächsten Morgen kam ein anderer Indianer, Boston Charley genannt, mit der Botschaft an General Canby, daß Capitain Jack mit fünf Indianern bereit sei, die Commissäre außerhalb der Linie zu treffen. Hierauf verließen Beide, Boston und Bogus, das Lager. Eine Stunde später brachen die Commissäre, vom Dolmetscher Riddle begleitet, nach dem Orte der Zusammenkunft auf. Von einem kleinen Hügel aus konnte die ganze Gegend genau übersehen werden; überdem war der Sicherheit wegen Oberst Mason mit einer Abtheilung Reiterei so postirt, daß er im Falle eines Friedensbruches sogleich einschreiten konnte.

Eine Stunde war vergangen, als der Signalofficier das Zeichen gab, daß Mason von einem Trupp Indianer angegriffen werde und auch bei der Commission nicht Alles in Ordnung sei. Die letztere hatte Capitain Jack und seine Genossen am bezeichneten Platze gefunden.

Meacham redete die Indianer kurz an, dann der General und endlich Dr. Thomas. Capitain Jack erklärte in seiner Erwiderung, daß sie darauf beständen, die zwei Plätze Hot Creek und Cottonwood als Reservation angewiesen zu bekommen. Meacham antwortete ihnen, es sei unmöglich, ihnen diese Forderung zu gewähren, wurde aber bald vom Häuptling Schonchin unterbrochen: er habe jetzt genug gesprochen; sie wollten davon nichts mehr hören.

Während Schonchin noch sprach, stand Capitain Jack auf, zog seinen Revolver und feuerte mit dem Ausrufe „Fertig“ denselben auf General Canby ab. Unterm rechten Auge getroffen, sank der alte General auf der Stelle todt nieder. Zu gleicher Zeit bekam Meacham von Schonchin einen Schuß in den Kopf, der ihn bewußtlos hinstreckte. Boston Charley erschoß den Dr. Thomas. Nur Dyer kam unverletzt nach dem Lager in dem Augenblicke, als sämmtliche Truppen dem Schauplatze des Mordes zueilten. Die Indianer waren selbstverständlich sogleich verschwunden, und es blieb vor der Hand nur die traurige Pflicht zu erfüllen, die Leichen der so schändlich Gemeuchelmordeten in’s Lager zurückzubringen.

Die Nachricht von diesem durch nichts provocirten schwarzen Verrat rief im ganzen Lande einen allgemeinen Schrei gerechter Entrüstung hervor. Nicht nur das Verbrechen an sich, sondern auch besonders der Umstand, daß es an einem so allgemein geschätzten, so edlen und wohlmeinenden Manne verübt worden war, erfüllte alle Classen der Gesellschaft mit Zorn und Erbitterung gegen die feigen Mörder. Selbst Präsident Grant ließ sich für den Augenblick wenigstens aus seiner Gemüthsruhe aufrütteln und kam zu dem Entschlusse, in diesem Falle seine philanthropischen Träumereien, die unter dem Namen „indianische Friedenspolitik“ bekannt sind, mit etwas strengeren Maßregeln zu vertauschen. Waren doch diesmal nicht arme namenlose Ansiedler die Opfer der Barbaren, sondern von ihm selbsternannte [390] hochgestellte Leute, vor Allem sein ihm nahestehender Freund und Waffenbruder. Nicht nur Wittwen und Waisen im fernen Westen traf diesmal der Schlag; die Kugel, welche Canby tödtete, fühlte man auch im Weißen Hause in Washington, und die Bewohner desselben fielen diesmal in das allgemeine Rachegeschrei ein. Dies bewiesen die folgenden Depeschen des Obergenerals der Vereinigten-Staaten-Armee, W. T. Sherman, der, beiläufig gesagt, ganz andere gesündere und praktischere Ansichten in Bezug auf Indianerpolitik hat, als sein alter Waffengefährte Grant. Die erste ist an General Gillem gerichtet und lautet, wie folgt: „Ihre Depesche, welche den entsetzlichen Verlust, den das Land durch den Tod des Generals Canby erlitten hat, anzeigt, ist dem Präsidenten vorgelegt worden, welcher mich autorisirt, Sie dahin zu bestimmen, den Angriff so kräftig und energisch wie möglich zu machen, damit das Schicksal der Mörder ihrem Verbrechen angemessen sein möge. Sie werden vollkommen gerechtfertigt sein, dieselben vollständig auszurotten.“ Die zweite ist an General Schofield in San Francisco gerichtet und hat nachstehenden Wortlaut: „Der Präsident hat die strengste Bestrafung der Modocs sanctionirt. Sie können sich versichert halten, daß der äußerste Grad der Strenge von der Regierung gut geheißen werden wird.“

Der erste Act dieses neuen Dramas ist somit geschlossen. Wir stehen am Beginne des zweiten, dessen Inhalt also die Ausrottung der Modocs sein soll. So lautet wenigstens das Programm für den Feldzug. Der gute Wille ist allseitig da; aber der Dieb wird eben nie gehangen, man habe ihn denn zuvor. Das ist auch hier der Haken.

Wie aus der Beschreibung des Lavabettes ersichtlich, sind Operationen auf solchem Terrain gerade kein Kinderspiel. Die Einschließung und Aushungerung der Wilden in ihrer dreißig bis vierzig Meilen im Umfang zählenden, mit Mundvorrath wahrscheinlich wohlversehenen Festung ist ebenso schwierig. Sollte es den Modocs gelingen, aus ihrem jetzt ziemlich gut bewachten Felsenneste zu entkommen und sich mit verschiedenen größeren Stämmen, die nur auf eine günstige Wendung der Dinge warten, zu vereinigen, dann wäre nicht nur ein entsetzliches Blutbad unter den Ansiedlern in Oregon und Californien unvermeidlich, sondern auch ein langwieriger, kostspieliger und blutiger Indianerkrieg in großem Maßstabe, der sich möglicherweise nicht auf die Staaten jenseits der Felsengebirge beschränken würde, vielmehr die sämmtlichen Stämme der Ebenen westlich vom Mississippi zu gemeinsamem Handeln in einem allgemeinen schrecklichen Aufstande vereinigen dürfte.

Zu solchen Befürchtungen geben gewisse höchst merkwürdige Ideen, welche unter den Indianern weit verbreitet sind, und die im Zusammenhange mit der Ermordung General Canby’s durch Capitain Jack stehen dürften, gegründeten Anlaß. Es existirt nämlich unter den Stämmen, namentlich der Staaten am Stillen Ocean, der Glaube, daß die Zeit ihrer Befreiung von den Weißen gekommen sei. Ihre alten Krieger und Priester (Medicine-Men) haben es lange vorhergesagt, und obwohl sie gegen Beamte äußerst schweigsam über solche Dinge sind, ist doch genug bekannt geworden, um Folgendes als die Grundzüge dieses neuen Aberglaubensartikels ihrer Religion hinzustellen:

Ein neuer Gott oder göttlicher Held soll unter ihnen erscheinen, um sie gegen die Weißen anzuführen; alle Krieger, die bisher gefallen sind, werden auferstehen, um sie zu verstärken; dann werden sie sämmtliche Weiße verjagen, das ganze Land ihrer Väter wiedergewinnen und in Zukunft frei und ungehindert dasselbe bewohnen. Ihr Ideal ist der Indianer in seiner ganzen ungebrochenen Wildheit; sie wollen darum auf keine Reservationen gehen, wollen keine Cultur annehmen, sondern wilde Indianer im vollen Sinne des Wortes bleiben und nie etwas Anderes werden. Diese neue Lehre hat überaus viele Anhänger gefunden, so daß die meisten Stämme zwischen den Felsengebirgen und Cascade-Bergen seit den letzten Jahren nach diesem neuen Moses ausschauen, der sie aus dem Lande der Knechtschaft zur Freiheit führen soll. Jeder Häuptling, der durch besondere Thaten sich auszeichnet, hat die Aussicht, von Vielen, vielleicht Allen als der große Befreier begrüßt zu werden – und hier liegt wahrscheinlich der Schlüssel zu der von Capitain Jack verübten Unthat. In den Augen der Indianer ist die Ermordung Canby’s selbstverständlich eine Heldenthat und gerade das rechte Mittel, sie für Jack zu begeistern. Es ist darum gar keine unwahrscheinliche Annahme, daß gerade dies das Motiv gewesen ist, welches den ehrgeizigen Häuptling, dem der Glaube und die Erwartung seiner Landsleute gut genug bekannt ist, zu dieser That angetrieben hat. Sollte es ihm gelingen, seine Felsenfestung längere Zeit zu halten, die Weißen beständig mit großen Verlusten zurückzuschlagen (was in den ersten beiden Gefechten nach Canby’s Ermordung wirklich geschehen ist) und endlich mit den meisten seiner Krieger zu entkommen, dann mag es fast als Gewißheit angesehen werden, daß er als der ersehnte Messias von den meisten Stämmen anerkannt und zum Anführer in dem großen Befreiungskriege erwählt werden wird. Er scheint auch, sowohl was sein Aeußeres wie seine Fähigkeiten betrifft, eine für eine solche Rolle durchaus nicht ungeeignete Persönlichkeit zu sein, eine Persönlichkeit, die für einen Cooper’schen Roman eine ausgezeichnete Heldenfigur abgeben würde.

Capitain Jack ist ein Vollblut-Modoc von ungefähr dreißig Jahren, wenn er auch ein älteres Aussehen hat. Obwohl er die eigenthümliche niedrige, zurücktretende Stirn seiner Race hat, kann er doch nicht gerade häßlich genannt werden. Seine dunkle Kupferfarbe, seine schwarzen durchdringenden Augen, sein langes, schwarzes bis auf die Schultern herabhängendes Haar und sein großer, die äußerste Energie und Entschlossenheit ausdrückender Mund geben seinen Zügen einen echt indianischen Charakter, ohne indeß, wie dies sonst meist der Fall ist, Grausamkeit oder Gemeinheit auszudrücken; im Gegentheil, es spricht aus diesem, übrigens ganz bartlosen, Gesichte eine selbstbewußte Würde, ein man möchte sagen nobler Stolz, der es Einen fast bedauern macht, daß der Träger dieser Züge sich zu einer so überaus niederträchtigen That hat hinreißen lassen. In seinem Benehmen gegen Weiße hat er sich immer sehr kühl, sehr ruhig und äußerst würdevoll gezeigt; man hat ihn noch nie lächeln gesehen. Auch besteht er darauf, von Allen, mit denen er in Berührung kommt, mit dem größten Respect behandelt zu werden; die Etiquette ist am weiland spanischen Hofe wohl nicht strenger beobachtet worden, als dieser Wilde sie bei seinen Audienzen beansprucht. Bis zu seinem Verrathe an Canby hatte er den Ruf eines durchaus ehrenhaften Charakters. Alle Ansiedler, die ihn kannten, bezeugten einstimmig, daß er niemals eine ungerechte ober gemeine Handlung sich habe zu Schulden kommen lassen, noch auch irgend einem Mitgliede seiner Bande je erlaubt habe, etwas der Art zu thun; er übte in seinem Stamme, zu dessen Häuptling er vor drei Jahren erwählt worden war, die strengste Justiz. Umsomehr überraschte der Mord Canby’s, und dieser sein bisheriger untadelhafter Charakter macht es mehr als wahrscheinlich, daß ehrgeizige Pläne wie die vorhin erwähnten ihn zu diesem Verbrechen getrieben haben. Dieser Umstand erregt zu gleicher Zeit ein ungewöhnliches Interesse für Capitain Jack, der vielleicht dazu bestimmt ist, eine bedeutendere Rolle in unseren Indianerkriegen zu spielen, als einst König Philipp und der berühmte Black Hawk. –

(Schluß folgt.)


Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten.
2. Der Verkannte.

Wohl in keinem Stande der civilisirten Welt ist eine solche Zerfahrenheit und Unbeständigkeit in den häuslichen Verhältnissen anzutreffen, als speciell bei den Theaterangehörigen. Leichtsinnig eingegangene und ebenso getrennte Ehen, Kinder, die vom ersten Momente des Selbstdenkens an durch alles dies in eine verkehrte Richtung gebracht werden, häufiger Mangel stetigen und gleichmäßigen Schulunterrichts infolge des Saison-Vagabondirens, Mißachtung der äußeren Formen, die sich so leicht bei Leuten einfindet, die in Bezug auf jede an ihnen wahrgenommene Form eine nicht immer wohlwollende Aufmerksamkeit zu gewärtigen haben – [391] alles Dies producirt eine große Summe häuslichen Elends, selbst da, wo die Schlange des Mangels noch nicht die ohnehin schlaffen Glieder umringelt hat. Aber all’ die lebendigen Folgen dieser Ausnahmezustände, diese geschiedenen Weiber, diese in die Welt hinausgestreuten Kinder, diese Töchter, die ihren Vätern nicht nahen dürfen, und diese Söhne, die den Wohnsitz ihrer Mutter nicht zu kennen wünschen – sie sind meist nur die Producte einer vereinzelten Handlung, und die moralische Wirkung äußert sich demzufolge auch meist nur in einzelnen Handlungen, nicht in allgemeinen Zuständen. Ein solcher Schlag trifft hart, aber nicht nachhaltig; – die Steine, die aus einem Ordenskreuze herausgeschlagen worden, funkeln jeder in besonderer Fassung weiter und erinnern sich nicht mehr, daß sie einen gemeinsamen Glanz gestützt haben. Weit schlimmer, als dieses durch äußere Mißstände herbeigeführte Elend, ist, weil unausrottbar, der Jammer, der sich in die Seele des Unglücklichen einnistet, der ihm durch sich selbst und seine Empfindung reichlich Nahrung spendet und keines Anstoßes von außen her bedarf, um sich täglich zu zerfleischen. Gerade zu dieser Species der schon auf Erden Verdammten stellt der Künstlerstand im Allgemeinen, der der Schauspieler im Besonderen, das reichste Contingent. Es giebt da eine Menge von Leuten, die kein pflichtvergessenes Kind, keine entartete Tochter, keinen verlorenen Sohn zu beklagen haben, die von ihren Mitbürgern geachtet, von ihrer Familie zärtlich geliebt werden, und doch, sobald sie sich am Altare der Kunst die Finger versengt haben, einer nimmer ruhenden Geißel verfallen sind, welche sie, unbarmherziger als ihr bitterster Feind, selbst gegen sich schwingen. Das sind die Verkannten. Ich spreche hier nicht von der lächerlichen Sorte, die der Talentlosigkeit eine himmelanstürmende Bornirtheit paart – sie ist amüsant, sie amüsirt sich und Andere, und Nichts in der Welt, nicht einmal faulige Aepfel an den Kopf, würde sie in ihrer Unfehlbarkeit wankend machen können. Die Sicherheit dieser Herrschaften ist rührend; sie tragen das Verkanntsein mit einem gewissen Prunk zur Schau; mit Hohnlachen serviren sie es der Menschheit, die sich an ihrer Höhe nicht emporzuschwindeln vermag, bei jeder Gelegenheit, und der Gedanke, daß doch Einer im Publicum mit einem mißgünstigen Urtheile Recht haben könne, ist ihnen nie gekommen.

Es giebt in dieser Species wunderbare Exemplare, die, nachdem sie die Provinz lange gepeinigt, durch Protection oder Gunst des Zufalls in den Verband eines Hoftheaters gelangt sind und dort vom Publicum, das es doch nicht ändern kann, in dritten und vierten Rollen „hingenommen“ werden. Es kann nicht Jeder Consul sein; man braucht auch Lictoren, und unter Umständen kann ein braver Schauspieler im untergeordneten Fache dem Ganzen wichtiger erscheinen, als mancher nur im allerengsten Kreise trottirende „große Künstler“. Aber da kommt das Unglück mit dem „Verkanntsein“. Achtzig Procent dieser Gattung sind „Verkannte“.

Wenn der erste Held den „Egmont“ spielt, steht der „Verkannte“ in der ersten Coulisse und bemerkt, zu nahestehenden Choristen gewandt: „War ’ne Lieblingsrolle von mir,“ oder: „Hab’ ich auch oft in Bamberg gespielt“ – während er zwar nicht so laut, aber nicht minder vernehmlich hinzufügt – „aber etwas anders, wie Der.“ Er verliert sich schließlich so in Erinnerungen und Vergleiche, die sämmtlich zu Ungunsten des Darstellers ausfallen, daß er sein Stichwort überhört, herausgeschoben wird und nun als „Zimmermann“ oder „Seifensieder“ dem Hohngelächter des Publicums verfällt.

Dieses „fröhlich heiter wirkende Geschlecht“ ist eine unerschöpfliche Fundgrube für die Scherze der Collegen, denn „es fällt,“ wie man zu sagen pflegt, „auf Alles ’rein.“ Ihr Martyrium haben sich diese Leute selbst mit der Unfehlbarkeitskrone geschmückt; so sind sie ein Gegenstand der heitersten Seelenruhe für sich selbst und ein Object der Freude für das leidende Publicum. Von ihnen sei hier nicht die Rede, sondern von den Unglücklichen, auf denen die Qual, verkannt zu sein sitzt, wie der herrliche Geier mit dem ewigen Leberappetit, von jenen Unglücklichen, denen der Zweifelswahn unablässig in die Ohren bläst, bis das Trommelfell der Seele geplatzt ist und die Zweifel sich mit dem Zweifler auflösen in das Nichts, an dem nicht mehr zu zweifeln ist. –

In einem dürftig, wenn auch nicht verwahrlost ausgestatteten Zimmer ruht ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren auf dem altmodischen Sopha, das Haupt durch ein Kissen gestützt, von dessen tiefem Roth sich seine scharfen, erdfahlen Züge sonderbar abgrenzen. Die großen Augen blicken über die Zimmerdecke hinaus in’s Reich der Träume und zeigen ihm eine ganz andere Umgebung, als die, die in liebevoller Sorgfalt um ihn beschäftigt ist, – unheimliche kreisrunde Flecken von rother Farbe, die an den Wangenknochen zuweilen auftauchen, sind die Zeichen einer im letzten Stadium wühlenden Brustkrankheit. Hin und wieder zittert ein Fieberschauer durch die gebrochene Gestalt, und ein trockener Husten entwindet sich mit Anstrengung der Kehle. Aber sein Geist scheint diesem irdischen Leid schon vorausgeeilt; er muß schon in ungeahnten Wunderlanden umherpilgern, denn manchmal zuckt’s in den erschlafften Mienen wie ein Begeisterungsblitz empor.

Am runden Tisch vor seinem Schmerzenslager sitzen zwei Frauen, ihre Blicke unablässig auf den schon halb Entschlummerten gerichtet; die Eine, Ausgangs der Dreißig stehend, in ihrem noch immer schönen Antlitz die stillen, wenig auffallenden Spuren tragend, die stiller Kummer, der es verschmäht, der Welt aufzufallen, in seinem Gefolge trägt; sie blickt auf die alte silberne Taschenuhr, die vor ihr liegt, und zählt die Minuten, um den Kranken aus seiner Lethargie zu wecken und ihm Medicin zu reichen, obwohl die Hoffnung an deren Wirkung längst in ihr erloschen ist. Neben ihr eine junge frische Blondine von reizenden sanften Zügen, nur daß die Centifolien der Wangen durch Anstrengung und Nachtwachen zu Theerosen erbleicht sind. Gattin und Tochter sind’s, die mit tiefem Weh der Auflösung des ihnen theuersten Wesens entgegenblicken. Sie haben an seiner Seite nicht viel frohe und fast nie sorgenfreie Stunden verlebt, und doch concentrirt sich Alles, was der Schöpfer von Neigungsbedürfniß in ihre Seele gelegt, in diesem Unglücklichen. Denn wie es eine traurige Erfahrung ist, daß gerade in Theaterkreisen die Familienbande so leicht gelockert sind, so ist es auch eine unumstößliche, daß, wenn sie einmal dort Wurzeln geschlagen haben, sie ausdauernd in rührender Weise Elend und Tod zu überragen wissen. Diese zwei Frauen wissen, daß sie mit dem Tode ihres Ernährers auf ihre Arbeit angewiesen und nicht viel besser als Bettlerinnen sein werden, und doch vermag dieser Gedanke nicht einmal neben dem tiefen menschlichen Weh, das sie um den Geliebten empfinden, in ihnen lebendig zu werden.

„Wecke den Vater, Mama! Es ist Zeit.“

Die Mutter ergreift sanft den Arm des Starrliegenden; er fällt zurück – sie ruft ihn bei Namen; er hört nicht.

„Schlimm, schlimm, liebe Marie, wenn er jetzt nicht erwacht. Dann verbringt er später die ganze Nacht schlaflos und unter schrecklichen Schmerzen. Für diesen Fall hat der Arzt die Erneuerung der Schlafpulver angeordnet. Eile, mein Kind – es ist noch nicht so spät – schnell zur Apotheke!“

Marie erhebt sich, schlingt das dünne fadenscheinige Umschlagetuch über Kopf und Brust, huscht unhörbar von dannen und fliegt wie ein Elfenschatten an den Wänden der engen, schlechtbeleuchteten Gasse entlang.

Im Krankenstübchen ist es ganz still geworden, nur die unregelmäßigen Athemzüge des Kranken und der Pendelschlag der alten Uhr geben Kunde, daß hier noch etwas lebt. Die Mutter hat den Schirm der Lampe herabgelassen, der geisterhafte Schatten zur Decke sendet. Ein trübseliges Colorit zu einer trübseligen Scene; es ist, als wenn an der Decke dieses Zimmers ein Alp säße, der Jeden, der die Schwelle passirt, mit in seinen Bann zieht. Einen Augenblick hat die Mutter durch die trüb angelaufenen Fensterscheiben ihrer Marie nachgeblickt; dann kehrt sie zu ihrem Sessel zurück und versucht mechanisch, eine Handarbeit vorzunehmen. Vergebens! Wolle und Nadel entfallen den sonst so fleißigen Fingern – die Hände falten sich unwillkürlich; jetzt, wo Marie nicht zugegen ist, stehlen sich auch zwei große Thränen hervor; die Thränen, die nicht niederfallen, die die Wimpern nicht verlassen, wer sie geweint, der kennt sie, diese Thränen. Sie betet ohne Worte, ohne Gedanken; der dumpfe Hauch des Zimmers nimmt auch ihre Sinne gefangen, und gleich dem Kranken verfällt sie in wachen Starrsinn. So ist Alles im Zimmer starr. Es ist, als ob ein mitleidiger Geist in dem Elend, das da drinnen herrscht, einen Ruhepunkt schaffen wollte.

Plötzlich klingelt es heftig auf dem Corridor, und Alles im Zimmer schreckt empor. Die arme Frau fährt auf und reibt [392] die Augen, die Ermattung für einige Minuten geschlossen. Auch der Kranke ist erwacht; der schrille Ton der Glocke hat seine Nerven getroffen und ihn aus irgend einem rosarothen Feenschloß zurückgerufen auf die Stätte der Leiden, von der er sich noch nicht losringen soll, weil es die Vorsehung so wünscht.

„Wer stört mich? Ich lag in so schönen Träumen. Sieh’ nach, Elise, wer es ist! Nur nicht der Arzt – er peinigt mich nur und nützt mir doch nichts mehr.“

Elise öffnet; sie wünscht, es wäre der Arzt, der dem Gatten die liebevollste Aufmerksamkeit widmet, um, wie von allen Kranken, Undank dafür zu ernten. Er ist es nicht.

„Lieber Mann, es ist nicht der Arzt, es ist Walter, Dein treuer Freund Walter.“

„Walter? Ah, nur herein, nur herein! Du bist mir willkommen; ich hätte sonst nach Dir geschickt,“ ruft mit seltener Lebhaftigkeit der Kranke, indem er sich halb auf seinem Lager erhebt und dem alten Collegen beide Hände entgegenstreckt. Walter, ein hochgeachteter Künstler von seltener Begabung, drückt sie mit Wehmuth, und der Lampenschirm entzieht dem Kranken die Schreckenswolke, die über das Antlitz des alten Freundes plötzlich dahinglitt.

„Laß’ uns eine Viertelstunde allein, liebe Elise! Ruhe Dich! Ich habe Mancherlei mit Walter zu besprechen.“

„Du wirst Dich wieder aufregen, theurer Mann. Laß’ mich hier!“

„Nein, mein Kind! Ich schwöre Dir’s, ich bin ganz ruhig; geh’ – es muß sein.“

„So nimm wenigstens erst die Medicin! Die Stunde ist schon vorüber.“

„Nein, nein,“ entgegnet der Kranke hastig, und aus den tiefen Augenhöhlen schießt ein unheimlicher Blitz. „Nichts mehr von dem Zeug! Es hilft doch zu Nichts. Gieb mir ein Glas Wein, Elise!“

„Aber, lieber Eduard!“

„Ich beschwöre Dich um ein Glas Wein; es ist seit Wochen das erste Verlangen, das ich ausspreche; ich fühle, es wird mir gut thun.“

Die arme Frau wirft einen ängstlich fragenden Blick auf den Freund, der ihn mit einem stummen Nicken seines Hauptes erwidert. Aus den Augen spricht es deutlich: es ist doch Alles Eins; – was er jetzt noch zu sich nimmt, kann ihm weder nützen, noch schaden. Sie geht, dem Armen das gewünschte Labsal herbeizuschaffen; aber sie hat keinen Wein im Hause, und die wenigen Groschen, über die sie noch verfügen kann, reichen auch nicht hin, welchen zu kaufen. Was beginnen? Sie faßt sich ein Herz und klopft bei der Nachbarin an. Die Nachbarin ist sonst eine harte, strenge Frau, die von dem Komödiantenpack nichts wissen will. Aber die weiche Stimme Elisens rührt sie; sie reicht ihr das Erbetene und weint herzlich mit der Armen. Sonderbare Erfahrung! Das böseste Weib wird vor einem Krankenbette mild und zahm. Ja gewiß, die Bosheit wurzelt nicht in des Menschen, am wenigsten in der Frauen Seele; sie ist eine schändliche Krankheit, die außer uns liegt und die uns unverschuldet erfaßt wie das Miasma der Cholera.

Mit gierigen Zügen hat der Aermste den Wein getrunken. Den abgeschwächten Körper erfüllt er mit plötzlichem Gluthhauch und täuscht die Sinne mit dem Truggefühl gewonnener Kraft. Mit einem fast seligen Lächeln küßt er der Gattin Hand, die, ihre Züge zum Spiegel der Heiterkeit pressend, ihm zuwinkt und das Zimmer verläßt.

Die beiden Freunde sind allein.

„Walter,“ spricht der Kranke, während seine Stimme durch den genossenen Wein größere Festigkeit als bisher gewonnen zu haben scheint, „Walter, nicht umsonst habe ich meine Frau hinausgeschickt; was ich Dir jetzt zu sagen habe, ist das Letzte, ist mein Testament.“

„Aber Eduard,“ entgegnet Walter, „Du fängst schon wieder an, Dich aufzuregen.“

„Nein, nein, mein Freund, ich bin ruhig, glaube mir, ruhiger als seit vielen Wochen; ich bin ruhig im Vorgefühl des Endes, das sich, Gott sei Dank! mir naht. Aber ich kann nicht von hier scheiden, ohne wenigstens einem Menschen gebeichtet zu haben, gebeichtet das Elend eines ganzen nichtswürdigen, zerschlagenen Lebens, zuerst des materiellen, nachher des geistigen. Du bist ein Mann und verstehst mich. – Seit fünfundzwanzig Jahren quäle ich mich in redlicher Arbeit dahin, und nun liege ich vor der Grube mit dem Jammergedanken, daß Weib und Kind, wenn sie mich eingescharrt haben, nicht wissen werden, woher, wohin? Sage mir selbst, Du kennst mich seit langer Zeit: habe ich jemals leichtsinnig gelebt? Habe ich meine Bedürfnisse nicht auf’s Aeußerste beschränkt? Und bin ich bei alledem im Stande gewesen, auch nur so viel zu erwerben, um Weib und Kind für eine geringe Zeit Sicherheit zu bieten? Denke an das jammervolle Loos, das allen Denen blüht, denen Fortuna mit Gewalt nicht zulächeln will! Von Saison zu Saison bin ich herumgewandert, und was ich mühsam in acht Monaten am Munde abgespart, verzehrte das Privatisiren der Zwischenzeit, verzehrten die Reisen hin und her, verzehrten die Zinsen, die ich an Pfandhaus und Wucherer von meinem geringen Erwerb zu zahlen hatte. Hätte ich Alles verpraßt, so könnte ich mir wenigstens jetzt noch sagen: Du bist schuld an dem Elend der Deinigen; aber Du hast etwas davon gehabt. Aber so bleibt das Elend dasselbe und ist doch nur das Facit langjähriger Ehrlichkeit. Glaube mir, ich wäre längst todt, wenn dieser verfluchte Gedanke mich nicht immer und immer wieder wie Moschus in’s Leben zurückriefe. Darum gelobe mir Eins: dulde nicht, daß mein Andenken befleckt wird! dulde nicht, daß, wenn ich die Augen geschlossen habe, man für Weib und Kind collectirt! Beide sind stark und groß, erhärtet in der Schule des Mangels; sie werden gleich mir Alles eher ertragen als den Schimpf. Ich bin Logenbruder. Du bist es auch; Du wirst dafür sorgen, daß man mich anständig bestattet und mir nach meinem Tode das Achselzucken erspart, das, so lange ich lebte, wie ein Fluch auf mir gelastet. Das ist Eins. Und nun das Zweite, das Schlimmere. Dir will ich’s sagen, woran ich sterbe, nicht seit drei Monaten, nein, seit mehr als zwanzig Jahren; Du sollst es wissen, damit ein Mensch die Qualen kennen lernt, der allein sie zu begreifen im Stande ist. Sage mir, Walter, mit welchem Recht habe ich mein ganzes Leben vergebens nach der Stellung gerungen, die mir von Gott und Rechts wegen zukommt? Mit welchem Recht sind Dutzende und Dutzende neben mir emporgekommen, die weder Bildung, noch Talent genug besitzen, um sich mit mir messen zu können, mit welchem Recht –?“

Ein neuer Hustenanfall überkommt den Kranken, und er lehnt sich erschöpft in seine Kissen zurück. Theilnehmend legt der Freund seine Hand auf die glühende Stirn des Fieberkranken und versucht ihn zu beruhigen.

„Mein guter Eduard, das sind Deine alten Phantasien; Du bist nicht so krank, wie Du glaubst. Du wirst genesen, und wenn Du der Welt wieder gesund zurückgegeben wirst, so bitte ich Dich, bleibe es auch, nicht nur gesund am Körper, nein, auch am Geist und Urtheil! Lerne endlich Dich überzeugen, daß, so mächtig der Zufall auch mit uns spielen mag, doch auch wir selbst und unsere Fähigkeiten unseren Erfolgen gegenüber in die Wagschale gelegt werden müssen.“

„Wie,“ ruft der Kranke und rafft sich auf’s Neue empor, „soll ich Das auch von Dir hören? Willst auch Du meine Fähigkeiten in Zweifel ziehen? Freilich, Dich hat das Glück ja begünstigt, Dir hat es ja auf Schritt und Tritt versichert, daß Du ein begabter Mensch, ein vollendeter Künstler bist; an mir hat man herumgemäkelt, so lange ich denken kann – und was war’s? Neid, Bosheit, weiter Nichts, und, glaube mir, kein strengerer Richter gegen sich selbst konnte existiren, als ich es war. Wenn ich nach einer anstrengenden Rolle in mein einsames Stübchen mich flüchtete, während die rohen Cameraden im Bierhaus zechten, dann nagte die Unzufriedenheit mit mir selbst an meiner Seele und untergrub die Kraft des ganzen Baues, und wenn ich einsah, daß ich gefehlt, so marterte ich mich Tage und Wochen lang, bis ich den Fehler überwunden, und hatte ich ihn überwunden, war ich seiner Herr geworden und trat triumphirend damit vor das Publicum, dann fühlten sie es nicht, dann glaubten sie es nicht. Was ihnen fünf Monate lang unbedeutend erschienen war, blieb es ihnen auch in den letzten Monaten der Saison; darum war ich zur Rolle des ewigen Juden verdammt. Als man mir vorwarf, mein Organ wäre nicht ausgiebig genug, studirte ich wie die griechischen Redner der Vorzeit; meine Brust, meine Lunge habe ich dabei zertrümmert, und als ich endlich das Richtige gefunden, haben die Leute mich verhöhnt. – Wenn ich [393] mit dem stolzen Bewußtsein: ‚das hast du richtig empfunden, das hast du richtig wiedergegeben,‘ in die Gesellschaft trat und ängstlich wie ein Schulbube auf eine gute Censur harrte, was war’s? Von gleichgültigen Dingen sprach man, wich geflissentlich jeder Anspielung meinerseits aus und ließ mich doppelt und dreifach tiefer fühlen, daß ich ihnen als ein Nichts erschienen sei, als hätten sie mir die Grobheit unverblümt in’s Gesicht gesagt. – Mit Geschrei und Gelärm wurden Andere neben mir auf der Bühne und im Leben gefeiert, nur mir, mir allein, mir wollte nicht die Anerkennung blühen. Mit Zittern sah ich der Stunde entgegen, wo die Zeitungen erschienen; ängstlich wie ein Verbrecher schlich ich im Kaffeehaus um das geheimnisvolle Blatt Papier herum; zwanzig Mal ging ich ihm aus dem Wege; beim einundzwanzigsten Male ergriff ich es, legte mich in meine Ecke und las ewig und ewig wieder, daß es nichts mit mir sei, und es war nicht wahr, nicht wahr; ich war doch etwas. Wenn ich dann nach Haus kam, mißtrauisch und scheu, wenn ich in den Augen von Weib und Kind zu entdecken glaubte, daß sie die Schmach des Gatten und Vaters schon gelesen, daß sie Mitleid mit dem haben, den sie verehren sollten – o! es giebt keine Worte für die Qualen, die ich da durchlebte. Wie hundert Mal haben wir gesessen, still in unserer armseligen Stube, stumm vor dem erkaltenden Abendbrod; ein Jeder mußte seine Thränen hinunterfressen. Das war mein Leben durch so und so viele Jahre. – – Da sieh’ her, noch vor wenigen Tagen – ich hab’s verborgen – unter meinem Kopfkissen liegt’s; ängstlich mied ich’s, damit meine Lieben es nicht lesen; da steht’s: Als ich zum letzten Male spielte – – daß ich ein Mensch ohne Kraft und Auffassung, ohne jede Wiedergabe sei; o, und Du weißt, daß ich mit dem Tode im Herzen gespielt, daß ich spielen mußte, denn nach meinem Contract hat der Director das Recht, mich nach vierwöchentlicher Unthätigkeit zu entlassen, und so schleppte ich mich hinaus vom Jammerbett, ehe die vier Wochen abgelaufen waren, um die Galgenfrist eines Monats für Weib und Kind zu retten – dafür machen sie mich schlecht. – O, diese Menschen, diese Menschen – –“

Erschöpft fällt der Kranke zurück; die Abspannung folgt naturgemäß seiner geistigen Aufregung; seine Augen schließen sich halb, und sein Geist scheint sich auf’s Neue in unbekannte Regionen zu verirren. Kaum hört er die milden Trostesworte des redlichen Freundes.

„Du bist im Unrecht, mein guter Eduard,“ spricht Walter, „wenigstens in diesem letzten Fall.“

„Im Unrecht?“ entgegnet Eduard, und es schnellt ihn empor wie ein Blitz, „im Unrecht? Und das sagst Du mir? Willst Du es Recht nennen, wenn man einen Kranken mißhandelt?“

„Aber, mein Freund, dem Mann, der unten im Parquet sitzt und Dich zu beurtheilen hat, liegt keine Verpflichtung ob, danach zu fragen, ob Du krank bist oder nicht – er nimmt Dich, wie Du ihm auf der Bühne erscheinst, und richtet sein Urtheil darnach.“

„Wie ich ihm erscheine? Also war’s in der Ordnung, daß ich ihm schlecht erschien? Das willst Du damit sagen? O, o! auch Du, auch Du? Du warst noch der Einzige, an dessen Meinung ich glaubte; sprich, sprich! Nun ist es doch ganz gleichgültig – gieb mir den Todesstoß, schnell! Glaubst auch Du, daß ich ein schlechter, nichtssagender Schauspieler gewesen?“

„Mein guter Eduard, wenn es Dich trösten kann, so nimm die aufrichtige Versicherung, daß jeder billig denkende Mann Dich stets für einen verständigen Darsteller erklärt hat, wenn auch keine großen Erfolge, kein lärmender Beifall, kein äußeres Glück Deine Leistungen begleitet haben.“

„Ein verständiger Darsteller? O!“ So ruft der Kranke mühsam und die Worte entringen sich seiner schon röchelnden Brust nur noch in kurzen Absätzen, „ein verständiger – Darsteller, o – ich weiß es –, das heißt so viel, – als: ein langweiliger – Esel –, ein talentloser Narr! Das ist die Leichenrede, die Du mir – noch bei Lebzeiten hältst? – – Das ist die Freundschaft? Das ist – – – o Thor, Thor, der ich überhaupt an etwas glaubte! Thor, der sein Leben daran setzte, für eine Idee zu ringen, und mit Ehrlichkeit nach dem Ziel strebte, das der Charlatan in drei Bocksprüngen erreicht –“

Die Aufregung hat ihn überwältigt; kraftlos sinkt er in seine Kissen zurück. Tief erschüttert steht der Freund diesem Anblick gegenüber; er hat den unglücklichen, den braven, ehrlichen Freund, den liebevollen Familienvater, den nüchternen, gegen sich selbst unerbittlich strengen Mann verehrt und vermag sich doch nicht, selbst in diesem Augenblicke, zu der Lüge emporzuschwingen, ihn über seine Fähigkeiten zu täuschen.

„Hättest Du,“ so lispelt er fast hörbar vor sich hin, „bei Zeiten diesem Traum entsagt, wärst Du nach den ersten Mißerfolgen in ein stilles, bürgerliches, ruhiges Leben zurückgekehrt, für das Dich Gott der Herr geschaffen: wie glücklich hättest Du mit Deiner Gemüthstiefe Dir und den Deinigen das Leben gestalten können! Der Theaterteufel hat Dich als eins seiner Opfer auserkoren; Du hast gebüßt für tausend Andere; fahre dahin! Dir ist nicht mehr zu helfen.“

Er drückt noch einen Kuß auf die halb erkaltete Stirn des Freundes und geht. – Draußen ist es kalt und stürmisch geworden; der Regen peitscht gegen die niedrigen Scheiben des kleinen Zimmers; die Lampe droht zu verlöschen; leise sind die Frauen eingetreten und haben vor dem Lager des Kranken Platz genommen. Marie ergreift die Hand des Vaters und beugt ihre glühende Wange darauf hernieder; die Mutter hat den Rosenkranz um ihre zitternden Finger geschlungen. Da öffnet der Kranke noch einmal die welken Lippen, und in dem Tone eines begeisterten Propheten spricht er von Visionen, die seine der Welt entrückten Sinne umgaukeln.

„Hörst Du, Marie? hörst Du das Toben des Beifalls? das Rufen der Menge? siehst Du die Lorbeerkränze, die auf mich herniederfliegen? Ha! welch’ ein Ton? Es ist ein begeisterter Tusch, den das Orchester mir darbringt.“

Die schwache Gestalt fliegt vor Erregung empor; in demselben Augenblick schrillt der durchdringende Ton der Nachtwächterpfeife, welche die erste Stunde verkündet, in das stille Zimmer.

„Nein,“ schreit der Kranke entsetzt, „gepfiffen haben sie, gepfiffen, auch in meinem letzten Augenblick.“ Seine Augen öffnen sich noch einmal mit vollem Glanz; krampfhaft preßt seine Hand die der Tochter und verhallend spricht er die Worte. „Schwöre mir, Marie, daß Du nicht zum Theater gehen wirst! Arbeite lieber, bettele lieber, aber fliehe das Theater! Es ist die Stätte des Jammers, des Elends, der Verzweiflung.“

Sein Haupt sinkt zur Seite; der Todesschatten neigt sich auf seine Stirn; die Glieder strecken sich im letzten Krampfe. Man hört nichts mehr im stillen dunkeln Zimmer, als stilles Schluchzen – weinen können die Armen nicht mehr.

Ob Marie Wort halten wird? Wir glauben es nicht.
Dr. Hugo Müller.




Das Tusculum des Schlachtendenkers.


Die geräuschvollen Feste der Czarenstadt sind verstummt. Vom Glanz des Fürstenprunkes ermüdet, sind die Staatenlenker und hohen Würdenträger, die während der letzten Wochen an der Newa versammelt waren, Einer nach dem Andern, in ihre Residenzen und Schlösser zurückgekehrt, nicht Wenige, um in der lachenden Heiterkeit ihrer ländlichen Sommersitze auszuruhen von den Anstregungen und Strapazen der Petersburger Festivitäten. Unter den Letzteren befindet sich auch ein Mann, der die Geschicke Deutschlands während der letzten Jahre zu einem großen Theile in seiner Hand hielt und sie glorreich hinausführen half – Helmuth Graf von Moltke.

Schon sind die Gemächer auf Schloß Creisau bereit, ihren hohen Herrn zu empfangen. Eine trauliche Heimstätte für den Schlachtendenker, dieses schlesische Tusculum! Inmitten einer freundlichen und fruchtbaren Gegend, eine Meile von der böhmischen Grenze entfernt, zwischen den Städten Schweidnitz und Reichenbach, liegen Schloß und Dorf. Licht und heiter schaut das Schloß – seit dem Jahre 1867 im Besitz des großen Strategen – unter seinem schwarz-blauen Schieferdache in die Landschaft hinaus. Dunkle Baumkronen mächtiger Ulmen und Linden streben zu seinen beiden Seiten empor, ihre Aeste ausbreitend und ineinander schlingend, als wollten sie ein [394] schützendes Dach bilden über Dem, der sich da unten in ihrem Schatten ergeht, über dem geistreichsten Soldaten des neuen Kaiserreichs.

Schloß Creisau macht einen stattlichen Eindruck. Auf den beiden Thorpfeilern des Hofeinganges – um nur etwas zu erwähnen – prangen zwei kriegerische Repräsentanten einer längst vergangenen Zeit. Es sind dies zwei griechische Fechter in Kampfesstellung mit vorgehaltenem Schild. Zwei andere Kämpfer, und zwar aus der neuesten Zeit, zeigen sich uns nicht weit von jenen eben erwähnten. In drohender Haltung ist nämlich ein Doppelposten von Stahl und Eisen, wie ausspähend nach den fernen Grenzlinien unseres Vaterlandes, auf riesigen Steinplatten vor der in den ersten Stock führenden Schloßtreppe aufgestellt – zwei eroberte französische Geschütze, welche Kaiser Wilhelm seinem sieggekrönten ersten General als Ehrengeschenk widmete. Beide Geschütze zeigen auf dem Rohre reiche Verzierungen, sowie das Datum und den Ort ihres Gusses. Es läßt sich vermuthen, daß diese Stücke von historischem Werthe sind.

Schloß Creisau.

Unmittelbar vor dem Schlosse breitet sich wie ein sammetner Teppich eine in zartem Grün leuchtende Rasenfläche hin, aus welcher sich wohlgepflegtes Gebüsch gruppenweise erhebt. Mit vielem Geschick und Geschmack ist dasselbe so gepflanzt, daß es mit seinen lachenden Blüthen und Knospen zu den ernsten, dunklen Bäumen der nächsten Umgebung einen sehr wohlthuenden Contrast bildet. Dieser Rasenfläche schließt sich der weite Hofraum an, welcher von Beamtenwohnungen und stattlichen Oekonomie-Gebäuden begrenzt wird.

So viel über das Aeußere von Schloß und Hof Creisau. Wenden wir uns nun zur Betrachtung der nächsten Umgebung des Schlosses, so müssen wir gestehen, daß sie nicht reich an großartigen Naturschönheiten ist. Aber die üppigen Wiesen an dem hier vielfach gewundenen Peile-Flüßchen, die nahe gelegenen und zum Theil mit Buschwerk reich bewachsenen Hügel, auf welche die hohen, dunkelbewaldeten Häupter des Zobten und der Eule ernst herabschauen, bieten immerhin ein liebliches und hübsch abgegrenztes Landschaftsgemälde.

Im verwichenen Sommer bot sich mir zufällig die Gelegenheit, mich längere Zeit in der Nähe von Creisau aufzuhalten, wo ich einige flüchtige Blicke in das tägliche Leben des berühmten Schloßherrn that. Die folgenden Mittheilungen sind die Frucht meines damaligen Aufenthalts dort und dürften den Lesern der Gartenlaube einiges Interesse bieten.

Es ist ein sonniger Julimorgen. An Halm und Strauch hängt noch der Thau der Nacht, und ein frischer kühler Hauch geht über Wiese und Feld. Die Thurmuhr des nahen Dorfes Gräditz verkündet eben die sechste Stunde – da sehen wir von der Schloßtreppe einen schlicht gekleideten Mann in den duftenden Morgen herabsteigen und über die wohl gepflegten Kieswege dem nahen Parke zuschreiten. Wer den Mann in dem einfachen schwarzen Rock, mit dem bartlosen Gesicht, in welches Alter und geistige Arbeit ihre Furchen gegraben, so dahin wandeln sieht, der wird versucht sein, zu glauben, er sehe in ihm einen würdigen Landpfarrer, der eben im Begriffe steht, auf einer Morgenwanderung das Material zu seiner nächsten Sonntagspredigt zu verarbeiten. Weit gefehlt! Der Mann im schlichten schwarzen Rock, mit dem bartlosen, fein geschnittenen Gesicht ist kein Mann der Kanzel. Mit kühnem Federstrich hat er den deutschen Heeren die Bahnen vorgezeichnet, welche sie zum Siege führten. Es ist der Schloßherr selbst, Graf Moltke.

Seiner Gewohnheit gemäß, hat er sich zeitig von seinem aus einer Roßhaarmatratze und leichter Decke bestehenden Nachtlager erhoben, schnell den Morgenkaffee eingenommen – der, nebenbei bemerkt, wie es im Schlosse Sitte ist, am gestrigen Abend gekocht und heute früh nur erwärmt wurde – und ist dann in die Morgenluft hinaus gewandert. Die Wirthschaftsräume sind sein erstes Ziel. Das Korn auf der Tenne, das Vieh im Stalle, das Getriebe der zum Gute gehörenden Brauerei, nichts entgeht seinem prüfenden Blicke. Und weiter lenkt er die Schritte durch die grünen Beete des Gemüsegartens, spricht ein freundliches Wort mit dem Gärtner und wendet sich dann mit innigem Behagen seinen mit Vorliebe gepflegten Zöglingen, den jungen trefflich gedeihenden Bäumen zu, welche hinter dem Schlosse in langen Reihen soldatisch aufgestellt sind. Mit Kennerblicken mustert der Feldherr sein kleines Heer; zeigt sich irgendwo ein dürrer Ast, so verfährt er, ganz im militärischen Geiste, mit unnachsichtlicher Strenge. Er greift in die Tasche – schnell ist das Messer zur Hand – und sofort liegt der Ast am Boden. Haßt doch der Marschall im Großen wie im Kleinen das Schwächliche und Halbe. Steht nun aber einer seiner Zöglinge gar mit krummem Rücken da, devot wie ein besiegter Welscher, der um Gnade fleht, dann ziehen sich die Falten auf des Strategen Stirn drohend zusammen: Untersuchung, Verurtheilung und Execution sind das Werk nur eines Augenblickes – und ausgerodet wird der Stamm mit Stumpf und Stiel.

Nach beendeter Wanderung sehen wir den Schlachtendenker in sein Studirzimmer treten. Dasselbe befindet sich im zweiten Stocke des Schlosses und wird von den zwei mittleren der auf dem nebenstehenden Bilde sichtbaren Fenster erhellt. Der Graf ist durch das einfenstrige Vorzimmer zur Rechten des Beschauers in sein Arbeitsgemach eingetreten und nimmt nun, durch die Morgenwanderung erfrischt, an einem einfachen Tische Platz, auf dem das Frühstück, aus einer Tasse Bouillon oder einem Glase Wein und belegtem Butterbrode bestehend, bereits servirt ist. Er ist dabei über einen kostbaren Teppich hinweggeschritten, welcher als die schönste Zierde des Zimmers bezeichnet werden muß. Derselbe, von den Damen der schlesischen Aristokratie angefertigt, trägt in weißer Seidenstickerei die Namen der Schlachten des letzten Krieges und wird vom Marschall besonders in Ehren gehalten. Neue Zeitungen sind eingetroffen und werden beim Frühstück einer eingehenden Durchsicht unterzogen. Die Zeit bis zum Mittag widmet der Graf in der Regel schriftlichen Arbeiten – das ist die Geburtsstunde großer weltbewegender Gedanken, welche, einmal auf’s Papier geworfen, nach Berlin in die Hände des Kaisers und seiner Minister wandern und von dort ihren Weg durch die Cabinete aller Großmächte nehmen, oft die Geschicke Europas bestimmend. Eine Kürzung dieser allmorgenlichen Arbeitsstunden pflegt der Graf

[395] 

Marburg in Hessen.
Nach der Natur aufgenommen von G. Theuerkauf.

[396] sich nur am Sonntage zu gestatten, wo er, fromm im besten Sinne, wie er ist, fast regelmäßig die nahegelegene Dorfkirche zu Gräditz besucht.

Gegen zwölf Uhr Mittags zieht sich Molke in sein Schlafgemach – auf unserm Bilde durch das vierte Fenster links bezeichnet – zurück, um bis zur Zeit der Mittagstafel Siesta zu halten. Punkt zwei Uhr versammeln sich die Familienglieder im Speisesaale. Den Ehrenplatz nimmt an der Tafel Frau von Bort ein, die Schwester und Schwiegermutter des Grafen in einer Person; denn sie gab einst die Stieftochter dem genialen Bruder zur Frau. Der älteren Generation gehören außer dem Marschall selbst dessen Bruder, der Kammerherr von Moltke, und seine Schwägerin, die verwittwete Frau Geheimrath von Moltke, an. Um diese ehrwürdigen Vertreter des alten Geschlechtes Moltke gruppiren sich die jüngeren Mitglieder der Familie: die vier Töchter der Frau Geheimräthin und zwei junge Officiere, Moltke’s Neffen, nämlich der Hauptmann von Bort und der Lieutenant von Moltke, Letzterer des Marschalls Universalerbe und künftiger Gutsherr von Creisau.

Nach aufgehobener Mittagstafel werden vom Grafen noch einige etwa eingegangene Correspondenzen erledigt. Die übrigen Familienglieder haben sich inzwischen, wenn das Wetter günstig ist, in den weit ausgedehnten und vom Grafen selbst angelegten Park begeben, wohin ihnen später Moltke zu folgen pflegt. Dort, auf einer freien, saftiggrünen Rasenfläche steht, einsam und mit kolossalen Zweigen weit ausgreifend in die Luft, eine herrliche, echt deutsche Eiche. Mit schattendem Blätterdache überwölbt sie eine an ihren kräftigen Stamm sich lehnende einfache Ruhebank. Wie oft kühlt hier, an seinem Lieblingsplätzchen, der Marschall seine von energischer Gedankenarbeit müde Stirn in den milden Lüften des Parkes! Gar mancher strategische Plan, der später Europa in Erstaunen setzte, mag hier in der erfrischenden Stille in seinem ersten Keime entstanden sein. Von hier aus schweift der Blick des Schlachtenhelden durch eine weitgedehnte Lichtung, die er zum Theil mit eigener Hand durch dichtes Gebüsch gebrochen hat, über die dunkeln Höhen des waldreichen Eulengebirges hin, oder er folgt sinnend den seltsamen Wolkengebilden, welche die eben dicht am Parke vorübersausende Locomotive zurückgelassen hat.

Ist die Promenade vollendet, so wird gewöhnlich noch eine Spazierfahrt veranstaltet, bei welcher Gelegenheit die Herrschaften mitunter ihrem Gutsnachbar, dem Geheimen Rath von Gellhorn auf Jacobsdorf, einen Besuch abstatten. Rath Gellhorn hat auch die Oberaufsicht über die ökonomische Verwaltung von Creisau, das mit zwei benachbarten Gütern eine gut arrondirte Herrschaft von zweitausendzweihundert Morgen bildet, übernommen.

Gegen acht Uhr Abends wird im Schlosse der Thee servirt, und das ist die Stunde, welche die Familienglieder noch einmal vor der Nacht – bald nach zehn Uhr sucht Excellenz sein Lager auf – in traulichem Gespräch zu versammeln pflegt. Aber nicht selten, wenn der Abend mild ist, sehen wir den ernsten Grafen, die Gesellschaft meidend, noch einen stillen einsamen Gang machen. Es ist ein Gang der Trauer und der Wehmuth, der Erinnerung und der Andacht; denn er gilt dem Mausoleum, in welchem der Schlachtendenker seine am Weihnachtsabende 1868 verschiedene, innig geliebte Gattin zur Ruhe gebettet hat.

Auf dem mit Ziersträuchern reich bepflanzten Gipfel eines ziemlich steil ansteigenden Hügels erhebt sich, nahe am Park, das Mausoleum, zu welchem Graf Moltke selbst den Plan gezeichnet hat. Die vielen Zeichen sorgsamer Pflege, die dieser Hügel aufzuweisen hat, deuten an, daß es der Geist der trauernden Liebe ist, der über dieser Stätte des Friedens schwebt. Der Bau selbst, aus Ziegeln mit Sandsteinverbrämungen aufgeführt, erscheint einfach und prunklos. Sein schlichtes Portal schauet weit in’s Land hinaus. Erhebend und fast überwältigend jedoch wirkt das Innere dieses Todtentempels. Ernste Dämmerung herrscht in dem ernsten Raume; keine vorlaute Zierde drängt sich in dem einfachen Ganzen dem Auge des Beschauers auf – in lichten Umrissen treten nur die edlen plastischen Formen der Gestalt des Welterlösers hervor. Hochaufgerichtet über der Gruft, die Arme halb erhoben, wie um Diejenige zu segnen, welche da unten schläft, steht der Gottgesandte, und über seinem Haupte leuchten die Worte der Schrift:

„Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.“

In diesem kleinen Heiligthume pflegt der Graf lange und oft zu verweilen, und der Volksmund sagt ihm pietätvoll nach, daß er stets, der todten Gattin die Ehre gebend vor den Lebenden, wenn er von Berlin nach Creisau kommt, vor dem Gehöfte vom Wagen steigt und sofort zur Gruft geht, deren Schlüssel er immer bei sich trägt. Gewiß ein rührendes Beispiel treuer Gattenliebe! Der Graf muß in der That in einer höchst glücklichen Ehe gelebt haben.

Als seine Gemahlin noch auf dieser Erde wandelte, sah man ihn fast nie allein, sondern immer von dieser begleitet. Wer Gelegenheit hatte, das Gattenpaar, wenn auch nur flüchtig, auf den täglichen Ausflügen zu beobachten, gewann die Ueberzeugung, hier habe er eine Ehe vor sich, so tiefinnig und in reinster Harmonie der Herzen, wie man eine solche leider so selten findet. Herzerquickend war es für Jeden, welcher irgend Sinn dafür hatte, zu sehen, wie die jugendliche Gattin im schlichten Kleide, den Strohhut oft in der Hand tragend, in heiterem Gespräch am Arme ihres Gemahls daherwandelte, oder bei einer Ausfahrt zu beobachten, wie die selbst kutschirende Frau in heiterem Scherz im Peileflüßchen ein Stückchen auf und ab fuhr, wobei von dem Gestampf der Pferde das Wasser hoch aufspritzte und die Insassen des Wagens näßte; dann sah man, daß der sonst so schweigsame Graf auch heiter scherzen und lachen konnte.

Mit Thränen in den Augen erzählte Graf Moltke nach dem erfolgten Tode seiner Gemahlin seinen Untergebenen, wie die Kranke trotz der wüthendsten Schmerzen – sie starb am Gelenkrheumatismus – als ihr Gesicht schon so geschwollen war, daß sie ihn nicht mehr sehen konnte, mit den Händen nach ihm getastet, ihm die Wangen gestreichelt und ihn in dieser Weise über den bevorstehenden Verlust habe zu trösten gesucht. Man begreift daher die Verehrung, welche der Graf der verstorbenen Gattin widmet. Sie leuchtet in Creisau aus Allem hervor.

Mit der früh dahingegangenen Gemahlin scheint der Graf ein gutes Stück seines Familienglückes begraben zu haben. Die Vaterfreuden sind ihm versagt geblieben. Aber für den großen Verlust ward ihm eine große Entschädigung: Deutschlands Kinder sind seine Kinder geworden. Für sie hat er gedacht, gekämpft, gelitten – und dafür spricht jeder Deutsche vom „Vater Moltke“ mit Dank und Ehrfurcht.




Blätter und Blüthen.

Die Farrnbaum-Schluchten Australiens. Viele, welche Jahre lang in Australien gelebt und wohl auch nicht unbedeutende Touren in den Colonien dieses Erdtheiles unternommen haben, berichten, daß die Scenerie des australischen Urwaldes durchaus ein monotones Gepräge trage. Will man gerecht sein, so kann man dieses Urtheil nur theilweis bestätigen und voraussehen, daß jene Berichterstatter entweder nie solche Plätze besucht oder achtlos daran vorüber geschritten sind, wo die australische Natur in einer nie geahnten tropisch erscheinenden Pracht sich entfaltet. Wie die todte, einförmige Wüste ihre fruchtbringenden, erquickenden Oasen, so hat die australische Waldesnatur ihre geheimen Schlupfwinkel, in welchen sie das Schönste verborgen hält, was zu erzeugen sie fähig ist – und dies sind ihre Farrnbaum-Schluchten. Der Botaniker wie der Entomolog folgt nicht der breiten wegsamen Ebene, die der Wanderer der Bequemlichkeit halber nur so ungern verläßt; ihm eröffnen die dunklen, feuchten Schluchten, die verworrenen, fast unzugänglichen „nooks“ (Winkel) der hohen Gebirgspartien Schätze, die ihm reichlich alle gehabten Mühen lohnen, und hier erst öffnet sich dem Naturfreunde ein Tempel, in welchem er gern als dienender Priester weilen möchte.

Besuchen wir eine solche Schöpfung! Unsere Pferde sind nach einem guten Tagesritt müde, und da die Sonne sich dem Horizonte der weiten Ebene hinter uns schon sehr genähert hat, so ist es besser, zu rasten und morgen die Tour fortzusetzen, um in die hinteren Schluchten des vor uns sich erhebenden Gebirges einzudringen. Bald ist eine passende Stelle zum Nachtlager gefunden, die ringsum von grünendem Gebüsch eingeschlossen, während ein schmaler aber klarer Wasserfaden, vom Gebirge kommend, unfern von uns melodisch vorüberrieselt. Wir schnallen die wollenen Decken (unser Buschbett) ab, entsatteln die Pferde und koppeln oder ketten die Vorderfüße jedes einzelnen.

Bald lodert ein mächtiges Feuer, lebhaft genährt von den massenhaft umherliegenden todten Aesten und Zweigen der Bäume. Da wir [397] dieses Feuer hart an einem gefallenen Baumstamm angeschürrt und der Abendzug die Flamme gegen den Stamm treibt, so glüht derselbe an dieser Stelle bald in hochdunklem Purpur, und wir haben keine weitere Mühe das Feuer während der Nacht zu unterhalten. Unser mit klarem Gebirgswasser gefüllter Pot (verzinnter Kochtopf) sprudelt über, und eine Hand voll Thee, die wir hineinwarfen, verbreitet einen aromatischen Geruch, einladend für erschöpfte Reisende. Einem frugalen Mahle von Brod und Speck oder Schinken folgt das dampfende Pfeifchen; die Decken werden ausgebreitet; man wickelt sich hinein und streckt sich aus, den Sattel als Kopfkissen benutzend. Die Nacht ist dunkel, aber über den Kronen der Bäume entfaltet sich die Sternenpracht der südlichen Hemisphäre, und es leuchtet hernieder von tausend fernen, klaren Sonnen. Leise rauscht es im Walde; einige Nachtvögel mit schwerem Flügelschlag und schrillem Gekreisch unterbrechen die geheimnißvolle Ruhe, und man ist mit seinen Gedanken allein noch wach. Aber wie herrlich ist dieses Gefühl der Freiheit! Man sehnt sich immer wieder darnach und kann es nie im Leben wieder vergessen. In den Bäumen knispert und knappert es, und Stücken von Zweigen oder abgestorbenen Aestchen fallen hernieder. Es sind Opossums, die ihre nächtlichen Wanderungen beginnen und sich von den Blättern und Blüthen der Eukalypten (Gummibäume) nähren. Man lauscht noch auf dieses und jenes, aber immer unklarer werden die Sinne; eine neugierige Känguruhratte, welche, angelockt vom Geruche des Brodes, vorsichtig näher kommt und „Männchen“ macht, findet endlich die ganze Gesellschaft in tiefem Schlafe und hüpft mit einer geraubten Brodrinde in das Dunkel zurück.

Plötzlich erwachen wir. Naturstimmen fallen in unser Ohr. Der Magpie (australische Elster) orgelt sein liebliches Morgenlied, die Pferde schnauben und springen mit gefesselten Vorderfüßen unweit von uns herum, sich des Morgenthaues zu erwehren, der stark und kühl herabfällt. Wir öffnen die Augen und blicken in den dämmernden Morgen hinein. Unsere Decken fühlen sich naß an und liegen schwer auf uns; aber der halbdurchbrannte Baumstamm glüht noch lustig im Innern fort und verlangt nur einiges trockenes Holz, um sofort wieder aufzuflackern. Wir springen aus unseren Decken und jodeln mit Herzenslust in den Wald hinein, die fauleren Schläfer weckend. Da erschallt plötzlich lautes Lachen über uns, rings um uns, als seien wir von Dämonen umringt. Es sind nicht zwei oder drei Stimmen, es sind Dutzende. Das sind die Laughing Jackasses oder Lachvögel, die schon manchem Wanderer in der tiefen Einsamkeit des Urwaldes ein unheimliches Frösteln durch ihr dämonisches, aber menschenähnliches Lachen verursacht haben.

Thee und Frühstück ist eingenommen; die getrockneten Decken sind wieder zusammengerollt und festgeschnallt, und die Pferde stehen gesattelt bereit. Wir besteigen die Pferde, und mit munterm Trott auf hartem Waldesgrunde reiten wir in dem jungen duftenden Morgen dem nahen Gebirge zu, dessen wilde Schluchten unser Ziel sind. Die Gegend hebt sich immer mehr und bald gewahren wir hier und da schon vereinzelte Farrnbäume, die gleich aufgestellten Wächtern mit ihren Wedeln uns entgegenwinken; nach einiger Zeit aber fällt das Gebirge so steil ab, daß wir absitzen und die Pferde am Zügel führen müssen. Jetzt beginnt das Steigen. Die Kronen der hohen Bäume um uns halten die Strahlen der Sonne nicht ab, die immer sengender werden, und wir sehnen uns nach einem kühlenden Trunke. Hier aber ist kein Wasser zu finden; der Waldgrund ist hart und steinig, und ehe wir nicht den Kamm des Gebirges überstiegen und die Schluchten der andern Seite erreicht haben, ist keine Aussicht auf eine Labung, wenn wir solche nicht mit uns führen. Ein stärkender Schluck Rum oder Cognac muß gegen Durst und Ermattung helfen, und ohne Säumnis geht es weiter hinauf, indem wir die Pferde am Zügel nach uns ziehen. Papageien in wunderbarer Farbenpracht, Kakadus mit stolz gespreizter Haube und schrillem Gekreische umfliegen uns, ohne scheu zu sein. Viele andere Stimmen lassen sich noch vernehmen; aber wir schenken ihnen jetzt wenig Aufmerksamkeit, da dieselbe nach dem Kamme des Gebirges gerichtet ist, der für uns scheinbar öfter sichtbar war, aber sobald wir einen gewissen Punkt erreicht, sehen wir uns stets getäuscht, und das Steigen beginnt von Neuem.

Endlich aber sind wir oben und blicken nun in eine Schlucht hinab, die, verhüllt von üppigster Vegetation, dem Auge nicht einzudringen erlaubt. Wir nehmen daher unsern Weg mehr rechts, um den Auslauf dieser Schlucht im Thale zu erreichen, und lavirend, um Mann und Roß nicht zu gefährden, geht es nun hinab. Die Mittagssonne brennt jetzt sengend auf uns hernieder; kein Lüftchen weht; kein Blättchen regt sich; kein Käfer summt. Die Vögel haben sich zurückgezogen nach schattigen Plätzen. Alles ist wie ausgestorben, und tiefes Schweigen herrscht rings umher. Nur einzelne sich regelmäßig wiederholende Töne, scheinbar aus weiter Ferne kommend und genau den metallischen Axtklängen dem Behauen der Balken auf einem Zimmerhofe gleichend, fallen in unser Ohr. Diese Töne haben schon manchem müden Wanderer frohe Hoffnung und neuen Muth in’s Herz gesenkt, der nun sicher glaubte, einer Ansiedelung in der ihn umgebenden Wildniß nahe zu sein. Aber die Täuschung war um so schrecklicher, je nothdürftiger seine Lage war, denn keine Lichtung des Waldes zeigte sich. Sein weitschallendes „Coo-eh!“ (Buschruf) wurde nicht beantwortet, und doch hallten die vermeintlichen Axtklänge fort und fort. Diese Laute gehören einem Frosche an, aber seine Anwesenheit bedingt nicht das Vorhandensein von Wasser – eine neue Täuschung für den verschmachtenden Wanderer!

Wir haben uns nun so weit an dem Berge nach rechts hingezogen und sind dabei dem Thale so nahe gekommen, daß wir den Auslauf der Schlucht vor uns haben, die in das breite grüne Thal mündet. Dort, hinter einem Vorsprunge unseres Berges, kräuselt sich eine blaue Rauchwolke empor und läßt uns eine Ansiedelung vermuthen, die wir in der That auch bald vor uns haben. Solch ein Anblick erfrischt. Bald betreten wir die gastliche Hütte und erfrischen uns an Brod und würziger Milch, wie das Euter der Kuh sie spendet. Unsere Pferde werden wieder abgeschirrt und gekoppelt, und bald sehen wir sie nach dem klaren Bächlein wandern, das, von dem Gebirge kommend, dieses grüne Thal durchschlängelt.

Wir greifen wieder zu unsern Stöcken, und geführt von einem Knaben der Ansiedlerfamilie beginnen wir die nur kurze Wanderung nach der Farrnbaumschlucht. Eine Beugung des Thales – und vor uns liegt sie in ihrer nie geahnten Schöne, in einer Ueppigkeit, die das Auge blendet, und zieht sich meilenweit fort, von Gebirgen an beiden Seiten eingerahmt. Wir treten ein und wandeln unter grünen Hallen der stattlichen Alsophila australis und Dicksonia antarctica von zehn bis dreißig Fuß Höhe, deren jede einzelne ihre Palmenwedel nach allen Seiten über uns ausbreitet und grünende Dächer neben und über einander wölbt, die uns abzuschließen scheinen von der Welt und allem Leben darin. Die Stämme oder Säulen dieser Hallen sind wiederum geschmückt mit allen möglichen Moosen, Pilzen, Flechten und kleineren Farrnarten, welche, Schmarotzern gleich, sich am Stamme eingenistet haben und von ihm ihre Nahrung ziehen. Dazwischen hängen Schlingpflanzen in Festons herab, oft von einer Stärke, daß wir uns getrost in ihnen schaukeln dürfen. Die vom Alter gefällten Stämme bilden die schönsten Ruhekissen, denn man fällt in ein Moos- und Farrnpolster von ein halb Fuß Stärke und darüber. Die reizenden Arten von Hymenophyllum, Lycopodium, Trichomanes und Grammitis wuchern hier dicht gedrängt und überziehen Stamm und Steine. Aber Alles ist feucht, und die Luft ist die eines geheizten Treibhauses, aber dennoch kühl gegen die Atmosphäre außerhalb. Die verwelkten und abgefallenen Wedel der stattlichen Farrnbäume bedecken überall den Boden und geben den lebendigen Nahrung und Stärkung. Ein krystallklarer Wasserstreifen, sich jetzt in viele Rinnchen theilend, jetzt wieder sich zu einem Miniaturbächlein vereinigend, rieselt, oft gänzlich überwuchert, in der tiefsten Höhlung dieser Schlucht hin. Und über uns glüht die australische Mittagssonne von einigen vierzig Graden Réaumur, aber wir fühlen sie nicht; ihre Macht wird gebrochen von den Fächern der mächtigen Wedel, die, gegen die Sonne gesehen, sapphirgrün erscheinen und dem Dunkel unter ihnen eine grüne Färbung verleihen.

Was können Worte leisten, wo das Auge schwelgt! Diese grünen Hallen, diese lebendigen Guirlanden, diese weichen Sammetpolster machen uns glauben, wir betreten das Heiligthum einer Fee. Wir ahnen die Gegenwart der Dryaden und würden nicht erstaunen, träte plötzlich Oberon mit seiner Titania hervor.

Aber weiter, weiter! Die Schlucht wird enger und in ihrer Mitte oft ungangbar; wir müssen uns an den Seiten entlang winden und blicken nun in die Palmenkronen der aus der Tiefe herauf strebenden Farrnen. Plötzlich überspannt die Schlucht eine mächtige Brücke. Ein kolossaler Eucalyptus liegt entwurzelt quer über und reicht von der einen Bergeslehne hinüber nach der andern. Aber in welche Pracht ist auch er gekleidet! Von seiner moosigen Decke hängen Schlingpflanzen in zierlichen Windungen herab und machen uns glauben, er sei eigens gefallen zur Verschönerung der ganzen Waldscenerie. Und welche Scenerie! Zu unseren Füßen die Kronen der Farrnbäume, die mit ihren breiten und gefranzten Wedeln jeden Blick in die Schlucht selbst vereiteln, und um uns und gegenüber riesige Eukalypten und üppige Sassafrasbäume, deren voller glänzender Blätterschmuck reizend hervortritt vom Dunkel des Hintergrundes. Die Einsamkeit, die uns in der Schlucht umgab, wird belebter; wieder umflattern uns Vögel, oder eine bunte Eidechse schlüpft behend an uns vorüber. Immer wilder, immer unzugänglicher, immer steiler wird es vor uns; aber das hindert uns nicht. Wir winden uns durch dichtes Unterholz, geschmückt mit seltener Blumenpracht, klettern über gefallene und bemooste Bäume und arbeiten uns durch verworrene und umstrickende Schlinggewächse, bis wir endlich gesiegt und die Höhe erreicht haben, von wo aus wir eine freie und weite Aussicht genießen. Die dunkelbewaldeten Häupter der nahen und fernsten Gebirge, eins über oder neben dem andern sich erbebend, gleichen den erstarrten Wogen eines weiten Meeres, und wir fliegen im Geiste der Zeit voraus, die vielleicht nicht zu fern ist, wenn Städte und Dörfer zu Füßen jener Berge blühen; wenn hohe rauchende Essen die Monotonie des Urwaldes unterbrechen und von der Industrie der Menschen auch hier Zeugniß geben; wenn breite Straßen wie lichte Bänder sich über diese Höhen ziehen oder das dampfende Roß sich keuchend zwischen ihnen hindurch windet. – –

Dann aber, du stilles, prächtiges Thal, ist es vorüber mit deinem Frieden; deine schönen Palmen werden fallen – und Niemand wird ahnen, daß einst hier die Natur einen Versteck hatte, in welchem sie ihre üppige Schönheit profanen Augen entzog.
Theodor Müller.

Brunnen auf Bahnhöfen. Der kleine Artikel unter „Blätter und Blüthen“ in Nr. 19 dieses Blattes, welcher im Interesse des reisenden Publicums das Bedürfniß von Brunnenanlagen auf den Bahnhöfen betonte, hat zwei Zuschriften an die Redaction der Gartenlaube veranlaßt, aus welchen der Verfasser des Artikels mit Befriedigung ersehen hat, daß wenigstens einzelne Eisenbahnverwaltungen auf ihren Strecken bereits jenem wohlberechtigten Wunsche Genüge leisten. Die eine dieser Zuschriften rührt aus Lauterbach in Oberhessen her und berichtet, daß die Direction der „Oberhessischen Eisenbahnen“, nämlich der Linien Gießen-Gelnhausen und Gießen-Fulda, dafür Sorge getragen habe, daß auf allen ihren Bahnhöfen, selbst dem kleinsten, Wasser zur freien Verfügung der Reisenden steht. Dort kann man auf jeder Station unmittelbar am Perron einen mit Pumpe versehenen Brunnen und in jedem Wartesaal Wasserflaschen oder Wasserkrüge mit stets frischem Trinkwasser und mit einigen Gläsern finden. Die andere Zuschrift ist aus Gablonz in Böhmen datirt und weist auf die zahlreichen Stationsbrunnen der österreichischen Südbahn auf der Linie Wien-Triest, sowie namentlich der Brennerbahn (Innsbruck-Verona) hin, auf deren Stationen man häufig Bassins mit fließendem Wasser finde, welche sowohl ein prächtiges Trinkwasser liefern, als auch zu erfrischenden Waschungen von Gesicht und Händen sehr fleißig benutzt werden. Zugleich wird auf eine Sitte aufmerksam gemacht, welche wohl überall leicht Nachahmung finden könnte: Auf allen Stationen der Linie Wien-Triest sind [398] im Sommer Kinder anzutreffen, welche mit großen Wasserkrügen und Gläsern an dem stillstehenden Zug auf und ab laufen und „Frisch Wasser! Frisch Wasser!“ rufen. An Kunden fehlt es ihnen nicht, und giebt man für den gebotenen Labetrunk nur einen Kreuzer, so ist die Freude der Kinder groß.

Indem der Verfasser den Lesern der Gartenlaube von diesen aus entgegengesetzten Richtungen eingelaufenen Mittheilungen Kenntniß giebt, hat er nur den Wunsch hinzuzufügen, daß das rühmliche Beispiel der genannten Eisenbahndirectionen auch von allen übrigen befolgt werden möge. An dem Publicum aber liegt es, nachdrücklich darauf zu dringen, daß überall, wo es irgend angeht, einem so nahe liegenden Bedürfniß so bald als möglich abgeholfen werde. Wie peinlich der Wassermangel auf Bahnhöfen ist, konnte man namentlich auch in der Kriegszeit 1870–71 erfahren, als es bei den zahllosen Militärzügen so viele durstige Kehlen zu erfrischen galt. So mußte auf der freiwilligen Verpflegungsstation zu Plauen im Voigtlande das Wasser alltäglich erst in großen Fässern aus der Stadt auf den Bahnhof gefahren werden, wo es mit Rum oder Rothwein vermischt zum größten Labsal unseren wackeren Kriegern ausgetheilt wurde. Man könnte also fast behaupten, daß auch ein militärisches Interesse bei dieser Angelegenheit mit im Spiel ist, und man sollte daher erwarten, daß vor allen die Staatseisenbahnen mit gutem Beispiel vorangingen. Auch sollte fortan keine Regierung einer Privatgesellschaft Concession zum Eisenbahnbau ertheilen, ohne die Anlage eines Brunnens auf denjenigen Bahnhöfen, wo eine solche möglich ist, zur ausdrücklichen Bedingung zu machen. Hoffentlich versetzt das von dem deutschen Reichstag zu erwartende Eisenbahngesetz die hier gegebene Anregung aus dem Gebiet der frommen Wünsche, deren es ja für unser deutsches Eisenbahnwesen noch so viele giebt, recht bald auf den festen Boden der gesetzlichen Vorschrift.
A. M.

Zwei Märtyrer-Denkmale. (Zu Illustration „Marburg“ S. 395.) „Droben in der Burg, wo das Verbrechen wohnt – dort mit Räubern, Mördern und Dieben unter einem Dache, dort schmachtet Der im Kerker, dessen Name jedem wackeren Hessen in’s Herz gegraben ist; dort hält man den Leib gefangen des freien Geistes, der Hessens Verfassung schrieb und Allen verbrieft hat, was er allein entbehrt. Jahrhunderte ziehen hinab, die Jahre rollen vorüber; es wechselt das Glück, es wechselt die Macht, Throne und Fürstenstühle wechseln ihre Inhaber, und diese selbst sind dem Loose alles Irdischen unterworfen; auch die Stimme der öffentlichen Meinung steigt auf und nieder, ebbet und fluthet. Die Fluth wird wiederkommen und der Tag nicht ausbleiben, wo sie ein Urtheil fällt über Jordan und seine Feinde.“

So schrieb im Jahre 1842 Joseph Meyer in seinem „Universum“ zu dem Bilde von Marburg. Es waltete Prophetengeist in dem kühnen Mann, welcher dies zu einer Zeit schrieb, wo Jordan noch drei Jahre im Gefängniß zu schmachten hatte, um endlich nach sechsjähriger Untersuchungshaft freigesprochen zu werden. Das geschah 1845, als Hassenpflug „der Hessen Haß und Fluch“ war. Und drei Jahre später, welch ein Schauspiel für Gotter bot sich da in demselben Lande dar? Ist der bleiche Mann, den sie jetzt Herr Geheimer Legationsrath tituliren, derselbige Marburger Rechts-Professor, welcher durch seine abscheulichen politischen Verbrechen seinen gnädigsten Landesvater, den Kurfürsten von Hessen, und dessen Minister so tief gekränkt hatte? Ja, er war es, der abscheuliche Mensch, der Anno Dreißig als Abgeordneter der Landesuniversität auf dem Landtag zum Vorsitzenden und Berichterstatter des Verfassungs-Ausschusses gewählt wurde und nun auf die Ausbildung dieser Verfassung seinen entscheidenden Einfluß ausübte, und zwar im Geist gesetzlicher Ordnung und freiheitlicher Entwickelung. Das verdiente eine exemplarische Strafe. So wurde denn ein verurtheilter Todtschläger (Apotheker Döring) begnadigt, um mit gedeihlicherer Seelenruhe die Denunciation gegen den längst von geheimer Polizei überwachten liberalen Professor auszuspinnen, und zwar mit Fäden, dick genug, daß eine gestrenge Justiz einen sechsjährigen Proceß daraus zusammenzudrehen vermochte. Wie recht die Gerechtigkeit hatte, dafür lieferte der Himmel den besten Beweis, denn er ließ dem Verbrecher zwei erwachsene Töchter sterben, während er droben auf dem Schloß in der Haft saß.

Und nun – 1848? Da ist’s freilich etwas Anderes. Es war gewiß eine sehr gute Miene, welche der kurfürstliche Hof nebst Ministerium zu dem bösen Spiel der großen Bewegung machte, als er, schwerlich aus angestammter Huld und Gnade, den Verbrecher-Professor als Vertrauensmann kurfürstlicher Regierung an den Bundestag nach Frankfurt am Main sandte. War das ein Schalksstreich der Nemesis! Ein kurhessischer Wahlkreis verschaffte ihm auch einen Sitz als Abgeordneter in der Paulskirche. – Jordan hat es noch mit erleben müssen, daß Hassenpflug Arm in Arm mit der Reaction nach Kurhessen zurückkehrte, um fernerweit sein Jahrhundert in die Schranken zu fordern; und dann starb er doch viel zu bald, um den Lohn seines Lebens und Leidens zu ernten; er erlebte 1866 nicht und 1870 nicht; der deutsche Märtyrer unserer jämmerlichsten Zeit starb am 15. April 1861. Sein Denkmal ist das Schloß von Marburg, das hochragend in die Welt ruft: hier hat Sylvester Jordan dafür gebüßt, daß er seine Mannes- und Bürgerpflicht gethan! –

Außer dieser Merkwürdigkeit hat das Schloß auch steinerne Sehenswürdigkeiten in den alten Bauten, die noch unverdorben von späterer Pfuscherei bis auf die Gegenwart gekommen sind.

Die Stadt aber, die unsere Illustration uns so lockend hinstellt, ist jedenfalls bequemer anzuschauen, als zu durchwandeln, denn viele ihrer Straßen und Gassen steigen steilan und manche können nur auf Treppenstufen passirt werden. Ihre zwei größten Schätze sind die 1527 von Philipp dem Großmüthigen gestiftete Universität, die freilich ihre Studentenzahl selten über 250 bringt[WS 1], und die Kirche der heiligen Elisabeth, ein gerechter Stolz, nicht blos Marburgs, sondern Deutschlands, denn in ihr ist eines der reinsten Muster der strengen Gothik und zugleich eine der ältesten sogenannten „Hallenkirchen“ uns erhalten. Nur unsere gute Thüringer Elisabeth, die nach ihrer Verstoßung von der Wartburg in Marburg ihr Märtyrerleben beschloß, dessen Denkmal ihre Kirche ist, sie selbst ist, wie ihr Sarg und ihre Edelsteine von den Franzosen, von den Pfaffen gestohlen und verhandelt worden. Streiten sich doch jetzt drei Bischofskirchen um den Besitz des richtigen Schädels! So läuft den Besten das Unglück noch nach dem Tode nach! –

Desto freundlicher ist das Stückchen deutscher Erde, das sich thalauf und thalab an die Lahn schmiegt, – der Anblick desselben versöhnt mit viel Vergangenem und öffnet das Herz für den deutsch-nationalen Aufschwung der Gegenwart, dessen auch Hessen theilhaftig geworden ist und der, so lange es an Männern wie Jordan nicht fehlt, auch eine beglückende Zukunft verheißt.
Fr. Hfm.

„Ungenau beobachtete Thatsachen.“ Die Wünschelruthe. Es steht wohl für jeden Vorurtheilsfreien fest, daß Diejenigen, welche die Kunst des Wasserfindens mittelst der Wünschelruthe ausüben, entweder sich selbst täuschen, oder daß sie gar Betrüger sind. Daß sie Alle Betrüger sein sollten, hat mir nie einleuchten wollen. Jedenfalls mußte hier eine „ungenau beobachtete Thatsache“ vorliegen. Es war mir daher eine angenehme Ueberraschung, neulich die Bekanntschaft eines Farmers zu machen, der ein solcher Wasserfinder ist und der sich gern bereit erklärte, mir das Experiment zu zeigen. Hier hoffte ich die Art der Selbsttäuschung, die bei demselben vorkommt, kennen zu lernen, was auch ganz zu meiner Zufriedenheit gelang. Da man meines Wissens über das Wie dieser Täuschung nirgends Angaben findet, so will ich in der Kürze meine Beobachtung mittheilen.

Bekanntlich wird von den in dieser Richtung Gläubigen behauptet, daß, wenn man eine gabelförmige Ruthe (namentlich eine Haselruthe) so faßt, daß in jeder Hand sich ein Ende dieser Gabel befindet, der Vereinigungspunkt beider aber horizontal hinausgehalten wird, alsdann, wenn man über das Land dahinschreitet, sich die Ruthe auf solchen Stellen abwärts biegt, wo sich (erreichbares) Wasser in der Erde findet. Ja, manchmal soll die Anziehungskraft des Wassers so stark sein, daß die Ruthe nahe bei den Händen abbricht. Unser Farmer machte mir das Experiment vor und zeigte mir, wo im Boden Wasser sei und wo sich keins finde. Wirklich bog sich die Ruthe stark nach unten, und der Mann behauptete, daß eine solche Kraft in derselben thätig sei, daß er kaum die Ruthe halten könne. Es glückte mir nun, auf den ersten Blick zu sehen, wie der redliche Mann die Erscheinung selbst hervorbrachte, ohne es zu wissen oder zu wollen. Ich bat ihn dann, mir die Ruthe zu geben, und zu seinem Erstaunen fand ich Wasser an einer Stelle, von der er soeben behauptet hatte, daß sich dort keins finde. Ja, die Ruthe wand und drehte sich und zerbrach endlich, so sehr ich auch sie zu halten bemüht war.

Und nun die Lösung dieses sonderbaren Räthsels. Man nehme eine Ruthe, wie sie vorhin beschrieben wurde, sehe darauf, daß beide Theile der Gabel einigermaßen gleich stark sind, und mache dieselbe ungefähr zwei Fuß lang. Nun fasse man in jede Hand ein Ende dieser Ruthe, strecke aber, ehe man dieselbe fest anfaßt, die Arme nach vorn, etwa so, daß die Hände in der Höhe der Hüften sich befinden, und halte die Ellenbogen recht straff. Dann drehe man beide Hände möglichst weit nach außen, so daß bei geschlossener Hand die Finger oben und der Daumen an der Außenseite der Hand liegen. Die Ruthe, die man schon in den Händen hat, fasse man nun mit festem Griffe und halte sie in ungefähr horizontaler Lage vor sich hin, indem man über das Land schreitet, das man auf seinen Wassergehalt prüfen will. Die Arme und Hände sind in gezwungener Lage und natürlich suchen sie eine leichtere Haltung anzunehmen. Namentlich suchen die Arme sich zurückzudrehen in ihre natürliche Lage. Aber man hat die Ruthe in der Hand, diese muß man festhalten. Da aber die Drehung der Hände durch Ermüdung und unwillkürlich geschieht, so scheint eine Kraft in der Ruthe thätig zu sein, welche uns dieselbe zu entwinden strebt. Nun nähern sich die Hände wirklich etwas ihrer natürlichen Lage, und betrachtet man die Lage der Ruthe in der Hand, so sieht man, daß durch eben diese Drehung eine Biegung der Ruthe nach unten entsteht. Man wird sicherlich Wasser finden, wenn man das Experiment in einer Gegend, wo überhaupt Wasser ist, fortsetzt.

Man mache den Versuch, der leicht gelingen wird, und man hat ein hübsches Beispiel vor sich, wie eine „ungenau beobachtete Thatsache“ zu Stande kommt.

     Marine, Illinois, im Mai 1873.
Dr. Werner Stille.

Jakob Friedrich Fries wird an seinem hundertjährigen Geburtstage in Jena nicht ungefeiert bleiben. Eine Anzahl angesehener Männer und wohl meist Schüler des großen Philosophen in Weimar, Dresden, Braunschweig, Hamburg, Prag, Berlin, Darmstadt, Buttstädt, Breslau und Jena ist zusammengetreten und hat einen Aufruf erlassen zur Stiftung und festlichen Enthüllung eines Denkmals „des verehrten Lehrers und Meisters“. Am sogenannten Fürstengraben in Jena soll neben den Erzbüsten Oken’s und Schulze’s auch die von Fries auf entsprechendem Piedestal erhöht werden; die Ausführung derselben ist dem Bildhauer Härtel übertragen. Beiträge zu den Kosten der Herstellung des Denkmals und Anmeldungen zur Theilnahme an der Enthüllungsfeier am 23. August d. J. nehmen u. A. Gymnasiallehrer O. Apelt und Hofrath Kunze in Weimar, Archidiaconus Ch. Klopfleisch, Professor E. E. Schmid und Schuldirector E. Zeiß in Jena entgegen.



Das Jubiläum der deutschen Oper. Unser jubiläumreiches Jahr hatte am 28. Mai einen neuen Festtag zu begehen, indem an diesem Tage vor hundert Jahren in Weimar die erste wirklich und vollständig deutsche Oper – nach Sprache, Dichtung, Composition und Darstellung – zur Aufführung kam. Eine ausführliche Darlegung dieser interessanten Thatsache theilen wir in Nr. 25 in einem Artikel von Robert Keil in Weimar mit.


[WS 2]P. G. in Meiningen. Ersuchen, uns sofort Ihre Adresse zu brieflicher Auseinandersetzung anzugeben.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Original-Mittheilung unseres Correspondenten in Green-Bay (Wisconsin). D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vergl. Berichtigung in Die Frequenz unserer Universitäten.
  2. dem Kleinen Briefkasten des Hefts 24 fehlt die gewohnte Übrschrift