Die Gartenlaube (1872)/Heft 50
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No. 50. | 1872. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
„Das dürfte Euch mindestens ebenso theuer zu stehen kommen, wie ihm,“ erwiderte Gotthold, „oder glaubt Ihr, die Gerichte werden Euch frei lassen, weil Ihr Alles nur für Euren Herrn gethan habt?“
„Die Gerichte, Herr! Sie wollen mich doch nicht vor’s Gericht bringen?“ rief Hinrich.
„Und wenn ich es thäte, könntet Ihr mir’s verdenken?“
Hinrich war stehen geblieben; aber es gab keine Möglichkeit des Entkommens. Jochen Prebrow’s schwere Hand lag auf seiner Schulter; der Andere hatte vorhin schon die Pistole gespannt, und der lange Lauf derselben blinkte jetzt in dem Licht der ersten Feuerbake, welcher sie sich bereits bis auf eine kurze Entfernung genähert hatten. Ein Ruf mußte die Wächter herbeiziehen, wenn er es auf’s Aeußerste ankommen lassen wollte.
„Ich bin in Ihrer Gewalt, Herr,“ sagte er, „und ich bin es auch nicht. Sie und kein Mensch sollen mich zwingen, vor Gericht zu wiederholen, was ich Ihnen eben erzählt. Ich kann Ihnen ja ein Märchen aufgebunden haben.“
„Die Ausrede würde Euch nicht viel helfen, Hinrich; wir haben die Beweise, daß das Geld nicht verloren, sondern geraubt und in Eures Herrn Hände gekommen ist.“
Und er gab mit wenigen Worten den Inhalt von Wollnow’s Brief, fügte auch hinzu, was er auch jetzt vom alten Boslaf erfahren, daß sie bei dem Suchen auf dem Moor – zur größten Verwunderung der Männer – die Spuren eines flüchtigen Pferdes hunderte von Schritten verfolgt hätten; und wie Hinrich’s Leugnen, gegenüber diesen und den andern bereits feststehenden Thatsachen, wenig verfangen würde.
Hinrich hatte aufmerksam zugehört.
„Ich denke immer noch, Ihr laßt das Gericht bei Seite, Herr,“ sagte er, „es ist eine böse Geschichte, und je weniger davon gesprochen wird, desto besser ist es für – für Alle, die es angeht; aber, wenn es sein muß, nun, Herr, wir armen Menschen haben’s ja nie viel besser als die Hunde, und diese letzten Tage hab’ ich’s noch schlechter gehabt – mir ist es an ein paar Jahren Zuchthaus oder so nichts gelegen, wenn er nur neben mir zu sitzen kommt.“
Es war zu dunkel, als daß Gotthold das grausame Lächeln hätte sehen können, welches bei diesen letzten Worten um die breiten Lippen des Mannes spielte.
„Ich denke, ich kann Euch das Zuchthaus ersparen,“ erwiderte er, „wenn Ihr mir versprechen wollt, keinen Fluchtversuch zu machen und Euch allen meinen Befehlen unbedingt zu fügen. Ich werde Euch nichts Unbilliges ansinnen.“
„Ich weiß es, Herr,“ sagte Hinrich, „und da habt Ihr meine Hand.“
Es war eine eisenharte Hand, die sich in Gotthold’s Hand legte; aber er glaubte an dem nervigen Druck zu fühlen, daß der Mann halten werde, was er versprach.
„So kommt denn,“ sagte er, „und Du, Jochen, führe uns einen Weg, auf dem wir, womöglich von Niemand gesehen, in Dein Haus gelangen.“
„Mein armer lieber Freund! daß uns auch dies noch treffen mußte; es ist wirklich hart. Aber nur nicht verzagen! Gretchen wird wieder gesund und Alles gut werden.“
So sprach Ottilie Wollnow in dem Vorgemach ihrer Sundiner Wohnung leise zu Gotthold, mit dem sie so eben aus dem Zimmer getreten war, in welchem Cäcilie und der alte Boslaf den Fieberschlaf Gretchens bewachten.
„Alles!“ wiederholte Ottilie, als sie bemerkte, daß die tiefe Trauer auf Gotthold’s ausdrucksvollem Gesicht sich nicht erhellen wollte.
„Sie glauben ja selbst nicht daran,“ erwiderte er, Ottiliens Hände dankbar drückend; „wenn das Kind stirbt, so wird Cäcilie, fürchte ich, es nie verwinden, wie sehr, wie ganz auch die Schuld den Elenden trifft; jedenfalls wird es eine jener trauer- und qualvollen Erinnerungen mehr sein, die sie, nach ihrer eigenen Aussage Ihnen gegenüber, auf immer von mir trennen.“
Herr Wollnow trat aus einem Seitengemache, zum Fortgehen bereit, Ottilie begleitete die beiden Freunde bis auf den Hausflur. „Ich wollte, ich könnte mit Euch gehen,“ sagte sie.
„Und das wäre so übel nicht,“ sagte Wollnow, als die beiden Freunde durch die abendlichen Gassen, in welchen heute ein ungewöhnlich reges Leben herrschte, dahinschritten; „haben die Frauen doch, was in solchen Lagen über Berge hilft: die souveräne Leidenschaft, die wir Männer uns glücklich wegraisonnirt haben, ohne uns dafür die souveräne Ruhe zu gewinnen, mit welcher heute Morgen der wunderbare alte Mann dem Brandow [816] gegenüber getreten ist. Ich wollte vorhin in Gegenwart der Frauen nicht davon sprechen. Brandow hat mit dem Scharfsinn, den ihm ja sein Feind lassen muß, vom ersten Augenblick geschlossen, daß Cäcilie sich über kurz oder lang auf ihrer Flucht hierher wenden müsse, falls sie es nicht sofort gethan. Er ist deshalb auf der Stelle umgekehrt und, was die Pferde laufen wollten, hierher gefahren; er muß Ihnen noch vor Prora begegnet sein. Seitdem hat er hier vor meiner Wohnung und vor der Ihrigen auf der Lauer gelegen; ich bewundere die Zähigkeit, mit der er an seiner einmal gefaßten Annahme festgehalten, und die Stirn, mit der er aller Welt erzählt hat, seine Frau sei für ein paar Tage auf Besuch gefahren, und die Komödie, die Vetter Boslaf mit den Leuten gespielt, – das Suchen auf dem Moore, im Walde – sei ein Schelmenstück, für das er den boshaften Alten, mit dem er längst verfeindet, zur Rechenschaft ziehen werde. Im Innern mag er freilich eine Hölle von Angst und Sorge gehabt haben, denn seine Feinde – und er hat deren nicht wenige, die Herren Redebas und von Plüggen voran – ließen es sich eifrigst angelegen sein, die schlimmen und schlimmsten Gerüchte in lebhaftesten Cours zu setzen, und man stand im Renn-Comité bereits auf dem Punkte, officiell eine Erklärung von Brandow zu fordern, als er gestern Abend im Club erzählen konnte, seine Frau sei vor einer halben Stunde angekommen und bei uns abgestiegen. Auch Selliens hätten sich um die Ehre beworben; aber der Assessor sei noch immer nicht ganz wieder hergestellt, und so habe er uns den Vorzug gegeben. Um seinen Aussagen das nöthige Gewicht zu geben, oder – ich weiß nicht, von welchem Teufel der Frechheit getrieben – hatte er, sobald er gestern Abend – ich vermuthe durch Alma Sellien, die unglücklicher Weise gerade bei meiner Frau war – Cäciliens Ankunft erfahren, bei uns geklingelt und sich bei meiner Frau melden lassen. Nun, Ottilie hätte ihn ohne Zweifel gern empfangen, und ihrem Herzen endlich einmal Luft gemacht; aber der alte Herr ist in’s Zimmer getreten und hat meine Frau mit jener vornehmen Höflichkeit, die wir seit zwei Generationen verlernt haben, gebeten, ihn auf eine Minute mit Brandow allein zu lassen. Es hat in der That noch keine Minute gewährt, da ist der alte Herr so ruhig wie immer zu den Damen in’s Zimmer getreten; und der Andere ist die Treppe hinabgestürmt und Cäcilie, die keine Ahnung von dem Attentat gehabt, ist erschrocken gewesen über die Heftigkeit, mit der Jemand die Hausthür zugeworfen. Hier sind wir vor der des ‚Goldenen Löwen‘. Ich bitte, lassen Sie mich hineingehen. Er darf, falls wir ihn ja heute Abend nicht finden sollten, auch nicht erfahren, daß Sie zurück sind.“
Wollnow trat in den Hausflur, durch dessen weitgeöffnete Thorfahrt ein lebhaftes Licht auf die sonst ziemlich dunkle Straße fiel. Es war in Folge der Rennen, die heute ihren Anfang genommen und morgen fortgesetzt werden sollten, ein bedeutender Verkehr in dem großen Hause; Wollnow mußte viel fragen, bevor er eine bestimmte Antwort bekam; Gotthold hatte längere Zeit zu warten. Als er, auf- und niederschreitend, sich wieder etwas weiter von dem Hause entfernt hatte, kam, plötzlich aus dem Dunkel einer Seitengasse auftauchend, eine weibliche Gestalt an ihm vorüber, die dann sofort mit einem leise gesprochenen „Karl!“ sich herum und zu ihm wandte, indem sie dabei den schwarzen Schleier zurückschlug. Gotthold erkannte, trotz des schwachen Lichtes, Alma Sellien.
„Sie irren sich gnädige Frau,“ sagte er.
Auch Alma hatte ihn erkannt; sie war ihrer Sache so sicher gewesen, nun raubte ihr der Schrecken fast die Besinnung; aber nur für einen Augenblick: „Es ist gut, daß es kein Anderer war,“ sagte sie mit einem tiefen Athemzuge, und, als Gotthold keine Antwort gab: „ich habe ihn schon wiederholt gebeten, es Ihnen zu sagen; über kurz oder lang müssen Sie es ja doch erfahren, und für Sie kann es ja nur eine angenehme Nachricht sein; aber er hat immer nicht gewollt.“
„Und aus guten Gründen.“
„Aus welchen Gründen? bitte, bitte, sagen Sie mir Alles!“
„Zu einer andern Zeit und an einem andern Orte; Zeit und Ort dürften jetzt und hier nicht ganz schicklich gewählt sein.“
Wollnow trat aus dem Hause; „auf ein anderes Mal also!“ flüsterte Alma, indem sie den Schleier fallen ließ und in die dunkle Gasse, aus der sie vorhin aufgetaucht war, zurückschlüpfte.
„Wer war denn das?“ fragte Wollnow.
„Dieser Mensch wird noch die halbe Welt mit sich in den Schlamm ziehen,“ rief Gotthold.
„Wo wir ihn längst hätten suchen sollen, wenn wir ihn finden wollten,“ erwiderte Wollnow. „Es war Frau Sellien, nicht wahr? Sie verrathen kein Geheimniß; es war nur für uns eines; hier pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Der Mann macht es uns schließlich leichter, als wir dachten; dennoch ist es ein wundervoll glücklicher Zufall, daß Sie den Hinrich Scheel fingen. Wenn bei dem Burschen nur nicht im letzten Moment sein altes Clangefühl wieder zum Durchbruch kommt.“
„Ich glaube nicht; denn gerade daß Brandow dies Gefühl so brutal verletzt, daß er die Treue, die der Häuptling dem Gefolgmann schuldig ist, so schnöde gebrochen – das eben hat den rohen und in seiner Weise doch ehrlichen Menschen bis auf’s Tiefste erregt und empört. Nein, im Gegentheil: was ich fürchte, ist, daß ihm unser Vorgehen gegen Brandow nicht genügen wird, daß er sich in seiner Weise wird rächen wollen.“
„Und hat er denn so Unrecht?“ erwiderte Wollnow lebhaft, „betrügen wir nicht den Galgen um sein Opfer? Und wenn wir uns damit entschuldigen, daß es Frevel giebt, die kein Paragraph eines Landrechts trifft, und die schlimmer sind, als Mord und Straßenraub: kann Hinrich Scheel nicht dasselbe für sich anführen und verlangen, daß der Treubruch, der an ihm begangen und für dessen Verurtheilung er ganz gewiß keinen ordentlichen Richter findet, nicht ungesühnt bleibe? Aber, verzeihen Sie, lieber Freund, meine unlogische Hartnäckigkeit! ich sehe ja ein, daß die Zukunft mehr als eines guten Menschen von der Heimlichkeit abhängt, mit der wir zu Werke gehen. So mag denn so etwas wie ein Vehmgericht oder Gottesurtheil an die Stelle der öffentlichen Verhandlung treten. Hier sind wir am Clubgebäude. Ich lasse Sie ungern allein; aber ich fühle mit Ihnen, daß Sie dies ohne Secundanten ausfechten müssen.“
Gotthold schritt in dem hellerleuchteten Vorplatze auf und nieder; aus dem Restaurationssaale, in welches ein galonnirter Diener seine Karte getragen, schallte Lärm und Lachen und Gläserklirren; in dem Clubbureau saß der Registrator noch, eifrig schreibend, über seinen Büchern; in der Garderobe hatte man genug zu thun, den beständig kommenden und gehenden Herren die Sachen abzunehmen oder auszuliefern.
Der Diener erschien wieder: Herr Brandow bitte um Entschuldigung, aber er sei gerade sehr dringend beschäftigt; ob die Sache nicht bis morgen Zeit habe?
„Was soll Zeit haben?“ fragte Gustav von Plüggen, der unmittelbar hinter dem Diener aus dem Speisesaale getreten war, und Gotthold mit seiner gewöhnlichen, durch eine Weinlaune noch erhöhten lärmenden Lebhaftigkeit begrüßt hatte. „Was? Brandow dringend beschäftigt? dummes Zeug! dringend! sitzt hinter eine Pulle Sect und schreibt eine dicke Zahl nach der andern in sein verdammtes Wettbuch. Sind ja Alle wie närrisch, trotzdem Redebas und Otto und ich genug abgeredet haben; nach dem, was wir in Dollan gesehen, halte Alles für möglich. Wird gerade so kommen, wie mit dem Hurry-Harry auf dem Derby vor fünf Jahren. Mal in England gewesen? Famoses Land; Weiber, Pferde, Schafe – famos! Alter Witz von mir, der immer jung bleibt. Was ich sagen wollte: Brandow sprechen? Aber warum kommst Du nicht herein? mache mir ein Vergnügen daraus, alten Schulcamerad einzuführen. Berühmter Künstler! he? habe gestern bei dem Präsidenten vom Fürsten Prora, der in Rom Bekanntschaft gemacht und ganz entzückt ist, daß Du in Sundin bist, verteufelte Sachen gehört; soll ja was ganz Famoses sein! Sprach sogar davon, Dich aufzusuchen; merkwürdig! morgen auch auf dem Rennplatz. Apropos! schon Billet? Tribüne A? bitte, keine Umstände, siehst, habe noch ein halbes Dutzend; mache mir Vergnügen daraus! Hier herein!“
Der Diener hatte schon lange den Griff der Thür in der Hand gehabt. – Der Speisesaal war von einer sehr großen Gesellschaft angefüllt – den Clubmitgliedern und ihren Gästen, unter denen die Officiere der Garnison besonders zahlreich vertreten waren. Man saß an verschiedenen Tischen beim Champagner; es ging lebhaft, ja lärmend her; Niemand beachtete die [817] Eingetretenen, auch Brandow nicht, der ganz im Hintergrunde sich eben von der Tafel erhoben zu haben schien und jetzt inmitten einer Gruppe stand, aus der man von allen Seiten auf ihn einsprach, während er, sein Taschenbuch in die Höhe haltend, rief: „Einer nach dem Andern, meine Herren! Einer nach dem Andern! da Sie durchaus die Güte haben wollen, mich zu einem Krösus zu machen. Trutwetter, hundertfünfzig! bitte, setzen Sie Ihren Namen darunter. Hierher, wenn’s beliebt; den Platz habe ich für Kummerrow’s zweihundert reservirt. Doch Pistolen, Baron? nein? o weh! omen in nomine! wer hätte das geglaubt! Weiter! Plüggen? auch Du, Brutus? Was giebt’s? Ein Herr – schon wieder? ich bin sehr beschäftigt! sage dem Herrn –“
Brandow brach jäh ab; er hatte jetzt erst Gotthold bemerkt, der bis jetzt hinter ihm gestanden.
„Ich habe Zeit zu warten, bis Du hier fertig bist.“
„Es dürfte Dir zu lange dauern.“
„Ich habe Zeit.“
Gotthold trat mit einer höflich kühlen Verbeugung aus dem Kreise heraus; Brandow war sehr blaß geworden; er starrte mit düstrer Miene in sein Wettbuch, und die Bleifeder in seiner Hand zitterte. Was hatte die Hartnäckigkeit, mit welcher der Mensch ihn verfolgte, zu bedeuten? Sollte er ihn vor der ganzen Gesellschaft derb abfertigen? aber ohne eine Scene war das unmöglich, und gerade heute Abend konnte eine Scene gefährlich werden.
„Nun, Brandow! ich habe keine Zeit zu warten!“ schrie eine Stimme.
„Rechnen Sie schon zusammen?“ eine zweite.
„Ich muß wirklich erst einmal zusammenrechnen,“ sagte Brandow, das Buch schließend; „Geduld, Ihr Herren, ein paar Minuten nur; es scheint, daß man mir eine Mittheilung von einiger Wichtigkeit zu machen hat. Ich bin im Augenblick wieder hier. Darf ich bitten?“
„Die Mittheilung, die ich zu machen habe, ist in der That von einiger Wichtigkeit, und dürfte sich ohne Zeugen am besten anhören. Es wäre also nur in Deinem Interesse, wenn ich Dich ersuche, dafür Sorge zu tragen, daß wir ungestört bleiben.“
„Hast Du Dir auch überlegt, daß ich jetzt mehr von Dir zu fordern habe, als Du von mir?“
„Ich glaube Alles überlegt zu haben; und das ist wohl mehr, als Du von Dir sagen kannst.“
Sie standen etwas von den Andern entfernt, leise sprechend, und blickten einander in die Augen.
„So komm’!“ sagte Brandow.
„Wer war denn das?“ fragte einer von den Herren, deren eigenhändige Namenszüge Brandow’s Wettbuch zierten.
„Famoser Kerl!“ schrie Gustav von Plüggen. „Alter Schulcamerad von mir; berühmter Maler; gestern beim Präsidenten den ganzen Abend von ihm gesprochen! Protégé vom Fürsten Prora! famoser Kerl! werde mich auch von ihm malen lassen. In England läßt sich jeder Mann von Stande mit allen Lieblingspferden und ‑Hunden und der ganzen übrigen Familie malen. In England gewesen, Kummerrow? famoses Land! Weiber, Pferde, Schafe – Alles famos!“
Sie waren schweigend über den Flur gegangen und schweigend in eines der Zimmer getreten, welche im Clubhause für Privatzwecke der Mitglieder immer reservirt waren und das der Diener auf einen Wink Brandow’s den beiden Herren geöffnet hatte. Eine große Hängelampe, die über einem mit grünem Sammet bedeckten runden Tische hing, erhellte schicklich das Gemach, ein paar Sammet-Fauteuils waren an den Tisch gerückt.
„Ich nehme an, daß wir hier vollkommen ungestört sind,“ sagte Gotthold.
„Und ich, daß die Komödie nicht lange dauert; Du sahst, ich war sehr beschäftigt.“
Brandow hatte, wie mit ungeduldiger Hand, einen der Stühle vom Tische gerückt und sich hineingeworfen; aber es war kein Zufall, daß sein Gesicht dabei in den vollen Schatten gekommen war, während das Licht hell in das Gesicht Gotthold’s fiel.
„Sehr beschäftigt,“ wiederholte Brandow, mit den Fingern auf die Lehne des Stuhles klopfend, „zu beschäftigt, um die Rechenschaft, die ich von Dir – von Euch ist wohl besser gesagt – zu fordern habe, nicht bis morgen verschieben zu müssen. Und wenn Du etwa die – die Stirn haben solltest, mich einschüchtern zu wollen, indem Du das Prävenire spielst, so sage ich Dir: hüte Dich! hütet Euch! Ihr kennt mich doch nur erst halb; meine Geduld ist nicht unerschöpflich, und, wie gern ich auch einen Scandal vermeiden würde und während dieser Tage, offen gestanden, gern vermieden hätte – wenn Ihr mich drängt und es sein muß –, ich bin bereit – jeden Augenblick bereit!“
Brandow hatte in lautem, drohendem Tone gesprochen; aber seine Absicht war offenbar verfehlt. Gotthold’s Auge ruhte so groß auf ihm – mit einem Blicke der Verachtung, wie es ihm vorkam –, er konnte den Blick nicht ertragen und brach plötzlich, im Innern erschrocken, ab, als Gotthold jetzt einen Brief, den er schon vorhin aus der Tasche genommen, ruhig auseinanderschlug.
„Willst Du, bevor Du weiter sprichst, diesen Brief lesen?“
Brandow hatte nicht den Muth, Nein zu sagen.
„Von dem edlen Wollnow, wie mir scheint, an mich über Dich?“
„Von Wollnow, ja, aber an mich und über Dich.“
„Ueber mich, das ist drollig, und noch dazu passabel lang.“
Er hatte ein Gähnen zu fingiren gesucht, während er die Blätter durch die Finger laufen ließ; aber er hatte kaum einen Blick hineingeworfen und die ersten Zeilen gelesen, als er, einem Rasenden gleich, in die Höhe fuhr und, den Brief auf den Tisch schleudernd, rief:
„Das ist infam! Das fordert Blut! Ich will nichts weiter sehen, ich will nichts weiter hören! Ich will nicht das geduldige Opfer einer gemeinen Intrigue sein. Wir werden uns sprechen, mein Herr, wir werden uns sprechen.“
Er irrte rathlos durch das Zimmer, Gotthold war sitzen geblieben.
„Du hast eine Minute Zeit, Dich zu entscheiden, ob Du den Brief lesen willst, oder ob ich ihn dem Grafen Zarrentin bringen soll, ehe ich weitere Schritte thue.“
Brandow blieb stehen. „Also wirklich ein Scandal! Ich dachte mir’s ja. Nun, es verlohnt sich vielleicht der Mühe, zu sehen, wie Ihr es angefangen!“
Er hatte sich wieder in seinen Stuhl geworfen, den Brief ergriffen und weiter zu lesen begonnen mit der Miene eines Mannes, der einen lästigen Bittsteller möglichst schnell abzufertigen wünscht. Ein höhnisches Lächeln spielte um seine Lippen. „Ich habe mich geirrt,“ murmelte er, als ob er mit sich selbst spräche, „das ist einfach lächerlich, complet lächerlich.“
Aber seine Lippen waren blaß; das Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen, und seine Hände zitterten stärker und stärker. Er hatte im Anfange sehr schnell gelesen; aber je weiter er kam, desto länger verweilte er bei jedem einzelnen Satze, ja Worte. Manches schien er zwei- und dreimal zu wägen und zu prüfen; und er war offenbar mit der Lectüre längst zu Ende, als er noch immer zu lesen schien. Endlich hatte sich aus dem fürchterlichen Aufruhr seiner Seele ein Entschluß losgerungen:
„Du wolltest diesen – Brief unserm Vorsitzenden geben,“ sagte er, die Blätter sorgsam zusammenfaltend; „ich habe nichts dagegen; hier! aber unter einer Bedingung.“
Er zog die Hand, mit welcher er Gotthold den Brief hinhielt, wieder zurück.
„Unter der Bedingung, daß ich vorher eine Abschrift von diesem kostbaren Documente nehmen darf, um eine Unterlage für die Verleumdungsklage zu haben, die ich gegen den edlen Schreiber und den zartsinnigen Empfänger dieses Machwerkes anstrengen werde. Einem so überaus billigen Manne, wie Dir, der seine Freunde[WS 1] auf so lächerliche Indicien hin der schwersten Verbrechen zu bezichtigen sich nicht entblödet, wird das ja wohl recht sein.“
„Vollkommen recht,“ erwiderte Gotthold; „Du kannst auch das Original behalten. Der Brief sollte Dich nur mit gewissen Dingen bekannt machen, die mündlich zu referiren mich anwiderte; und so hat er seinen Zweck gethan.“
„Und diese interessante Unterredung[WS 2] wäre zu Ende,“ sagte Brandow, sich erhebend; „ich meine für heute; morgen werden [818] wir uns weiter sprechen; nur dürfte sich dann das Blatt gewendet haben. Wessen ich Dich verklage, sind keine schändlichen Erfindungen, wie die famose Cassenscheingeschichte, oder albernen Hirngespinnste, wie die schauderhafte Ermordung des Hinrich, die Ihr ja wohl mit allen grausigen Details auf den nächsten Jahrmarkt bringen werdet, sondern Thatsachen, positive Thatsachen, – ein herrlicher Commentar zu dem Liede vom braven Manne, der die ihm gebotene Gastfreundschaft zu nichts Besserem zu benutzen weiß, als – wozu Du sie benutzt hast. Auf morgen also!“
Brandow schritt mit einer Handbewegung, die verächtlich sein sollte, nach der Thür; Gotthold trat ihm in den Weg.
„Du wirst Dich wohl noch etwas gedulden, wenn ich Dir sage, daß es sich jetzt und hier um Dein Schicksal für die Zukunft handelt.“
„Um mein Schicksal? Bist Du toll?“
„Entscheide selbst! Hinrich Scheel ist seit gestern Abend von mir in Wiessow, wo er sich versteckt gehalten, aufgefunden, in diesem Augenblicke in meiner Wohnung unter der Bewachung der beiden Brüder Prebrow.“
Brandow taumelte, als hätte ihn eine Kugel getroffen, zurück, bis seine Hand die Lehne des Stuhles gefaßt hatte. So blieb er stehen, Gotthold mit weit aufgerissenen Augen anstierend.
„Hinrich Scheel!“ stammelte er.
„Den Du für immer vom Schauplatz verschwunden wähntest, trotzdem Du leichtsinnig oder knickerig genug gewesen warst, den Helfershelfer nicht einmal gebührend abzulohnen. Jetzt muß ich ihn bewachen lassen, nicht um ihn an der Flucht zu verhindern – er will gar nicht fliehen; er will jede Strafe erdulden, wenn Der, für den er gethan, was er gethan, nur nicht der Strafe entgeht – ich lasse ihn bewachen, einfach, um ihn zu verhindern, daß er diese Strafe in seine eigenen harten, grausamen Hände nimmt.“
Brandow war in dem Stuhl zusammengesunken; sein frecher Muth, seine elastische Kraft schienen ihn gänzlich verlassen zu haben, er sah um zehn Jahre älter aus; aber plötzlich schnellte er wieder empor.
„Pah!“ rief er; „und damit denkt Ihr mich in’s Bockshorn zu jagen! Wenn sich der Schuft, der Hinrich, hat fangen lassen, um so schlimmer für ihn! Was kann es mir schaden? Mein Wort wird hoffentlich nicht weniger schwer wiegen, als das eines schurkischen Knechtes, der so offenbar von meinen Feinden bestochen ist! Wer sich rein weiß von Schuld, legt sich nicht auf’s Bestechen; oder denkt Ihr wirklich, irgend Jemand glauben zu machen, ich hätte den Burschen, könnte mich nach irgend einer Seite auch nur ein Verdacht treffen, laufen lassen, ohne mich seiner Verschwiegenheit so oder so zu versichern? Das ist ja der bare Unsinn! oder werdet Ihr sagen: er hat ihm nichts gegeben, damit, würde er gefangen, Niemand fragen könnte: von wem und wofür hast Du das Geld bekommen? Macht’s unter Euch aus! und macht, was Ihr wollt – ein ehrlicher Mann wie ich lacht Eurer Drohungen.“
Er ging wieder nach der Thür, aber sein Schritt wurde langsamer, je näher er derselben kam; und bevor er sie noch erreicht, wandte er sich auf den Hacken um und kam gerade auf Gotthold zu, ein Lächeln auf den Lippen.
„Lassen wir die tragischen Masken fallen, Gotthold, und sprechen wir als vernünftige Leute: welches sind Deine Bedingungen?“
„Die erste, daß Du Dich unbedingt zu Dem bekennst, dessen Dich der Wollnow’sche Brief beschuldigt. Du weißt, was ich meine.“
„Nicht ganz. Das Bekenntniß gilt nur für Dich?“
„Wenn Du Dich den übrigen Bedingungen fügst, ja.“
„Gut; ich habe also gethan, was ich gethan haben soll. Was nun weiter?“
„Was sich dann von selbst versteht. Die Tochter einer ehrenwerthen Familie kann nicht die Gattin eines Verbrechers und soll nicht die eines Zuchthäuslers sein. Das heißt: Du giebst Deine Zustimmung unverweigerlich zu Allem, was wir – ich meine Herr Bogislaf Wenhof, Wollnow und ich – Dir behufs der Scheidung vorschreiben werden.“
„Und meine Tochter?“
„Beantworte Dir die Frage selbst.“
„Ich liebe das Kind.“
„Du lügst, Brandow; und wäre es möglich, wie es unmöglich ist, Du hättest Dir doch das Recht, sie zu behalten, ja nur in irgend einer Verbindung mit ihr zu bleiben, für immer verscherzt. Ich hoffe, daß sie vergessen wird, daß Du ihr Vater bist.“
„Der ich doch immer bleiben werde, und, mon cher, dies für Dich zweifellos ungemein wohlthuende Bewußtsein soll mein Hochzeitsgeschenk sein; oder wolltet Ihr etwa das so herrlich Begonnene nicht herrlich zu Ende führen?“
„Es handelt sich um Dein Schicksal, nicht um meines.“
„Die mir doch in einer passabel nahen Relation zu stehen scheinen. Oder wolltest Du mir einbilden, daß Du dies Alles um Gotteswillen thust? Pah! lieber Freund, ich dächte, wir kennten uns nicht seit gestern und unsere Wege kreuzen sich hier und jetzt nicht zum ersten Male. Ich habe Dir, Du hast mir im Wege gestanden schon vor den Schulbänken, auf dem Spielplatz, in der Tanzstunde und überall; ich habe Dich aus dem Sattel gehoben damals und Dir einen Denkzettel gegeben, daß Du Dich Dein Lebenlang daran erinnern könntest. Nun ja, Du hast es redlich gethan und dies ist die Revanchepartie. Ich habe sie – durch eine einzige dumme Karte – gleichviel! ich habe sie verloren: ich bin ein zu alter Spieler, um das nicht zu begreifen und mich in mein Schicksal zu finden; aber das Spiel ist noch nicht zu Ende; wir werden uns noch einmal treffen, und wer zuletzt lacht, lacht am besten.“
Die Augen des Mannes sprühten Blitze tödtlichen Hasses, während er mit seinen raschen Schritten an Gotthold vorüber das Gemach auf und nieder maß. Seine spitzen Zähne nagten geschäftig an den blassen Lippen; er zog und zerrte an den Enden seines langen blonden Schnurrbarts, als er jetzt wieder stehen blieb:
„Nur noch eine Frage: Werde ich auch für die Aussteuer zu sorgen haben?“
„Ich weiß nicht, was Du darunter verstehst; ich weiß nur, daß wir die Absicht haben, Dich Deinem Schicksal zu überlassen, sobald Du Deine Schuld – äußerlich wenigstens – abgetragen und Deinen Raub zurückerstattet hast. Du hast morgen eine Chance, es auf einmal zu können. Es ist Spielergeld, aber das geht uns nicht an.“
„Und wenn ich nicht gewinne?“
„So wirst Du arbeiten. Dollan ist Dir auf weitere fünf Jahre in Pacht gegeben; Du kannst, wenn Du willst – und Du wirst wollen müssen – in weniger als der Hälfte der Zeit die Zehntausend abtragen, die ich Dir – es ist beinahe der letzte Rest meines Vermögens – vorschießen werde. Auf jeden Fall wird das Paket morgen Abend auf der Dollaner Haide – gefunden und ist übermorgen in der Klostercasse.“
„Wie Ihr für Euch besorgt seid!“
„Auch für Dich. Wenn wir Dich aus der Heimath trieben, wie Du es verdienst – denn Du bist nicht werth, daß deutsche Männer Herr zu Dir sagen – würdest Du voraussichtlich in kürzester Frist elend zu Grunde gehen. Das will ich nicht, um Deines Kindes willen nicht.“
Brandow wollte in ein höhnisches Gelächter ausbrechen, aber Gotthold’s letzte Worte und der Ton, in welchem er sie gesprochen, schlossen ihm den Mund.
„Du sagtest vorhin, Du liebtest Dein Kind, Brandow, es war eine Lüge; hättest Du es gethan, auch nur ein wenig, Du würdest um seinethalben Dich mindestens vom Verbrechen rein gehalten haben. Du hast niemals Jemand geliebt, außer Dich selbst, mit einer durchaus gemeinen, eitlen, egoistischen Liebe, in der auch keine Spur von Achtung vor dem Heiligen war, das sonst auch rohere Menschen in sich und an sich verehren. Dennoch – obgleich dies meine ehrliche Ansicht ist – ich bin ein Mensch und kann irren: vielleicht rührt es Dich doch, wenn Du hörst, daß Dein Kind krank, sehr krank ist, daß wir ihm möglicherweise nur noch wenige Tage sein junges holdes Leben fristen werden. Es ist entsetzlich, daß ich es sagen muß, aber ich kann Dir die Last nicht erleichtern, die Du auf Dein Gewissen geladen: wenn es stirbt, so hast Du es getödtet.“
„Ich?“ stammelte Brandow; „ich?“
Die Kunst bleibt Dunst, und wer sie nicht durchdacht,
Der darf sich keinen Künstler nennen.
Es war während des Winterhalbjahres 1839 bis 1840, als in einem der Gewandhausconcerte zu Leipzig zum ersten Male die Concertouvertüre eines jungen achtundzwanzigjährigen Componisten aufgeführt wurde. Allgemeiner Beifall ward dem Werke, damals ein Erfolg, der nicht zu unterschätzen war, denn wer einen solchen errang, dem war der Paß für die ganze gebildete musikalische Welt des Continents ausgestellt. Der glückliche Empfänger dieses Passes war Julius Rietz, zu jener Zeit städtischer Musikdirector in Düsseldorf. Robert Schumann schrieb nach der Aufführung in der Leipziger neuen Zeitschrift folgende Beurtheilung von höchster Wichtigkeit für den jungen Componisten:
„Sehr bedeutend schien mir die Ouvertüre, eine durch und durch deutsche, kunstreiche, im Detail noch etwas überladene Arbeit, die nach einmaligem Anhören kaum ganz zu ergründen war; dem Charakter nach eine Orchesternovelle, mit der man eben so gut ein Shakespeare’sches Lust- oder Schauspiel eröffnen könnte. Der Titel (Concertouvertüre) besagte nicht, ob sie zu einem besonderen Sujet gedacht sei; wie gesagt, wir hätten Verdacht auf Shakespeare. Möchte sie doch bald veröffentlicht werden.“
Doch nicht Schumann allein brach für den deutschen Kunstnovizen eine Lanze. Leipzig war damals in der beneidenswerthen Lage, zwei Musiker von Gottes Gnaden zu besitzen, welche der deutschen Nation wie der ganzen gebildeten Welt die herrlichsten Blüthen deutschen Fleißes und deutschen Geisteslebens boten: mit Schumann vereint baute damals Felix Mendelssohn-Bartholdy am herrlichen Baue des wahren echten Kunsttempels. Der liebenswürdige [820] Meister war dem jungen Düsseldorfer Musikdirector schon längst ein wahrer Freund und Schützer geworden. Am 22. April 1841 dirigirte Mendelssohn im Gewandhausconcert zu Leipzig seines jungen Freundes Ouverture zu „Hero und Leander“ und dessen seitdem so berühmt und beliebt gewordenen „Schlachtgesang“. Am andern Tage schon schrieb er an Rietz nach Düsseldorf: „Gestern haben wir Ihre Ouverture zu ‚Hero und Leander‘ und den ‚Schlachtgesang‘ beide mit allgemeinem, lautem Beifall, mit einstimmiger Anerkennung der Musiker und des Publicums aufgeführt. – Ich habe sehr große Freude in allen Proben und der Aufführung daran gehabt; es ist etwas so echt Künstlerisches, so echt Musikalisches in Ihren Orchesterwerken, daß mir beim ersten Tact wohlig wird und daß mich’s fesselt und interessirt bis zum letzten.“
Mendelssohn wird damals nicht daran gedacht haben, daß Der, an welchen er diesen in seinem weiteren Inhalte nicht minder aufmunternden und belehrenden Brief schrieb, bald an dem Platze stehen sollte, dem er in voller Manneskraft durch den Tod so schnell entrissen werden sollte.
Am 1. October 1848 dirigirte Julius Rietz zum ersten Male das Gewandhausconcert zu Leipzig, nachdem er dorthin schon das Jahr vorher an Stegmayer’s Stelle als Capellmeister am Stadttheater berufen worden war und zur selben Zeit die Leitung der dasigen Singakademie übernommen hatte. Welche Gefühle der Pietät, aber auch männlichen Stolzes mögen den wackern strebsamen Künstler erfüllt haben, als er zum ersten Male an der Stelle stand, welche sein berühmter Meister und Freund fast zehn Jahre lang zum Wohle der Kunst, zum Ruhme Leipzigs eingenommen hatte!
Der Weg bis zu diesem ehrenvollen Ziele war für Julius Rietz nicht immer eben und glatt gewesen. Geboren zu Berlin am 28. December 1812 als jüngerer Sohn des königlich preußischen Kammermusikus Johann Friedrich Rietz, wurde seine früheste musikalische Bildung durch den Vater und den älteren Bruder Eduard gefördert. Letzterer, ein ausgezeichneter Geiger, im Besitze einer universellen Bildung, übte durch diese Eigenschaften sowie durch edelstes, reinstes Kunststreben, durch echten Mannesmuth und festen Charakter den förderndsten Einfluß auf seinen Bruder aus. Sein Andenken wird verklärt durch die sinnige Freundschaft mit Felix Mendelssohn-Bartholdy, der für ihn sein Octett für Streichinstrumente schrieb. Als Eduard Rietz am 23. Januar 1825 gestorben, übertrug Mendelssohn seine Liebe auf Julius und blieb ihm bis zu seinem Tode ein treuer Freund und Beschützer.
Unter den Musikern Berlins nahm sich Zelter des jungen Künstlers an und unterwies ihn in der Theorie; im Violoncellspiel unterrichteten ihn Kammermusikus Schmidt, Bernhard Romberg und kurze Zeit auch Moritz Ganz. Gezwungen durch den frühzeitigen Tod des Vaters (1828), mußte sich Rietz schon im zarten Jünglingsalter nach Erwerb umsehen, und so finden wir ihn denn bereits im sechszehnten Lebensjahre als Violoncellist im Orchester des Königsstädter Theaters angestellt. Bald darauf versuchte er sich zuerst als Componist; seine Musik zu Holtei’s „Lorbeerbaum und Bettelstab“ ward beifällig aufgenommen. Im Jahre 1834 berief ihn Mendelssohn, der damals als städtischer Musikdirector in Düsseldorf lebte, gleichfalls dorthin, um ihn als Musikdirector bei dem von Immermann gegründeten Theater zu unterstützen. Bekanntlich trennte sich Mendelssohn bald von Letzterem, und Rietz übernahm nun die alleinige Leitung der Opern. Nach Mendelssohn’s gänzlichem Weggange von Düsseldorf, welcher im nächsten Jahre, kurz vor Auflösung des Theaters erfolgte, legte auch Rietz seine Stelle nieder (1836) und übernahm in dem jugendlichen Alter von fünfundzwanzig Jahren den Posten als städtischer Musikdirector daselbst. Von da an stieg die Lebenswage des jungen Mannes. Das frische, geistig belebte Künstlerleben in Düsseldorf, die liebenswürdige Leichtlebigkeit des Rheinländers, die sagen- und poesievolle Färbung des herrlichen deutschen Stromgebietes, regte seine Productionskraft ungemein an. In Düsseldorf entstanden jene beiden Ouverturen, welche im Eingang dieser Skizze erwähnt sind, sowie die Lustspiel-Ouverture und viele andere seiner besten Compositionen. In Düsseldorf auch bildete sich in der Leitung der städtischen Concerte und einiger niederrheinischen Musikfeste sein eminentes Directionstalent aus. Daneben trat er auch noch als Violoncellvirtuos auf; man rühmte seinen „vollen kräftigen und elastischen Ton, sein geist- und gemüthvolles, echt künstlerisches Spiel“.
Ungern sah man am Rhein den geistvollen und kunstgebildeten Musiker nach Leipzig ziehen. Dort wußte Rietz bald feste Position in den musikalischen Kreisen zu fassen, nach Mendelssohn’s Vorgange keine gar zu leichte Aufgabe. In den Jahren 1852 und 1853 führte er das Capellmeisteramt am Theater allein fort; das Jahr darauf gab er dasselbe ganz auf und widmete seine Thätigkeit dem Gewandhause und der Singakademie, zugleich als Lehrer der Composition im Conservatorium für Musik wirkend. Auch als solcher erlebte er Freude und Erfolg. Unter seinen Schülern sind zu nennen: Normann, Capellmeister in Stockholm, Levy, Capellmeister in München, Radecke, Musikdirector in Berlin, Desoff, Capellmeister in Wien, Bargiel, Director des Conservatoriums in Rotterdam, Nicolai, Director des Conservatoriums im Haag, Rudorff, Professor an der Hochschule für Musik in Berlin, von Sahr, jetzt in München lebend, Eichberg, Director des Conservatoriums in Boston, Franz von Holstein und viele Andere.
Rietz fand, wie am Rhein, so auch in Leipzig viel Anregung. Frohe Tage verlebte er im Kreise hochgebildeter Kunstgenossen und Freunde. Hauptmann, David, Moscheles, Schleinitz, Petschke, Raimund und Hermann Härtel bildeten einen Kreis, der ihn zu reicher Thätigkeit und frischem Schaffen anfeuerte. 1850 brachte Rietz in Leipzig seine Oper „Der Corsar“ zur Aufführung; 1859 folgte in Weimar die einactige Oper „Georg Neumark und die Gambe“ von Pasqué. Außerdem schrieb er mehrere Ouverturen und Sinfonien, Concertstücke für Violine, Violoncell, Oboe und Clarinette, viele Lieder, Männergesänge etc. Auch seine segensreiche kritische Thätigkeit begann Rietz in Leipzig als Mitglied der Bach- und Händel-Gesellschaften, sowie als Herausgeber von zwölf Sinfonien von Haydn und zwölf Concertarien von Mozart.
Im Februar des Jahres 1860 ward Rietz an Reissiger’s Stelle als Hofcapellmeister nach Dresden berufen, wo er noch mit ungeschwächter Künstlerkraft an der Spitze der königlichen Capelle und des Hoftheaters wirkt. Seit zehn Jahren ist er auch artistischer Director des unter dem Protectorate des Kronprinzen Albert stehenden Conservatoriums für Musik.
Ein angestrengter amtlicher Wirkungskreis und eine bewundernswerth fleißige kritische Thätigkeit hat ihn in Dresden nicht zu so reicher Production kommen lassen wie in Düsseldorf und Leipzig. Einige sehr gelungene Gelegenheitscompositionen abgerechnet, sind besonders zu erwähnen eine große Messe in F-dur, ein Te Deum für Männerchor und Blechinstrumente zum Dresdener Sängerfeste 1865 und eine Hymne „Das große deutsche Vaterland“ von J. Pabst, für Baßsolo componirt während der Auferstehung des deutschen Volkes im Jahre 1870. In neuerer Zeit hat der Meister bei etwas mäßiger gewordener Amtsthätigkeit wieder mehr Muße gefunden und Mancherlei geschaffen, so eine Sonate für Pianoforte und Violine, eine desgleichen für Pianoforte und Flöte, eine Festouverture zur goldenen Hochzeitsfeier des sächsischen Königspaares und vieles Andere. Zum großen Theil ward der treffliche Künstler in seiner dienstfreien Zeit von der kritischen Redaction der Beethoven-Ausgabe (neun Sinfonien, zehn Ouverturen, sowie alle übrigen Orchesterwerke und Gesangssachen mit Orchester) und die Partitur-Ausgabe der Mozart’schen Opern bei Breitkopf und Härtel in Leipzig in Anspruch genommen. Es sind dies unvergängliche Denkmäler deutschen Fleißes, deutscher Pietät und einer umfassenden musikalisch-philologischen Bildung. Otto Jahn hatte Recht, als er von seinem Freunde Rietz sagte, „daß in ihm ein Philolog verloren gegangen ist, was sehr zu bedauern sein würde, wenn er nicht Musiker geworden wäre.“
Dem theilnehmenden Leser dieser Skizze wird die künstlerische Thätigkeit Rietz’s in fünffacher Art klar geworden sein: der Meister füllte würdig seinen Platz als tüchtiger Violoncellist aus, er schenkte der musikalischen Welt eine Reihe trefflicher Compositionen und ermöglichte, im Besitze einer umfassenden musikalisch-philologischen Bildung, seinen Zeitgenossen die genaue, von allen Schlacken freigewordene Kenntniß vieler Meisterwerke der classischen Musikperiode, er wirkte und wirkt noch segensvoll als Lehrer, in unübertrefflicher Weise aber als Dirigent. Es hieße Eulen nach Athen tragen, in letzterer Beziehung noch Worte zu verlieren, die Musikkreise Düsseldorfs, Aachens, Leipzigs und Dresdens [821] mögen hierfür Zeugniß ablegen. Als Componist erscheint Rietz als Schüler und Jünger Mendelssohn’s, ohne sich jedoch in erfindungslose, sclavische Nachahmung zu verlieren. Im Besitze vollständiger Beherrschung aller Formen- und Kunstmittel, wußte er aus jeder seiner bedeutenderen Compositionen ein Product einer durchempfundenen, selbsterlebten Seelenstimmung zu machen, so daß dieselben deshalb sämmtlich als wahr und tiefgefühlt erscheinen. Viele seiner Schöpfungen sind völlig populär geworden, worunter die Concert-Ouverturen, die Lustspiel-Ouverturen, der „Schlachtgesang“, die „Dithyrambe“ Schiller’s, das „Lied vom Wein“ und andere zu rechnen sind.
Rietz steht mit vollem Mannes- und Künstlerbewußtsein auf „classischem Boden“, ohne jedoch in starrer Abgeschlossenheit sich den Schöpfungen der Gegenwart zu verschließen; dafür sprechen die Programme der Concerte, welche er in Düsseldorf, Leipzig und Dresden dirigirte; dafür spricht seine Thätigkeit als Opern-Dirigent, insbesondere in der sächsischen Residenz, wo er Wagner’s „Tannhäuser“, „Fliegenden Holländer“ und „Die Meistersinger“ mit gewissenhaftester Objectivität und entschiedenem Interesse leitet. Charakteristisch bezeichnet das Ehren-Doctordiplom der Universität Leipzig ihn als Mann, „dessen Streben in der Theorie wie in der Praxis, im selbstständigen Schaffen wie im Leiten der Ausführung fremder Tonwerke unverrückt dem Hohen und Schönen zugewandt ist und sich dem Echten in jeder Kunst ebenbürtige Ziele setzt“.
Der Meister erschien bis jetzt als weißer Rabe unter seinen Capellmeistercollegen: er hatte keinen Orden. Leicht wäre es ihm gewesen, durch Widmung seiner zahlreichen Compositionen an fürstliche Personen ein oder das andere Bändchen zu erlangen; ihm fehlte dazu alles und jedes Zeug. Der sonderliche Mann hat die Marotte, seine Compositionen nur guten Freunden zu widmen. Erst in neuester Zeit hat ihm König Johann bei Gelegenheit seiner goldenen Hochzeitsfeier das Ritterkreuz des Albrechtsordens verliehen.
Daß Rietz niemals um Fürstengunst gebuhlt hat, ist ein Umstand, der ganz von selber von dem Künstler Rietz auf den Menschen Rietz hinüberweist. Hut ab vor ihm, in letzterer Beziehung nicht weniger als in ersterer! Dort wie hier sind Lauterheit, Biederhaftigkeit und Ueberzeugungstreue seine vornehmlichsten Charakteristica. Was Rietz im Leben wie in der Kunst einmal für wahr und gut erkannt hat, das vertritt er mit Mannhaftigkeit und edlem Eifer, und wiederum was ihm im Lichte der Verwerflichkeit und Schädlichkeit erscheint, das hat in ihm den unerbittlichsten Gegner, einen Gegner, der vom feigen Temporisiren und Vermitteln nichts wissen will und der von Scheingründen, seien diese auch noch so blendend aufgetischt, sich nicht beirren läßt. Daß er ferner auch durch den Köder materieller Vortheile sich nicht zum Abweichen von der Bahn seiner Ueberzeugung hat verlocken lassen, ist nach allem Vorhergesagten eigentlich selbstverständlich, wie auch dafür sein ganzes Leben und Wirken den schlagendsten Beweis giebt. Ist nun somit Rietz ein im wahrsten Sinne des Wortes nobler Charakter, so verbindet sich auch mit dieser Eigenschaft die einer liebenswürdigen Persönlichkeit. Aber die Liebenswürdigkeit liegt nicht gleich auf der Oberfläche; sie will zu ihrer Entfaltung erst den richtigen Boden haben – den der Gleichartigkeit der Gesinnung und der längern Bekanntschaft. Rietz muß sich erst für Jemanden in irgend einer Weise interessiren, oder dieser Jemand muß mit dem Geistes- und Gefühlsleben Rietz’s Verwandtes offenbaren; erst dann thaut er gewissermaßen auf und verscheucht das Vorurtheil, das man anfänglich vielleicht gegen ihn als Schroffen und Unzugänglichen haben mochte, erst dann spendet er mit freigebigster Hand aus dem reichen Schatze seines Wissens, seiner Erfahrungen und – seines Witzes. Namentlich kennzeichnet letzterer ihn als echtes Berliner Kind, und zwar als ein Berliner Kind, das trotz des langjährigen Fernseins von der heimathlichen Brutstätte des Witzes und Sarkasmus an Schärfe und Schlagfertigkeit keine Einbuße erlitten hat.
Was man als Kind schlechtweg Lesebücher nennt, darin haben wir die poetische Literatur der Jugend wiedererkannt. Wir werfen nun zunächst einen Blick auf ihre wissenschaftliche Literatur, also auf die Lehrbücher, und beginnen hier mit der Geschichte. Eine genaue Detailkenntniß, einen klaren Einblick in den ursachlichen Zusammenhang der Ereignisse, eine plastische Anschauung von Personen und Sachen wird man, wie die menschliche Fassungskraft einmal beschaffen ist, immer nur von einzelnen Abschnitten der Geschichte sich aneignen können. Diese einfache Wahrheit hat sich mehr und mehr auch beim Geschichtsunterrichte der Jugend Geltung verschafft. Auch die Jugend schon soll aus dem großen Nebelgrau, als welches ihr die Weltgeschichte zunächst erscheinen muß, wenigstens eine Anzahl starkbeleuchteter Bergkuppen hervorragen sehen; auch sie soll nicht mit einem fleischlosen Gerippe von Namen und Zahlen abgespeist werden, sondern sie soll sich zuerst in eine Reihe besonders glänzender und hervorragender Partieen der Geschichte völlig hineinleben und darin heimisch werden, und später erst sollen zwischen diese farbenglänzenden Bilder die mangelnden Bindeglieder eingeschoben werden, die immerhin dann matter gezeichnet sein mögen. Dies erreicht man aber nicht, wie man sich gewöhnlich einbildet, indem man die Vorgänge der Geschichte lediglich um hervorragende Personen gruppirt und so die ganze Darstellung in künstlichster Weise und oft mit größter Mühe und Noth in die biographische Form hineinzwängt, sondern dadurch, daß man auch die Jugend schon geraden Weges an die sogenannten Geschichtsquellen hinanführt. So frisch und anschaulich, mit einer solchen Fülle belebenden Details zu erzählen, so mitten in die Dinge hineinzuversetzen, daß man sie Schritt für Schritt mit zu durchleben meint, das vermag nimmermehr die straff concentrirte Biographie, noch weniger ein systematisches Lehrbuch der Geschichte, dessen Aufgabe es ist, eine abgerundete, zusammenfassende, in allen Partien möglichst sorgfältig ausgeführte Darstellung zu geben, sondern einzig und allein die Geschichtsquelle. Nicht den modernen Biographen oder Historiker darf die Jugend erzählen hören, sondern jene Alten, die die Ereignisse selbst mit durchlebt und sie in schlichter, treuherziger, naiver Weise mit behaglichster Ausführlichkeit aufgezeichnet haben.
Auf diesem Felde hat sich wieder die Buchhandlung des Halle’schen Waisenhauses Verdienste erworben. Dort erscheinen schon seit einer Reihe von Jahren gute Bearbeitungen von Quellenschriftstellern zur Geschichte des classischen (d. h. des griechischen und römischen) Alterthums, und auch mit der deutschen Geschichte ist wenigstens ein guter Anfang gemacht, bei dem es hoffentlich nicht bleiben wird. Da liegt die Geschichte Karl’s des Großen vor, nach Einhardt, dem Mönch von St. Gallen, wiedererzählt, die Geschichte Heinrich’s des „Städtegründers“ und Otto’s des Großen nach Widukind von Corvey und manches Andere. Jede Buchhandlung kann ein Verzeichniß der bisher erschienenen Bände, deren Preis je nach ihrer Stärke sehr verschieden ist, zur Auswahl vorlegen; daher können wir uns auf diese Andeutungen beschränken. Natürlich ist auch außerhalb des genannten Verlags mancherlei Gutes in dieser Richtung geleistet worden; wir nennen nur noch für die deutsche Geschichte ein viel zu wenig bekanntes Buch und wieder ein solches, das die Eltern wahrscheinlich mit Interesse mitlesen werden, wenn es die Kinder nur erst besitzen, nämlich O. Klopp’s „Geschichten charakteristischer Züge und Sagen der deutschen Volksstämme aus der Zeit der Völkerwanderung“ (Weidmann, 21/4 Thlr.).
Es versteht sich von selbst, daß es mit diesen Geschichtsdarstellungen an der Hand der Quellen nicht abgethan ist. Zusammenfassende systematische Lehrbücher müssen sich daran anschließen. Und da wüßten wir denn für die alte Geschichte nichts besseres als Jäger’s „Griechische“ und „Römische Geschichte“ (Bertelsmann, 2 Thlr. 8 Sgr. und 2 Thlr. 4 Sgr.) und für die vaterländische Geschichte ein prächtiges Buch, das wir nicht
[822] warm genug empfehlen können, David Müller’s „Geschichte des deutschen Volkes“ (Vahlen, 11/3 Thlr.). Es giebt wenigstens keine populäre deutsche Geschichte, die auf so knappem Raume eine so reiche Menge namentlich auch culturhistorischen Details in so klarer und lichtvoller Gruppirung und so frischer Darstellung enthielte und dabei von so gesunden politischen Anschauungen über den Gang unserer nationalen Entwickelung durchdrungen wäre, wie das Buch von David Müller. Zur Einführung in die allgemeine Weltgeschichte eignen sich die „Geschichtserzählungen“ von Stacke, namentlich die Darstellungen aus dem Mittelalter, der neuen und der neuesten Geschichte (Stalling, 15, 25 Sgr. und 1 Thlr.). Außerdem sind empfehlenswerth die „Charakterbilder aus der Weltgeschichte“ von Grube (Brandstetter, 3 Thlr.). Von brauchbaren Einzeldarstellungen nennen wir Hoffmann, „Columbus, Cortez und Pizarro“ (Trewendt, 21/4 Thlr.); Weidinger, „Friedrich der Große“ (Teubner, 1 Thlr.); Reiser, „Deutschlands Schmach und Ehre“ (Koch, 1/2 Thlr.).
Nächst der Geschichte wollen wir für die Geographie und die Naturwissenschaften einige empfehlenswerthe Bücher bezeichnen, welche den Unterricht der Schule in aller nur wünschenswerthen Weise fördern und beleben können. Eine gute Ergänzung jedes geographischen Unterrichts werden die „Geographischen Charakterbilder“ von Grube abgeben (Brandstetter, 3 Thlr. 121/2 Sgr.). In den Naturwissenschaften empfehlen wir vor Allem zur anregenden Anschauung für Kleinere die Zonenbilder von Leutemann (Thienemann, 2 Thlr.). Für die Naturbeschreibung schlagen wir vor: Wagner’s „Naturgeschichte“ (Thienemann, 1 Thlr.) oder Martin’s „Naturgeschichte“ (Schmidt und Spring, 11/2 Thlr.), für Wohlhabendere die reichhaltige und gut illustrirte große „Naturgeschichte“ von Rebau (Thienemann, 4 Thlr.). Insectensammlern wird man eine Freude machen mit Rebau’s „Käferbüchlein“ (Fleischhauer und Sp., 1 Thlr.) oder Hermann’s „Schmetterlingsjäger“ (Gräbner, 11/2 Thlr.), und wer’s bezahlen kann, der kaufe das prachtvolle „Schmetterlingsbuch“ von Berge (Thienemann 53/5 Thlr.). Für Reifere empfehlen wir noch Schödler’s „Buch der Natur“ (Vieweg und Sohn, 23/4 Thlr.); Stöckhardt’s „Schule der Chemie“ (ebend., 2 Thlr.); Weinhold’s „Vorschule der Experimentalphysik“ (Quandt u. Händel, 31/3 Thlr.); Benthin’s „Lehrbuch der Sternkunde“ (E. Fleischer, 22/3 Thlr.) und ganz besonders auch die bis jetzt in neun Bänden vorliegende „Naturwissenschaftliche Volksbibliothek“ (Oldenb., à Bd. 24 Sgr.).
Haben wir die Lesebücher mit dem vornehmen, aber durchaus zutreffende Namen der poetischen Literatur der Jugend bezeichnet, so ist es nun auch nicht schwer zu errathen, wie es gemeint war, wenn wir sagten, ein Theil der Jugendliteratur bewege sich auf dem Gebiete der bildenden Kunst: es sind die Bilderbücher! Fast alle Jugendschriften sind mehr oder weniger Bilderbücher. Es giebt nur wenige, die, wie die Halle’sche Jugendbibliothek, so enthaltsam sind, auf jeden bildnerischen Schmuck zu verzichten. Wir möchten diese Enthaltsamkeit auch keineswegs als einen Vorzug hinstellen. Gute Illustrationen sind in jedem Buche willkommen, und in Jugendschriften doppelt. Ohne Anschauung steht die kindliche Einbildungskraft entweder rathlos da, oder sie verliert sich in die wunderlichsten Irrwege. Ein großer Theil der von uns genannten Bücher ist denn auch mit Abbildungen versehen, bald mehr, bald weniger guten. Mit diesen haben wir es aber hier nicht zu thun, sondern mit solchen Büchern, die weiter nichts sind und sein wollen als „Bilderbücher“.
Da stehen wir nun freilich vor dem bösesten Capitel der ganzen Jugendliteratur. In keinem Zweige des Buchhandels wird eine solche Unmasse des schofelsten Zeuges hergestellt, als unter den Bilderbüchern. Den meisten thut man eine viel zu große Ehre an, wenn man sie überhaupt noch zu den literarischen Erzeugnissen zählt. Sie werden genau so fabricirt und dutzend- oder hundertweise in Schachteln verpackt und versandt wie die Spielwaaren; in den Spielwaarenläden sind sie auch zu haben, so gut wie in den Buchhandlungen. Von dieser ordinären kleinen Dutzend- und Groschenwaare sehen wir gänzlich ab. Wir sehen aber auch ab von der großen und höchst anspruchsvoll auftretenden Kategorie jener trivialen Fabrikate, zu denen „Der Struwwelpeter“, „Der Stapelmatz“, „Der Daumenlutscher“, „Der Suppenkaspar“ und viele ähnliche Producte gehören. Wenn Bilderbücher außer der Anschauung, die sie gewähren, noch irgend einen Zweck haben, so kann es doch nur der sein, schon in der Kindesseele den Sinn für Schönheit zu wecken. Das wird aber doch Niemand auf dem Wege erreichen wollen, daß er, mit einer Art Abschreckungstheorie, dem Kinde das absolut Häßliche und Gemeine vorführt.
Was die technische Ausführung der Bilder betrifft, so rathen wir vor Allem zur größten Vorsicht bei colorirten Bilderbüchern. Man weiß ja, was es heißt, dieses „Coloriren“. Die einfachste Lithographie, der schlichteste Holzschnitt ist künstlerisch werthvoller und für das Kindesauge bildender, als alle jene grobsinnliche Klexerei, alle jene auffälligen, schreienden und unvermittelten Farben, wie man sie in unseren Bilderbüchern findet. Nur bei Bildern für das ganz kleine Volk würden wir ein Auge zudrücken; hier kann die Farbe vielleicht im Anfange das Unterscheidungsvermögen etwas unterstützen.
Sehen wir uns aber unter den Holzschnitten wiederum gleich nach dem Besten um, so bleiben wir vor zwei Namen stehen: O. Pletsch und P. Konewka. Diese beiden Künstler haben im letzten Jahrzehnt der deutschen Kinderwelt eine Reihe der köstlichsten Bilderbücher bescheert. In den anmuthigen Zeichnungen von Pletsch, wie in den wunderbar lebensvollen Silhouetten Konewka’s ist Alles von tadellosester Correctheit, von reinster und edelster Schönheit. Wir wüßten nichts in der ganzen Jugendliteratur, was wir diesen Schöpfungen an die Seite setzen sollten. Was den Stoff dieser Bilder betrifft, so sind diese liebenswürdigen Meister freilich in derselben Täuschung befangen, wie die meisten unserer Jugendscribenten und Bilderbücherfabrikanten. Was sie geben, sind Genrebilder aus der Kinderwelt. Nun ist das Kind aber schon völlig unempfänglich für das Genre; es verlangt stets etwas Individuelles. Einer Mutter, die mit ihren Kleinen die Bilder von Pletsch durchblättert, bleibt daher gar nichts weiter übrig, als alle Gestalten zu individualisiren, wenn sie das Interesse der Kinder dafür erwecken will: Der kleine Bursche da mit dem papiernen Dreimaster, das ist „Fritz“, und der freundliche Herr im Schlafrock und im Käppchen, das ist „der Onkel Ludwig“. Ebensowenig interessirt sich aber das Kind für die Kinderwelt. Wir haben das schon im vorigen Artikel auseinandergesetzt und brauchen es hier nicht zu wiederholen. R. Reichenau hat in seinem Buche „Aus unseren vier Wänden“ äußerst poesievolle und lebenswahre Bilder aus der Kinderwelt geschildert, R. Schumann in seinen „Kinderscenen“ dieselbe Kinderwelt in der duftigsten und poetischsten Weise in Musik gesetzt; aber welche Mutter oder welcher Lehrer wird so thöricht sein, Kindern Reichenau zu lesen zu geben oder Schumann auf dem Clavier spielen zu lassen? Nun, Pletsch und Konewka haben das gezeichnet, was jene Beiden in Worten und Tönen gesagt haben. Der Erwachsene kann sich an diesen Bildern wahrhaft erbauen, weil er sich in die holde Poesie des Kinderlebens versenken kann; das Kind aber will alles Andere eher und lieber gemalt sehen, als sein eigenes Thun und Treiben. Ein weiterer Fehler aber, den diese schönen Bilderbücher leider mit den Bilderbüchern gewöhnlichen Schlags noch theilen, sind die darunterstehenden Reime. Wozu bedarf es dieser? Sprechen diese Bilder nicht von selbst? Liegt nicht im harmlosesten Schooßliedchen, das von Mund zu Munde geht, mehr wahre Poesie, als in diesen mühselig gemachten, unkindlichen Verslein, die irgend ein beliebiger Versifex auf Bestellung geliefert hat? Wenn doch endlich unsere besseren Bilderbücher wenigstens diese jammervolle Kinderlyrik über Bord werfen wollten! Das hat aber wahrscheinlich noch gute Weile, ’s ist einmal so hergebracht, und so geht es auch ruhig im alten Schlendrian weiter. Trotz alledem muß man, wenn irgend etwas, diese Bilderbücher empfehlen, wenn nicht um des Was, so doch um des Wie willen; es waltet echte, reine Kunst darin, und diese auch dem Kindesauge schon so früh als möglich zu zeigen, darauf kommt es an. Von den schönen Silhouetten Konewka’s nennen wir den „Schwarzen Peter“ (Thienemann, 11/4 Thaler) und die „Schattenbilder“ (ebd. 1 Thlr.). Die Bilderbücher von Pletsch, die fast sämmtlich bei A. Dürr erschienen sind, findet man in jeder Buchhandlung in reicher Auswahl vorräthig. Vor dem achten oder neunten Jahre aber würden wir keinem Kinde diese Bücher in die Hand geben. Für Kleinere rathen wir, sich in der Buchhandlung einen Stoß „Münchener Bilderbogen“ oder noch lieber „Deutsche Bilderbogen“ vorlegen zu lassen und daraus eine gute Auswahl zu treffen. Doch greife man nicht zu den bekannten Carricaturen, wie „Diogenes und die bösen Buben von Korinth“, der „Schnuller“, [823] das „Rabennest“ und Aehnliches. Die drastische Komik dieser Bilder gleitet am Kinde völlig wirkungslos ab; es glotzt uns verwundert an, wenn es sieht, wie wir uns vor Lachen darüber ausschütten. Unter den „deutschen“ Bilderbogen namentlich sind eine Reihe wahrhaft künstlerischer Blätter – und um was für einen billigen Preis! Der ärmste Mann, der seinem Kinde drei solche Bilderbogen à 1 Sgr. auf den Weihnachtstisch legt, erzeigt ihm eine größere Wohlthat, als wenn er ihm solch ein buntbeklextes „schönes Bilderbuch“ für 3 Sgr. kauft. Halbwegs bemittelte Eltern machen wir aufmerksam auf die ganz vorzüglichen gut colorirten „Bilder für den Anschauungsunterricht“ (Eßlingen, Schreiber), namentlich auf die ersten drei Hefte: 1. Gegenstände des täglichen Lebens; 2. Gift- und Culturpflanzen; 3. Naturgegenstände (à 15/6 Thlr.). Für das ganz kleine Gesindel aber, für die Leutchen, deren Zergliederungstrieb noch nicht in die gehörigen Schranken gewiesen ist, giebt es nichts Besseres als die sogenannten „unzerreißbaren“ Bilderbücher. Sie sind zwar, was die Ausführung der Bilder betrifft, nicht besser als ihres Gleichen, aber sie bieten in buntem Wechsel eine Menge brauchbaren Anschauungsstoffes und enthalten sich aller Lyrik.
So wären wir denn mit unseren Vorschlägen für den Weihnachtstisch zu Ende – und doch noch nicht zu Ende. Noch haben wir einer Gattung von Jugendschriften nicht gedacht, die sich einer ganz besondern Beliebtheit erfreuen, die Jahr für Jahr in neuer Gestalt sich einstellen und immer wieder die bereitwilligsten Käufer finden; wir meinen die sogenannten „Jugendalbums“, „Jugendfreunde“, „Jugendblätter“, „Töchteralbums“ und wie sie sonst noch heißen. Was bezwecken diese eigentlich? Sie bringen in buntestem Durcheinander bald gemachte Kindergeschichten und Kindergedichte, bald kleine belehrende Aufsätze aus der Geschichte, Geographie und den Naturwissenschaften, bald Reisebilder, Jagdskizzen, Sprüche und Räthsel, und das Alles illustrirt durch Lithographie, Holzschnitte und colorirte Bilder; sie sind also, um es kurz zu sagen, Potpourris, Sammelsurien aus allen drei Gebieten der Jugendliteratur.
Man kommt angesichts solcher Bücher nie über die zweifelnde Frage hinaus: Ist es wirklich arglose Thorheit, oder ist es arge Dreistigkeit, die solch einen Mischmasch zusammenbraut und unserer Jugend als geistige Kost vorsetzt? Wir wollen annehmen, daß Alle, die zur Herstellung eines solchen Machwerks ihre Hand bieten, in gutem Glauben handeln, und daß sie nicht um bloßen Geldgewinnes willen daran mitarbeiten helfen. Man frage sich aber doch einmal ernstlich und ruhig, was bei diesen Büchern herauskommt. Meist fehlen den darin behandelten Gegenständen alle Anknüpfungspunkte an die jeweiligen Kenntnisse des Kindes; so stehen sie unvermittelt da und gehen ebenso rasch wieder verloren, wie sie aufgenommen wurden. Das Kind gewinnt nicht nur nichts bei dieser Beschäftigung, sondern es verliert sogar dabei. Unsere ganze moderne Pädagogik drängt nach „Concentration“ des Unterrichts, sie sucht die Lehrstoffe möglichst mit einander zu verbinden, zu einander in Beziehung zu setzen, damit sie sich gegenseitig stützen und befestigen; diese Bestrebungen werden durch solche Erzeugnisse der Jugendliteratur durchaus wieder in Frage gestellt, ja, es wird ihnen in der unbesonnensten Weise entgegengearbeitet. Was hat das Kind davon, wenn es in der einen Viertelstunde etwas von einem italienischen Maler, in der nächsten eine Geschichte vom „Onkel Martin“, in der dritten etwas über den „alten Fritz“, dann wieder über die Buschmänner, über den Fabeldichter Aesop, über das Känguruh und über einen beliebigen Seesturm liest? Sittliches Unheil freilich wird bei diesem Kunterbunt nicht angerichtet; mitunter bleibt vielleicht sogar diese oder jene Notiz verlorener Weise im Gedächtniß hängen, und das würde ja sogar ein kleiner Gewinn sein; daß aber durch dieses unaufhörliche Herumflattern von einem Gegenstande zum andern die geistige Kraft zersplittert, die jugendliche Phantasie, dieses köstliche Gut, das, verständig geleitet, einen der mächtigsten Factoren der Erziehung abgeben kann, gemißbraucht und vergeudet wird, das ist doch sonnenklar. Die Kinder gewöhnen sich nicht, einen umfangreichen, zusammenhängenden Stoff zu übersehen und zu bewältigen, sie jagen nippend und naschend von einem zum andern. Wo soll dann im späteren Leben die Fähigkeit herkommen, sich mit Ernst und Liebe in einen Gegenstand zu vertiefen, wenn man die Kinder systematisch zu oberflächlicher Halbwisserei erzieht? Mehr und mehr empfindet man in unserer Zeit die Nothwendigkeit, Fortbildungsschulen zu errichten und die Schulzeit bis zum sechszehnten Jahre auszudehnen, weil die erhöhten Bildungsziele in der bisherigen Frist nicht mehr zu erreichen sind. Und doch erschwert man unüberlegter Weise auf der anderen Seite die Erreichung dieser Ziele, indem man schon die Kinder zu einem plan- und zwecklosen Aufschnappen aller möglichen gleichgültigen Dinge anleitet.
Im vorigen Artikel haben wir die Anforderungen zusammengestellt, die eine wahrhaft gute Jugendschrift zu erfüllen hat. Eine haben wir dabei absichtlich übergangen, um sie hier am Schlusse auszusprechen, nicht weil sie die unwichtigste, sondern gerade weil sie die oberste und wichtigste von allen ist; sie ergiebt sich aus dem eben Entwickelten von selbst und lautet: Der Stoff soll jederzeit ein ganzer und einheitlicher sein.
Wir bilden uns nicht ein, in dem Vorstehenden auch nur einen annähernd erschöpfenden Ueberblick über die gute Jugendliteratur gegeben zu haben. Es kam uns viel mehr darauf an, die Principien der Auswahl zu erörtern, als einzelne Vorschläge zu machen. Zwischen Knaben und Mädchen haben wir absichtlich nicht unterschieden; giebt es denn eine besondere Poesie, Wissenschaft und Kunst für Frauen? Ebenso haben wir Altersunterschiede in der Regel nicht ausdrücklich berücksichtigt. Es ist thöricht zu sagen, das eine Buch sei für Kinder von acht bis zehn, das andere für Kinder von zehn bis zwölf Jahren. Die Eltern müssen am besten wissen, was sie ihren Kindern bieten können. Hier kommt es nicht auf die Jahre, sondern auf geistige Befähigung, auf den Bildungsgrad des Elternhauses und auf den genossenen Unterricht an. Endlich möchten wir noch den Vorwurf zurückweisen, daß wir nur lauter ziemlich theure Sachen aufgeführt haben. Gute Artikel sind noch auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit theurer gewesen als schlechte; das kann auch bei den Büchern nicht anders sein.
Einige französische Physiologen haben die Behauptung aufgestellt, daß der Mensch mit siebzig Jahren eigentlich noch nicht alt sei. Der Geist erlange vielmehr zwischen dem fünfzigsten und achtzigsten Jahre, bisweilen auch noch später, eine wahrhaft auffallende Spannkraft, Festigkeit und Stärke, es sei dies gerade diejenige Lebensperiode, wo der Mensch auf der Höhe seiner Kraft stände. Unsere gewöhnliche Erfahrung widerspricht leider diesen theoretischen Sätzen, so weit sie als Regel gelten wollen, um so ergriffener aber und ehrfurchtsvoller stehen wir vor den Beispielen wunderkräftiger Lebensenergie, die sie allein aus unserm Jahrhundert für sich anführen können. Auch der erst im letzten Jahre verstorbene Fürst Pückler-Muskau gehörte zu den bevorzugten Organisationen, die der Zeit ihr trauriges Zerstörungswerk unendlich sauer gemacht. Nicht blos weil er über die gewöhnliche Frist hinaus geathmet hat, sondern weil ihm unter dem Schnee und erkältenden Hauch des hohen Alters noch ein zweiter Frühling erblühet war, ein sonniger aus ureigener Lebenswärme quellender Geistes- und Herzens-Frühling in jenen Tagen, wo Millionen schon längst erbleichend das müde und welke Haupt gesenkt.
Fürst Pückler war schon ein Fünfziger, als seine ersten Bücher ein ganz ungewöhnliches Aufsehen erregten und heute schon ergraueten Leuten wie märchenhafte Sagen in die Ohren klang, was sie von der genialen Abenteuerlichkeit, den seltsamen Neigungen und Manieren des ritterlichen Welt- und Wüstenfahrers hörten. Was seitdem länger als dreißig Jahre hindurch an berechtigter Anklage und beißendem Spott, an Aeußerungen der Bewunderung und des begeisterten Lobes über ihn laut geworden, soll uns hier nur wenig beschäftigen. Ein Beieinander von ausgeprägt hervorstechenden und doch einander widersprechenden Eigenthümlichkeiten, von großen und mannigfach schlimmen und auch Aergerniß erregenden Eigenschaften, wie sie in dieser glänzenden und zauberartig [824] wirkenden Persönlichkeit, in diesem so überaus bewegten, beziehungs- und erfahrungsreichen Leben zu einem Ganzen sich vereinigten, bringt nicht jedes Jahrhundert und wohl die Folgezeit niemals wieder hervor. Es ist daher gut, daß ein so denkwürdiges und bezeichnendes, in die Geschichte unserer Zeit so vielseitig verflochtenes Charakter- und Lebensbild der Mit- und Nachwelt nicht verloren geht, daß es bereits mit allen seinen Räthseln, seinen Größen und Schwächen so wahrheitsgetreu geschildert werden konnte, wie es soeben Fräulein Ludmilla Assing in einer ausführlichen Biographie des Fürsten uns vorzuführen beginnt.
Vor uns liegt aber auch ein Buch, das zu den Beiträgen aus dem Nachlasse des „Verstorbenen“ gehört, welche das eben erwähnte Lebensbild ergänzen sollen. Den größeren Theil der Seiten nehmen Briefwechsel ein, die Pückler im Anfange der dreißiger Jahre mit Bettina von Arnim und in den Jahren 1844 und 1845 mit der Gräfin Ida Hahn-Hahn geführt hat. Die Briefe enthalten einen nicht geringen Reichthum an geistvollen Urtheilen, überhaupt sehr viel Interessantes und Charakteristisches. So kurz aber die Zeitspanne ist, welche zwischen dem heutigen Tage und jenem lebhaften Austausch liegt, es weht uns aus dieser Steigerung eines einseitigen Gedanken- und Empfindungslebens doch etwas an wie Verwesungsgeruch einer thatenarmen und todesreifen Epoche, das unfrische Parfüm einer längst vom Zeitsturm hinweggewehten Bildungsaristokratie. Der Gebildete des heutigen Geschlechts hat noch Interesse und ein geschichtliches Verständniß für das brillante Leuchtfeuer, die heißen Dispute jener grübelnden Salon-Titanen, aber fremdartig berührt und mit Unbehagen wendet er sich zugleich ab von dem Gemachten und Gedunsenen in ihrem Wesen, von ihrer forcirten Originalitäts- und Genialitätssucht, ihrer müßigen, aller gesunden und klaren Ziele entbehrenden Ideentrunkenheit, bei der es meistens doch nur um die eitelste Selbstbespiegelung sich handelte, um eine oft bis zu wahnwitzigster Narrheit getriebene Beschäftigung mit dem eigenen Ich.
Lassen wir deshalb den schon aus dem Freiheitsdrange des Zeitgeistes geborenen, aber im Ganzen doch krankhaft überreizten Spuk hier bei Seite. Die immerhin mannigfach als tüchtig bewährte Bettina hat ja längst den prophetischen Mund geschlossen, die von ihr sehr verschiedene genial-emancipirte Gräfin Ida ist mit all ihrem himmelstürmerischen Selbstgefühl im stillen Hafen betschwesterlicher Trivialität gelandet; Pückler aber, der auch einst eine Zeitlang zu den Füßen der beiden Priesterinnen geschwärmt, hat nicht blos den wirklichen Heimgang der Einen und den geistigen Tod der Anderen überlebt, als ein in seiner Wurzel gesunder Stamm hat er auch noch freudig die frische Morgenluft eines neu hereinbrechenden Weltumschwunges begrüßt und von ihrem Hauche gern sich anwehen und verjüngen lassen. Wir wissen, daß er 1866 noch rüstig genug war, als preußischer General den König Wilhelm auf die böhmischen Schlachtfelder zu begleiten. Nach beendigtem Kriege aber zog er sich wieder als Einsiedler in die Abgeschiedenheit seiner herrlichen Neuschöpfung Branitz zurück, und man hat gehört, mit welcher unermüdlich regen und verständnißvollen Theilnahme er hier forschend und studirend allen lebendigen Ergebnissen der Zeitbewegung folgte, namentlich den wissenschaftlichen Befreiungskämpfen auf dem religiösen Gebiete. Aber auch für das künstlerische Schaffen der Zeit, für den poetischen Ausdruck des Protestes gegen eine gebrochene und doch noch gewaltsam sich haltende Welt des Geisteszwanges, der Volksunterdrückung und Menschenentwürdigung hatte der merkwürdige Greis noch eine überaus wache Empfänglichkeit und ein außerordentlich scharfes Auge. Es gab hier keine bedeutende Erscheinung, die nicht in dem fürstlichen Einsiedler auf Schloß Branitz einen eingehenden Kritiker gefunden hätte, und so kam es, daß er im Jahre 1868 sich in seinem Innersten von einer Erzählung getroffen sah, die nichts von jenem sprühenden Raisonnement, jener blitzenden Gedankenphantastik an sich trug, welche er einst an den Ergüssen Bettina’s und den Romanen der gräflichen Mecklenburgerin bewundert hatte.
In den laufenden Nummern der „Gartenlaube“ hatte er das ergreifende Bild aus dem Leben der Gegenwart gefunden, es war Marlitt’s bekanntes „Geheimniß der alten Mamsell“, dieses jubelnde Lied vom Siege der Menschlichkeit und des gesunden Volkssinnes über die hochmüthige und heuchlerische Modefrömmelei der höheren Stände! Je mehr aber der hochbejahrte Aristokrat mit der erregbaren und geisteskräftigen Jugendseele sich bewegt und erschüttert fühlte von dem poesievollen Gehalt und der lebensvollen Wahrheit jenes schlichten Gemäldes, um so mehr wurde er, seiner Natur gemäß, von einer verzehrenden Unruhe erfüllt. Während seines ganzen Lebens hatte er mit der gesammten Welt des geistigen und künstlerischen Schaffens die lebhaftesten persönlichen Beziehungen unterhalten. Und hier waren ihm stille und oft schon freudenarme Tage des Alters durch eine neu aufgetauchte schöpferische Kraft belebt und verschönert worden, die wohlthuenden Athem ihres warmen Lebens in Hütten und Paläste strahlte, aber vor dem Gruße des Dankes und der Anerkennung in scheuer Zurückgezogenheit sich bergen wollte. Noch schwebte über Marlitt’s wahrem Namen und Wohnort ein streng bewahrtes Geheimniß. Pückler wendete sich deshalb an den Redacteur der Gartenlaube und sandte demselben zu gefälliger Weiterbeförderung einen Brief an die Dichterin, der nicht unbeantwortet blieb und die Anknüpfung zu einer in jedem Betrachte anziehenden Correspondenz wurde.
Möge sich das Publicum bei der Verlagshandlung Hoffmann und Campe bedanken, daß ihm dieser Briefwechsel nicht vorenthalten wurde, der ein so beredtes Zeugniß ablegt von dem feinen und stolzen Sinne eines heutigen Bürgerkindes. Wie wir aus zuverlässiger Quelle wissen, hat Marlitt lange die von ihr erbetene Erlaubniß zur Publicirung dieser niemals für die Oeffentlichkeit bestimmten Privat-Correspondenz mit hartnäckiger Entschiedenheit verweigert und dem Andrängen erst schmerzlich nachgegeben, als nur die in der Copie vorhandenen Lobsprüche Pückler’s ohne ihre Antworten gedruckt werden sollten. Gerade unzähligen Lesern der Gartenlaube aber ist sicher auch durch diesen Einblick in vertrauliche Eröffnungen einer stets so streng hinter ihren Gestaltungen sich bergenden Lieblingsdichterin ein Dienst erwiesen, und diesem großen Verehrerkreise glauben wir willkommen zu sein, wenn wir hier den betreffenden Verkehr durch einige Auszüge zu charakterisiren suchen.
Wir berühren die drei ersten schon sehr interessanten Briefe nur in einigen kurzen Umrissen. In dem ihm wohlanstehenden Tone einer heute ziemlich abhanden gekommenen Galanterie stellt sich Pückler in seinem ersten vom 9. Februar 1868 datirten Schreiben der „Schönen Unbekannten und liebenswürdigsten Schriftstellerin“ als einen „Collegen“ vor und richtet keine geringere Bitte an sie, als daß sie ihm gegenüber ihrer Anonymität entsagen und ihre volle Adresse angeben möge, damit er sie – auffinden und besuchen könne. „Ihre Geschichte ‚Das Geheimniß der alten Mamsell‘,“ schrieb er, „hat mich so gerührt und entzückt, als wenig andere, die ich gelesen, und im Begriff eine lange Reise anzutreten, von der ich schwerlich wieder zurückkommen werde, da mein zweiundachtzigjähriger Geburtstag schon seit zwei Monaten vorüber ist – hege ich den lebhaftesten Wunsch, noch vorher Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Schon am 16. Februar antwortet Marlitt mit bescheidenem und freundlichem Danke, ohne jedoch den ihr ausgesprochenen Wunsch zu erfüllen, da sie gegenwärtig sehr leidend und an das Zimmer gefesselt sei. Pückler nennt in seiner Erwiderung diesen Brief „diplomatisch“; je mehr er in der Photographie der Empfängerin nur Güte, Geist und heitere Lebendigkeit sähe, um so mehr sei er traurig, seinen Besuch so kurz und bündig abgewiesen zu sehen. Zugleich sendet er sein nach dem letzten Feldzuge in Gala-Uniform gemaltes Porträt und richtet die Bitte an die Empfängerin, sie möge ihn nur „den Verstorbenen“ nennen, ihm aber ihren Vornamen sagen, wie man sie als Kind und junges Mädchen gerufen, und ihm wenigstens eine länger andauernde Correspondenz gestatten, da sie so grausam sei, ihn nicht sehen zu wollen. Mit diesem Ersuchen war die Annäherung auf einen Punkt gediehen, der in der wahrheitsliebenden und zartfühlenden Dichterin ein ernstes Bedenken erregen mußte. Schon früher war ja ihr Roman „Goldelse“ erschienen, und es drängten sich ihr Zweifel auf, ob der Fürst sich ihr überhaupt genähert haben würde, wenn er dieses poetische Manifest gegen den Hochmuth der Adelskaste gelesen hätte. Sie erwiderte:
„An den Verstorbenen. Da steht die Adresse, wie sie gewünscht worden ist; allein das Gefühl und die Feder der Lebendigen sträuben sich gegen diese Bezeichnung – sie soll deshalb zum ersten – und letzten Mal geschrieben sein. Ich liebe [825] das Schattenhafte, Wesenlose überhaupt nicht, und dann bin ich auch praktisch genug, einzusehen, daß ich bei einer solchen Umgangsweise bedeutend verlieren müßte. Was alles darf man dem Lebendigen anthun! Man darf ihn bitter reizen, schmerzlich verwunden, kränken, erzürnen, und geht straflos aus, sobald er keine Injurie oder körperliche Wunde aufzuweisen vermag. Der Verstorbene dagegen trägt den Nimbus der Verklärung über der Stirn, er ist gefeit und unverletzlich, und man muß sich streng hüten, ihm Böses nachzusagen, wenn man nicht für einen sehr ungebildeten Menschen gelten will. Ich bin mithin vollkommen in meinem Rechte, wenn ich, die Bezeichnung als parteiisch verwerfend, mir eine andere wähle, und in Folge dessen besser einen Brief an ‚den Unsterblichen‘ richte. Freilich erscheint auch da mein Standpunkt gewagt und bedenklich – ich stehe gleichfalls einer Strahlenglorie gegenüber – indeß die Unsterblichkeit schließt ja menschliche Schwächen und Leidenschaften nicht aus, wie z. B. der Haß, die Rachsucht der griechischen Götter beweisen; mein unsterblicher Correspondent wäre mir dadurch näher gerückt und ich würde mich schon zu vertheidigen wissen, wenn er ja einmal in die genannten Fehler verfallen sollte.
Der erste Stein zur Basis einer künftigen Correspondenz wäre somit gelegt, aber ich zweifle sehr, daß er je einen Nachbar erhalten wird. … Haben Sie meine ‚Goldelse‘ gelesen? Diese Frage mag recht unbescheiden klingen; sie läßt sich jedoch durchaus nicht umgehen, und ich muß sogar dringend bitten, im Hinblick auf den beabsichtigten Briefwechsel das kleine Buch schleunigst zur Hand zu nehmen. Es kennzeichnet scharf und unabweisbar meinen Standpunkt in socialen Fragen, von welchem aus ich mit Luther sage: Hier stehe ich – ich kann nicht anders, oder vielmehr ich will nicht anders! Der Unsterbliche wird nach Kenntnißnahme der Tendenz nicht umhin können, mit dem Fürsten Pückler ernstlich Rücksprache zu nehmen, und wie es dann mit der bezeichneten Sympathie stehen wird, kann ich mir recht gut sagen. Zwar ziehen Sie selbst eine Scheidelinie zwischen sich und Ihrem (fürstlichen) Doppelgänger; allein die innige Verwandtschaft der beiden Naturen läßt sich nicht verleugnen, das hat der Unsterbliche am schlagendsten bewiesen, indem er mir das Bild des Fürsten schickte. …
Die Photographie macht mir sehr viel Freude; sie hängt jedoch, ihrer Ausstattung gemäß, bereits in ‚der guten Stube‘, wie die ehrlichen Thüringer sagen. Dort ist sie an ihrem Platze, und ich werde mir allsonntäglich das Vergnügen machen, die aristokratische Gestalt voll prächtiger Orden zu bewundern. Das Conterfei meines ‚unsterblichen‘ Correspondenten dagegen, dunkel gekleidet, wie ich ihn einmal flüchtig und von ferne in München gesehen, würde ich in mein kleines Arbeitszimmer über den Schreibtisch gehangen haben, an welchem nun einmal eine Widerspruchsvolle sitzt. Ich sehe die Sterne nur gern am Himmel – in dem Moment also, wo meine Augen das edle Gesicht des Unsterblichen suchen wollten, würde mich die sternbesäete Uniform der fürstlichen Photographie stets zum Widerspruch reizen, und Sie werden begreifen, daß ich Frieden haben will – an meinem Arbeitstische. …“
Pückler hatte in seinem Leben, wie reichlich der vorliegende Band zeigt, gar viele Briefe von zarter Frauenhand erhalten, darunter – wir haben das bereits oben erwähnt – zahlreiche brillante Ergüsse einer hochgesteigerten Denk- und Empfindungskraft. Wir begreifen aber, daß sich der vielumschmeichelte Mann vollständig gewonnen und bezaubert fühlte, als ihm aus den oben mitgetheilten Zeilen, die so gar nichts Absonderliches und Bedeutendes sagen wollten, nicht blos eine neue Persönlichkeit, sondern der inzwischen herangereifte Geist und Sinn eines neuerstandenen Geschlechts so ernst und haltungsvoll und doch so schlicht und gemüthreich entgegentrat. Er sagt das nicht, aber in seiner Erwiderung nennt er den halbabweisenden Brief einen „prächtigen“, der „magnetisch“ auf ihn gewirkt habe. „Erlauben Sie mir zuerst,“ schreibt er, „Sie meine geliebte und verehrte Freundin zu nennen, obgleich ich Sie noch nie gesehen, aber überzeugt bin, daß ich Sie aus Ihren lieblichen Erzählungen und auch aus Ihrer Photographie besser kennen und lieben gelernt, als durch eine oberflächliche gesellschaftliche Bekanntschaft.“ Marlitt habe ihm noch befohlen, ihre „Goldelse“ zu lesen. In Bezug darauf und auf die von der Dichterin so ernst an ihn gerichtete Gewissensfrage entgegnet er, daß sie ihn verkenne. Erstens durch große Ueberschätzung seiner sehr anspruchslosen Persönlichkeit, dann aber durch Voraussetzung eines adeligen Hochmuths, „was mich wahrhaft kränkt (aus Eitelkeit), weil ich eher auf meine philosophischen Ansichten mir etwas einbilden möchte, da mich diese von Vorurtheilen sehr frei machen, obwohl ich nicht sicher bin, daß diese Freiheit der Gesinnung in Allem so ganz Ihren Beifall finden wird.“
Inzwischen war nun aber von indiscreter Hand ein Lebensabriß Marlitt’s mit Nennung ihres wahren Namens in die Oeffentlichkeit gedrungen, und eine Freundin des Fürsten hatte ihm das betreffende Blatt geschickt. Theilnehmend fragt er, ob sie wirklich unbequem schwerhörig geworden, es gäbe ja viele Mittel dagegen, wie er an manchen Anderen erfahren habe. In Bezug auf ihren nunmehr verrathenen Namen schreibt er am Schlusse: „Ich adressire also heute direct an Fräulein Eugenie John in Arnstadt und wäre untröstlich, wenn jener beiliegende Artikel mich in den nahen April geschickt hätte. Was gäbe ich darum, wenn ich Ihre Antwort schon hätte! Haben Sie Mitleid und lassen Sie mich nicht zu lange darauf warten!“
Marlitt hatte in der That eine Antwort nicht erwartet und hielt in ihrer Entgegnung nicht mit dem Geständniß zurück, daß sie den letzten Brief des Fürsten mit einem Gemisch von Freude und – Erstaunen begrüßt. Ein vorlauter Journalartikel habe ihm bereits von ihrem früheren Leben an einem Hofe erzählt, und da habe sie ihre Ideale von männlicher Charakterstärke und Gesinnungstüchtigkeit kläglich wie Wachs zerschmelzen sehen. „Viele kamen mit geradem Rücken, aber gebückt gingen sie fast immer.“ Den Trägern aristokratischen Glanzes sei es, gegenüber dem Vergötterungs- und Unterwerfungstriebe der Menge, fast unmöglich gemacht, den rein menschlichen Standpunkt zu erkennen, geschweige zu ihm zurückzukehren; sie gebe zu, es gehören dazu außergewöhnliche Geisteskräfte, Großartigkeit der Auffassung und ein hoher Grad von Selbstverleugnung und Edelsinn. „An alle diese Eigenschaften mußte ich appelliren, wenn ein Briefwechsel zwischen Ihnen und mir zu Stande kommen sollte. … Sind Sie mir böse, daß ich an einem Erfolg gezweifelt habe?“
Lieb wäre es ihr gewesen, nur als Schriftstellerin mit dem Schriftsteller in geistigem Verkehr zu bleiben. „Nun aber,“ fährt sie fort, „wo mir ein unbekannter und sehr unberufener Biograph das Visir aufgeschlagen, müssen Sie, wohl oder übel, auch die Eugenie John mit in den Kauf nehmen. Sie wird ihnen übrigens das Leben nicht schwer machen – durch Schelten, wie Sie meinen, am allerwenigsten. Zwar bin ich bereits in ein ‚gewisses Alter‘ getreten, allein nichts liegt mir ferner, als die Sucht, zu moralisiren; auch habe ich weder Geschick noch Neigung zum Ehestiften; ich fliehe die Kaffeegesellschaften, die Medisance wie das Gift, sehe die Jugend gern fröhlich und fühle durchaus keine Sympathie für Katzen und Möpse – Sie sehen, ich bin keine von den ganz Schlimmen. Sollte mir Ihre Anschauungsweise nicht gefallen, so werde ich mir erlauben, meine Gegenansicht zu entwickeln; aber das Recht der Freundin geltend machen und schelten werde ich nur, wenn Sie zum Beispiel das Krankenzimmer zu früh verlassen und Ihre Genesung verzögern, wie Sie bereits gethan.“
Wie übrigens Pückler mit seinem Geist und mit Erinnerungen wie die seinigen in solchem Maße des Verkehrs mit der Welt bedürfe, verstehe sie nicht; er brauche ja nur zu winken, um sich die verschiedenartigsten Geister auferstehen und sich dienstbar werden zu lassen, und im Uebrigen habe seine schöpferische Kraft auch wohl um Schloß Branitz ein kleines Eden geschaffen.
„Freilich,“ so fährt der Brief dann weiter mit einer Selbsteröffnung fort, „freilich sehen Sie doch immer nur in – die Sandbüchse des heiligen römischen Reichs, und der Gedanke könnte allerdings auch für mich etwas Niederschlagendes haben. Ich brauche Bergluft, meine Denkkraft verliert die Elasticität in einer sterilen Gegend, und vorzüglich jetzt, wo ein rheumatisches Leiden mich meist an das Zimmer fesselte, könnte ich den Blick auf meine trauten Thüringer Berge nicht missen. Bei dieser Gelegenheit habe ich eine Uebertreibung meines indiscreten Biographen zu berichtigen. Es ist nicht wahr, daß man mir die Feder in die Hand geben muß, wenn ich schreiben will – in dem Fall wäre ich das beklagenswertheste Geschöpf auf Gottes Erde; denn es ist mir geradezu unmöglich, auch nur einen Federstrich in Gegenwart Anderer zu thun – nicht das geliebteste
[826][827] Gesicht dulde ich in meiner Nähe, wenn ich schreibe. Meine Muse ist scheu, wie ich es wohl im Grunde meiner Seele sein mag; daher die unwiderstehliche Neigung, in Einsamkeit und Zurückgezogenheit zu leben, die sich stets geltend macht, sobald ich mir allein überlassen bin. Einmal auf das unbescheidene Terrain der Selbstbiographie gerathen, will ich auch noch bestätigen, daß ich allerdings plötzlich schwerhörig geworden und in Folge dessen gezwungen gewesen bin, meinen Beruf als Sängerin aufzugeben. Im Lauf der Jahre und bei größerer Mäßigung im Singen hat sich das Uebel wieder gebessert. – wer langsam mit mir spricht, braucht die Stimme nicht besonders zu verstärken. Neuerdings machst ein sehr tüchtiger Arzt abermals Versuche und spricht von völliger Wiederherstellung, ein schöner Gedanke, den ich indeß noch zurückweise. Ich habe mich klaglos in mein Geschick ergeben, denn so unweise bin ich nicht, mich stürmisch gegen das aufzulehnen, was sich einmal nicht ändern läßt.“
Album der Poesien.
Hermann und Dorothea.
Von Goethe.
„Hab’ ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen!
Ist doch die Stadt wie gekehrt! wie ausgestorben! Nicht fünfzig,
Däucht mir, blieben zurück von allen unsern Bewohnern.
Was die Neugier nicht thut! So rennt und läuft nun ein Jeder,
Um den traurigen Zug der armen Vertrieb’nen zu sehen.
Bis zum Dammweg, welchen sie zieh’n, ist immer ein Stündchen,
Und da läuft man hinab, im heißen Staube des Mittags.
Möcht’ ich mich doch nicht rühren vom Platz, um zu sehen das Elend
Guter, fliehender Menschen, die nun mit geretteter Habe
Leider das überrheinische Land, das schöne, verlassend,
Zu uns herüberkommen und durch den glücklichen Winkel
Dieses fruchtbaren Thals und seiner Krümmungen wandern.
Trefflich hast Du gehandelt, o Frau, daß Du milde den Sohn fort
Schicktest, mit altem Linnen und etwas Essen und Trinken,
Um es den Armen zu spenden; denn Geben ist Sache des Reichen.
Was der Junge doch fährt! und wie er bändigt die Hengste!
Sehr gut nimmt das Kütschchen sich aus, das neue; bequemlich
Säßen Viere darin und auf dem Bocke der Kutscher.
Diesmal fuhr er allein; wie rollt es leicht um die Ecke!“
So sprach, unter dem Thore des Hauses sitzend am Markte,
Wohlbehaglich, zur Frau der Wirth zum goldenen Löwen.
Und es versetzte darauf die kluge, verständige Hausfrau:
„Vater, nicht gerne verschenk’ ich die abgetragene Leinwand;
Denn sie ist zu manchem Gebrauch und für Geld nicht zu haben,
Wenn man ihrer bedarf. Doch heute gab ich so gerne
Manches bessere Stück an Ueberzügen und Hemden;
Denn ich hörte von Kindern und Alten, die nackend dahergehn.
Wirst Du mir aber verzeih’n? denn auch Dein Schrank ist geplündert.
Und besonders den Schlafrock mit indianischen Blumen,
Von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert,
Gab ich hin; er ist dünn und alt und ganz aus der Mode.“
Aber es lächelte drauf der treffliche Hauswirth und sagte:
„Ungern vermiss’ ich ihn doch, den alten kattunenen Schlafrock,
Echt ostindischen Stoffs; so etwas kriegt man nicht wieder.
Wohl! ich trug ihn nicht mehr. Man will jetzt freilich, der Mann soll
Immer geh’n im Sürtout und in der Pekesche sich zeigen,
Immer gestiefelt sein; verbannt ist Pantoffel und Mütze.“
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Und so saß das trauliche Paar, sich, unter dem Thorweg,
Ueber das wandernde Volk mit mancher Bemerkung ergötzend.
Endlich aber begann die würdige Hausfrau und sagte:
„Seht! dort kommt der Prediger her; es kommt auch der Nachbar
Apotheker mit ihm: die sollen uns Alles erzählen,
Was sie draußen geseh’n und was zu schauen nicht froh macht.“
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Alle geschichtlichen Ereignisse haben in sich einen tiefen Zusammenhang, mögen sie noch so heterogener Natur sein, mögen sie auch noch so weit auseinander liegen. Die Katastrophe, durch die im Jahre 1806 bei Jena der preußische Staat zusammenbrach, war eine Folge einer Reihe politischer Fehler und ein Beginn besserer Einsicht, einer inneren Kräftigung und Erstarkung, aus welcher die Erfolge der jüngst entschwundenen großen Jahre langsam, aber sicher herangereift sind. Das Ende der welthistorischen Verwicklung, durch welche zwei der geistig begabtesten und geistig bewegtesten Völker ihre innere Correction erhalten haben, ist in der einfachen Thatsache zusammengefaßt: König Wilhelm in Versailles; der Anfang und das Seitenstück dazu in der rückwärtsliegenden: Napoleon der Erste in Potsdam. Wir kennen ersteres Capitel der allerneuesten Geschichte genau aus den Berichten unserer Zeitgenossen. Es wird gut und lehrreich sein, mitten aus unserem stolzen Siegesbewußtsein den Blick rückwärts zu wenden in eine Zeit, wo das Vaterland, das jetzt so groß und herrlich dasteht, darniederlag und aus tausend Wunden blutete, in eine Stadt, die Lieblingsresidenz der preußischen Könige, an der sich deutlicher und charakteristischer als an jedem anderen Orte der Wechsel großer Geschicke kennzeichnete und fühlbar machte.
Die Schlacht von Jena war geschlagen. Man wollte am Tage derselben, am 14. October, an ruhigen Havelstellen den Donner der Kanonen von Jena gehört haben. Bis zum 16. October hatte man in den beiden Residenzstädten Berlin und Potsdam keine Nachricht. An dem genannten Tage brachte die „Berliner Zeitung“ endlich die Hiobspost der verlorenen Schlacht. Die Spannung, die Angst, die Aufregung war in allen Gemüthern auf’s Höchste gestiegen. Am 16. October Abends fuhr die von Leipzig nach Berlin über Potsdam führende Leipziger Straße entlang ein sechsspänniger Wagen; er rollte über die Havelbrücke in Potsdam dem Stadtschlosse zu, wo er hielt. Es wurden Anstalten zum Umspannen gemacht. Ein sechsspänniger Wagen war unter diesen Umständen ein Ereigniß, umsomehr, als man in demselben den Wagen der Königin Louise erkannte. Alsbald war er von einer dichten Menschenmasse umringt. Voll Schmerz und Bestürzung mußte das Publicum in einer der Damen, die mit verweinten gramvollen Zügen in dem Innern saßen, die Königin erkennen – ernst und traurig sie, die einst so schön, so heiter, so strahlend ihr königliches Glück genoß. Sie, die vielleicht des Trostes am bedürftigsten war, sie fühlte, daß sie denen, die sie umstanden, die ihr, dem Könige und den Truppen, als sie Anfang Septembers ausgezogen waren, mit freudiger Siegeshoffnung zugejauchzt hatten, daß sie den Bewohnern, die treu an ihr hingen und von denen sie viele persönlich kannte, ein Wort des Trostes und der Beruhigung schuldig war. Und sie neigte sich zum Wagenfenster heraus und sprach mit ihnen, und versicherte sie, daß noch Alles gut gehen werde. Dann fuhr der Wagen ab. Wohin? das wußte Niemand und Niemand wagte die Frage, obwohl sie auf allen Mienen geschrieben stand, aber daß die Königin in Potsdam nicht geblieben war, das war schon ein schlimmes Vorzeichen, und die schlimme Ahnung, die es erzeugte, sollte sich denn auch bald erfüllen.
Am 20. October war es außer allem Zweifel, daß die französischen Truppen die Kurmark besetzen würden. In der Nacht vom 21. auf den 22. October traf denn auch eine französische Husarenpatrouille unter Führung eines Officiers ein. Derselbe kündigte die Ankunft des dritten, des Davoust’schen Armeecorps an und daß in der Stadt tausend Officiere, größtentheils vom Generalstabe, einquartiert werden sollten, daß zwölf Reitpferde für den Stall des Marschalls zu stellen seien, und daß sechszigtausend Mann in der Stadt und um dieselbe bivouakiren würden und verpflegt werden müßten. Und sie ließen auch nicht auf sich warten. Die Städte Potsdam und Berlin mußten täglich sechszig- bis achtzigtausend Portionen Brod, zwei- bis dreihunderttausend Flaschen Wein und Fourage für fünfzehntausend Pferde [828] auf drei Wochen lang liefern. Die Wachtfeuer in den folgenden Octobernächten verkündeten ihre Ankunft. Es kamen die Têten und Avantgarden der Armee, die den Ruf ihrer Unwiderstehlichkeit wie einen Schatten des Schreckens vor sich herwarf. Endlich kam er selbst an der Spitze seiner Garden, der Gewaltige, der Alles, was sich ihm widersetzen wollte, mit eherner Faust niederschmetterte, der Mann mit dem Bronzeantlitze und dem Schlachtengenie, Kaiser Napoleon der Erste, der bewundernd zu dem Genius eines Friedrich des Großen aufsah und die Monarchie, die dieser gegründet, vor wenig Tagen zertrümmert hatte.
Es war am 24. October, Morgens ein halb Elf; der Kaiser ritt durch die Colonnaden in den Lustgarten ein, an den der Drillplatz stößt, auf welchem der Vater Friedrich’s des Großen sein Riesenregiment exercirt hatte und den man damals mit dem vollsten Recht die hohe Schule des preußischen Exercirreglements nannte, und noch heute nennt. Er ritt die Rampe, die zum Eingange des Schlosses führt, hinauf; dort erwartete ihn sein Palastgouverneur Duroc, der ihn in das Schloß einführte, in welchem von Joachim Friedrich an alle Kurfürsten und Könige gewohnt hatten, in welchem der große Kurfürst und Friedrich Wilhelm der Erste ihren letzten Seufzer ausgehaucht hatten.
Nachdem der Kaiser den Marmorsaal und die Prunkgemächer des Schlosses in Augenschein genommen, ließ er sich vom Castellan und dem fertig französisch sprechenden Kammerdiener Tamanti, der als Dolmetscher zwischen ihm und dem Castellan diente, in die Gemächer Friedrich’s des Großen führen.
Der Castellan öffnete eine Thür und führte den Kaiser durch mehrere Vorgemächer in den Marschallstafelsaal, und in das Speisezimmer Friedrich’s des Großen; von da traten sie in ein in den Ecken abgerundetes kostbar eingerichtetes Zimmer; in die Wände waren Oelbilder von Pesne und Lancret eingelassen, eines stellte die tanzende Cochois mit ihren Schwestern dar, dieselbe Cochois, die später den Marquis d’Argens heirathete. Die Möbel waren von grünlackirtem, reich vergoldetem Holz mit rosa Atlas bezogen. Am Fenster stand ein Musikpult von Schildpatt mit vergoldeten Bronzen, an der Wand ein kleiner Flügel.
„Das ist das Musikzimmer Friedrich’s des Großen,“ berichtete der Kammerdiener, „und nun werde ich Ew. Majestät in ein kleines Cederncabinet führen, durch welches der große König jeden Morgen, aus seiner Garderobe kommend, in sein Schreibzimmer ging; Ew. Majestät betreten jetzt dasselbe.“ Der Kaiser war durch das besagte kleine Gemach gegangen und sah sich in einem Zimmer, das ganz in Geschmack der Rococozeit möblirt war. Die Wände waren mit weißem Lack bekleidet, auf dem in erhabener Arbeit farbige Blumen- und Fruchtgehänge angebracht waren. Die Möbel von vergoldetem Holze hatten Bezüge von blauem Sammet; der Schreibtisch trug reiche Schildpatt-Zierrathe; in der Ecke befand sich ein kupferner vergoldeter Drachenkopf, durch dessen weitgeöffneten Rachen nach russischer Weise die erwärmende Luft in das Zimmer strömte. Tamanti machte den Kaiser auf die Spiegel aufmerksam, die überall im Zimmer angebracht waren. Vermöge derselben konnte der König Alles sehen, was auf der Straße und der Brücke vorging, auch die Leute, welche an den gegenüber an der Straße gepflanzten Linden sich aufstellten und ihre Bittschriften hoch emporhoben, um sie dann den Dienern zu übergeben, die der König auf die Straße hinabsandte.
Die meiste Aufmerksamkeit schenkte der Kaiser einem Appartement, welches durch eine Spiegelglasthür mit dem Schreibzimmer in Verbindung stand, einem großen Gemach, dessen Wände mit blauseidenen, silbern geblümten Tapeten bekleidet waren. In gleichem Geschmack waren das in dem Gemach befindliche Sopha und die Stühle gehalten. In der Mitte standen einige große Tische mit Platten von Amethyst und ein anderer, dessen Platte mit grünem Sammet überzogen war. An diesen großen Raum stieß ein kleinerer, alkovenartiger; er war von jenem durch eine Balustrade von massivem gegossenen Silber getrennt, auf der massivsilberne Kinderfiguren angebracht waren. In diesem Alkoven standen blaue, mit Silber verzierte Schränke, die eine vollständige Bibliothek enthielten.
„Das ist das Schlafzimmer des großen Königs,“ bemerkte Tamanti.
„Wo ist die Stelle, wo der König geschlafen hat?“ fragte der Kaiser.
Der Castellan bezeichnete auf die an ihn gerichtete deutsche Frage Tamanti’s eine Stelle an der Wand, wo das Bett gestanden hatte.
„Warum ist aber das Bett nicht mehr hier? Wo ist es hingekommen?“
Tamanti erwiderte, daß König Friedrich Wilhelm der Zweite es seinem Geheim-Kämmerer Rietz geschenkt habe; im Uebrigen seien alle Möbel wie zur Zeit des großen Monarchen noch vorhanden. An dem mit grünem Sammet bezogenen Tische habe der König oft bis spät Abends noch geschrieben.
Durch das silberne Brustgeländer führte eine Thür in den Alkoven und von da in ein mit Ponceausammet decorirtes Gemach mit etwas üppigen Gemälden von Vanloo und Lesueur; in der Mitte derselben stand eine runde Tafel, die sogenannte Confidenztafel, an welcher der König unbelästigt von jeder Dienerschaft speisen konnte. Die Tafel ging in die Tiefe und wurde durch Gegengewichte aus derselben wieder heraufgehoben. Hier verweilte der Kaiser jedoch nur sehr kurze Zeit. Sein Interesse wandte sich wieder dem Schlafzimmer zu.
Auf einem Tische bemerkte er einen Ringkragen, eine Schärpe, ein orange Ordensband mit einem blau emaillirten Kreuze und schwarzen Adlern zwischen dessen Balken, endlich einen Degen.
„Wem gehörten diese Gegenstände?“ richtete er von Neuem die Frage an den Kammerdiener, den wohl ein leiser Schrecken befallen hatte, als er sah, daß dem Kaiser diese Gegenstände in die Augen gefallen waren.
„Es sind Reliquien des großen Königs, sein Ringkragen, seine Schärpe, der Schwarze Adlerorden und der Degen, den er getragen.“
„Aber ich begreife nicht,“ bemerkte der Kaiser, „daß dieser Degen so klein ist.“
Vielleicht mochte schon in seiner Seele der Argwohn aufsteigen, daß man den echten weggenommen und einen falschen hierher gelegt habe, was leider nicht geschehen war. Einer aus der Umgebung bemerkte, daß er denselben Degen schon früher an derselben Stelle gesehen habe. Napoleon sah sich dann noch mehrere Sachen aus der Zeit und aus dem Gebrauche des großen Königs an und sagte beim Verlassen des Zimmers, das seine ausschließliche Aufmerksamkeit gefesselt hatte, zu Tamanti:
„Sind nach dem Tode des großen Königs in diesen Räumen Veränderungen vorgenommen worden?“
Als der Angeredete diese Frage verneinte, fügte er hinzu:
„Das ist auch recht. Diese Räume müssen zum Angedenken des großen Mannes in derselben Gestalt, in welcher er sie bewohnt hat, erhalten bleiben. Man soll die Gemächer sorgfältig verschließen!“
Als der greise Castellan auf Weisung Tamanti’s diesem Befehle nachkam, wurde der Kaiser auf ihn und seine ehrwürdige, vom Alter gebeugte Gestalt aufmerksam.
„Hat dieser Mann noch unter dem großen Könige gedient?“
„Ja, Sire,“ erwiderte der Kammerdiener, „er ist sogar vom hochseligen Könige noch zum Castellan gemacht worden.“
Wie Napoleon von jeder Erinnerung, die sich an Friedrich den Großen darbot, mit bewundernder Ehrfurcht erfüllt wurde, so stellte er in diesem Gefühle auch den Castellan – Knopf war sein Name – seiner Umgebung mit den Worten vor:
„Dieser Mann hat noch unter dem großen Könige gedient.“
Vor dem Eingange, durch den er in das Schloß getreten war, stieg der Kaiser dann zu Pferde, mit ihm eine zahlreiche aus Generalen und Officieren bestehende Suite. Ein Stallmeister aus dem königlichen Marstalle ritt voran, und dieser hatte den Befehl, den Kaiser nach dem Neuen Palais und von da zurück nach Sanssouci zu führen. Das erstere, am Ende der großen Allee von Sanssouci gelegen, bietet nicht so viele persönliche Erinnerungen an Friedrich den Großen dar, als das die Terrassen krönende kleinere Schloß von Sanssouci. Im Neuen Palais hielt sich der König nur eine kurze Zeit im Sommer auf, so lange er Brunnen trank, oder wenn er fürstliche Gäste hatte. Das neue Palais war sein Repräsentations-, Sanssouci aber sein Wohnhaus, wo er mit Ausnahme der Wintermonate, die er in Potsdam oder in Berlin residirte, die meiste Zeit zubrachte. Hier verweilte Napoleon mit nicht geringerem Interesse als im Stadtschlosse. Er selbst sagte später [829] von diesem Besuche, daß er sich eines schwer zu beschreibenden Gefühls nicht gut erwehren konnte, indem er die Stufen zum Palaste Friedrich’s hinaufstieg, indem er Sanssouci und alte die Orte besuchte, die durch den großen König geweihet worden sind. Am meisten fühlte er sich von der Geisteswerkstätte des königlichen Weisen, von dem Bibliothekzimmer in Sanssouci angezogen. Er schloß selbst den Bücherschrank auf und nahm einige Bände heraus; es waren gerade die Werke Friedrich’s des Großen. Er zeigte dieselben seiner Umgebung, ebenso den von Friedrich’s Hand geschriebenen Katalog. Auf einem Pulte bemerkte er dann verschiedene Musikalien.
„Das sind wohl die Musikalien, die der große König beim Flötenspiel benutzte?“ richtete er die Frage an den Castellan Droz, der des Französischen vollkommen mächtig war. Dieser bestätigte es.
„Ja, meine Herren!“ wandte er sich zu seiner Umgebung, „dieser große Mann hat sieben Jahre lang dem halben Europa Widerstand geleistet und dabei noch Zeit übrig gehabt, auf der Flöte ein großer Künstler zu sein.“
„Was ist da – dieser Foliant auf dem andern Pulte?“
Ohne die Antwort des Castellans abzuwarten, hatte er den Titel des aufgeschlagenen Buches gelesen und fand, daß es die Kriegskunst von Puységur war. Es war gerade das Capitel vom Tragen des Degens aufgeschlagen.
„Es ist gewiß nicht dasselbe, welches ein Friedrich las,“ bemerkte er mit einem Lächeln.
Diese Besuche hatten ihn einige Stunden in Anspruch genommen. Als er in das Stadtschloß zurückkam und von Duroc vernahm, daß im Neuen Garten von Seiten des französischen Militärs Gewaltthätigkeiten stattgefunden hatten, befahl er um alle Schlösser in und um Potsdam Sicherheitswachen aufzustellen. Am nächsten Morgen ließ der Kaiser seine Garden und seine Lieblingstruppe, die reitende Artillerie, im Lustgarten vor den Fenstern seiner Wohnung manövriren. Wußte er vielleicht, daß auf demselben Platze Friedrich der Große seine ersten Versuche mit reitender Artillerie gemacht hatte? Jedenfalls war es ihm, dem Verehrer des großen Genius, nicht unbekannt, daß dieser der Erste war, der die Nothwendigkeit einer größeren Manövrirfähigkeit der Artillerie erkannte, und vielleicht wollte Napoleon gerade an diesem historischen Orte zeigen, was hauptsächlich auch durch ihn, durch Marmont und Lauriston aus dem Kinde geworden war, dessen Wiege hier gestanden hatte. Nach dem Manöver setzte er sich mit seinen Marschällen und Generalen zu Pferde und ließ sich von dem voranreitenden Stallmeister Müller den Weg nach der Garnisonkirche, zur Gruft Friedrich’s des Großen zeigen. Die Kirche ist vielleicht vom Stadtschlosse nur etwa dreihundert Schritte entfernt; es wäre leichtere Mühe gewesen, den Weg dahin zu Fuß zu machen, aber der Kaiser schien etwas darin zu suchen, dem im Todesschlaf Ruhenden seine Huldigung in aller militärischer Form zu erweisen.
Der stellvertretende Prediger Derège war abwesend; es mußte also schnell die Kirchendienerschaft, der alte Hofküster Geim an der Spitze, der die Notizen über diesen Besuch auch aufgezeichnet hat, zusammengerufen werden. Der Kaiser ritt am Thurmeingange vor, während die Kirchendiener an einem andern Eingange seiner harrten und erst auf das Pferdegetrappel hin an den Thurmeingang eilten. Es bedurfte jedoch einiger Zeit und Anstrengung, bis man die schwere Thüre, die diesen ungewöhnlichen Eingang in die Kirche verschloß, öffnen konnte, bei welchem Geschäft der Marschall Duroc den Hofküster unterstützte.
Die Gruft befindet sich unter der Kanzel, dieser gegenüber der königliche Kirchenstuhl, und in dem Raume dazwischen stand damals der Altar. Das Gefolge war durch eine andere Thür eingetreten und hatte sich, man kann nicht anders sagen, mit allem Ausdruck der Ehrfurcht vor der Bedeutung dieses Ortes um den Altar gruppirt. Vor dem Eingang zur geöffneten Gruft hatten sich zwei Elite-Gensd’armen aufgepflanzt. Der Hofküster führte den Kaiser aus dem schmalen Gang an den bestimmten Ort. Hinter Napoleon ging der Leibmameluk Rustan und hinter diesem noch zwei Elite-Gensd’armen. In der allgemeinen Stille widerhallten in dem hohen Kirchengewölbe die Schritte der auf den Fliesen Dahingehenden. Geim trat in die Gruft und wies mit stummer Geberde auf den schmucklosen Metallsarg, der ohne jede Erhöhung auf dem Boden rechts an der Wand stand, als auf den Sarg, in dem Friedrich der Große ruhte.
In tiefer stummer Betrachtung stand der Heros des neuen Jahrhunderts vor den sterblichen Ueberresten des Heros des vergangenen. Es war Todtenstille in der Kirche; kein Laut, keine Bewegung ging durch den weiten Raum derselben, bis der Kaiser die Worte sprach: „Sic transit gloria mundi!“ Mit ihm war sein Bruder Jerôme in die Gruft getreten, aber bald gab er diesem, so wie Allen, die um ihn waren, einen Wink, daß sie ihn allein lassen sollten. Sie traten an den Vorraum zurück. Nun stand der Kaiser allein in der Gruft, sichtbar Allen, die den Altar umstanden, allein mit dem Andenken eines Mannes, in dem er Geist von seinem Geiste fühlte und eine Ebenbürtigkeit des Genius, die er keinem lebenden Wesen zugestand, allein mit dem großen Todten, der einst die Welt regiert hatte, wie er sie jetzt regierte, und der da, Staub und Asche, in dem dunklen Sarge vor ihm ruhte.
Nach etwa zehn Minuten trat er wieder heraus und besah sich den übrigen Kirchenraum. Er deutete auf den Altartisch und frug, zu welchem Zwecke er diente.
„Er wird zu Taufen und bei der Abendmahlsfeier gebraucht,“ antwortete der alte Geim.
Da er keine heiligen Gefäße sah, so frug er ferner den Küster nach denselben und erfuhr dann, daß sie bis zum jedesmaligen Gebrauche in der Sacristei verschlossen blieben. Dem Auge des Kaisers schien Nichts zu entgehen, was irgend eine charakteristische Färbung oder Bedeutung hatte. So standen zu damaliger Zeit in der Garnisonkirche zwei marmorne Figuren, Mars und Minerva, welche später auf Andringen des Bischofs Eylert hinweggebracht und im Potsdamer Stadtschlosse auf dem Treppenaufgang vom Schloßhofe her aufgestellt wurden. Nichts kennzeichnet mehr den künstlerischen Geschmack im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts, nichts mehr die unbefangene Naivetät des frommen Königs Friedrich Wilhelm des Ersten, als diese beiden heidnischen Götter an christlicher Stätte, durch die er die Bestimmung dieses Gotteshauses als Garnisonkirche andeuten wollte. Wenn diese Unzukömmlichkeit sich dem Bewußtsein jedes denkenden Menschen aufdringen mußte, um wie viel mehr nicht einem Geiste wie Napoleon dem Ersten! Er frug auch, was die Figuren hier eigentlich für eine Bedeutung haben sollten, und als der alte Geim ihm diese erklärte, antwortete er mit einem halb verwunderten, halb mißbilligenden: „Bah!“
Ehe er jedoch die Kirche verließ, bestimmte er noch gegen Duroc, daß dieselbe unter seinem unmittelbaren kaiserlichen Schutze stehen solle, und weder zu einem Magazine noch zu einem Lazarethe, oder gar einem Stalle benutzt werden dürfe.
Das war der Besuch des neuen Cäsars in dem preußischen Versailles. Wie es den Anschein hatte, sollte der Aufenthalt des Kaisers in Potsdam vorzugsweise eine Todtenhuldigung für den großen König bezwecken. Am nächsten Tage ging er nach Berlin weiter. Die Gegenstände des großen Königs aber, die er im Schlafzimmer desselben im Stadtschlosse gefunden, den Ringkragen, die Schärpe, den Orden und den Degen Friedrich’s des Großen, nahm er an sich und übergab sie in einer Audienz am 19. November den Deputirten des französischen Senats, die zu einer Beglückwünschung von Paris nach Berlin gekommen waren, mit dem Befehle, sie dem Gouverneur des Invalidenhauses in Paris zuzustellen. Er selbst sagt davon, daß dergleichen Trophäen den Werth von hundert eroberten Fahnen haben, und daß man vergessen konnte, sie fortzuschaffen, beweist nur die Verwirrung, die Bestürzung, welche in Preußen herrschte, als die Nachricht ankam von der Katastrophe, welche die Armee betroffen hatte.
Nur acht Jahre verblieben diese Trophäen in Paris; dann wurden sie mit all den Kunstgegenständen wieder heimgeholt; es waren unter letzteren allein aus den Schlössern in und um Potsdam an Gemälden und Statuen zweiundvierzig Kisten nach Paris geschafft worden, ohne dessen zu gedenken, was die Generale noch so nebenbei mitgehen hießen; sie wurden heimgeholt, nachdem die siegreichen verbündeten Heere Paris eingenommen, und sich an dem überwundenen Imperator dasselbe Wort erfüllt hatte, das er einst am Sarge Friedrich’s des Großen gesprochen: „Sic transit gloria mundi!“
Auch eine Weihnachtsfeier. Um die Weihnachtszeit des Jahres 1870 stand unser Regiment einige Tage in Vendôme. Der Rittmeister unserer Escadron, ein Reserve-Officier, ein einjährig Freiwilliger und ich hatten uns verabredet, den Weihnachtsabend in meinem Quartier nach lieber deutscher Sitte bei einem angezündeten Tannenbaum und einer dampfenden Bowle zu verleben, wobei wir uns die Zeit mit Quartett-Gesängen vertreiben wollten, was wir vier regelmäßig und sehr gerne thaten, so oft es uns die Zeit und das Kriegshandwerk erlaubten.
Leider bekam ich am Morgen besagten Tages den Befehl, eine Requisition nach St. Amants hin auszuführen. Das Requiriren, an und für sich ein böses Geschäft, war hier um so unangenehmer, als St. Amants fast vier Meilen von Vendôme und in der Nähe von durch Franzosen besetzten Ortschaften lag. Es gelang mir daher auch nur mit großer Mühe und bedeutendem Zeitaufwand und nach vielfältig angewandten Säbelhieben und freundschaftlichem Kitzeln mit den Lanzen, die Bauern von der Nothwendigkeit zu überzeugen, daß unsere Pferde zu ihrem Unterhalte durchaus Hafer und Heu bedürften, und daß es daher nöthig sei, daß sie selbiges auf ihre Wagen lüden und in meiner und meiner Ulanen werthen Gesellschaft nach Vendôme brächten, von wo sie dann nach empfangener Bescheinigung wieder in ihre Heimath zurückkehren könnten. Es war wie gesagt ziemlich spät geworden, ehe ich mit meinem stattlichen Zuge auf dem Kasernenhofe in Vendôme anlangte, und meine Cameraden, denen einestheils die Zeit lang wurde, die aber auch um mein langes Ausbleiben anfingen besorgt zu werden, waren mir bereits bis hierher entgegengekommen. An den Kasernenhof stieß die Kathedrale, an welcher wir, wenn wir nach meinem Quartier wollten, vorbei gehen mußten. Am heutigen Weihnachtsabend war die Kirche dicht gefüllt und eben als wir uns derselben näherten, sang die andächtige Menge, unter Begleitung einer rauschenden Musik „O sanctissima“. Ueberrascht blieben wir stehen. In dieser Weise hatten wir das Lied noch niemals singen hören, es war im vollständigen Raschwalzertact. „Das ist doch im höchsten Grade empörend, ein solch’ schönes Lied auf diese Weise zu verunstalten,“ sagte Camerad P., „das müßten wir den Franzosen einmal vorsingen.“ Ehe wir’s selbst wußten, waren wir in der Kirche, und da dieselbe in ihren unteren Räumen vollständig gefüllt war, stiegen wir die der Thür zunächst befindliche Treppe zu einem leeren Chor hinan. Musik und Gesang hatten geendet; der Priester vom Altare sprach einige uns unverständliche Worte. Dann begannen wir in gemessener, feierlicher Weise, wie wir es gewohnt waren, mit präciser Innehaltung des piano und forte „O sanctissima“. Es klang in der weiten Kirche prachtvoll. Ueberrascht wandten sich mehr denn tausend Augen nach der Stelle, von wo der Gesang tönte, und man denke sich das maßlose Erstaunen der Franzosen, als sie vier in voller Kriegsrüstung dastehende, ihnen so sehr verhaßte Ulanen, Protestanten, erblickten, in ihrem Heiligthum ein katholisches Lied singend. Lautlose Stille herrschte. Als wir geendet – ich weiß selbst kaum mehr, wie wir darauf kamen – stimmten wir das wohl nicht ganz hierher passende Schäfer’s Sonntagslied „Das ist der Tag des Herrn“ an. Wie unwillkürlich falteten sich während unseres Gesanges die Hände der unter uns sich befindenden Franzosen, und nachdem wir zu Ende gesungen, verließen wir, unter fortdauernder lautloser Stille, selbst ernst und feierlich gestimmt, die Kirche. Es war dies eine eigenthümliche Feier unseres heiligen Weihnachtsabends.
Hermann und Dorothea, unseres Goethe ewigfrische Dichtung, wird auch für jede frische künstlerische Kraft ein Gegenstand bleiben, der zu immer neuer Darstellung der herrlichen Gestalten der Dichterphantasie anlockt. Zu den gelungensten dieser Illustrationen gehören die acht großen Cartons von L. Hofmann in München, welche, im Verein mit zwei Kaulbach’schen Blättern, die Brückmann’sche Ausgabe der Dichtung schmücken. Von diesen legen wir unseren Lesern das erste mit der Scene vor, an welche auch das etwas später erschienene Ramberg’sche Bild hinsichtlich der Auffassung und Gruppirung der Personen erinnert, jedenfalls ein interessantes Zeichen, daß beide an der Hand der Dichtung zum richtigen Ziel gelangt sind.
L. Hofmann’s vorliegende Illustration bedarf keiner Erklärung; als solche ist ihm die betreffende Stelle des Gedichtes beigedruckt. Dagegen wird man über des Künstlers bisheriges Erdenwallen gern Einiges erfahren wollen. Hofmann ist ein geborener Zeitzer und hat seine ersten Kunststudien in Leipzig gemacht, wo er auch mit den ersten Arbeiten auftrat. Er blieb da, bis er sich die Mittel erschwungen hatte, vor etwa zehn Jahren die Akademie München zu beziehen. Dort schloß er sich anfangs aus Vorliebe und Neigung Schwind an, von dem er dann auf seine eigene Bahn überging, um Malen zu lernen, ohne der herrschenden schroff realistischen Richtung zu verfallen. Für Brückmann führte er die ersten kleinen Oelbilder aus, lieferte 1867 vier Zeichnungen zu deutschen Volksliedern, 1868 und 1869 die Cartons zu „Hermann und Dorothea“ und malte seit Ostern 1870 eine Reihe großer und kleiner Bilder, welche Beifall und Absatz fanden, wie sein „Verdorben und gestorben“ zu dem Volkslied: „Es fiel ein Reif in die Frühlingsnacht“, seine „Turcos in Ingolstadt“ und vieles Andere. Möge die rüstige Schaffenskraft den Künstler und uns noch recht oft erfreuen! –
Erklärung. Die scharfe Kritik meiner früheren Erfindungen auf dem Gebiete der Wissenschaft, obschon sich dieselbe mit wenigen Ausnahmen als unzutreffend erwiesen, ließ mich gleichwohl in Betreff meiner Behandlung des krankhaften Kopfhaares ähnliche Angriffe erwarten.
Der neuesten Kritik des Herrn Stabsarzt Dr. Pincus in Berlin sehe ich mich nun veranlaßt, unter vollständiger Aufrechthaltung meiner im „Ausland“ Nr. 12 d. J. ausgesprochenen Ansicht, die an meinem eigenen, sowie dem Haar vieler Anderer beobachteten Resultate entgegenzustellen.
Würde der Herr Stabsarzt Dr. Pincus meine derzeitige Abhandlung eingehender geprüft haben, so würde ihm nicht entgangen sein, daß ich gleich anfangs jeden Versuch, auf Glatzen von längerer Andauer und gänzlichem Verluste der Haarwurzel neues Haar zu erzeugen, als erfolglos bezeichnet habe; gleichwohl lehrt meine langjährige mikroskopische Prüfung der Kopfhaut, daß das fragliche Präparat auf die krankhaften Zustände derselben entschieden zu influiren vermag. – Es erscheinen nämlich die Haarwurzeln, bevor deren gänzliche Verödung eingetreten ist, im Stadium des Herausfallens nebst den zahlreichen sie umgebenden und in dieselben einmündenden Drüsen trocken und verschrumpft und häufig von einer Pilzwucherung umsponnen; untersucht man dagegen diese Organe nach halb- und dreivierteljährlicher vorschriftsmäßiger Anwendung dieses Mittels, so zeigt sich in der Regel ein in Fülle und Gestalt gesundes Aussehen der Haarwurzeln, sowie ein fast gänzliches Verschwundensein der Pilzbildung, auch werden die kleinen Wurzeldrüsen, welche, bislang zu wenig beachtet, für die Ernährung des Haars zweifelsohne von großer Bedeutung sind, wieder sichtbar, eine Erscheinung, mit welcher unverkennbar eine erhebliche Verminderung des Haarausfallens und eine wiederkehrende Belebung seines Wachsthums auftritt.
in Hannover.
Ich habe Herrn Professor Langenbeck nicht für einen Arzt gehalten, sonst hätte ich meine Entgegnung in einem medicinischen Journal veröffentlicht. Da aber die Polemik nun einmal in literarischen Blättern angeregt ist, will ich kurz antworten.
Ich darf wiederholen, was ich früher gesagt habe: „Die Absicht ist gut, die Ansicht ist irrig!“
Was Herr L. für Pilze hält, das sind nach meiner Ansicht die Oberhautschüppchen der Wurzelscheide des Haares.
Wenn die Haarproduction stockt, so rührt dies nicht daher, daß die Kopfhaut Mangel an Hornstoff hat; und selbst, wenn dieser Mangel vorhanden wäre, könnte man ihm nicht durch äußeres Hinzuthun abhelfen; denn die menschliche Haut ist nicht etwa eine lockere Erde, in die man einprägen könnte, was man will – sie nimmt nur auf, was sie nach ihrer vitalen Beschaffenheit aufnehmen kann.
Was würde wohl Herr L. sagen, wenn Jemand riethe: „bei schadhaften Zähnen extrahire man aus Thierzähnen den ‚Zahnstoff‘ (Zahnleim) und reibe diesen Extract in das Zahnfleisch“? Würde Herr L. glauben, daß dies nütze? – Dies würde eben gar nichts nützen!
Ich kann nur dringend rathen: wo Verdacht auf vorzeitigen Haarverlust vorhanden (namentlich auf erbliche Anlage), da prüfe man das Haar vom fünfzehnten Lebensjahre an; um diese Zeit, oder etwas später beginnt das (meist sehr langsam vorschreitende) Leiden; da ist Hülfe möglich, sehr leicht und für die Dauer. Wo bereits eine Verdünnung des Haares eingetreten, da ist Besserung nur von einer ganz regelrechten Cur zu erwarten, nicht von Anwendung dieser oder jener Pomade oder Flüssigkeit.
Berlin.
Bock’s „Buch vom gesunden und kranken Menschen“, das in neunter Auflage bisher in einer möglichst billigen und dennoch mit hundertzwanzig Abbildungen ausgestatteten Heftausgabe erschienen, ist in diesen Tagen complet geworden. Außer dem bewährten alten Inhalt dieses weltberühmten Buchs, das nach Maßgabe der Fortschritte der Wissenschaft Verbesserungen und Zusätze an Text und Abbildungen erfahren, ist dasselbe mit einem neuen Capitel bereichert über die natürliche Entwickelungsgeschichte der Erdrinde mit ihren Bewohnern und die Abstammung des Menschen nach Darwin und Häckel. Als ein Belehrer und Helfer in der schlimmsten Noth dürfte auch die neue Auflage dieses Buches in allen Familien willkommen sein.
Wir sind in der angenehmen Lage, den Lesern der Gartenlaube in Deutschland und jenseit der Meere heute schon mittheilen zu können, daß der nächste Jahrgang unserer Zeitschrift folgende Erzählungen veröffentlichen wird:
denen sich kleine Novellen von E. Wichert („Schuster Lange“), Werber etc. anschließen werden.
Wir bitten die Bestellungen für den nächsten Jahrgang recht zeitig aufzugeben.
Leipzig, im December 1872.