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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[797]

No. 49.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


„Und habe ich nun nicht Recht, daß ein Mann und auch der feinfühlendste, beste uns nicht verstehen kann?“ erwiderte Cäcilie, sich zu Gotthold beugend und ihm das Haar aus der heißen Stirn streichend. Für einen Moment spielte um ihre feinen Lippen, in ihren dunklen Augen das holdselige Lächeln, von dem Gotthold manchmal träumte, um dann den ganzen Tag, wie von einem Zauber umfangen, weiter zu träumen. Aber nur für einen Moment; dann schwand es und der schwermüthige Ernst von vorhin blickte wieder aus jedem Zuge des schönen Gesichtes und klang wieder aus dem Ton ihrer Stimme.

„Wahre Liebe! Darf eine Frau, die das erlebt, was ich erlebt habe, auch nur die Worte auf ihre Lippen nehmen? Wahre Liebe! Hättest Du es so genannt, wenn ich –“

Sie brach plötzlich ab, stand auf, trat an das Fenster, kam wieder zurück und sagte, vor Gotthold stehen bleibend und die Arme über dem Busen verschränkend: „Wenn ich seiner Habgier noch weiteren Vorschub geleistet, wenn ich mich und mein Kind weiter hätte verkaufen lassen, wenn Du Dein ganzes Vermögen bei Heller und Pfennig hättest hingeben müssen, um uns frei zu kaufen –“

„Das konntest Du und hast es nicht gethan!“ rief Gotthold in schmerzlichster Erregung.

„Ich konnte es und habe es nicht gethan,“ erwiderte Cäcilie; „aber wahrlich nicht, als hätte ich nur für einen Moment gezweifelt, daß Du ohne Zaudern Alles, Alles hergeben würdest; – ein solcher Zweifel ist einer Frau, die sich geliebt weiß, undenkbar, sie würde ja in gleichem Falle für den Geliebten betteln gehen; aber – es ist vergeblich, Gotthold! ich finde die Worte nimmermehr. Ach, des Elendes, das selbst der Wohlthat, sich aussprechen zu dürfen, entbehren, das sich in stummer Qual verzehren muß!“

Sie irrte durch das Gemach, die Hände ringend; Gotthold’s düsterer Blick folgte ihr, wie sie so vor ihm auf- und niederschritt, und ein Gefühl der Bitterkeit stieg in seinem Herzen auf. Es war eine Möglichkeit gewesen, und sie hatte sie nicht ergriffen, und nun war es zu spät!

Er sagte es ihr, und warum es nun zu spät sei, und wie der kleine Rest, der ihm noch von seinem Vermögen blieb, auch wenn er die Ansprüche, die bereits Andere daran hätten, durch den Ertrag seiner Arbeit befriedigen könne, für die Habgier jenes Mannes ein Nichts sei, das er, böte man es ihm, dem Bieter hohnlachend vor die Füße schleudern würde.

Cäcilie hatte, mitten in dem Zimmer stehend, tiefathmend zugehört. „Armer Gotthold!“ sagte sie. „aber für mich – es ist besser so – auch nicht einmal die Versuchung kann jetzt an mich herantreten! und es ist entschieden! Ja, Gotthold, es ist entschieden; es war auch bei ihm vielleicht nur ein Moment der Geldgier, den der tödtliche Haß, mit dem er Dich haßte, längst verschlungen hat. Er läßt mich nicht los; den Tod habe ich nicht gewählt, nicht wählen wollen, so lange nicht die letzte Möglichkeit der Rettung erschöpft war, die Flucht. Laß mich fliehen, Gotthold, bevor auch das zu spät ist; halte mich nicht! Du willst mich retten und treibst mich nur dem Tode in die Arme.“

„Ich halte Dich und will Dich retten, und Dich aus des Todes Armen reißen,“ rief Gotthold, indem er Cäciliens beide Hände ergriff, „Dich und Dein Kind, das Du tödten würdest, wolltest Du es, krank, fiebernd, den Gefahren einer Reise aussetzen, die auch ohne das eine Unmöglichkeit wäre, und eine nutzlose Grausamkeit, denn er würde Dich auch dort und überall zu finden wissen – wenn er will. Dort so gut wie hier, und so darfst Du auch hier nicht bleiben. Du kannst nirgend bleiben, als in meinem Schutz; ich wiederhole es: ich werde Dich schützen. Cäcilie, hast Du denn so gar keinen Glauben an mich, meinen Muth, meine Kraft, meine Einsicht? Und kann ich Dir auch nicht Alles sagen, wie ich Dich zu retten gedenke, retten werde; muß ich Dich bitten, mich schweigend gewähren zu lassen: ist uns Männern denn nicht recht, was euch Frauen billig ist? Giebt es nicht auch für uns Fälle, wo wir handeln, wie es uns die Pflicht und die Ehre gebieten, und wo wir uns doch nur einem Manne anvertrauen können? Und, Cäcilie, wenn ich Dir sage, daß ich mich einem Manne anvertraut habe, zu dem Du von Kindesbeinen an mit tiefer Ehrfurcht hinaufgeschaut hast, ohne zu ahnen, wie Du ihm auch sonst noch die frei gezollte Ehrfurcht schuldig warst, – und dieser Mann meinen Plan, meinen Entschluß billigt und selbst thun wird, was er kann, daß der Plan nicht Plan bleibt, daß der Entschluß zur Ausführung gelangt; – und dieser Mann Dich das mit eigenem Munde versichern wird – Cäcilie, ich hole ihn Dir, den Alten, den Ahnen, und wenn Du vor ihm auf den Knieen liegst und seine Hand auf Deinem Scheitel ruht, und Dir die Vergangenheit, die ehern, unabänderlich scheint wie das Schicksal, wankt und schwankt, so wirst Du vielleicht glauben, daß die Gegenwart nicht unabänderlich ist für den, der lebt und liebt.“

[798] Gotthold war davongeeilt; Cäcilie schaute starren Blickes, von seltsamer Ahnung durchschauert, auf die Thür, durch die er verschwunden. Die Thür öffnete sich wieder, die hohe Gestalt, die hereintrat, mußte das Haupt senken. Und so, das Haupt und den Blick zu ihr gesenkt, kam er auf sie zu. Es durchrieselte sie: so hatte ihr Vater ausgesehen, als er eine Stunde vor seinem Tode sie an sein Lager rief; und da hatte der Vater so dem Bilde des Großvaters geglichen, das in der Wohnstube neben der alten Wanduhr hing – ihre Kniee zitterten, bogen sich, als er jetzt die Hand nach ihr ausstreckte.

Gotthold schloß die Thür. Was zwischen den Beiden gesprochen wurde, mußte für das Ohr eines Dritten Geheimniß sein und bleiben.




30.


Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne zitterten über die erregten Wasser in purpurnen Lichtern, und Purpurlicht zitterte auf den nickenden Gräsern der weiten Marschen, die sich vom westlichen Strand bis zu den Dünen zogen, und flammte an den weißen Dünen empor und umfloß die Gestalten Gotthold’s und Jochen Prebrow’s, welche eben, vom östlichen schmaleren Ufer heraufsteigend, die höchste Höhe erreicht hatten. Gotthold spähte bereits, die Augen mit der Hand schützend, in das Feuermeer, während Jochen noch immer an dem Teleskop hin- und herschob. Endlich hatte er auf dem glitzernden Messing den feinen Strich gefunden. „Hier!“ sagte er, das Instrument dem Gefährten reichend, und fügte dann, wie entschuldigend, hinzu: „Man kann höllisch weit damit sehen.“

„Du guter Kerl!“ erwiderte Gotthold lächelnd.

Jochen zeigte seine weißen Zähne, und dann wurden Beide plötzlich wieder sehr ernst. Gotthold blickte so eifrig durch das Fernrohr, als suchte er wirklich noch nach dem Boot, das bereits vor vier Stunden mit dem günstigsten Winde abgesegelt und jetzt sicher auf der Höhe von Sundin, wenn nicht schon im Hafen war; und Jochen schaute so düster drein, als ob er heute Nachmittag die runden Wangen seiner Stine, welche die Frau durchaus begleiten wollte, zum letzten Mal gesehen habe.

Aber der brave Mensch dachte gar nicht an sich. Er konnte seine Stine schon ein paar Tage und ein paar Wochen, wenn es sein mußte, entbehren; und es ging ihm ja sonst so gut, daß ihm schon mehr als ein Zweifel gekommen war, ob es ihm nicht zu gut gehe; aber sein armer, armer Herr Gotthold! Ach, du lieber Himmel, wie hatten sie sich angesehen, als sie in das Boot steigen wollte, und sie sich auf der Brücke noch einmal die Hände gaben: mit so großen, starren Augen, in denen die hellen Thränen standen! und dann im Boot war sie gleich in die Kajüte gestürzt, in die Stine die Kleine unterdessen gebracht, und war dann – wie nun der Wind in die Segel faßte und das Boot sich neigte – wieder herausgekommen und hatte dagestanden, auf des alten Herrn Arm gelehnt, und hatte mit dem Tuche gewinkt und immerfort mit den großen starren Augen herübergeblickt, obgleich sie gewiß vor allen Thränen nichts sehen konnte!

„Aber das Boot ist so gut, daß es nicht besser sein kann,“ sagte Jochen; „und was mein Schwiegervater ist, der war glücklich, daß es ’mal wieder was für ihn zu thun gab, und„mein Clas-Bruder ist ein höllisch fixer Kerl und so oft in Sundin gewesen! der kann Ihnen Alles gut besorgen: den Wagen an die Brücke, und wo Wollnow wohnt, hat er gesagt, das weiß er auch, und mit dem alten Herrn soll ’mal Einer anbinden, und der Mensch kann doch nicht mehr thun, als er thun kann, und wenn Einer Alles gethan hat, was menschenmöglich ist, dann hat er Alles gethan.“

Jochen holte tief Athem: es war ihm selbst ganz verwunderlich, wie er heute sprechen konnte – seine Stine hätte es nicht besser gekonnt – und Herr Gotthold nickte und sagte gar nichts – was hätte er auch dagegen sagen sollen? – Jochen fuhr in eindringlicherem Tone fort: „Und deshalb müssen Sie auch nicht so traurig sein, Herr Gotthold; denn es ist noch nicht aller Tage Abend und Unverhofft kommt oft, und wenn ein Gaul erst das Gebiß zwischen den Zähnen hat, kann man sich die Arme ausreißen, er geht doch durch, und was so ein Pferd kann, kann ein Mensch auch.“

„Es soll an mir nicht fehlen, Jochen,“ erwiderte Gotthold, „und ich bin auch nicht weiter traurig, denn ich weiß, daß ich es durchfechten werde, wenn es auch, so lange wir den Scheel nicht haben, eine schwierige Sache ist. Aber ich denke, wir bekommen den Burschen noch; wenigstens ist er nicht todt und das ist doch die Hauptsache.“

Jochen Prebrow schüttelte den dicken Kopf. „Eine verdammte Geschichte ist und bleibt es, Herr Gotthold,“ sagte er. „Der alte Schäfer Arent in Goritz will ihn noch vor acht Tagen gesehen haben; – na, kennen kann er ihn ja, denn der Alte ist so lange in Dahlitz gewesen, bis ihn der Hinrich Scheel weggebissen hat, der ja keinem Menschen nichts Gutes gönnt; aber bei Nacht sind alle Katzen grau, und wenn auch – hier herum giebt es gar viele Gelegenheit, in See und über die See zu kommen, nach Schweden oder Mecklenburg und sonst. Deshalb ist es ja gar wohl möglich, daß er sich hierher gewandt hat; aber, daß er noch hier sein sollte, – nein, das glaub’ ich nicht.“

Die Purpurgluthen, die den westlichen Horizont umflammten, waren erloschen, und als sie sich, von dem Kamm der Düne herabsteigend, nach Osten wandten, lag das hier ganz nahe herantretende Meer bis in die weiteste Ferne in schwärzlicher Bläue da, gegen welche der weiße Sand des Ufersaumes seltsam scharf abstach. Nach Norden liefen die Dünenketten, auf deren höchster Höhe sie sich noch befanden, in phantastisch wirrem Durcheinander unabsehbar in die Dämmerung hinaus, hier von Strandhafer und Ginster überwuchert, dort in öder Kahlheit, gerundet, langgestreckt, abgeplattet, in scharfen überhangenden Rändern, einem vom Sturm zerwühlten Meere zu vergleichen, das plötzlich zu Sand erstarrt wäre. Da, wo das Westufer am weitesten vorsprang – Wiessower Ort nannten sie die kurze Landzunge – ragte, dem Auge eben noch sichtbar, ein Dach aus den Dünen hervor, und Jochen Prebrow deutete mit dem Teleskop in diese Richtung.

„Sehen Sie das Haus?“

„Ein Stück davon.“

„Das ist Rahnkes; ich möchte heute nicht in ihrer Haut stecken.“

„Was ist’s damit?“ fragte Gotthold.

„Auch so eine von den guten Gelegenheiten,“ fuhr Jochen fort, unwillkürlich seine Stimme senkend, trotzdem außer den Möven, die unten auf der Brandung flatterten, so weit das Auge reichte, kein lebendes Wesen zu sehen war. „Eigentlich sind sie Fischer, und in der Schwedenzeit hatten sie auch noch Schankgerechtigkeit und sagen, sie hätten sie noch, denn, was unsere Regierung ist, hätte sie ablösen müssen, und das sei nie geschehen. Aber das ist wohl nur so ein Gerede, um einen Grund zu haben, weshalb alle Augenblicke Boote anlaufen von Leuten, die sich auch Fischer nennen, wie die Rahnkes, und ebenso wenig Fischer sind. Es sollen manchmal ein halbes Dutzend auf einmal da sein, sagen die Steuerbeamten, und wenn sie kommen – zu Lande oder zu Wasser –, ist Alles weg, eben ausgelaufen und in die See hinein, hast du nicht gesehen. Sie haben schon Wache gehalten hier in den Dünen, und auf der Höhe gekreuzt Tage lang; aber dann ist nie ein Boot gekommen, außer ein ganz unschuldiges Fischerboot, und die Rahnkes haben dagestanden und gelacht, wenn die Steuerbeamten mit langen Nasen wieder abgezogen sind. Heute Abend sollen sie’s aber ausbaden.“

„Wie so, heute Abend?“

„Ich soll es eigentlich nicht sagen, aber mit Ihnen ist das ja etwas Anderes, und da sind sie ja auch schon. Sehen Sie die drei Segel, die sich da nach Norden herauf kreuzen? Es sind Useliner Fischerboote, und es ist die richtige Zeit und der richtige Cours; aber es sind man keine Fischer drin, sondern Steuerbeamte, die Fischerjacken anhaben und Südwester auf, und wenn sie nahe genug sind, werden sie umlegen und gerade auf den Wiessower Ort zu halten; und im Augenblick, wo sie umlegen, kommen sie Marsch! Marsch! von der Landseite her – ein ganzes Dutzend von der Steuer und Gensd’armen. Ich habe es Alles von dem Herrn Inspector aus Sundin, der schon seit zwei Tagen bei uns in Wiessow ist, und ich bin ein alter Bekannter von ihm, weil ich ihn früher oft gefahren habe, und da hat er es mir gesagt. Sehen Sie, Herr Gotthold, sehen Sie! da geht es los!“

Jochen deutete mit einem bei ihm höchst ungewöhnlichen [799] Eifer auf die drei Fahrzeuge, welche in der That, während sie bisher in großen Abständen hinter einander den Curs nach Norden gehalten hatten, plötzlich Alle auf einmal Re machten und direct auf das Land zu kamen. In demselben Augenblicke aber tauchten hinter dem Wiessower Ort zwei Fahrzeuge, die dort versteckt gelegen haben mußten, auf und es war bald ersichtlich, daß sie zwischen der Küste und den drei Booten nach Norden hin entkommen wollten, während ihnen das vorderste der Boote den Weg abzuschneiden suchte. Aber schon jetzt war es zweifelhaft, ob es seine Absicht erreichen würde, da es bis zu dem Punkte, wo sich die Bahnen schnitten, die längere Strecke zu durchlaufen hatte und die Schmugglerboote mindestens ebenso gut segelten, überdies hart vor dem Winde lagen. Wirklich zeigte denn auch schon nach den nächsten zehn Minuten ein kleines graues Wölkchen, das von dem verfolgenden Boote aufstieg und dem in immer kürzeren Pausen andere und andere graue Wölkchen folgten, daß die Steuerofficianten an dem Gelingen der Jagd zu verzweifeln begannen, und bald bewies das Einstellen des Feuers, daß die Jagd mißlungen war. Die Schmugglerboote erschienen nur noch als Punkte am dunkeln Horizonte; das verfolgende Boot hatte umgelegt und kreuzte nach dem Wiessower Ort zurück, an welchem die beiden anderen mittlerweile längst angekommen waren, „vermuthlich, um mit den von der Landseite Herzueilenden gemeinschaftlich constatiren zu können, daß sie das Nest wieder einmal leer gefunden,“ meinte Gotthold.

„Die verdammten Kerls!“ sagte Jochen Prebrow.

Sie hatten, auf der Spitze einer der höheren Dünen stehend, eifrig das aufregende Schauspiel verfolgt, von welchem jede einzelne Phase den beiden Söhnen der Küste so klar war, als wären sie inmitten der Action gewesen. Dabei hatte ihnen freilich das vortreffliche Fernrohr die wesentlichsten Dienste geleistet; es war von Hand zu Hand gegangen und eben hatte es Gotthold. Er meinte, daß, wenn Jochen’s Angaben richtig wären, sie, wenigstens auf den ferneren Dünen, einzelne Gestalten der Steuerofficianten sehen müßten, und er suchte, langsam von Hügel zu Hügel weiterrückend, das vor ihnen liegende, bereits im Abendgrau versinkende Terrain ab, als er plötzlich einen leisen Ausruf hören ließ. In demselben Moment hatte er aber auch schon das Teleskop sinken lassen und Jochen mit sich fort von der Spitze der Dünen herabgerissen, daß ihre Köpfe hinter dem wehenden langhalmigen Grase versteckt waren.

„Was giebt’s?“

„Hinrich Scheel! ich habe ihn mit vollkommenster Deutlichkeit gesehen. Er stand ungefähr tausend Schritte von uns, oben auf der Düne dort, mit dem Rücken hierher.“

„Wie ist das möglich?“

„Ich weiß es nicht; aber er war es; ich würde ihn unter Tausenden herauskennen; da ist er wieder.“

Aber es war nicht mehr auf derselben Düne, sondern etwas weiter rechts und, wie es Gotthold schien, näher als vorhin; auch stand der Mann, in welchem Jochen ebenfalls durch das Fernrohr Hinrich zu erkennen glaubte, nicht mehr aufrecht, sondern lag hinter dem Dünenrande, ganz in derselben Weise wie die beiden Gefährten, nach der Richtung des Rahnke’schen Hauses spähend, aus welchem er gekommen war. Wenigstens zweifelte Gotthold nicht daran. Die ganze Situation war ihm mit einem Schlage klar. Hinrich Scheel war, so oder so, an der Fortsetzung seiner Flucht verhindert worden und hatte in dem Hause Rahnke’s, das ja nach Jochen’s Schilderung nichts Besseres als eine Diebeshöhle war, eine Unterkunft gefunden, aus welcher ihn eben der Ueberfall der Steuerbeamten vertrieben. Nun hatte er sich vor denselben in die Dünen geworfen und hatte alle Aussicht, zu entkommen, selbst wenn man ihn verfolgte, da die hereinbrechende Nacht und das unendlich zerklüftete Terrain seine Absichten so sehr begünstigten.

Jochen theilte vollständig Gotthold’s Meinung; aber was sollten sie jetzt thun? Abwarten, ob Hinrich, der noch immer unbeweglich auf derselben Stelle lag, seine Flucht in derselben Richtung fortsetzen und ihnen also nahe und näher kommen werde, oder den Versuch machen, sich an ihn, der augenscheinlich von dieser Seite keine Gefahr ahnte, heranzuschleichen? Unsicher war Beides in fast gleichem Maße. Die Dunkelheit nahm jetzt sehr schnell zu; bald konnte, bei der noch immer großen Entfernung, der Mann dort nur noch als ein dunkler Punkt auf dem hellern Sande erscheinen und mußte in kurzer Zeit ganz verschwinden; andererseits brauchte er sich nur einmal umzusehen, wenn sie nicht eben vollständig gedeckt waren, und dann war er sicher in der nächsten Secunde die Düne, auf welcher er lag, hinabgerutscht, und an ein Einholen durfte man selbstverständlich nicht denken.

Gotthold schlug das Herz zum Zerspringen, während er das überdachte und mit Jochen im Flüsterton durchsprach. Hing doch, aller Wahrscheinlichkeit nach, sein und ihr Schicksal davon ab, daß er den Menschen dort in seine Gewalt bekam! Er hatte bis vor wenigen Minuten kaum den Schatten einer Hoffnung gehabt, es werde ihm das jemals gelingen; nun schien ihm ein fast wunderbarer Zufall dazu verhelfen zu wollen. Da war der Mann, hier er mit seinem treuen Jochen, die Entfernung, die sie trennte, so gering, in ein paar Minuten zurückzulegen, und ein Augenaufschlag, ein Windhauch, ein Nichts konnte ihm die Beute entreißen, als hätte er dies Alles nur geträumt, als sei dies Alles nur eine Täuschung seiner aufgeregten Sinne, und er brauche sich nur die Augen zu reiben, und der dunkle Fleck da drüben, der ein Mensch zu sein schien, war verschwunden.

Er war verschwunden. Hatte er die Verfolger von jener Seite auf sich zukommen sehen und seine Flucht fortgesetzt; hatte er gemeint, daß die Luft nun rein sei und er seinen Rückzug antreten könne – die Stelle, wo er eben noch gelegen, war leer. Ein Irrthum war unmöglich; trotz der tiefen Dämmerung setzte sich der Rand der Düne noch scharf genug von dem dunklen Himmel ab. Würde er wieder auftauchen? und dann näher oder ferner?

Ein paar Secunden verrannen, in welchen die Beiden nicht zu athmen wagten. Da! da war er wieder und näher – bedeutend näher; er schien gerade auf sie zuzukommen, und jetzt konnte darüber kein Zweifel mehr sein. In wenigen Minuten hatte sich die Entfernung um die Hälfte verringert; sie wagten schon kaum noch durch das wogende Riedgras zu lugen, so nothwendig es auch war, die Bewegung des Mannes, die ja noch im letzten Augenblicke eine andere Richtung nehmen konnte, zu verfolgen. Und jetzt schlüpfte er durch die Senkung zwischen zwei Hügeln der nächstgelegenen Kette und kam gerade durch die tiefe, von allen Seiten eingeschlossene Mulde auf die Düne zu, hinter deren Rande sie lagen. Es war die höchste in der ganzen Umgebung, und er wollte vermuthlich von derselben herab noch einmal eine kurze Umschau halten, um sich zu vergewissern, daß von keiner Seite mehr Gefahr drohe.

Sie waren ein paar Fuß hinabgeglitten und hatten sich so tief wie möglich in das Riedgras gedrückt. In wenigen Momenten mußte Hinrich Scheel’s Kopf vor ihnen auftauchen; sie hörten deutlich, wie er sich drüben die ziemlich steile Böschung hinaufarbeitete und vor sich hinfluchte, wenn der Sand unter seinen Füßen wegrutschte.

Jetzt.

Sie sprangen empor, hinauf, hinüber. Mit blitzschneller Wendung war Hinrich unter Gotthold’s Händen weggeschlüpft, aber, indem er sich nach links wandte, Jochen gerade in die Arme gelaufen; und die Beiden rutschten, rollten, kugelten, zu einem Knäuel geballt, die Düne hinab, schneller, als Gotthold im Stande war, hinabzuspringen. Jochen hatte ihn mit starken Armen festgepackt; aber er war bei der letzten Umdrehung unten zu liegen gekommen; mit einer verzweifelten Anstrengung hatte sich Hinrich frei gemacht und holte mit dem langen Einschlagmesser, das er aus der Tasche gezogen, zu einem wüthenden Schlage aus, als Gotthold ihm in den erhobenen Arm fiel und das Messer entwand. Da war auch Jochen bereits wieder in die Höhe; Hinrich Scheel lag seinerseits auf dem Dünensande, das Gesicht nach unten, und Jochen kniete auf seinen Schultern, im Begriff, mit einem dünnen Strick, den er aus alter Kutschergewohnheit immer bei sich trug, ihm die Ellenbogen zusammenzuschnüren.

„Wenn Ihr mich bindet, könnt Ihr mich nur gleich zertreten,“ keuchte Hinrich Scheel; „ich stehe nicht auf.“

„Laß ihn los!“ sagte Gotthold.

„Aber das wollen wir wenigstens an uns nehmen,“ sagte Jochen, indem er dem nahe am Boden Liegenden eine Pistole aus der Tasche zog und die Waffe an Gotthold gab. „So!“

Hinrich Scheel stand wieder auf den Füßen. Aus dem wuthverzerrten [800] Gesicht stierten die schielenden Augen gräßlich auf seine Angreifer. Plötzlich zuckte er zurück:

„Sie sind es, Sie!“ rief er. „Was wollen Sie von mir?“




31.


Es lag ein wilder Schrecken in Miene und Geberde des Hinrich, in dem gurgelnden Ton seiner rauhen Stimme.

„Was habt Ihr?“ rief Gotthold, indem er ihn, der noch immer wie erstarrt dastand, derb an der Schulter schüttelte.

Die kräftige Berührung brachte in dem Manne eine seltsame, unheimliche Wirkung hervor. Er reckte die langen Arme zum nächtlichen Himmel empor, indem er dieselben wild schüttelte und auf- und niederzuckte, und dann warf er sich in die Kniee, die Linke in den Sand stemmend und mit der Rechten ein paar Mal wüthend vor sich niederschlagend, als wolle er Jemand, den er an der Kehle hielt, den Garaus machen; und dann stand er wieder da und kreischte, als Antwort auf Gotthold’s Frage:

„Was ich habe? ich wollte, ich hätte ihn!“

„Wen?“

„Er hat gelogen; er hat gesagt, Sie wären todt und sie wollten mir an den Kragen, und lebenslängliches Zuchthaus wäre das Wenigste, und ob ich ihn mit in’s Unglück stürzen wolle, der immer ein so guter Herr gegen mich gewesen; und er wolle mir so viel geben, daß ich Zeit meines Lebens drüben genug hätte. Gab mir aber nur fünfhundert Thaler, als er in der Nacht zu den Hünengräbern kam, wo ich mich versteckt hatte; er habe nicht mehr, keinen Schilling; habe das Andere dem Referendar als Caution geben müssen, daß er sich jeden Augenblick stellen wolle, wenn er vorgefordert würde. Und das war Alles gelogen, nicht wahr, Herr, das war Alles gelogen?“

„Alles,“ sagte Gotthold, „Alles, Wort für Wort.“

„Alles, Wort für Wort!“ wiederholte Hinrich, als könne er es noch immer nicht fassen. „Warum brauchte er zu lügen, ich wäre ja so gegangen, wenn es sein mußte – für ihn; ich hatte es ja für ihn gethan; und wäre mir an dem Geld gelegen gewesen – ich hatte es in der Hand, ich konnte damit machen, was ich wollte, und habe es ihm ausgeliefert. Kein Thaler fehlte daran, das ganze Paket, wie ich es dem Herrn Assessor aus der Tasche gezogen.“

„Ihr hattet es für ihn gethan,“ sagte Gotthold; „hattet Ihr es auch auf seinen Befehl gethan?“

„Auf seinen Befehl?“ erwiderte Hinrich; „so was befiehlt sich auch! ich hab’s gethan, weil – weil – ich weiß nicht, weshalb; aber er ist auf meinem Buckel geritten, bis er seinen Pony bekam, und dann habe ich ihn reiten gelehrt; er hat Alles von mir, Alles; und wenn der Brownlock gewinnt und ihm das Heidengeld einbringt – wem hat er es zu verdanken, als dem Hinrich Scheel?“

Sie schritten, während sie so sprachen, durch die Dünen, Gotthold und Hinrich voran, während Jochen Prebrow hinterherging, aber nicht so weit, daß er nicht mit ein paar Sprüngen zur Hand gewesen wäre, falls es Noth that. Es war sehr dunkel geworden, so dunkel, daß die wilden Kaninchen, welche vor ihren Füßen durch den Strandhafer huschten, kaum noch zu sehen waren und die große ihnen entgegenschwebende Eule erschrocken zur Seite flatterte, als Hinrich jetzt nach einer Pause mit einem wilden Fluche fortfuhr:

„Ich hab’s gethan, weil ich seine Noth kannte. Fünftausend hatte er Mittags an den Herrn Redebas zu zahlen, und wenn er sie nicht zahlte, konnte er von dem Rennen zurückgewiesen werden. Das wußte ich – bin ich doch oft genug dagewesen und kenne es so gut, wie Einer von den Herren – und ich wußte, daß es ihm hinterher recht sein würde, wenn er es auch nicht ausgesprochen und, ich glaube, zuerst gar nicht an das Geld gedacht hat, das der Herr Assessor in der Tasche trug. Ich hatte aber den ganzen Tag daran gedacht und schon, als wir herausfuhren, mir die Stelle darauf angesehen. Sie hatte schon längst übergehangen und der Regen hatte lange Risse gemacht und ich sagte so bei mir: wenn sie heute Abend zurückfahren und man macht es, daß der Wagen da hinaufgeräth, so bricht’s ab und die ganze Geschichte rutscht hinunter; und es ist ein Unglück, das dem besten Kutscher passiren kann in einer Sturmnacht, wie wir sie heute haben werden.“

„Nur daß Ihr leicht die Partie mitmachen konntet!“ sagte Gotthold.

„Sie meinen, wenn ich nicht zur rechnen Zeit vom Wagen kam? Pah, Herr! das ist nicht schwerer, als von einem Pferde, das durchgeht, herabzukommen, wenn man merkt, daß es stürzen muß. Ich war zur rechten Zeit unten, und da brach’s auch schon und es ging hinunter, daß es nur so donnerte und krachte, und dann war es ganz still geworden, blos daß sich noch ein Stück oder zwei loslösten und hinabkollerten, und der Sturm kam über das Moor und heulte und wimmerte; aber das war mir nichts Neues, und unten war es ganz still.

Ich stand oben und sah hinab und fragte mich, wie weit sie wohl gerutscht sein könnten. Wenn der Mergel gut zusammengehalten hatte, war’s bis in’s Moor gegangen und dann, bei der Gewalt und der Schwere, wer weiß wie tief; aber es hatte unterwegs so gepoltert und ich hatte es so im Ohr: die ganze Geschichte müsse auseinandergebrochen sein, und dann konnte auch Alles noch am Rande liegen. Wissen mußte ich doch, wie es stand, und so machte ich mich denn daran, hinunterzuklettern.

Aber es ging nur schwer; ich konnte bei der Dunkelheit die rechten Stellen nicht finden und wäre beinahe selbst hinabgestürzt; endlich kam ich doch unten an.“

„Nun?“

„Nun, da tastete ich denn so herum; der Mond war auch ein bischen herausgekommen, und ich fand bald den Wagen, oder was noch vom Wagen übrig war; Alles kurz und klein, und der eine Gaul lag dabei; der hatte sich das Genick gebrochen und war mausetodt. Dicht bei dem Gaul lag der Herr Assessor, der athmete aber noch, und als ich ihn aus den Rücken drehte, stöhnte und wimmerte er, aber dann zuckte er so ein paar Mal zusammen; ich dachte, es würde auch ohne mich zu Ende gehen, und das Geld hatte ich ihm schon aus der Tasche genommen und den Rock wieder zugeknöpft, damit es so aussehe, als sei er liegen geblieben, wie er hinuntergestürzt.“

„Nach mir suchtet Ihr nicht?“

„Ich suchte schon, aber ich fand Sie nicht; er sagte mir nachher, Sie wären halbwegs liegen geblieben, und dann wurde mir die Zeit lang, wie ich da so im Dunkeln unten am Sumpf herumkrabbelte, und in den Binsen raschelte es und dann fing die andere Mähre, die mit der halben Deichsel losgekommen und auf den Sumpf gelaufen war, das dumme Vieh – ja, das fing zu schreien an; es klingt jämmerlich, wenn so ein Thier, dem’s an’s Leben geht, schreit in seiner Todesangst, und da machte ich, daß ich unten am Rande hin wieder auf’s Trockne kam.“

„Und da war auch schon Herr Brandow da?“

„Woher wissen Sie das?“ fragte Hinrich verwundert.

„Ich meinte nur so.“

„Nein, da war er noch nicht da, aber er kam gleich darauf, und ich war fuchswild, daß er den Brownlock genommen hatte, und was wollte er überhaupt? Das sagte ich ihm auch, und daß er gleich wieder umkehren müsse; aber er wollte ja nicht: sie hätten ihn wegreiten sehen, und was er sagen solle, wo er gewesen sei, wenn es herauskäme? Ich hatte ihm nämlich das Paket geben wollen; aber er hatte es mir aus der Hand gestoßen und so lag es zwischen uns, und ich sagte, da könne es ja da liegen bleiben. ‚Meinetwegen,‘ sagte er, ‚mir ist es nicht um das Geld zu thun gewesen,‘ und dann fragte er, was aus Ihnen geworden. Ich gab kurze Antwort, denn ich ärgerte mich; und da sagte er, ich solle auf der Stelle wieder umkehren und – und – ‚thut’s allein, Herr,‘ sagte ich, ‚ich will nichts weiter damit zu thun haben.‘ Er gab gute Worte, aber ich wollte aus schierer Bosheit nicht; nun kriegte er es wieder mit der Angst, was er angeben solle, wo er während dieser Zeit gewesen? bis ich zu ihm sagte: ‚Da Sie denn doch einmal den Brownlock unter sich haben, Herr, können Sie auch ebenso gut über das Moor reiten, und dann kommen Sie gerade so schnell nach Neuenhof, als wenn Sie von Dollan gleich nach den Herren weggeritten wären; versteht sich, auf dem richtigen Wege.‘ Das sah er denn auch ein; aber er hatte die Courage nicht, trotzdem er zu solchen Dingen Courage genug hat und ich selbst vor seinen eigenen Augen acht Tage vorher über das Moor geritten war, und da sagte ich zu ihm: ‚Dann thun Sie, was Sie wollen; ich muß nun hin und die Prebrows herausklopfen, sonst kriege ich noch alle Schuld;‘ und da ist er

[801]

Des Führers Abschied.[1]

Wenn Zwei zusammen wandern
Und kommt die Scheidestund’,
Reicht Einer wohl dem Andern
Zum Abschied Hand und Mund:
„Nun ist’s mit der Gesellschaft aus,
Nun grüß mir Weib und Kind zu Haus
– Behüt’ dich Gott!“

Zu Berg sind wir gegangen,
Zum stillen Dorf am See;
Sah’n Wies’ und Matte prangen
Und Wald und ew’gen Schnee,
Und schön war Alles rings umher –
Drum wahrlich wird das Scheiden schwer
– Behüt’ dich Gott!

Doch mit dir wirst du tragen,
Was freudig du geseh’n,
Und wenn in fernen Tagen
Die Bilder dir ersteh’n,
Dann denke, wie es Wanderbrauch,
Des treubefliss’nen Führers auch
– Behüt’ dich Gott!

 Herman Schmid.


  1. Wir entnehmen das obige gemüthvolle Lied unseres langjährigen Mitarbeiters Herman Schmid und die charakteristische Illustration mit Genehmigung des Verlegers dem soeben complet gewordenen Prachtwerke: „Aus deutschen Bergen, ein Gedenkbuch vom bairischen Gebirge und Salzkammergut, herausgegeben von Herman Schmid und K. Stieler.“ Allen Freunden der Natur und Kunst, namentlich den vielen Reisenden, welche jene herrliche Gegend besuchen konnten, sei das Prachtbuch bestens empfohlen.
    Die Redaction.




[802] doch geritten, und ein Staat war’s, wie er ritt, – ich konnt’s gut sehen, denn der Mond war ganz herausgekommen, – und das helle Wasser spritzte unter den Hufen auf – ja, es war ein Staat, wie er ritt.“

Hinrich ging ein paar Schritte schweigend; plötzlich blieb er stehen:

„Und es ist doch eine Sünde und Schande, wie er mich behandelt hat; Gott soll mich strafen, wenn ich es ihm nicht eintränke! Er hat mir zehn Procent von Allem versprochen, was ihm der Brownlock gewinnt, und er hatte schon Zehntausend in seinem Buch; es können aber leicht noch einmal so viel werden. Und er weiß, wie ich eine von diesen meinen Händen darum geben würde, könnte ich den Brownlock auf der Bahn sehen, und wie sie auf mich zeigen und sagen: ‚Das ist der Hinrich Scheel, der hat ihn trainirt, der versteht’s besser, als all’ die Engländer.‘ Herr, Herr! und das soll ich ihm schenken, daß er mich hier sitzen läßt, in dem Loch bei den Rahnke’s acht Tage lang, und wie ich nach Goritz komme in der Nacht, bevor die Yacht nach Mecklenburg ging, die mich mitnehmen wollte, und ich sollte ihn in den Goritzer Tannen treffen und die Zweitausend bekommen, die er mir versprochen; ja, da war er nicht und dachte wohl: morgen muß er doch fort, ob mit, ob ohne Geld; aber ich will’s ihm eintränken, bei Gott! ich will’s ihm eintränken.“


(Fortsetzung folgt.)




Galerie historischer Enthüllungen.*[1]


1. Wilhelm Tell und der Rütlibund.


Wer erinnert sich nicht mit tiefer Wehmuth der Zeit, da ihm nach froh und sorglos durchlebter, poetisch schöner Jugendzeit zum ersten Male offenbart wurde, daß die lieben Geschichten vom Christkindlein, das die herrlichen Weihnachtssachen, und vom langbeinigen Storche, der das herzige Brüderchen und Schwesterchen brachte, eine liebliche Dichtung der Eltern für die Kinder und weiter nichts seien? Und so mußte es auch den großen Kindern sehr weh um’s Herz sein, als die Naturforschung der Neuzeit mit ihren unerbittlichen geologischen Schichten und paläontologischen (urweltlichen) Resten die Schöpfungsgeschichte, wie sie von der Bibel erzählt wird, und die Sündfluth in das Reich der Volkssagen verwies, und die ernste Geschichtsforschung nachkam und einen Abraham und Moses als historische Personen wegrasirte oder wenigstens anzweifelte, gleich einem Herakles und Romulus! Noch weit mehr aber mußte es in die Herzen greifen, als der unbarmherzige Strauß und seine Nachfolger die Unzuverlässigkeit der evangelischen Erzählungen nachwiesen, und Wunder sowohl als Auferstehung und Himmelfahrt aus lange angestaunten großen historischen Thatsachen zu Gegenständen der Mythologie wurden!

Nun, gerade so ging es einerseits den Bewunderern und Verehrern des unsterblichen Schiller, und andererseits den patriotischen Bürgern des schönen Schweizerlandes, als die schmerzliche Kunde sich wie ein drohendes Gespenst am Horizont erhob und trotz alles Protestes immer mehr an Halt und Zuversicht gewann, daß auch der Held der Freiheit, Wilhelm Tell, daß auch der geheiligte Boden des Schwurs gegen Tyrannei, das vielbesungene Rütli, nicht in die wahre Geschichte gehören!

Wie fest schienen diese Ereignisse zu stehen! Konnte man von ihnen nicht mit Schiller sagen:

 „Ein glaubenswerther Mann,
Johannes Müller, bracht’ es von Schaffhausen!“

Nur schade, daß dieses „glaubenswerthen Mannes“ Nimbus, nach des Dichters frühem Tode, durch seinen Wankelmuth bedeutend gelitten hat! Und wer die herrliche Reise durch die innere Schweiz, über den unvergeßlichen Vierwaldstättersee mit seinen hochragenden Bergen und blauen Fluthen unternahm – that er es nicht ebenso sehr um der erhabenen historischen Erinnerungen, welche sich an dieses wilde Wasserbecken knüpften, als um der überwältigenden Naturschönheiten willen? Waren nicht beide verknüpft durch des Dichters Wort:

„Erzählen wird man von dem Schützen Tell,
So lang’ die Berge steh’n auf ihren Grunde!“

Wer dachte nicht bei Küßnacht, am Fuße der aussichtreichen Rigihöhe, bevor die Eisenbahn diesen Naturtempel zur Touristenbörse entweihte, an den Tod des Tyrannen und declamirte vor sich hin:

„Durch diese hohle Gasse muß er kommen;
Es führt kein andrer Weg nach Küßnacht …“

Am Gestade Unterwaldens, wem schwebte da nicht Baumgarten’s Flucht vor dem Landvogt und seine Verzweiflung vor:

„So muß ich fallen in des Feindes Hand,
Das nahe Rettungsufer im Gesicht!
Dort liegt’s! Ich kann’s erreichen mit den Augen …“

Wem schlug nicht das Herz auf der Höhe des Rütli:

„Den Fels erkenn’ ich und das Kreuzlein drauf;
Wir sind am Ziel, hier ist das Rütli!“

Und wen durchschauerte dort nicht der Gedanke an den feierlichen Eid in mondheller Nacht:

„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Noth uns trennen und Gefahr!“

Dieses Rütli mit seinen drei Brunnen hatte noch jüngst die Schweizer Jugend angekauft als heiliges Nationaldenkmal, und im See draußen hatte bald darauf die Felspyramide des Mythensteins die Inschrift erhalten:

 „Dem Sänger Tell’s die Urcantone.“

Kaum hat man die imposante Stelle passirt, so erblickt man die „Tellenplatte“ mit ihrer Capelle und der Erinnerung an kühne Schützenthat:

„Und mit gewalt’gem Fußstoß hinter mich
Schleudr’ ich das Schifflein in den Schlund der Wasser!“

Endlich landet das Boot in Flüelen, und eine kurze Strecke Wegs führt nach Altdorf, wo jeder Stein vom Tell zeugt, wenigstens jeder Brunnen und die unglückliche gypserne Kolossalstatue! Und noch mehr! Die ganze Gotthardstraße hinan, bis wo Italiens Himmel herüberlacht – wem schwebt da nicht die Schilderung vor, wie sie Tell dem verfolgten Herzog Johann machte?

Doch genug der poetischen Reminiscenzen, die Pflicht der Wahrheit drückt uns die Feder zu ernstem, wenn auch peinlichem Werke in die Hand.

Die Hauptursache, aus welcher die bisher herrschenden Ueberlieferungen bezüglich der Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft so allgemein geglaubt wurden, lag in der frühern Manier der Geschichtschreibung, sich beinahe oder auch ganz allein auf die Berichte der Chroniken zu verlassen, ohne dabei Rücksicht darauf zu nehmen, wie lange nach der erzählten Begebenheit diese Chroniken entstanden waren. Darauf aber, daß auch zur Zeit der betreffenden Begebenheit Chroniken geschrieben worden, welche von derselben jedoch nichts wußten, nahm man keine Rücksicht, und noch weniger auf die gleichzeitigen Urkunden, welche gar zu tief im Staube der Archive vergraben und gar zu alterthümlich und unleserlich geschrieben waren. Die neueste Geschichtsforschung aber hat hierin eine ganz andere Bahn eingeschlagen. Sie steigt, um die Geschichte eines Zeitalters zu erforschen, in dieses selbst hinauf und berücksichtigt allein die gleichzeitigen Quellen, nach denen dann erst der Werth der späteren Berichte abgeschätzt wird. So haben denn, außer den schon Eingangs erwähnten Daten der sogenannten heiligen Geschichte, auch die übrigen Partien der Welthistorie eine ganz neue Gestalt gewonnen. So erkennt man zum Beispiel in der wirklichen, quellenmäßigen Gestalt einer Johanna d’Arc, einer Maria Stuart, eines Don Carlos etc. Diejenigen nicht mehr, welche Tradition und Poesie geschaffen hatten, und selbst die Ereignisse der französischen Revolution bieten sich ganz anders dar, als die französische Geschichtschreibung bisher gelehrt hatte.

Diesem Schicksal konnte denn auch die Geschichte der Entstehung des Schweizerbundes nicht entgehen. Das Verdienst, [803] dieselbe zuerst aufgehellt zu haben, gebührt dem Professor Kopp in Luzern, welcher 1835 in diesem Sinne auftrat. Mitten auf dem Schauplatze der in den Gemüthern eingewurzelten Begebenheiten lebend, war seine Stellung um so eigenthümlicher, als er ein gläubiger Katholik war, der an keinem Jota der kirchengeschichtlichen Ueberlieferung zweifelte und auch nicht daran dachte, daß man es wagen würde, an diese den gleichen Maßstab anzulegen, wie an die profangeschichtliche Erzählung. Aber welche Ironie des Schicksals! Im nämlichen Jahre erschien Strauß’ Leben Jesu!! –

Bis dahin hatte die Urgeschichte des Schweizerbundes nach den Bearbeitungen von Tschudi und Müller gelautet:

In uralten Zeiten zog aus dem hohen Norden (Schweden), vom Hunger getrieben, ein Volk südwärts, um mildere Regionen aufzusuchen. Am Vierwaldstättersee angekommen, fanden die Auswanderer ähnliche Scenerien, wie in der Heimath Schweden, ließen sich da nieder und gründeten drei kleine Staaten: Uri, Schwyz und Unterwalden. Nur dem Reiche unterthan und von ihm mit Freiheiten ausgestattet, wurden sie, als Rudolf’s von Habsburg Sohn, Albrecht, zum Kaiserthrone gelangte, von diesem als österreichisches Gebiet angesehen, und er sandte ihnen Vögte, welche gegen die Bewohner die empörendsten Gewaltthaten verübten. Dieses Joch wurde unerträglich; die Bedrückten schlossen im Jahre 1307 auf dem Rütli einen geheimen Bund; einer der Vögte, Geßler, fiel durch den Pfeil des Schützen Wilhelm Tell, welchen er gezwungen hatte, einen Apfel von des Sohnes Haupt zu schießen; der Andere, Landenberg, wurde um Neujahr 1308 aus dem Lande vertrieben, und dasselbe war von da an frei.

Ganz anders lautet nun die Erzählung nach Berücksichtigung der Urkunden und der gleichzeitigen Geschichtschreibung:

Die Bewohner der Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden gehören demselben Stamme an, wie die übrigen deutschen Schweizer, nämlich den Alamannen, welche im fünften Jahrhundert aus Schwaben in Helvetien eingewandert waren; für eine Einwanderung aus Schweden spricht gar nichts. Wahrscheinlich erst seit dem achten oder neunten Jahrhundert waren die Gestade des Vierwaldstättersees bewohnt. Im Jahre 853 schenkte Ludwig der Deutsche das Ländchen Uri dem Frauenkloster zu Zürich, doch nicht den ganzen Canton dieses Namens, in welchem noch mehrere adelige Häuser sowohl, als Klöster Besitzungen hatten. Die hohe Gerichtsbarkeit in Uri übte der Vogt des Züricher Frauenklosters aus. Als diese Stelle durch den Tod des letzten Zähringers, Berthold des Fünften, erledigt wurde (1218), vereinigte sie Kaiser Friedrich der Zweite mit dem Reiche, übertrug aber den Besitz von Uri seinem Anhänger, dem Grafen Rudolf von Habsburg, Großvater des späteren Kaisers dieses Namens. Friedrich’s Sohn aber, Heinrich, welcher sich von seinem Vater unabhängig zu machen suchte, kaufte, um die Gotthardstraße in seine Hand zu bekommen, Uri 1231 von Habsburg los und erklärte das Ländchen als reichsunmittelbar. Dies bestätigte Kaiser Rudolf im Jahre 1274. Schwyz gehörte noch mehreren Herren als Uri; die Gerichtsbarkeit wurde von den Grafen zu Habsburg, als Vorstehern des Zürichgaues, zu welchem Schwyz gehörte, ausgeübt und von ihnen als erblich betrachtet. Die Schwyzer aber benutzten eine zwischen den Habsburgern und Kaiser Friedrich dem Zweiten ausgebrochene Feindschaft, um sich (1240) von Letzterem einen Freiheitsbrief auszuwirken, der demjenigen Heinrich’s für Uri ähnlich war. Durch das Ende des Kaisers kam aber Schwyz von Neuem unter die Herrschaft Habsburgs, daher auch Kaiser Rudolf den dortigen Freiheitsbrief nicht bestätigte. Unterwalden zerfiel von Alters her in die beiden Thäler von Stans und Sarnen, gehörte ebenfalls vielen Herren und Klöstern und stand unter der Gerichtsbarkeit Habsburgs, wie Schwyz, erhielt aber keinen Freiheitsbrief. Als nun Kaiser Rudolf starb (1291), traten sofort die Länder Uri, Schwyz und Unterwalden zu einem Bunde zusammen, dessen Urkunde noch vorhanden ist. Derselbe führte zu einem Kriege mit dem Hause Habsburg, von welchem jedoch keine Einzelheiten bekannt sind, in welchem Schwyz zwar unterlag, aber den Druck der Herrschaft nicht stark spürte, sondern sich ziemlich unabhängig benahm. Es benutzte auch gleich die Verlegenheit, in welcher sich Kaiser Adolf gegenüber seinem Nebenbuhler Albrecht befand, um von diesem eine Bestätigung seines Freiheitsbriefes zu erhalten, und so auch Uri. Als Albrecht über Adolf siegte, bestätigte er zwar natürlich keine Briefe, welche die Rechte seines Hauses aufhoben, aber er bekümmerte sich auch nicht um die Waldstätten, da er sonst genug im Reiche zu thun hatte. Nach seiner Ermordung nun erwirkte Uri, Schwyz und Unterwalden von Kaiser Heinrich dem Siebenten, damals Feind der Habsburger, 1309 einen gemeinsamen Freiheitsbrief. Als sich aber die Habsburger mit dem Kaiser versöhnten, bestellte dieser Schiedsrichter, um ihre und des Reiches Rechte in den Waldstätten zu untersuchen. Er starb jedoch bald, und als sich nun die Waldstätten für Ludwig von Baiern erklärten, fand es des Gegenkaisers Friedrich von Oesterreich Bruder, Herzog Leopold, an der Zeit, die Widerspenstigen zu unterwerfen und zog mit einem Kriegsheer gegen sie, das aber am 15. November 1315 am Morgarten total geschlagen wurde, worauf die drei Länder ihren ewigen Bund zu Brunnen schlossen. Damit war ihre Freiheit auf immer besiegelt, und hier laufen die Erzählungen der Sage und der Geschichte endlich zusammen.

Woher nun diese beiden durchaus verschiedenen Erzählungen? Sehen wir zuerst, wann die sagenhafte Auffassung sich gebildet hat.

Der älteste Chronist, welcher über schweizerische Verhältnisse schrieb, war der Mönch Johannes von Winterthur, welcher von 1340–1347 seine lateinische Chronik verfaßte. Er erzählt sehr ausführlich die Schlacht von Morgarten, aus der er seinen Vater zurückkehren gesehen hatte; auch wußte er, daß der Zweck dieser Schlacht war, die rebellischen Schwyzer zu unterwerfen; von einem Rütlibund aber, von Tell und von Allem, was dazu gehört, weiß er kein Wort. Dasselbe ist auch mit zwei anderen Chronisten des nämlichen Jahrhunderts der Fall: Johannes von Viktring[WS 1] in Kärnten (übrigens ein Gegner Oesterreichs und Freund der Schwyzer) und Mathias von Neuenburg im Breisgau; Beide kennen Morgarten sehr genau, haben aber keine Ahnung von Tell und Rütli. Der Berner Rathsschreiber Justinger, welcher seine deutsche Chronik seit 1420 schrieb, weiß schon mehr, nämlich, daß österreichische Vögte sich in den Waldstätten Gewaltthaten „mit frommer Leute Weibern und Töchtern“ erlaubt hätten; er giebt aber weder eine Zeit an, in welcher dies vorgefallen, noch weiß er irgend etwas von näheren Umständen, die damit verbunden gewesen, noch nennt er Personen, die sich bei diesen Conflicten betheiligt hätten, während er die Schlacht von Morgarten und ihre Nebenumstände sehr gut kennt. Doch das waren keine Waldstätter, sondern „Fremde“. Aber auch ein Urner, Johann Püntiner, und ein Schwyzer, Johann Fründ, welche im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts schrieben, erzählen nichts von dem Aufstande, welcher hundert Jahre vorher stattgefunden haben sollte, sondern begnügen sich, jene Fabel von der Abstammung der Urner von den Gothen und der Schwyzer von den Schweden aufzutischen, welche damit zum ersten Male an das Tageslicht trat.

In der Mitte desselben Jahrhunderts trat dann ein heftiger Gegner der Schwyzer auf, der Chorherr Felix Hemmerlin aus Zürich, welcher damals mit Oesterreich gegen die übrigen Schweizer verbündet war. In einer Streitschrift gegen Schwyz behauptet er, die Bewohner dieses Landes stammten von Sachsen, welche Karl der Große in die Alpen gesandt hätte, um dort die Straße nach Italien zu bewachen. Diese Sachsen hätten sich zu diesem Geschäfte mit dem plattdeutschen Spruche angeschickt: „Wi wellen hie switten“ (Wir wollen hier schwitzen, d. h. uns anstrengen); daher ihr Name. Hemmerlin beschuldigt damit die Schwyzer, sich gegen Oesterreich empört zu haben, indem sie einen Vogt im Schlosse Lowerz tödteten, unter dem Vorwande, daß er ein Mädchen aus ihrem Lande verführt habe, worauf dann auch die Unterwaldner ihren Vogt Landenberg verjagt hätten. Von Uri, Geßler, Tell und Rütli noch keine Idee! Das erste Buch, welches von diesen handelt, ist die um 1470 im „Weißen Buche“, d. h. einer Urkundensammlung von Sarnen in Unterwalden, eingetragene, aber erst in neuester Zeit bekannt gewordene Chronik. Sie erzählt abermals die Herkunft der Schwyzer aus Schweden. Hier erscheint nun die Tell- und Rütlisage ziemlich so, wie sie später allgemein geglaubt wurde. Die Ochsen Melchthal’s, das Haus Staufachers, der Hut auf der Stange, die Zusammenkunft im Rütli, der Apfelschuß, die That in der hohlen Gasse, Alles tritt hier zum ersten Male auf, hundertdreiundsechszig Jahre, nachdem diese Begebenheiten vorgefallen sein sollen. Tell heißt im „Weißen [804] Buche“ Thall (ohne Vornamen); ein Zeitpunkt der erzählten Vorfälle ist nicht angegeben; es heißt nur: nach dem Tode Rudolf’s, und Albrecht wird als Sender der Vögte nicht genannt, Indessen bestanden schon damals verschiedene Versionen der Geschichte. Derjenigen des „Weißen Buches“, welche die Schwyzer und Unterwaldner in den Vordergrund stellt und Tell als Urner erst nachfolgen läßt, stand eine urnerische Sage gegenüber, welche wir durch den gleichzeitigen Gerichtsschreiber Melchior Ruß von Luzern, Sohn einer Urnerin, kennen; er schrieb seit 1482 eine Luzerner Chronik. In dieser dreht sich Alles um „Wilhelm Thell“, neben welchem weder die Schwyzer, noch die Unterwaldner Verschworenen, noch das Rütli genannt werden. Auch ist es sehr bezeichnend, daß die Geschichte, wie sie in Uri beginnt, auch dort endet; der Vogt, dessen Name nicht genannt wird, erliegt dem Pfeile „Thell’s“ nicht in der hohlen Gasse, sondern gleich nachdem der Schütze aus dem Schiff gesprungen ist, auf der Tellenplatte. Etterlin, der erste Chronist des sechszehnten Jahrhunderts (1507) nennt den Landvogt von Uri Grißler und seinen Gegner „Wilhelm Tell“ und folgt sonst ganz dem „Weißen Buche“, dessen Erzählung er nur ein wenig ausschmückt. Dasselbe thut im Ganzen ein Schauspiel, welches 1511–1513 verfaßt und in Altdorf aufgeführt wurde; der Prolog desselben nennt 1296 als das Jahr der Befreiung der Waldstätten, der Züricher Chronist Johann Stumpff (1548) aber sogar die Zeit nach dem Tode Heinrich’s des Siebenten (1313).

Bisher also hatte noch Niemand daran gedacht, die Sendung von Vögten dem Kaiser Albrecht in die Schuhe zu schieben. Das that zum ersten Male der berühmte Chronist Egidius Tschudi von Glarus (gestorben 1572), ohne daß man weiß, nach was für Quellen. Er war es, der die bisherigen Widersprüche ausglich und der Geschichte von Tell die Gestalt gab, unter welcher sie seitdem bis auf die neueste Zeit geglaubt wurde. Aber auch er weiß noch nicht, daß Tell aus Bürglen, noch nicht, daß er Walter Fürst’s Schwiegersohn, noch nicht, daß er zwei Jungen, Walther und Wilhelm, gehabt, noch nicht, daß der Vogt Geßler Hermann hieß und aus Bruneck war, und das Rütli war auch ihm noch nichts als ein Ort der Zusammenkunft der Unzufriedenen, nicht der Schauplatz eines Bundesschwurs. Alle diese Details erschienen zum ersten Male bei Johannes von Müller am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Und woher hatte er sie? Theils, wie die Familienverhältnisse Tell’s, aus einer frommen Fälschung, welche sich zwei Geistliche in Uri erlaubt, um die Existenz einer Familie Tell zu beweisen, von welcher in Wahrheit kein Kirchenbuch etwas weiß. Den Eidschwur im Rütli aber verdanken wir einzig und allein der reichen Phantasie des Historikers von Schaffhausen.

Schon im siebenzehnten Jahrhundert sind indessen bescheidene, im achtzehnten aber kühnere Zweifel an der Wahrheit der Tellsage aufgetaucht; gestützt auf die Aehnlichkeit derselben mit derjenigen des dänischen Schützen Toko bei dem Chronisten Saxo, erklärte der Berner Pfarrer Freudenberger 1760 Tell für eine Fabel; sein Buch wurde in Uri durch den Henker verbrannt; der Verfasser einer Widerlegung, die sich aber im Wesentlichen nur auf die schon berührten Fälschungen stützt, erhielt dagegen eine Ehrenmedaille. – Jetzt kann man die Wahrheit nicht mehr unterdrücken, und selbst die Urner haben sie neustens anerkennen müssen.

Das Resultat von Alledem ist nun: Die Geschichte von Tell und vom Rütlibunde erscheint in keiner gleichzeitigen Quelle; sie wurde zum ersten Male gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts erzählt, aber unter argen Widersprüchen. Tschudi, welcher sie am genauesten berichtet, nennt keine Quellen; nach der urkundlichen Geschichte des Ursprungs der Schweizer Freiheit fallen die Sendung der Vögte und der Aufstand gegen sie unter der Regierung Albrecht’s als ganz überflüssig weg, und unter eine andere Regierung passen sie ebensowenig; von einem Bunde im Rütli weiß bis auf Müller Niemand etwas, und für die Existenz einer Familie Tell liegen nirgends auch nur die geringsten Anhaltspunkte vor.

Man fragt nun vielleicht mit regem Interesse: wem denn diese Dichtungen zu verdanken seien, in welche bisher die ältere Schweizergeschichte eingehüllt war? Nun, darüber lassen sich blos Vermuthungen aufstellen. Die Veranlassung dazu boten jedenfalls die glänzenden Siege der Schweizer über Oesterreich, denen man auch eine ruhmvolle Grundlage, poetischer als die trockenen Pergamente der Freiheitsbriefe, geben zu müssen glaubte. So entstanden nach und nach Lieder und Sagen, deren Grundstock die dänische Erzählung vom Apfelschuß und Tyrannenmord des Toko bildete. Den Namen Tell, welcher erst spät den Vornamen Wilhelm erhielt, entlehnte man von der Bezeichnung eines Tollen, Verwegenen (nach gelehrter Hypothese von telum, Geschoß). Das Rütli empfahl sich als Ort der Verschwörung durch seine schöne, günstige Lage. Die Verschworenen mußten angesehene Männer sein: Walther Fürst von Uri und Werner Staufacher von Schwyz (welche Beide wirklich gelebt haben), denen man für Unterwalden einen Arnold von Melchthal hinzudichtete (dessen That schon dadurch wegfällt, daß Unterwalden niemals einen Pflug gesehen).*[2] Nachdem alle diese Dichtungen durch Chroniken und Volksschauspiel im Glauben des Volkes befestigt waren, errichtete man erst die Capellen, welche nach Tell benannt sind, und wallfahrtete zu ihnen. Mit klaren Worten also: es gab überhaupt niemals österreichische Landvögte in den Urcantonen, mithin auch keinen Landvogt Geßler, keinen Hut auf der Stange und keinen Tell’schen Apfelschuß, mithin auch keine Möglichkeit einer Verschwörung, keinen Rütlischwur, keine Ermordung eines Vogtes und Zerstörung der Zwingburgen.

Diese trockene Wahrheit ist zu bedauern, aber nicht zu ändern; die schöne Tellgeschichte muß eben das Schicksal vieler anderer Geschichten theilen und aus dem Gebiete der Geschichte in das der Sage, der Poesie wandern. Damit verliert sie nichts von ihrer subjectiven Wahrheit; sie hat dessen ungeachtet viele Gemüther begeistert. Für die Existenz der Schweiz als Republik aber ist dieses Resultat gleichgültig; dieselbe ist durchaus unabhängig von Tell’s That, die auch nach der Sage nur ein Anstoß unter vielen zur Befreiung der Waldstätten war; das Meiste und eigentlich einzig Wirkungsvolle zur Selbstständigkeit der Schweiz haben die Siege über Oesterreich am Morgarten, bei Sempach und Näfels beigetragen; wären die Schweizer dort unterlegen, so hätten hundert Telle nichts genutzt; der einzige Winkelried überwiegt diese Zahl weit. Die Schweiz kann auch ohne einen Tell durch ihre Geschichte und durch ihr gegenwärtiges schönes Wirken für Cultur auf allen Gebieten und für wahre Volksfreiheit eine hohe und schöne Aufgabe erfüllen.

Dr. Otto Henne-Am Rhyn.
  1. * Erfundene Thatsachen und Persönlichkeiten, welche, durch das Alter derselben geheiligt, als Wahrheiten in der Geschichtschreibung noch heute forterben, in ihrer historischen Nichtigkeit darzustellen, ist der Zweck der mit Obigem beginnenden Artikelreihe.
    D. Red.
  2. * Die Geßler und Landenberg waren adelige Familien des Aar- und Thurgaues, besaßen aber niemals Burgen in den Waldstätten.




Adele Spitzeder.


Im Jahre 1824 machte eine junge, aus Norddeutschland gebürtige, aber in Wien herangebildete Sängerin, Betty Vio, daselbst großes Aufsehen. Ausgezeichnet in Soubrettenrollen wurde sie, was Kehlfertigkeit und Geschmack im Vortrage betrifft, von angesehenen Kritikern mit der Sontag verglichen, der sie auch an Gestalt ähnlich war. Eine triumphreiche Kunstreise führte sie einige Zeit später nach Berlin, wo Joseph Spitzeder, der vorzüglichste Baßbuffo Deutschlands, an der Königsstädter Bühne wirkte. Die Spieloper ist bekanntlich nicht die stärkste Seite der deutschen Gesangskünstler; Spitzeder aber und Fräulein Vio, die nun für die Königsstadt gewonnen wurde, bildeten ein Darstellerpaar, wie es diesseits des Rheins in der komischen Oper kaum mehr getroffen wurde. Wie gebührend vermählten sie sich auch mit einander und siedelten schon im Jahre 1829 nach München über, wo sie der Hofbühne zu einer Zeit angehörten, die als Glanzepoche dieser Kunstanstalt bezeichnet wird. Spitzeder starb leider sehr bald, aber seine Wittwe, die sich später wieder verheirathete, wirkte lange neben den berühmten Sängerinnen Vespermann und Schechner fort und lebt noch in München. Aus der Ehe mit Spitzeder entsproß Adele, geboren 1832.

Neben den musikalischen Talenten gilt die darstellende Kunst als diejenige, die sich am öftesten vererbt. Wir treffen seit dem

[805]

Burg Aufseß.
Nach der Natur aufgenommen von Lorenz Ritter in Nürnberg.

[806] vorigen Jahrhundert förmliche Schauspieler- und Sängergeschlechter. Die Dynastien der Le Brun, Moralt, Kramer, Schröder, Devrient blühten bis in unsere Tage hinein. Welche Gottheit auch diesen Segen zu spenden hat, dem Stamme Spitzeder ist er nicht zu Theil geworden. Adele sollte sich allerdings der Bühne widmen, aber Dingelstedt, durch den ungünstigen Eindruck ihrer äußeren Erscheinung abgeschreckt, verweigerte ihr seine Arena. Erst unter der folgenden Intendantur, im Jahre 1860, gelang es der Kunstnovizin, als „Deborah“ einen theatralischen Versuch durchzusetzen, der aber gänzlich mißlang. Sie ist zwar von stattlichem Wuchs, aber die geschlitzten Augen, deren blaßblaue, fast farblose Pupillen nur stechende Blicke versenden, sowie auch ein unverhältnißmäßig vorstehendes und nicht einmal dem Colorit nach bescheidenes Riechorgan hinderten sie an jeder wirksamen, zum Herzen sprechenden Mimik. Ueberhaupt zeigt die ganze Physiognomie, namentlich jetzt in ihren vorgerückten Jahren, eine Energie, daß man das Fräulein, zumal mit ihrem kurzgeschnittenen, kühn toupirten Haupthaar, für einen verkleideten Mann halten könnte, wenn nicht die dünne Stimme wieder an das Weibliche erinnerte. Die Volkssage ergeht sich denn auch in den kühnsten Combinationen, die wir hier unerwähnt lassen.

Ziemlich gepäckfrei und namentlich mit Lorbeeren nicht beschwert, ging sie von München nach Zürich in’s Engagement, wo sie Schulden im Betrage von etwas über zweitausend Franken contrahirte, gewiß eine Kleinigkeit, die man einem jugendlichen Wesen, das sich mit voller Seele der Kunst hingiebt und, ohne es zu wollen, den holden Leichtsinn dieser Berufssphäre eingesogen hat, gerne verzeiht. Vielleicht in der Vorahnung ihres künftigen Sternes verließ sie die Stadt Zwingli’s ohne Gewissensbisse, überzeugt, daß ihren Gläubigern einst Alles doppelt und dreifach werde vergolten werden. Richtig soll auch ein später nach Zürich gekommener Agent sich mit denselben auf eine Zahlung von – fünfzig Procent verständigt haben.

Adele war also wieder zu Hause, in Armuth und Garderobe fast auf ihre Debütrolle Deborah zurückgekommen. Da inserirte sie eines Tages in den Münchener „Neuesten Nachrichten“, die ihr glückbringend und verhängnißvoll werden sollten, daß Jemand ein Darlehn gegen hohe Verzinsung aufzunehmen wünsche. Man nennt allgemein einen Packträger Namens Wagner, der durch eigenthümliche Inspiration sich gedrungen fühlte, der Inserentin baare fünfhundert Gulden zu bringen. Und siehe: dabei blieb es nicht! Wahrscheinlich durch das hohe Zinsenangebot gelockt, erschien ein zweiter und dritter Biedermann und eine vierte und fünfte Helferin, und so soll sich die Bedrängte innerhalb vierzehn Tagen in dem Besitze von zwanzigtausend Gulden befunden haben.

Die Schleußen des Glückes schienen geöffnet; Adelen selbst aber war plötzlich ein Licht aufgegangen über die Kunst, reich zu werden. Mit großer Schlauheit hatte sie gleich die ersten Wechsel, die sie noch mit schüchterner Hand unterschrieb, so „auseinander datirt“, daß sie im Stande war, die hohen Interessen, sowie auch die wenigen Summen, auf deren Heimzahlung bestanden wurde, mit den in wachsender Proportion nachrückenden Einlagen zu decken. Das Wort des Zauberlehrlings war gefunden. Unaufhörlich schleppten die Eimer Geld herbei und wieder Geld, so daß die bescheidene Wohnung beim „Stangl im Thal“, einem uralten Münchener Wirthshause, in welchem viel Landvolk verkehrt, besonders aus der Gegend von Bruck und Dachau – daher der Name „Dachauer Bank“ – verlassen werden mußte. Sie acquirirte das dreistöckige Haus Nr. 9 an der in die classische Ludwigsstraße einmündenden Schönfeldstraße, sowie auch die gegenüberliegende Kneipe zum „Wilhelm Tell“, die restaurirt und, was Küche und Keller betrifft, flott ausgestattet wurde. Eine etwas entferntere Lage, sowie der doppelte Zugang, östlich von der am englischen Garten sich hinziehenden Königinstraße und westlich vom Kriegsministerium, respective der Ludwigsstraße her, waren dem „Geschäft“ nur günstig, da nicht jeder Liebhaber eines hohen Zinsfußes sich gern begaffen läßt. Auch hatten die Droschkenkutscher und Fiaker, deren immer einige entweder vor der „Bank“ oder vor der Kneipe zu sehen waren, eine schöne Losung, wenn auch die meisten Bauern an prügelartigen Stöcken ihre schweren Reisesäcke auf dem Rücken tragend, zu Fuß hinabkeuchten. Das Weibervolk trug seine Capitalien und Zinsen in Körbchen hin und her, und jeder vernünftige Vorübergehende hatte tagtäglich Gelegenheit, an dem vergnügten Lächeln dieser dummen Geschöpfe sein Aergerniß zu nehmen.

Ein stämmiger Portier, wie man sagt mit zwölfhundert Gulden jährlich besoldet, bewachte die Pforten des Wundertempels, nur immer Drei bis Vier auf einmal hineinlassend, während sich die Wartenden einstweilen im „Wilhelm Tell“ vergnügen mußten, aus dessen immer gefüllten Räumen ein tolles Gesumme dem Vorübergehenden an die Ohren schlug. Hatte ja doch Jeder Grund, sich einen guten Tag aufzuthun, sowohl wer die dem eingelegten Capital fast gleichkommenden Monatszinsen erhob, als auch der Neuling, dem von seiner Opfergabe gleich die erste Rate zurückvergütet wurde. Neben den habsüchtigen Betrogenen vereinigte der „Tell“ – schade um die Firma! – auch das Gaunercorps der Zutreiber und Agenten, die hier ihre Rapporte austauschten und die Pläne zu wohlstandsmörderischen Expeditionen auf das flache Land entwarfen. Unermüdlich und offenbar zum Ergötzen dieses Gesindels streifte die Gensd’armerie an der Wirthschaft wie an der Räuberhöhle selbst vorüber, eine lebendige Mahnung an die tödtende Eigenschaft des Buchstabens, der die Justiz zwang, den Geist der Gesetze unbefriedigt zu lassen und dem schändlichen Treiben müßig zuzusehen. Die Codices wurden nach allen Richtungen durchstöbert, das Strafgesetzbuch, das Wechselrecht, das Handelsgesetz, die Gewerbeordnung, der Civilproceß – nichts bot einen Angriffspunkt, so lange Adele Spitzeder zahlte! Wechsel, welche allenfalls Advocaten in Händen hätten, erbot sie sich wiederholt, schon vor der Verfallzeit, zu honoriren, armen Leuten aber ihr Guthaben jeden Augenblick, wenn sie es wünschten oder bedurften, zurückzuzahlen. Aus den immer neu und immer stärker zuströmenden Einlagen ließ sich ja Alles leicht machen.[1] Sie war so übermüthig, fällige Summen, die von mißtrauischen Bauern zur Probe verlangt wurden, aber sogleich respectvollst wieder angelegt werden wollten, unter Grobheiten zurückzuweisen, so daß die ihr unverdientes Glück gar nicht ahnenden dummen Teufel beschämt abzogen. Die ultramontanen Kreuzerblätter beeilten sich jederzeit, dabei Vorkommnisse auszuposaunen, wodurch natürlich das Ansehen der Schwindlerin nicht wenig gehoben wurde.

Einem Bauern aus der Traunsteiner Gegend, der fünfhundert Gulden in eine Schweinsblase verpackt hatte, um sie des andern Tags zur Dachauer Bank zu befördern, nahm seine von Befürchtungen geplagte Bäuerin hundert Gulden heraus, ohne ihm etwas davon zu sagen. Der Bauer kommt nach München und wird gefragt, wie viel er bringe. „Fünfhundert Gulden!“ antwortet er, worauf die ganze Blase in eine Mulde geschüttet und der Wechsel, unter Ausbezahlung der ersten Monatszinsen, ihm eingehändigt wird. Darüber stellen sich bei der Bäuerin Gewissensbisse ein, sie entdeckt ihrem Manne, was sie gethan, und dieser reist abermals nach München, um die fehlenden hundert Gulden nachträglich zu entrichten. Adele, gerührt von der Ehrlichkeit des Mannes, erläßt die Nachzahlung vollständig und schenkt ihm noch eine Hand voll Thaler dazu. Wessen Herz sollte durch solche Züge nicht vollständig gewonnen werden?

Bei günstiger Witterung pflegte die Schwindlerin häufig, ihre Cigarre rauchend und einen Zwicker auf der kartoffelförmigen Nase, vor ihrem Hause auf- und abzuspazieren. Die Gäste des „Wilhelm Tell“ eilten dann heraus, ihr theils in erheuchelter, theils in aufrichtiger Unterwürfigkeit die Hand küssend. Kein bäuerliches Individuum hätte gewagt, das Haupt zu bedecken; sie acceptirte auch, im Uebrigen gnädig und herablassend, alle [807] einer Fürstlichkeit gebührenden Reverenzen. Doch war der Ton, dessen sie sich in der Conversation oder gar gegen ihre Untergebenen bediente, keineswegs fein, sondern vom gröbsten Dialectschrot und nicht selten mit Zweideutigkeiten versetzt. Das Rückgebäude ihres kleinen Industriepalastes barg einen kostbaren, bereits zur Versteigerung gekommenen Marstall, und ihre Fuhrwerke zählten zu den geschmackvollsten der Residenz. Bei Ausfahrten trug sie ein bis an den Hals geschlossenes dunkles Kleid mit kleinem umgeschlagenen Hemdkragen und eine doppelt gewundene, massive goldene Kette mit einem ditto Kreuz, dessen sich kein Erzbischof hätte zu schämen brauchen. Wenn sie über Land ging, begleitete sie das ihr zum Gefolge dienende Industrieritterthum in mehreren Wagen, um sich draußen mit der Herrin zu einem üppigen, von Champagner überfließenden Gelage zu vereinigen. Doch machte sie auch fromme Ausflüge. Eine Wallfahrt, die sie in geistlicher Begleitung und unter Vorantragung eines Kreuzes zu Fuß nach Altötting unternehmen wollte, ungefähr in der Art, wie die alten bayrischen Kurfürsten zuweilen thaten, wurde vom Ordinariat verboten. Sie begnügte sich also, bis Neuötting auf der Eisenbahn zu fahren; das Opfer bei der schwarzen Muttergottes ist indeß nicht dürftiger und die vorgeschriebene Generalbeichte wahrscheinlich nicht weniger erbaulich ausgefallen. Aber nicht nur dem Glauben huldigte sie, sondern auch dem Aberglauben. Noch wenige Tage vor der Katastrophe wurde beobachtet, wie sie sich die Karten schlagen ließ. Sie rauchte dabei und schien von dem Orakel sehr befriedigt. Zuletzt ging die Kartenschlägerin mit vergnügtem Gesicht von dannen. Die Stümperin! von dem finstern Geiste, der bereits das Haus durchschritt, hatte sie nichts bemerkt.

Zum letzten Mal zeigte sich Adele den Neugierigen am Allerheiligentage, wo sie in einem schwarzen Sammetkleid zum alten Friedhof fuhr und am Eingang desselben einen Kranz kaufte. Sie trug ihn, von einem fürchterlichen Gedränge begleitet, selbst an das Grab ihres Vaters, das sie mit einem neuen pracht- und geschmackvollen Denkmal in gothischem Styl hatte schmücken lassen. Vor dasselbe legte sie den Kranz nieder, gab Weihwasser und verweilte längere Zeit in stillem Gebete. Wahrlich doch keine ganz schlechte Schauspielerin! Zahlreiche Weiber weinten, vernünftige Männer hätten in diesem Augenblick wohl kaum eine Bemerkung gewagt, und doch sagte, wie ich von Ohrenzeugen weiß, ein alter zerlumpter Kerl, dem der Schnaps wohl keinerlei Capitalsanlage gestattet, ganz laut: „Was will s’ denn, die? Da herein kommt s’ ja doch net!“ Was vereinigte sich Alles an diesem Grabe: Gaunerei, Heuchelei, Dummheit und laugenartige, Alles überspritzende Bettlersatire! Armer Joseph Spitzeder, Du hättest bessere Thränen verdient, wenn auch nur vor einem hölzernen Kreuz vergossen!

Der 12. November dieses Jahres war ein düsterer Tag; zum ersten Mal hatte sich der Winter leibhaftig eingestellt. Flüchtiger, mit eisigen Flocken vermischter Regen schlug an die Fenster, machte die Wege schlüpfrig und den Aufenthalt im Freien unangenehm. Das ist der rechte Horizont für eine That, wie sie nun gleich beschrieben werden soll und wozu man warmes, wonniges Bummel- und Revolutionswetter nicht brauchen kann. Etwa um vier Uhr Nachmittags durchschlenderte ein großer Mann mit tief eingedrücktem Hut die Schönfeldstraße. Es war der königliche Polizeiassessor Ries, unser erster, sehr verdienstvoller Sicherheitsbeamter. Er hat sich offenbar nur besehen, wie die Wirthschaft beim „Wilhelm Tell“ florirt und ob das Haus vis-à-vis noch auf dem alten Flecke steht. Beruhigt verschwand er gegen den englischen Garten. Ueber eine kleine Weile öffnet sich am Seitenflügel des Kriegsministeriums eine Pforte und heraus marschirt eine Compagnie Soldaten, die merkwürdiger Weise Niemand hatte hineinziehen sehen; sie theilen sich links und rechts und sperren die Schönfeldstraße nach allen Seiten ab. Stehen gebliebene Vorübergehende werden ersucht, sich schleunigst davon zu machen, und die fröhliche Kneipe verfällt plötzlich in stummes Entsetzen. Am wenigsten weiß sich der Portier am Hôtel Spitzeder zu fassen, denn wie aus dem Boden gewachsen stehen etliche Gensd’armen auf seinem Posten und lassen ihn zu seiner eigenen Thür nicht mehr hinein. Inzwischen theilen sich auf einen Augenblick die militärischen Ketten an den beiden Enden der Straße, um einigen Kutschen Platz zu machen, die alle bei der Spitzeder vorfahren. Der Polizeidirector mit Assessoren und Commissären, ein Untersuchungsrichter mit den nöthigen Actuaren, der Procuraträger des Hauses Riemenschmied als Sachverständiger in der Buchführung und eine weitere Anzahl Gensd’armen steigen aus, obwohl sich das Ganze noch soeben wie ein Hochzeitszug angesehen hatte.

Ohne Zweifel ist in diesem Augenblick irgend ein vertrautes Wesen die Treppen hinangestürzt, um der Herrin das Ereigniß zu melden. Diese mußte sofort wissen, daß ihre Stunde geschlagen habe, und die Größe ihres Verbrechens und die Höhe des unmittelbar bevorstehenden Sturzes bedenkend, konnte sie wohl – gleich einer vor etlichen Jahren vom Schauplatz abgetretenen Großschwindlerin, der sogenannten Schneiderprinzessin – durch einen Schluck dem ganzen Jammer vorbeugen. Die Befürchtung wurde auch gehegt. Aber nein, zur nicht geringen Beruhigung des Herrn Polizeidirectors kam sie diesem heiter und gefaßt entgegen und empfing ebenso die zur Untersuchung der Bücher und Baarbestände eintretende Commission. Die ganze augenblickliche Bewohnerschaft der Anstalt: Stallleute, Köchinnen, Mägde, Ausläufer, Buchhalter, Zahlmeister, Cassirer, Revisoren – ein ultramontaner Augsburger Advocat, der neben der Infallibilität auch das Spitzeder’sche Geschäft vertheidigt, war glücklicherweise eben weggegangen – wurde consignirt. Im Schlafzimmer, wo das Fräulein und ihre Gesellschaftsdame, respective intime Freundin, Rosa Ehinger, zwei nebeneinanderstehende prachtvolle Betten hatten, fand man gegen eine Million in Staatspapieren, welche, als sie sortirt waren, die beiden Lagerstätten vollkommen bedeckten. Baares Geld und Banknoten wurden aus allen Ecken und Enden zusammengesucht, darunter tausend Gulden Papier in einem Schürloch steckend, die aber schwerlich den Flammentod gefunden hätten, sondern wahrscheinlich, an irgend einer treuen Brust ruhend, hinausspaziert wären. Das Meublement war schön, doch nicht sehr luxuriös, nur in dem etwas stylisirten „Rittersaal“ machte sich ein größerer Aufwand bemerklich. Auch fehlte es nicht an Clavieren, Polyphonien und dergleichen Instrumenten; besonders zog eine große und kostbare Spieldose die Aufmerksamkeit auf sich. Es soll oft vorkommen, daß sich unter den Effecten großer Bankerottirer oder Betrüger solche Spieluhren befinden. Ob das nicht seinen psychologischen Grund hat und diese mechanischen Dinger vielleicht im Stande sind, Verstand und Gewissen momentan einzulullen? Ein Saiten- oder Flötenspiel, in welchem menschliches Leben vibrirt, möchte diesen negativen, dem höheren Zweck der Kunst zuwiderlaufenden Erfolg wohl nicht erzielen.

In den Gängen und Geschäftslocalitäten fehlte es auch nicht an frappanten Placaten, z. B. „Thue Recht und scheue Niemand!“, unterzeichnet A. Spitzeder. Die Gemäldegalerie, von welcher die Gaunerblätter viel Rühmens machten, ist nicht der Erwähnung werth. Inzwischen war Mitternacht herangekommen und der Sachverständige hatte erklärt, daß eine Buchführung vorliege, welche das Einschreiten des Gesetzes nach allen Richtungen provocire. Das consignirte Personal wurde nun entlassen und hastig stürzte die ganze Meute die Treppen hinunter und zum Tempel hinaus. Als man darauf Adelen ankündigte, daß sie in Civilhaft genommen würde, sank sie erblassend zurück. Ihre weitere Behauptung, sie sei so unwohl, daß sie nicht folgen könne, veranlaßte die Herbeiholung des Polizeiarztes Dr. Frank, der aber erklärte, sie sei nach kurzer Erholung transportabel.

Niemand befand sich mehr an ihrer Seite, als die treue Rosa. Diese, ein hübsches Mädchen, war bereits auf dem Hof- wie auf dem Volkstheater ohne sonderlichen Erfolg aufgetreten; ihre Beschützerin wollte mit Gewalt eine Künstlerin ersten Ranges aus ihr machen und dem Lehrer des Fräulein Ziegler, Hofschauspieler Christen, ließ sie fabelhafte Summen bieten, wenn er ihr Unterricht geben wolle, was der berechtigte Stolz dieses Künstlers natürlich zurückwies. So mußte sich Rosa, statt scenische Triumphe zu feiern, mit ihrer Stellung bei Adelen begnügen; es verdient aber Erwähnung, daß sie auch im Unglück nicht von ihr wich, sondern bat, die Herrin begleiten zu dürfen. Man willfahrte ihr. Nachts ein Uhr verließ Adele Spitzeder mit ihrer Freundin die Räume, in denen sie, scheinbar mit Glücksgütern überhäuft, zwei Jahre lang ein herrliches Leben geführt hatte. Von kaltem Schneesturm umtobt, bestiegen sie, begleitet von einem Polizeicommissar, nicht ihre reizende Kalesche, sondern einen officiellen Fiaker, auf dessen Bock bereits ein Diener Platz genommen hatte, aber nicht ein Diener der Betrügerin, sondern einer der Gerechtigkeit. [808] In der neuen Frohnveste an der Badstraße wurden den Angekommenen drei bereits hergerichtete, wohlgeheizte Zimmer angewiesen.

Vier Tage nach dieser mit großem Geschick und ohne jeden Zwischenfall ausgeführten Verhaftung waren schon 2,800,000 Fl. Wechselguthaben aus der Stadt München und den sie umgebenden Landbezirken allein angemeldet. Und wie viel wird aus Scham, Pessimismus und anderen Gründen verschwiegen! Und dann erst die Provinz! Der Mammon, den Adele durch Gewährung von Wucherzinsen in ihr Bereich zu locken wußte, wird eine unglaubliche Summe darstellen.

Auch in den stillen Haushalt Rosa’s drang inzwischen die neugierige Polizei, um Juwelen von bedeutendem Werth, Affectionsgeschenke oder Deposita der Spitzeder zu confisciren. Seitdem beeilen sich viele Leute, welche von der Heldin dieser Geschichte Präsente erhalten haben, dieselben zu Gerichts Händen zu bringen. Seit Aufhebung der Civilhaft und Einleitung des Criminalverfahrens ist übrigens Adele auch von ihrer Gefährtin getrennt und in ein weniger freundliches Zimmer gesetzt. Die Untersuchung wird eine der umfangreichsten, verwickeltsten und interessantesten werden, die sich je vor einem deutschen Forum abspielten.

Der Redacteur der hiesigen „Neuesten Nachrichten“, Herr N. Vecchioni, der schon vor fast Jahr und Tag das große Publicum warnte und die Wächter des Gesetzes alarmirte, was ihm von Seiten eines Laufburschen des Gaunerinstituts sogar Mißhandlungen eintrug, hat seines Amtes treu gewartet und sich um das Volk verdient gemacht. Noch ein paar Jahre fortwuchernd, hätte die Pestbeule das ganze Land angesteckt und wahrscheinlich auch im übrigen Deutschland Nachahmung gefunden.

M. Sch.




In der Stammburg derer von Aufseß.[2]


Von Friedrich Zenk.


„Heute wollen wir zu unserer Cousine nach Liebfrauen fahren,“ pflegte die Frau von Dalberg zu sagen, wenn sie von ihrem weißen Schlosse nach Worms zur Mutter Gottes beten gehen wollte. Denn von Niemandem anders als dem Hause David haben die stolzen Kämmerer von Worms ihren Ursprung abgeleitet, und in der alten Taufcapelle am Wormser Dome steht noch heute ein Steinbildwerk, der Stammbaum Christi und der – Dalbergs.

Im Schloßhofe der Burg Aufseß.

Auch das alte reichsfreiherrliche Geschlecht der Aufseß ist mit der Bibellegende verwebt: in Auerbach’s Volksbüchlein, zweiter Theil Nr. 29, „von altem Adel“, ist zu lesen, sie hätten ihren Namen daher bekommen, weil sie unsern Heiland beim Einzuge in Jerusalem auf die Eselin gehoben hätten. Die Familie selbst that nichts dazu, diesen Glauben an ihre testamentarische Herkunft zu unterstützen; vielmehr hat der verstorbene Hans von Aufseß selbst die Mähr für eine ehrliche deutsche Schnake erklärt.

Der Name Hans von Aufseß führt uns in seinen Erinnerungen nothwendig zur Burg seiner Väter. Ist diese es doch, wo er geboren und begraben, wo er seines Jugend- und Mannesalters größten Theil hindurch gelebt und geschaffen, wo sein Forscherdrang jene tiefe deutsch-historische Richtung zuerst einschlug und in deren ehrwürdigen Hallen er nach und nach jene Schätze anhäufte, die, später nach Nürnberg übergesiedelt, den Grundstein bildeten für den späteren herrlichen Bau des Germanischen Museums.

In einem reizvollen Seitenthale der vielbekannten fränkischen Schweiz hebt sich auf mäßigem Felshügel hart am Aufseßflüßchen über das ansehnliche Dorf gleichen Namens die Burg Aufseß. Mitten in die grünen, das Ganze wie ein verjüngender Gürtel umfassenden Anlagen strecken sich die theilweise zwiefachen Ringmauern. Die Süd- und Ostseite der innern Burg wird von dem Hauptbau umschlossen. Runde Eckthürme flankiren seine Seiten; die bis sieben Schuh dicken Mauern, nur von wenigen hoch angebrachten Fenstern durchbrochen, zeugen noch von altwehrhaftem Reckenthum. Auf der entgegengesetzten, der Westseite, isolirt von den übrigen Burggebäuden, ragt der auf der Abbildung höchste Punkt von Unteraufseß gleichfalls aus Gebüschen hervor, der Rabenthurm. An diesen lehnt sich gegen Norden, gleich einem Adlerhorste kühn auf steil abfallendem Felsen gewurzelt, der älteste Theil der Veste, die von Meingotz Aufseß schon 1149 gebaute steinerne Kemnate, im Burgfrieden von 1395 „Meingots-Steinhaus“ (Megingotz Stainhavs) genannt.

Man gelangt durch einen wohlerhaltenen Thorbogen zur linken Hand vom Hauptbau in den geräumigen, lindenbeschatteten Schloßhof, in dessen Mitte von außen bisher unbeachtet ein schmucklos, im Stile des vorigen Jahrhunderts erbautes Kirchlein auftaucht. Neben der Kirchenthür außen an der weißen Wand hängt ein grüner Kranz mit einem Trauerflor; darunter steckt im Boden eine junge Fichte. Das sind die vergänglichen Wahrzeichen, daß darunter in der seit 1733 von den Aufseß benutzten Gruft der Gründer des Germanischen Museums schlummert.

[809]

Die Hauscapelle auf Burg Aufseß.

Das Studirzimmer Hansens von Aufseß.

Im Meingotzhause liegt gegen Norden eine mittelalterlich eingerichtete Stube, das frühere Studirzimmer Hansens von Aufseß. Der berühmte Director der Nürnberger Kunstschule, A. Kreling, hat Pfingsten 1865 dieses Zimmer nebst seinem frühern Inwohner in einer Tusche höchst charakteristisch wiedergegeben. In dieser Kemnate saß Baron Hans manches Jahr, über dicken Folianten brütend oder die Kunst des deutschen Mittelalters an ihren Werken studirend; aber sein Geist verging nicht im Kleinlichen, sondern „aus den einzelnen Theilen von innen heraus“ erwuchs ihm, dem ehemaligen Burschenschafter, seine Anschauung der deutschen Geschichte und der nationalen Idee. Es war in diesem Frühjahre, kurz vor der verhängnißvollen Straßburger Reise, als der alte Herr das letzte Mal sein Stammschloß besuchte und von da, wo er so oft des deutschen Reiches Herrlichkeit geträumt, noch einmal hinaussah auf die siegreich geeinten Gauen des Vaterlandes. Wohl dachte er in diesem Augenblicke nicht an das nahe Ende, denn er sprach die Hoffnung aus, in zehn Jahren seine schon lange begonnene Familiengeschichte und Lebensbeschreibung zu beendigen. Das Meingotzhaus, von Hans in allen Theilen stilgerecht restaurirt, ist für die Familie Aufseß eine gewaltige Steintruhe von Hausreminiscenzen: das von Hans musterhaft geordnete Familienarchiv, ferner alte Abbildungen, Christoph Ludwig’s Jagdbüchse und des Freiherrn Hans Studirflaus à la Faust, sodann Haken-Büchsen und Blechharnische füllen in geregelter Unordnung Wand und Schrein, Ecke und Winkel.

Quer über den Hof an der Gruft-Capelle vorüber gelangt man vom Meingotzhause durch die Thurmwendeltreppe in den Hauptbau, ausgezeichnet durch einen reichen Ahnensaal und alterthümliche Corridore, ausgezeichnet aber auch durch die Familiengemächer. Man thut diesen keine Ehre an, wenn man sie Prunkgemächer hieße. Im Gegentheil, sie sind in Ausstattung einfach, im Ganzen im Zustande, wie sie Hans von Aufseß 1848 nach Nürnberg übersiedelnd beließ, die Möbel meist aus den dreißiger Jahren, aber Alles gewissermaßen altritterlich. Es schwebt etwas in dieser Luft, das auf die alten Burggeister hinweist; in jenen Erker kann man sich nur die Burgfrau, auf diesen Söller nur das Fräulein denken. Wollte man dem hier herrschenden Geschmacke und Eindrucke einen Namen geben, man müßte ihn „romantisch“ nennen.

In diesen Räumen ward Hans von Aufseß am 1. September 1801 geboren, dahin führte er im Jahre 1824 die Freiin Charlotte von Seckendorf als Gattin heim, dort lebte er patriarchalisch im Kreise seiner sich mehrenden Familie, bis er nach den märzlichen Stürmen all’ das reiche auf dem stillen Bergschlosse gesammelte Material in die alte Reichsstadt übertrug. Zwar alljährlich, aber nie mehr ständig, und dann meist in Umgebung von Familienangehörigen und Geistesverwandten brachte er von jetzt an einige Zeit in Aufseß zu, bis er nun für immer da eingekehrt ist.

Wir verlassen auf derselben Wendeltreppe den Hauptbau, hier dargestellt nach einer Zeichnung Kreling’s. Auf der gegenüber liegenden freien Wand eines Nebengebäudes springt uns ein, wenn auch unvollendetes, doch meisterlich hingeworfenes Frescobild desselben Künstlers in die Augen. Ein junger Ritter, dem zwei Knappen den Aufseß’schen Helm mit den Büffelhörnern und dem Pfauenschweife vortragen, hat den Feind im Turney besiegt und schreitet zum hohen Throne der Königs-Tochter. Sie wirft ihm zum Danke eine Rose herab, die der wackere Kämpe mit dem [810] Schilde auffängt. Dies der Sage nach der Ursprung der Rose im Geschlechtswappen; aber auch die Geschichte erzählt früh von diesem Geschlechte.

Mitten zwischen das fürstbischöflich bambergische, burggräflich nürnbergische und brandenburgisch-baireuthische Gebiet eingeschoben, konnte es nicht fehlen, daß die Aufsässer, obschon des Reiches freie Ritter, bald von diesem, bald von jenem mächtigeren Nachbarn Lehn und Dienst nahmen. Schon 1114 kommt Herolt von Ufsaeze im Gefolge des Pommernapostels Bischofs Otto von Bamberg vor, unter seinen Nachkommen finden sich wohlbestallte Bamberger Fürstbischöfe, Prälaten und Canonici, denn zu jener Blüthezeit der Kirchen und Klöster „gabt’s gut wohnen unter’m Krummstab und zumal das Amt der Erbschenken des Stifts Bamberg, das die Aufsesser bekleideten, war fürnehm und lustirlich zugleich“. Unter Otto dem Ersten von Aufseß tritt ein Wendepunkt ein in der Hauspolitik, „es ward durch freie Verbindung mit dem burggräflichen Hause der Zollern der Grund gelegt für das Jahrhunderte fort bestehende, immer enger sich ziehende Band der Treue“, denn ein gleichnamiger Sohn desselben war es, der, als Burggraf Friedrich der Vierte sich gegen den Oesterreicher Friedrich für den Papstfeind Ludwig, den Baiern, erklärt, sich am 24. August 1315 verbriefe, „für den Burggrafen als Burgmann und Diener zu kämpfen ob besonderer Gnade, die er ihm erzeigt“, und stritt er auch wirklich, da es am 28. September 1322 bei Mühldorf daran war, unter dem Burggrafen Schweppermann mit den fünfhundert fränkischen auserlesenen Rittern, die durch Umgehung die Schlacht entschieden. Otto war dann auch mit König Ludwig und dem Burggrafen in Rom, als Jener, kein Mann von Canossa, sich ketzerischer Weise am 17. Januar 1328 von dem römischen Bürger Sciarra die Kaiserkrone auf das von zwei gebannten Bischöfen gesalbte Haupt setzen ließ. Da erhielt auch Otto’s Sohn Ulrich auf der Tiberbrücke vom Kaiser selbst den Ritterschlag, wovon der alte Poet Suchenwirt singt:

„Der edel auf der Teyfer bruck machet stolzer ritter vil.“

Nachdem der Burggraf ihn noch um zweitausendsechshundert Pfund Haller für treue Dienste gelohnt, legte sich der rührige Mann Otto im Jahre 1338 in seiner Burgcapelle zu St. Pancratii und Blasii zur ewigen Ruhe nieder. – Es ginge zu weit, wollte ich die Stammgeschichte der Freiherren von Aufseß in engerer Genealogie verfolgen, aber noch eine Richtung muß bei denselben hervorgehoben werden – es ist die religiöse.

Ein solcher tiefer Zug geht von Beginn durch das ganze Haus, ein Zug, edel christlich und wohlthätig, dabei von gewaltiger Kraft und Ausdauer, ein Zug, der am stärksten, fast fanatisch vorleuchtet, sobald im Hause selbst die Gegensätze, Protestantismus und Katholicismus, weniger sich berühren, als aufeinanderplatzen. An diesem Schauplatz auf der unvermarkten religiösen Grenze zwischen lutherischem Markgrafenthum und päpstlichem Bischofthum lag der Conflict nahe. So gute Katholiken die alten Aufsesser gewesen als Prälaten und Bischöfe, Meß- und Klösterzustifter, so offen hatten sie die Augen gegen die Mißbräuche von Rom, und bereits Wolf Heinrich von Aufseß, Zeitgenosse Luther’s, trat der Augsburger Confession bei. Damals war ja selbst Bischof Georg von Bamberg kein Widersacher der Reformation, ließ offen die Grundsätze derselben in seinen Kirchen predigen und ungehindert Schriften für die Reformation drucken. Kein Wunder, wenn auch Peter von Aufseß, Domdechant in Würzburg, der jedoch schon 1523 starb, mit Luther und Ulrich von Hutten in persönlichem Verkehr stand. So waren denn die Herren von Aufseß gute Protestanten geworden und geblieben.

Da gab’s Ende des siebenzehnten Jahrhunderts zwei Brüder im Schlosse zu Aufseß, Friedrich und Karl Heinrich, so spinnefeind, daß sie zuletzt aufeinander schossen. Karl Heinrich, der Friedlichere, wanderte um eine Viertelstunde das Aufseßflüßchen aufwärts und baute auf einem Hügel das Castrum Carolsburg, als Ober-Aufseß, heute noch von einem Zweige der Familie bewohnt, obschon es Friedrich einmal mit bewaffneter Hand stürmte.

Der feindlichen Brüder Söhne traten sich nicht näher, vielmehr sprangen Christian Ernst, Karl Dietrich und Johann Philipp, die drei Söhne Friedrich’s, noch bei dessen Lebzeiten 1725 zum Katholicismus über. Der älteste Sohn als Senior begnügte sich nicht mit dem Hausgottesdienste seiner neuen Confession, sondern nach dem Grundsatze „wie der Ritter, so der Knecht“ wußte er gütlich und zwangsweise das protestantische Dorf Aufseß zum guten Theil katholisch zu machen, während er die evangelische Kirche verfallen ließ. Ja, in der eigenen Familie machte er Mortaras; im Dorfe Sigrizberg paßte er mit sieben bewaffneten Leuten die Chaise ab, in der sein neunjähriger protestantischer Neffe Christoph Friedrich mit seiner Mutter Gottliebe, einer gebornen Berlichingen, daherfuhr, und nahm den Knaben der sich widersetzenden Mutter ab. Der Junge schwur auch wirklich mit neun Jahren als Domherr in Bamberg feierlich auf, ließ aber alsbald wieder davon und blieb Protestant.

Christian Ernst war unterdeß bambergisch-würzburgischer General geworden; des nach Ober-Aufseß verdrängten Karl Heinrich Sohn, Christoph Ludwig, hatte es zum markgräflichen Geheimrath und Oberforstmeister gebracht. Der war ein Mann, protestantisch fromm, markig und so abgehärtet, daß er sein Lebtag nur einen Rock trug und darin, die stets getreue Büchse im Arm, ganze strenge Winternächte im Walde zubrachte. Neben dem einen Rock hatte er nur ein Ziel, das der Wiederherstellung des evangelischen Gottesdienstes in Unter-Aufseß. Ludwig Christoph sang sein Lieblingslied „Eine feste Burg ist unser Gott“, als er gen Thurnau ritt, den Vetter Christian Ernst im blutigen Zweikampf zu treffen. Pistolen hatte der General ausgeschlagen, denn Ludwig war der beste Schütze seiner Zeit. So entschieden Degen, aber nicht gar viel, da am Brustharnisch, den Ernst unter der Weste trug, des Gegners Degenspitze brach. Trotzdem brachte ihm Ludwig eine Wunde bei und, sei’s durch diese Lection, brachte er’s mit vieler Mühsal endlich durch, daß 1742 im Aufsesser Schloßhofe die evangelische Kirche neu erstanden war.

Im Jahre 1800 starb der österreichische General Veit Karl als letzter Sprosse der katholischen Familie; er hinterließ glänzend dotirte wohlthätige Stiftungen, wie das Aufseß’sche Seminar in Bamberg für arme Studirende.

Ludwig’s einziger Sohn, der königlich preußische Regierungsrath Friedrich Wilhelm, zog nun in das alte Stammschloß Aufseß wieder ein. Von ihm überkam es dessen Sohn, Hans von Aufseß, zugleich mit der inzwischen wieder evangelisirten „Hauscapelle“. Diese blieb bis jetzt unerwähnt. Sie liegt im Erdgeschoß des Hauptbaues. Man gelangt zu ihr durch eine Thür rechts vom Wendeltreppenthurm. Geheimnißvolles Düster umfängt den Besucher in der kühlen Halle, die von einem einzigen, glasbemalten Fenster, gothisch wie die ganze Capelle, beleuchtet wird. Neben vielerlei Familiendenkmälern sieht man hier auch den grauen Stein, aus dem so viele junge Aufsesse getauft wurden, und den uralten gestickten Teppich, auf dem sie später den Trauring wechselten.

Auf dem Lesepult der Capelle liegt noch Luther’s Originalbibel von „1543 zu Wittenberg, deudsch Auffs New zugerichtt“, aufgeschlagen Buch Sirach. Vor Jahren hatte Freiherr Hans hier selbst sämmtlichen Schloßbewohnern den täglichen Morgensegen vorgelesen; seitdem blieb die Burgcapelle unbenutzt. Eine kleine Nebencapelle wird fast ausgefüllt von einem Sarge, den sich Freiherr Hans, gleich Kaiser Karl dem Fünften, vor bald dreißig Jahren hat anfertigen lassen. Vielleicht gedachte er damals einst auf seiner Väter Burg sanft und selig hinüberzuschlummern; übrigens war das hölzerne Memento mori in der Seitencapelle eher wurmstichig geworden, als der Alte selber; jetzt soll der erst-alte Mann im Dorfe, der nach ihm stirbt, statt seiner im Sarge begraben werden. –

Durch diese Capelle führt ein böser Weg: der zum Verließ im anstoßenden Eckthurm. Draußen zwitschern die Vögel, und da unten aus den dicken kalten Quadern quillt gruftige Oede. Vor dem Burgthore lacht uns aus den Blüthenbäumen der helle Mai zu. Ich wandere den Hügel hinauf, vor den nächsten Häusern schäkern geputzte Leute unverkennbaren Idioms: es ist heute Sabbath. Im Jahre 1730 nahmen die Herren von Aufseß hier eine aus dem bambergischen Burgellern vertriebene Judencolonie gegen allerlei Reichniß auf in eigens von der Herrschaft erbauten Judenhäusern, die man den Inwohnern nach und nach gegen geringe Summen käuflich überließ. Ein Theil davon ist jetzt „großer Mann“ und Privatier und lebt in Städten, die Meisten wohnen noch eng beieinander in der Judengasse nächst der Burg. Ob wohl die alten Aufsesser, als sie ihren Schutzbefohlenen den nachbarlichen Platz anwiesen, eine Vorahnung hatten, daß bald die Herren Barone Wolf und [811] Löwenthal ihren Schild neben dem der alten Reichsfreiherren aufhängen würden?

Unweit auf luftiger Höhe liegt der Pfarrhof. In ihm wohnt Pfarrer Meißner, ein ebenso liebenswürdiger als verständnißreicher Custos der Sammlungen des Meingotzhauses. Seine Vorgänger hatten gewöhnlich zwei Leidenschaften, die des Feldpredigens und des Schriftstellerns, beide wohl herrührend von kargem Mangel, denn der macht Geist und Leib beweglich. Steht’s auch jetzt nicht mehr so, vor Zeiten war die Aufsesser Pfarrei gar oft ein Hungerpastoramt, namentlich nach den schweren Leiden des dreißigjährigen Krieges. Da hatte denn Christian Kropfmüller aus Wunsiedel Recht, als er, der als Festprediger manches Jahr nach eigenem Geständniß geschlampampt und allerlei Ueppigkeit gebraucht hatte, zu seiner Reu dann „vom Saul’schen zum Paul’schen Leben“ bekehrt, zur Pön als Aufsesser Pfarr aufzog. Dagegen ging ein Pfarrherr Christian Piccart 1683 von Aufseß weg auf die fettere Weide mit den Sachsen gen die Türken. Ein anderer gewesener Feldprediger, Magister Johann Heinrich Deinel aus Plauen eröffnet den Reigen der Schöngeister als poeta laureatus; sein Nachfolger Georg Malzer konnte es auch nicht ohne Dichterlorbeer thun; 1742 kam auch noch der Pfarrer Johann Gottfried Biedermann aus Plauen als ganz artiger Schriftsteller hinzu. Den Schluß des Kranzes macht Pfarrer Lorenz Kraußold, 1831 installirt, jetzt Consistorialrath in Bayreuth, ein feiner Kopf und tüchtiger historischer Forscher. So vertragen sich Ghetto und Parnaß in dem kleinen Aufseß nahe zusammen in Frieden, gleich der aus Protestanten, Juden, Alt- und Neukatholiken gemischten Bevölkerung.

Die Zeiten liegen nicht gar ferne, da streckte sich der dichte Tann bis zu den Burgthoren hin, so daß der Burgherr mitunter bequem vom Fenster aus wohl ein frisches Wildschwein oder ein beutesuchendes Wölflein erlegen konnte. Wie der hohe Wild- und Blutbann, so schwand von der Burg der Wald, der aber immerhin in einer kleinen Viertelstunde erreicht werden kann. Trotz der alten hier und da versteckten Wolfsgruben ist seine Urwäldlichkeit dahin auf Rechnung einer geregelten Forstwirthschaft, auf die Freiherr Hans hielt. Aber einen Fleck gab’s in seinen Wäldern, da durfte die Axt nie nivellirend säubern, da wuchs Waldmeister und Farrn unter Buchen und Eichen; die Birke ragte in den Tannenbestand hinein, verschlungene Wege führten zu einfachen Sitzen unter den malerisch durcheinandergeworfenen Dolomitfelsen, an denen eine Eremitenhütte, aus Rinden gefügt, klebte. Dafür gab’s weit und breit im Revier keinen lauschigeren Schatten, dafür drang nirgends so anmuthig das Echo durch die dichten Baumkronen, dafür lohnte an keinem Orte lustiger der Amselschlag. Der Romantiker Hans nannte die waldgrüne heilige Insel die Einsiedelei.

Dahin führte er, wenn draußen der gelbe Sommer brannte, im Kreise seiner Familie liebe Gäste. Der liebenswürdige Wirth war selbst tüchtiger Musiker, auch Söhne und Töchter wurden es alle in frühen Jahren, und da gab’s denn unter den Bäumen oft prächtige Instrumental- und Vocalconcerte. Wohl huschte auch Einer der Gesellschaft plötzlich als Waldgott hinter den Felsen hervor und mit beweglichen Worten führte er einen Mummenschwank ein oder eine Komödie, die zwischen den Waldcoulissen auf einem erhöhten Felsvorsprunge meisterlich agirt wurde. Und da setzte sich denn auch der anwesende Meister Kaulbach oder sein Schwiegersohn Kreling in das Moos, und bald verkörperte sich auf dem Blatte die Gesellschaft zu einem Kreise hellenischer Götter oder noch öfter lustiger Carricaturen. Kaulbach und Kreling kehrten oft in die gastlichen Hallen ihres Freundes Hans von Aufseß ein, sie weilten darin gegenseitig anregend und angeregt. Wie manche mittelalterliche Figur, wie manche Gestalt und Idee aus der Reformation, an deren einschneidende Wirkung in Aufseß fast jeder Stein gemahnte, mag hier vor des Titanen Kaulbach stets schaffendem Geist und Griffel erstanden sein; und umgekehrt wie mag die form- und farbenreiche Phantasie Kaulbach’s den studienstrengen Ernst des torystischen Burgherren erfrischt und durchglüht haben! Noch bewahrt die Familie Aufseß ein Album wohl einzig in seiner Art, Zeichnungen Kaulbach’s und Kreling’s, die sie allein der Freundschaft und Erinnerung, dem Herzen und der Laune schufen. Die enge fruchtbare Berührung Kaulbach’s und Kreling’s mit dem Schöpfer des deutschen Nationalmuseums gäbe genug des Stoffs zu einem Buche.

Wie’s an so manchem Abend geschah, ist im Vordergrunde des Bildes (S. 808) von der Hand Kreling’s, den wir den Hausillustrator nennen dürfen, im Schloßhofe Vater, Mutter und Kind der freiherrlichen Familie an der Seite Kaulbach’s und Kreling’s vereinigt. Kaulbach, die Hauptfigur links, spricht mit kunstbegeisterten Worten, während Freiherr Hans an der Seite Kreling’s aufmerksam zuhorcht.

So wären wir nun wieder angelangt in der interessanten Burg, unter den fränkischen Ritterschlössern einer wohlerhaltenen Perle. Wir rufen ihren Zinnen Ade zu, auf den Lippen einen Wunsch, der übrigens hier wohl beherzigt wird, den Wunsch, den einst Freiherr Hans als Vermächtniß seinen Nachkommen anpries: „Erhaltet in Einigkeit die altersgraue Stammveste Aufseß und Das, was ich in Mangel größerer Mittel aus Achtung für dieselbe that, und zerstört nicht schnell in Uebermuth, was fromme Voreltern mit Mühe und Fleiß erwarben und auferbauten!“




Blätter und Blüthen.


Am Postschalter. Unter dieser Ueberschrift veröffentlichten die „Dresdener Nachrichten“ eine Belehrung so klarer und packender Art über alltägliche Vorkommnisse am Schalter, daß wir von unserem Grundsatze, Fremdes uns nicht anzueignen, sehr gern abweichen, um auch unsererseits zur größtmöglichen Verbreitung dieser postalischen Aufklärung in allen Volkskreisen beizutragen. Wir glauben, unseren Lesern damit einen sehr einträglichen Führer zur Post mitzugeben, dessen guter Rath an Deutlichkeit und zahlenfester Ueberzeugung nichts zu wünschen übrig läßt.

Nachdem der Verfasser in wenigen einleitenden Worten dargethan, wie ganz vergeblich im Generalpostamte zu Berlin des Reiches Generalpostdirector sitze und schwitze, um den lieben Deutschen die Postbenutzung immer leichter, bequemer und billiger zu machen, vergeblich, weil die meisten deutschen Menschen sich um Belehrungen und Anordnungen der Postbehörden gar nicht bekümmerten und fort und fort den alten Gewohnheiten fröhnten und gleichwohl über die Theuerniß der Post raisonnirten – ladet er uns zu einem Stündchen Gesellschaft am Schalter ein, und nun sehen wir, was die Stunde uns bringt.

Sieh, da kommt eine Bauersfrau, hat einen Brief in der Hand, an den Sohn in der Fremde gerichtet. Briefpapier kennt oder hat sie wenigstens nicht, darum hat sie einen ganzen Bogen Schreibpapier genommen, und weil der Brief weit gehen soll, ist sie mit dem Siegellack nicht allzu sparsam gewesen. – „Kostet zwei Groschen! Wiegt über 15 Gramm!“ – Nun wundert sie sich: „Aber so war’s doch am letzten Male nicht!“ – „Ja, gute Frau,“ schallt’s hinter dem Fenster hervor, „seit Neujahr haben wir neues Gewicht, da darf ein Brief nur 9/10 altes Loth wiegen und Euer vieler Siegellack kostet nun einen Groschen mehr. Wenn Ihr den Groschen nicht zulegen wollt, so muß ihn der Empfänger zahlen und einen Groschen Strafporto obendrein. Ein ander Mal kauft Euch lieber beim Kaufmann einen Bogen Briefpapier und ein Couvert mit Klebstoff (könnt das Couvert auch gleich hier auf der Post bekommen), da kommt Ihr billiger weg.“

Da kommt Einer mit einem Briefe mit fünf Siegeln, darauf steht: „Inliegend 15 Ngr.“, er ist bestimmt von Dresden nach Hamburg zu gehen. – „Kostet 7 Groschen!“ – Nicht möglich. – Doch, es ist richtig. Aber hättest Du eine Postanweisung, dann konntest Du Geld bis 25 Thaler bis an das Ende des deutschen Reichs schicken für 2 Groschen, und hattest Du mehr, oder Geheimnißvolleres zu schreiben, als was auf den Rand der Postanweisung sich verzeichnen läßt, so konntest Du ja für 1 Groschen einen Brief extra dazu schreiben, und hattest immer noch 4 Groschen profitirt – „Gut, ich will mir’s merken! Also Postanweisung ist billiger!“

Gemach, gemach! Keine Regel ohne Ausnahme! Sieh, hier bringt ein Mann eine Postanweisung über 36 Thaler von Dresden nach Freiberg, welche 4 Groschen kostet. Hätte er seine 36 Thaler diesmal in den Brief gelegt, hätte es ihm nur 2 Groschen gekostet, und er konnte noch einen ausführlichen Brief dazu schreiben. Denn die Geldbrieftaxe springt von 50 zu 50 Thaler, während die Postanweisung von 25 zu 25 Thaler steigt.

Also merke Dir: Postanweisung bis 25 Thaler kostet 2 Groschen, bis 50 Thaler 4 Groschen, gleichviel ob’s nach dem etwa eine Stunde von Dresden entfernten Blasewitz, nach Köln oder Königsberg geht Dagegen Geldbriefe, welche – was gleichfalls noch viel zu wenig bekannt ist – bis ½ Pfund wiegen dürfen, ohne deshalb mehr zu kosten, haben folgenden Preis:

  bis 5, bis 15, bis 25, bis 50, über 50 Meilen:
bis 150 Thaler 2½ Groschen, 12½  Gr., 4, Gr., 5, Gr., 7 Gr.
bis 100 13½  ., 5, 6, b 8 b

Als Regel gilt also kurz: Für wenig Geld und kurze Entfernung ist Postanweisung billiger; für größere Summen und kurze Entfernung ist Briefsendung vorzuziehen. Wie bequem ist aber doch die Postanweisung gemacht! Kein Briefbogen, kein Kreuzcouvert, kein Siegellack, keine großen Höflichkeitsformen sind nöthig, die so viel Zeit und Tinte kosten; knapp und kurz kannst Du Dich fassen, wie in einer telegraphischen Depesche! Kein Ausreden giebt’s, daß das Geld nicht richtig angekommen sei, daß Du Dich verzählt haben müßtest beim Einpacken, oder daß Du gar wilde Cassenscheine geschickt hättest! – Das haben nun auch andere Länder eingesehen, darum haben sie auch Stephan’s Erfindung [812] angenommen, nur Oesterreich, Italien und die Türkei nicht, weil diese über den Werth von Silber und Papier ihr Lebtag nicht in’s Klare kommen können. Willst Du aber eine kleine Summe nach Oesterreich oder Rußland, oder überhaupt über die Reichsgrenze hinaus schicken, so wirst Du am besten thun, sie in gutem Papiergeld in einen recommandirten Brief zu legen, der immer nur 2 Groschen mehr kostet als ein gewöhnlicher Brief und auch nicht fünf Siegel bedarf, doch darfst Du den Inhalt nicht auf der Adresse declariren. Geht solch ein Brief verloren, so vergütet Dir die Post 14 Thaler.

Es sind mir auch – fährt der freundliche Beamte am Schalter fort – sehr oft Leute vorgekommen, welche irriger Weise meinten, einen Brief, der recht schnell gehen solle, müsse man recommandiren. Das Recommandiren (Empfehlen) aber dient nur zur erhöhten Sicherheit des Briefes; zur schnelleren Beförderung dagegen dient der Vermerk „durch Expressen zu bestellen“ oder „sofort zu bestellen“. Die Bemerkungen „eilig“, „cito“ oder „pressant“ helfen gar nichts. Ja, ein recommandirter Brief, der mehrmals sorgfältig kartirt oder gebucht wird, geht oft sogar langsamer, als ein gewöhnlicher Brief.

Siehe, da bringt ein Kind einen Brief, beschwert mit einem Schlüssel, der die Reisetasche oder die Wäschkiste des Bruders begleiten soll. Ja, aber auch der Begleitbrief darf nur 15 Gramm wiegen, der Schlüssel macht aber doch Uebergewicht, so daß dafür noch ein Groschen mehr gezahlt werden muß! Kannst Du da nicht sparen? Gewiß, nimm nur ein Stückchen Pappe, nähe den Schlüssel darauf und schreibe außer der Adresse noch darauf: „Muster“ oder „Probe“ – dann befördert Dir die Post den Schlüssel für ⅓ Groschen bis an’s Ende von Deutschland, ja bis an die türkische Grenze.

Noch Eins ist wichtig zu wissen und kann nicht oft genug eingeschärft werden: Ein Brief von 15 bis 250 Gramm (= ½ Pfund) kostet im ganzen deutschen Reiche sammt der österreichisch-ungarischen Monarchie 2 Groschen. Du hast vielleicht ein kleines Schächtelchen mit Handschuhen oder Kragen, oder ein Messer, oder ein Notizbuch, oder eine Tafel Chocolade von Dresden nach Hamburg, Berlin oder Leipzig zu schicken. Machst Du ein Paketchen daraus und schreibst einen Brief dazu, so kostet Dich die Sendung nach Hamburg 6 Groschen, nach Berlin 4 Groschen, nach Leipzig 3 Groschen. Schreibst Du aber die Adresse gleich darauf und giebst es als Brief auf, so kostet sie Dich nach Leipzig, Berlin oder Hamburg nur 2 Groschen.

Der gute Generalpostdirector Stephan ist aber auch ein heimlicher Feind aller Siegellackverschwendung. Darum hat er den alten Zopf abgeschnitten, wonach jedes Paket und jeder Begleitbrief versiegelt sein mußte. Wozu auch siegeln? Nimmt die Eisenbahn Güter ohne Siegel an, warum soll’s bei der Post nicht ebenso gut sich machen lassen? Also in Zukunft nur einen soliden Bindfaden um’s Paket, oder ein Schloß vor die Kiste, oder einen Nagel in den Deckel – fürchte nichts! Selbst wenn unsere deutschen Reichspostbeamten nicht alle so ehrlich wären, wie sie sind – so hätten sie ja keine Zeit dazu, Dein Paket zu öffnen, und wenn es ein rechter Pfifficus ist, so kann er’s schließlich auch öffnen trotz Deines Siegels.

Und weiter, lieber Freund, will ich Dir einen Wink geben für Tage der Freude und des Leides. Du hast vielleicht ein Töchterlein zu Haus, die hat Den gefunden, der mit ihr durch’s Leben gehen will; sie möchte nun aller Welt das Glück verkünden: Ich bin verlobt! Du lässest ihr Verlobungsbriefe drucken, die sie an Freunde und Bekannte schicken soll. Halt, Bräutchen, Sparsamkeit ist in der Ehe eine der ersten Tugenden! Stecke nicht jedes Briefchen in ein Couvert, sondern schicke alle offen, nur zusammengefaltet und adressirt (aber nichts hineingeschrieben!), so kostet Dich jeder Brief ⅓ Groschen. Und wenn auch der Briefträger oder ein Unberufener hineinschaut, was thut’s? Dann weiß ja Einer mehr von Deinem Glücke, das die Zeitungen so wie so bald aller Welt verkünden. – Und das gilt ja auch Dir, der Du Briefe mit schwarzem Rande schicken mußt! In solchen Tagen giebt’s so genug zu arbeiten und zu bezahlen, deshalb spare Dir die Mühe und das Geld! Oder Du, Gastwirth oder Gesellschaftsvorstand, der Du zum Balle oder Karpfenschmaus einladest, laß Dir Karten drucken auf Vorrath, das Datum und die Adresse darfst Du mit Tinte nachtragen, und nun brauchst Du nicht mehr die Botenfrau für theures Geld durch Wind und Wetter zu jagen; die Post besorgt dies besser und billiger, und jeder Empfänger steckt sich die Karte, die Dir nur ⅓ Groschen kostet, hinter den Spiegel und vergißt nicht, auf welchen Tag Du ihn geladen hast. – Oder wenn Du nicht so Viele laden willst, daß sich die Druckkosten lohnen, und Du etwa gern Deine schöne Handschrift zeigst, so kaufe Dir – Stephan’s neueste Einrichtung – eine Anzahl Postkarten, die seit dem 1. Juli nur ½ Groschen kosten. Du kennst sie vielleicht schon als Correspondenzkarten von Anno 70 her, wo Dir Dein August aus Frankreich welche schickte, die freilich größer, dafür aber mit Feldpost auch noch umsonst waren. Wie viel kannst Du darauf schreiben, das Jeder wissen kann und darf, z. B. wenn Du nach B. kommen und gern im Hôtel ein Zimmer haben willst, oder was für Waaren der Kaufmann Dir schicken soll, oder Du kannst auch solch eine Karte als Begleitbrief zu einem Paket nehmen, kannst Vorschuß darauf erheben, was den besondern Vortheil hat, daß der Empfänger gleich auf der Karte lesen kann, wofür der Vorschuß erhoben worden ist. Aber vor Einem muß ich Dich warnen: Gebrauche keine Karte als Mahnbrief, denn schon mehr als einmal haben Gerichte solche Mahner wegen Beleidigung und Ehrverletzung verurtheilt, weil eine solche Karte in unberufene Hände, z. B. von Dienstboten, kommen kann.

Nun, lieber Freund, die Expeditionsstunde ist abgelaufen; aber ehe der Schalter geschlossen wird, kaufe Dir noch flugs eine sogenannte Postnachricht für 1 Groschen. Diese nimm Dir zum Studium mit nach Hause, dort kannst Du kurz und deutlich lesen, was erlaubt und nicht erlaubt ist auf der Post. Dann aber wirst Du lernen zu bewundern die Weisheit und dankbar anerkennen die Fürsorge des kaiserlich deutschen Reichsgeneralpostdirectors Stephan.




Eine Thüringer Jubiläums-Höhenkarte. Es muß ein Mann schon etwas Ungewöhnliches sein und geleistet haben in den Augen des Volks, wenn dieses sich veranlaßt sehen soll, ihm eine charakteristische Bezeichnung zu ertheilen. Das Völkchen unseres deutschen Herzgebirges sieht nun seit fünfzig Jahren immer denselben Mann mit seinen Meßgeräthen auf seinen Bergen und Höhen herumsteigen; Alle, die seitdem aus Kindern zu Männern und die mit ihm gleichen Schritts Greise geworden, begrüßen ihn als ihren lieben alten Bekannten, und ihm selbst mag es oft genug bedünken, als ob nicht die Menschen allein, sondern auch die Berge mit ihren Wald- und Felshäuptern ihm um so traulicher zunickten, je öfter er sie wiedersieht. Und wie nennt ihn das Volk? „Waldläufer von ganz Thüringen“ heißt er, ein Ehrentitel, auf den er stolz sein kann. Den Leuten der Geo- und Kartographie ist er wohlbekannt als der um diese Fächer hochverdiente Major A. Fils, der zu Ilmenau, und zwar „1552 Fuß hoch“, seinen Wohnsitz hat.

Beruf, Neigung und die Thüringer Kernnatur trafen bei diesem Manne zusammen, um seine Art von „Waldläuferei“ so erfolgreich für die Orts- und Höhenkunde seiner schönen Heimath und auch der angrenzenden Länder zu machen. Aber es gehörten auch Tausende von Messungen dazu, um die Werke zu ermöglichen, die er nach und nach über die preußischen Kreise Schleusingen und Erfurt, Weißensee und Ziegenrück, über das Herzogthum Koburg-Gotha und Meiningen-Hildburghausen-Saalfeld, über die Schwarzburgischen Oberherrschaften Rudolstadt und Arnstadt, über die Aemter Ilmenau, Ostheim, Eisenach und andere großherzoglich Weimarische Gebiete, sogar über die Gegenden um Kissingen, Warmbrunn, Landeck etc. vollendet und veröffentlicht hat.

Gleichsam das Resultat aller dieser Messungen und Ausarbeitungen stellte er in einer Uebersichtskarte des ganzen Thüringer Waldgebirgs mit seinen Ausläufern nach Nord und Süd dar, und da dieselbe das Ergebniß seines fünfzigjährigen Arbeitens ist, so begrüßen wir sie als unseres Thüringer Waldläufers Jubiläumskarte, die wir, mit herzlichem Glückauf für den wackern Mann, nicht blos den Bewohnern Thüringens, sondern Allen empfehlen, die von draußen her in jährlich wachsenden Schaaren durch ihre Luftschnapperei unsere Berge und Thäler unsicher machen.

Fr. Hfm.




Der Blitz in Amerika. Mit Bezugnahme auf den in Nr. 33 (1872) der „Gartenlaube“ enthaltenen belehrenden „Blitzartikel“ von H. J. Klein wird es Solchen, die mit den Witterungsverhältnissen bei den Antipoden nicht bekannt sind, gewiß interessant sein, zu erfahren, daß Californien und Oregon gleichsam meteorologisch privilegirte Länder sind, in denen der Blitz wenig oder gar nichts zu sagen hat. Der Tod durch einen sogenannten Donnerkeil mag, nach der unbestrittenen Angabe meines gelehrten Mitarbeiters unserer „Gartenlaube“, ein besonders angenehmer und daher ein wünschenswerther sein; aber wir Goldlandbewohner ziehen das Sterben in einem Springfederbett, oder, wenn es ein gewaltsames sein muß, durch einen ritterlichen Revolverschuß jenem fremdartigen Todesboten, von dem man nicht weiß, ob er aus der Erde heraus oder vom Himmel herunter gefahren kommt, denn doch bei Weitem vor! – Hier im Goldlande sind die Gewitter eine noch seltnere Erscheinung, als in Deutschland ein Erdbeben. Seit zehn Jahren wohne ich an der Westküste Nordamerikas und erinnere mich, während dieser langen Zeit nur zwei Gewitter dort erlebt zu haben: ein ziemlich heftiges im vorigen Jahre während einer stürmischen Mitternacht in San Francisco und eins, wenn ich nicht irre, vor fünf Sommern in The Dalles in Oregon. Ein sich an einem Telegraphenpfosten einen bissigen Mosquito von der Seite abreibender Ochse ward das Opfer des letztgenannten Gewitters und wurde der Getödtete von den Bewohnern jenes Goldhafens damals mit großem Mitleid betrachtet, so zu sagen als ein Märtyrer seines Glaubens an die Nichtigkeit der Gefahr vor Gewittern in Oregon. Außer jenem tragischen Todesfälle habe ich nie vernommen, daß ein lebendes Wesen an dieser Küste vom Blitze erschlagen worden sei.

Kurze Zeit nach der Entdeckung des Goldes in Californien, als dieses bis dahin fast ganz unbewohnte Land wunderbar schnell besiedelt wurde und neue Städte wie Pilze aus der Erde wuchsen, kam ein speculativer Yankee auf den unglücklichen Gedanken, eine Schiffsladung von Blitzableitern von Boston nach San Francisco zu senden, an welchem letzteren Orte er dieselben an die Besitzer neuer Gebäude mit etwa fünfhundert Procent Nutzen vortheilhaft zu verkaufen hoffte. Den Aerger des Yankee, mit seinen schönen stählernen Stangen in ein blitzloses Land gekommen zu sein, kann man sich vorstellen!

Was aus den paar tausend Blitzableitern geworden ist, vermag ich mit Gewißheit nicht anzugeben (eine Anzahl derselben soll als Fenzpfosten Verwendung gefunden haben); sicher ist aber, daß nie einer derselben den Giebel eines californischen Hauses oder einer californischen Kirche gekrönt hat, denn es wäre Unsinn, einen Blitzableiter in diesem Lande aufzustellen. Franklin hätte, wäre er ein Californier gewesen, nie die Natur des Blitzes entdecken und den elektrischen Funken, der jetzt, dem Menschen dienstbar, Länder und Welttheile verbindet, vom Himmel herabholen können. Jener Blitzableiter-Importeur aus dem Yankeelande aber wird Franklin wenig zu Dank verpflichtet gewesen sein; seine meteorologische Unkenntniß Californiens mußte er mit dem Ruin seiner zeitlichen Güter büßen und wurde obendrein noch verlacht.

Was die Ursache jener fast gänzlichen Abwesenheit von Gewittern an dieser Küste sein mag, darüber eine Erklärung zu geben, steht leider nicht in der Macht meines Wissens. Aber als von großem Segen muß dieselbe für das Goldland betrachtet werden; und wenn uns dafür die Mutter Erde mitunter ein klein wenig rüttelt und schüttelt, so geschieht ja auch dieses hier in San Francisco stets auf freundliche Weise und gewiß nur deshalb, damit wir Bewohner des herrlichen Goldlandes uns auf die bevorzugte Stellung unserer Adoptivheimath unter den Ländern dieser Welt nicht zu viel einbilden sollen. Jedenfalls sind die Erdbeben in San


Hierzu der „Weihnachtsanzeiger“, Extrablatt der „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Co.

[813] Francisco, welche hier bislang nur den Schornsteinen und Dachgesimsen ein Leid zugefügt und in zwanzig Jahren blos sage zwei unvorsichtig unter einem einstürzenden Schornstein stehende Chinesen erschlagen haben, den Gewittern im Osten Amerikas, deren Opfer jährlich nach Hunderten von Menschenleben gezählt werden, bei Weitem vorzuziehen.

San Francisco, am 1. November 1872.

Theodor Kirchhoff.




Die Ostseefluth und ein neues Lied von „braven Männern“. In einer Nacht und an einem Tage ist ein aller Beschreibung spottendes, entsetzliches Unheil geschehen. Alle Schrecken einer Sturmfluth, wie sie sonst nur dem darauf vorbereiteten Halligbewohner drohen, brachen diesmal über das Festland herein. Je trügerischer die Sicherheit war, in welche die jahrhundertlange Sanftmuth des Elementes die Bewohner der deutschen Ostseeküstenlande eingewiegt hatte, desto furchtbarer, desto niederdonnernder war die Enttäuschung des 13. November. Seit Menschengedenken nicht hatten die brandenden Wogen des entfesselten, wüthenden Meeres eine solche Höhe erreicht. Die von den Ueberschwemmungen der letzten Jahrhunderte der diesjährigen Novembersturmfluth am nächsten kommende war längst dem Gedächtniß der Massen entschwunden – sie wüthete im Jahre 1694 – und blieb, was Höhe und verderbliche Wirkung anbelangt, weit hinter dieser zurück. Selbst die mit Wind und Wellen vertrauten Bewohner hielten eine Fluth von solcher Höhe für unmöglich, aber „Gott der Allmächt’ge blies“, und los donnerten die Fluthen der sturmgepeitschten Ostsee, und entsetzt, bewundernd und hülflos wich der Mensch der grandiosen Zerstörungswuth des Elementes! Es mußte ein unglückliches Zusammentreffen vieler unheilvoller Umstände sein, was eine solche verheerende Hochfluth ermöglichte. Wenn wir nach ihren Grundursachen forschen, so finden wir zunächst, daß durch anhaltende West- und Südweststürme die Wasser der Nordsee in das Ostseebecken getrieben wurden und diese dadurch zu ungewöhnlicher Höhe stauten. Der beste Beweis für die Stichhaltigkeit des Gesagten liegt darin, daß zur Zeit der höchsten Fluth der Ostsee die Elbe bei Hamburg so niedrigen Wasserstand hatte, daß die Fahrten der Haarburger Dampfboote eingestellt werden mußten.

Die räumliche Ausdehnung der Verwüstungen ist eine überaus große; sie umfaßt so ziemlich das ganze deutsche Ostseegebiet. Die Sturmfluth äußerte ihre verheerendste Wirkung, wie bekannt, an der schleswig-holsteinschen, pommernschen und mecklenburgischen Küste. Um durch eine einzelne Schilderung ein Bild der ganzen Verwüstung zu geben, sei es mir gestattet, hier von Kiel und den Ortschaften der Kieler Bucht zu sprechen, und wenn ich hinzufüge, daß verhältnißmäßig dieser in Rede stehende Küstenstrich am wenigsten gelitten hat, so wird der Leser sich einen Begriff von der Verheerung machen können, welche die Gegenden heimsuchte, die ihr schutzloser exponirt waren.

Am 12. November Mittags stand ich an der Barbarossabrücke in Kiel. Das Wasser war schon bedeutend gestiegen und spülte bereits an’s Ufer. Der Wogenschlag war ein überaus heftiger, sturmesähnlicher, aber von dem entsetzlichen Unglück, das noch kommen sollte, hatte Niemand eine Ahnung. Von Mittag bis gegen Abend war das Wasser in rapider Weise gestiegen und überfluthete bereits den Hafenwall und die Ufereisenbahn. Der Sturm wüthete die Nacht hindurch fort, und Morgens sechs Uhr am 13. November ward mir schon die verbürgte Kunde: „Die Holstenbrücke ist unpassirbar!“ Das Wasser stand also mitten in der Stadt. Ich begab mich über den Markt nach der Holstenstraße. Die Verbindung zwischen der Holstenstraße und dem Bahnhof, die frequenteste Kiels, war aufgehoben und konnte nur schwer durch hochgehende Wagen und später nur durch Boote vermittelt werden. Die Kellerwohnungen, meistentheils Eigenthum der ärmeren Classen, waren in vielen Gegenden völlig unter Wasser gesetzt. Mit schreckensbleichen Gesichtern, die hellen Thränen im Auge, enteilten die Bewohner dem plötzlich hereinbrechenden Wasserschwall, um wenigstens das Leben zu retten, und ihr Heim und Besitzthum war die Beute der tückischen Wellen. So überraschend kam die Fluth, daß es fast ein Wunder ist, daß wir kein Menschenleben zu beklagen haben. Eine kleine Scene, die auf mich erschütternd wirkte, möge hier Platz finden. Ich fuhr in Begleitung einiger Freunde im Boot eine abgelegene, dem Hafen zuführende kleine Straße entlang. Plötzlich werden wir angerufen. Der Ruf kam aus einer Kellerwohnung. Es war ein junger Bursche, der ihn ausstieß. Er stand auf einem Tisch, auf den ein Stuhl gesetzt worden war, und hielt seine alte, an beiden Beinen gelähmte Mutter in den Armen, welche fast die Kraft zu versagen drohten. Wir ruderten hinzu und wahrlich – ich mußte die Thränen niederkämpfen, als ich in das beglückte Gesicht des Jungen blickte, wie er uns die entsetzte alte Mutter in’s Boot reichte, wie er nachfolgte, ein altes wollenes Tuch um die leidenden Fuße der Mutter schlang, sie vor Nässe zu schützen, und wie ihm dann die Thränen des glücklichsten, freudigsten Stolzes über die Backen liefen, in dem Bewußtsein: die Mutter, seine Mutter gerettet zu haben! –

Gegen vier Uhr sprang der Sturm um, von Nordost zu Ost. Das Steigen der Fluth ließ nach. Der Sturm legte sich in den Abendstunden. Am Morgen des 14. November war die See in ihr altes Bett zurückgekehrt; der Himmel war von selten reiner Bläue, und der helle, goldene Sonnenschein goß den ersten Trost in die geängsteten Herzen, beleuchtete aber auch die schrecklichsten Scenen der Verwüstung. Grauenhafte Bilder allüberall!

Mächtige Pappeln an der Seeburg entwurzelt! Die Brücken zerstört! An der Brücke gegenüber dem Fischerthor die stärksten Balken wie Strohhalme geknickt! Und dann der überaus traurige Anblick der mit Wasser gefüllten Kellerwohnungen mit den darin treibenden Mobilien! Den großartigsten Zerstörungsanblick gewährte der Bootshafen. Die ganze Fläche desselben war von Brettern bedeckt, welche die schäumende Fluth aus den nahegelegenen Holzlägern weggeschwemmt hatte. Auf der Straße lagen mächtige Balken, hergeschwemmt von den Werften, Boote, Thüren, Fensterkreuze und Ruderstangen. Die Drehscheibe der Ufereisenbahn am Pfaffenthor war herausgerissen und lag mitten aus der Straße. Waarenballen aus dem Zollschuppen, Tonnen, Bretter bildeten einen schrecklichen Knäuel!

Schon waren tausend rüstige Hände rege, den Schaden zu heilen. „Aber,“ fragte man sich, „wie mag’s drüben in Ellerbeck, Jaarden und Laboe aussehen?“

Das arme Ellerbeck mit seiner größtentheils vom Fischfang lebenden Bevölkerung! Fünfzig Fischerboote weggeschwemmt, die Häuser am Strande zerstört! Und dann Laboe! Von sämmtlichen Häusern am Strande sind nur zwei stehen geblieben!

Welch eine herzzerreißende Scene ist es, die sich am Schönberger Strande abspielte! Dort bewohnte der Fischer Ehler mit Frau, Sohn und Tochter ein allein liegendes Haus. Er war kurz vor Einbruch der Fluth von Laboe in seinem Boote zurückgekehrt, hatte dasselbe aber nicht bis zu seinem Hause gegen den Nordost aufbringen können und es daher bei dem Schäferhause in der Fehrnwischer Haide in Sicherheit gebracht. Das war am Dienstag, den zwölften! Der Sturm raste am dreizehnten mit ungeschwächter Kraft, und doch dachten die Leute nur mit Bangen daran, Haus und Herd verlassen zu müssen. Als nun durch die Grundbrüche die Wellen als wahrer Wasserberg in die Niederung stürzten, war an ein Verlassen des Hauses ohne Boot nicht mehr zu denken. Die Wogen durchbrechen den unteren Theil des Hauses, die Unglücklichen sehen das entfernt liegende massive Nachbarhaus zusammenstürzen, da packt sie die sinnverwirrende Verzweiflung! Sie glauben sich in ihrem noch trotzenden Hause nicht mehr sicher und der Hausvater zimmert ein nothdürftiges Floß, um damit das hochliegende Land zu erreichen. In Jammer, Thränen und Angst wird es bestiegen; ohne Steuer treibt es dem Festlande zu. Da brechen Wellen und Sturm mit neuem, mächtigerem Wüthen über die Bejammernswerthen herein und reißen die mit Verzweiflungsschreien sich Festklammernden weg vom letzten Schutze. Die brausenden Wellen ersticken den Todesschrei dreier Menschen; der vierte, der Sohn, vermag sich unter unsäglichen Mühen zu retten!

Das sind nur die Verheerungen, die zu Kiel und zur Kieler Bucht zählen! Und nun Schleswig, Flensburg, Travemünde, Neustadt und besonders das schwer geschädigte Eckernförde! Das Herz jedes Schleswig-Holsteiners, jedes Deutschen schlägt höher bei dem Namen! Die Heldenthat Preußer’s, des Dänenbesiegers, hat die Stadt unsterblich gemacht. Ganze Straßen sind buchstäblich von der Erde vertilgt. Ueber die Hälfte der Bewohner ist obdachlos.

Und die Insel Fehmarn! Welch ein das Herz im tiefsten Innern krampfendes tragisches Geschick, welches über den Lootsen Kruse und seine Familie, aus Frau und zwei Kindern bestehend, hereinbrach! Sein Lootsenhäuschen stand am Fehmarnsunde. Es ward buchstäblich von den heranbrausenden Wogen in die Höhe gehoben und in die See gerissen. Von der Sundbrücke aus gewahrte man noch die sich unter entsetzlichen Hülferufen, namentlich der Kinder, am Tafelwerk des Daches anklammernden Bewohner. Etwas weiter in See, am Struckamper Leuchtthurme sah man sie nicht mehr. Die grausige Tiefe hatte Alle verschlungen. Nein, nicht Alle! Kinder haben ihre Engel. Und ein Schutzengel muß es gewesen sein, der den kleinen Knaben Kruse unter seine Fittige nahm und ihn ausdauern ließ im tollen Seetreiben, mit den erstarrenden Händchen festgeklammert am Dachreste lange und bange Stunden, bis ihn die Bemannung einer mit dem Sturme kämpfenden französischen Brigg treiben sah und ihn aufnahm. Es war die Brigg „Locquirei“, Capitain R. Cabon; sie lief hier in Kiel für Nothhafen ein und brachte den kleinen Kruse mit. Sei dein ferneres Leben gleichem Schutze geweiht, armer Knabe!

Aber „Hoch klingt das Lied vom braven Mann!“ und mit dem Bilde eines braven Mannes will ich schließen. Es tröstet in erhebender Weise den Menschen, wenn er sieht, wie sich im Einzelnen die göttliche Tugend der Hingabe aufbäumt gegen die Schrecken der blindwüthenden Natur.

Das Fischerdorf Wenningbund bei Broacker ist gewesen. Wirre Steinhaufen bezeichnen die Stätte, wo sonst rüstige und fröhlich thätige Menschen wohnten. Plötzlich, ungeahnt donnerte die See einher, und alle Bewohner des Dorfes schienen rettungslos dem grausen Tode verfallen. Da kam über den frühern Hebungsbeamten Kirkerup echter Mannesgeist, und stolz gemuthete es ihn, der empörten Natur zu trotzen: Mit vier gleich hochsinnigen Männern – deren Namen mir leider bis jetzt nicht zugänglich waren – bestieg er ein Boot, und nach schwerer halbstündiger Arbeit waren die Insassen des nächst erreichbaren Hauses, neun Personen, gerettet. Aber – es galt sechsunddreißig Menschen zu retten! Nach unendlich mühseliger, toddrohender, viermaliger Fahrt gelang es den Braven, Alle wohlbehalten zu bergen! – Wo früher das Dorf Wenningbund stand, schäumt jetzt die Fluth; aber in dankbarem Andenken bleiben der Edle und seine Genossen, denen es gelang, dem rasenden Elemente das Kostbarste, das Leben so vieler Menschen zu entreißen!

Hier schließe ich. Nach bester, wenn auch schwacher Kraft, habe ich versucht, den Lesern der „Gartenlaube“, des Blattes, das wie kein anderes das deutsche Gemüth repräsentirt, ein anschauliches Bild des allgemeinen Elends, durch Schilderung des Einzelnen zu geben. Oeffnet Herzen und Hände, die ihr, unberührt von dem entsetzlichen Elende, das über eure Brüder hereinbrach, sicher im traulichen Heim sitzt! – Wo und wie wird der deutsche Weihnachtstisch der armen und elenden Bewohner der Ostseeküsten gedeckt werden?

Arno Hempel.




Albert Traeger in neuer Ausgabe. Die anmuthigen Lieder des „Dichters der Gartenlaube“ liegen in neunter vermehrter Auflage vor – gewiß ein Beweis dafür, daß er längst ein Liebling der Nation geworden. In dem eleganten und geschmackvollen Gewande, in welchem diese duftigen Liederblüthen auch diesmal wieder erscheinen, dürften sie allen Denjenigen willkommen sein, welche eine innerlich und äußerlich werthvolle Festgabe darbringen wollen.




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Ein Weihnachtsbaum für unsere Ostsee-Deutschen.


Auch ohne die zahlreichen Aufforderungen, welche in Folge der Verheerungen der Sturmfluth am dreizehnten November von der schleswigschen Küste bis nach Memel hinauf direct an die Redaction der Gartenlaube ergangen sind, würde dieselbe ihren altbewährten Opferstock für deutsches Unglück wieder aufgestellt haben, denn unverschuldeteres Unheil hat in so furchtbarem Maßstabe noch nie eine ärmere, mühseliger und gefahrvoller um ihr täglich Brod ringende Bevölkerung getroffen.

Gegen Feuersgefahr, Hagelschlag und regelmäßig wiederkehrende Wassersnoth kann der Besitzende sich versichern; wie aber soll der arme Fischer und Strandbewohner seine Boote, Netze und sein Wiesen- und Ackerland gegen eine Zerstörung versichern, die nur nach Jahrhunderten wiederkehrt? Einhundertachtundsiebenzig Jahre sind seit jener Sturmfluth von 1694 verflossen, von welcher die Chronik der Ostseeländer eine gleiche Zerstörung berichtet.

Keine Schuld trifft die Bewohner unserer Ostseeküsten auch hinsichtlich des Dämme- und Dünenschutzes, der ja ihre Lebensbedingung ist. Denn trotz der hier und da und an den gefährdetsten Stellen drei- und vierfachen Dünenreihen bis zu vierzig Fuß Höhe, hinter denen seit Jahrhunderten die Menschen sicher wohnten, brach sie alle der Wogensturm, und das wildeste Meer rollte in furchtbarer Freiheit über das mit unsäglichem Fleiß gepflegte Land. Und als seine Wellen zurückkehrten, was haben sie hinterlassen? Da ist kein Weg, kein Steg, kein Baum, kein Haus, kein Halm, kein Acker mehr zu sehen – nur Mauer- und Balkengerippe, und zwischen den Trümmern von Hab und Gut die Leichen der Menschen und Thiere. – Und wo die Vernichtung nicht so weit gediehen – wo die Häuser noch stehen und die Leben gerettet sind, da sind alle Vorräthe in Keller und Kammern verdorben, die Brunnen mit dem Salzwasser des Meeres überfluthet, Möbel und Kleider, Holz und Torf fortgeschwemmt, kein Bett mehr für Alte, Kinder und Kranke, Schlamm und Sand in den Häusern, und vor der Thür der nagende Hunger! –

Darum rasch zur That! – Wohl ist zu erwarten, daß das Reich mit seinen Mitteln dieser Nationalnoth zu Hülfe kommen werde, aber Niemand soll uns vorwerfen, daß wir auf „Franzosengeld“ gewartet hätten, um deutsche Brüder vom Verderben zu retten. Rasch zur That, – wenn nicht der Tod durch ausbrechende Seuchen eine schreckliche Nachernte halten soll. Der Opferstock der Gartenlaube ist aufgethan: deutsche Ehre und Liebe führe Jedem die spendende Hand!

Wenn die Gartenlaube auch, aus vielmals veröffentlichten Ursachen, später als alle anderen Blätter mit ihrem Aufrufe hervortreten kann, so kommt sie vielleicht doch noch zurecht, um hier und da Vorsteher von Liedertafeln und Dilettantenvereinen, großen und kleinen Erholungs- und Spiel-Gesellschaften ebenso, wie die Lehrer unserer Schulen in den Städten und auf dem Lande um Sammlungen mit oder ohne öffentliche Aufführungen in ihren betreffenden Wirkungsstätten zu bitten. In diesen Kreisen fand die Gartenlaube stets die reichhaltigsten Segensquellen für alle vom Unglück Verfolgten, und so wird es sicherlich auch diesmal sein.

Vor Allem möchten wir ihnen und uns eine Aufgabe stellen, an welche in dieser Zeit dringendster Noth für die Bedürfnisse des Augenblicks von den Hülfesuchenden selbst nicht gedacht werden kann! Wir stehen im Christmonat! Wenn Alle, die dieses lesen, eiligst helfen, so könnten wir es wohl noch dahin bringen, daß Hunderten der armen Kinder an der Ostsee ihr Weihnachtsbäumchen nicht ganz verkümmert würde! Nur müssen wir dann bitten, nicht Waaren, welche erst auf Herstellung warten müssen, sondern uns Geld zu schicken, für das sich überall das Nöthige und Erwünschte in kürzester Zeit schaffen läßt.

Für diesen Gedanken möchten wir ganz besonders die Lehrer und Kinder der Schulen begeistern! Und nun Glück auf zur That!




Erste Quittung der Gaben für unsere Ostsee-Deutschen.

Gleichzeitig mit den ersten Hülferufen aus dem Norden gingen vorläufig nachfolgende Gaben an uns ein:

L. K. in L. 10 Thlr. – Im Sinne eines Heimgegangenen 10 Thlr. – Dr. Fr. Hofmann 5 Thlr. – Redaction der Gartenlaube 50 Thlr. – Alex. Wiede 15 Thlr. – Dr. Ernst Ziel in Leipzig 5 Thlr. – 10 Thlr. von A. in Weimar, mit einem poetischen Aufrufe: „Zur Hülfe!“, in dessen Schlußreim wir mit ganzem Herzen einstimmen: „Zu Hülfe mit vollen Händen! Zu Hülfe, den Jammer zu enden!“ – Wilhelm Bauer, der todkranke, selbst verarmte Ludwigsheber und Submarine-Ingenieur, dem einst ganz Deutschland zugejubelt, sendet sein einziges Kleinod, seinen goldenen Siegelring mit seinem Namenszuge – „als Zeichen seiner Dankbarkeit für die vielen Liebesthaten, welche er 1851 in Kiel und später bei Hebung des Ludwig von dortigen Freunden erfahren“ und schließt mit dem Spruch:

„Eile, eile, warm von der Hand,
Wärmer noch vom fühlenden Herzen,
Eile zum deutschen Ostseestrand,
Lindre und stille die Thränen und Schmerzen!“

Wer bietet auf Wilhelm Bauer’s Siegelring? Dem höchsten Gebot wird er zugeschlagen.

Die Redaction der Gartenlaube.




Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!


Bechstein, Naturgeschichte der Hof- und Stubenvögel. 5. Auflage. Mit 79 prachtvollen Vogelportraits in Farbendruck. Eleg. brosch. 2 Thlr.

Bock, Buch vom gesunden und kranken Menschen. 9. Auflage. Eleg. brosch. 2 Thlr. 15 Ngr., eleg. geb. 2 Thlr. 25 Ngr.

Gottschall, Janus. Friedens- und Kriegsgedichte. Eleg. geb. mit Goldschnitt 1 Thlr. 15 Ngr.

v. Hillern, Aus eigener Kraft. 3 Bande. 3 Thlr.

Marlitt, Gold-Else. Illustrirte Salon-Ausgabe. Eleg. geb. mit Goldschnitt 3 Thlr. 15 Ngr.

Marlitt, Gold-Else. Achte Volks-Ausgabe. Eleg. brosch. 1 Thlr., eleg. geb. 1 Thlr. 8 Ngr.

Marlitt, Das Geheimniß der alten Mamsell. 6. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 2 Thlr.

Marlitt, Reichsgräfin Gisela. 3. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 2 Thlr. 20 Ngr.

Marlitt, Haideprinzeßchen. 2 Bände. Eleg. brosch. 3 Thlr.

Marlitt, Thüringer Erzählungen. 2. Auflage. Eleg. brosch. 1 Thlr. 15 Ngr.

Prutz, Rob., Buch der Liebe. 2. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt 1 Thlr. 15 Ngr.

Rittershaus, Neue Gedichte. 3. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt 2 Thlr.

Stolle’s Palmen des Friedens. Gedichte. 5. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt 1 Thlr. 15 Ngr.

Traeger, Gedichte. Neunte, sehr vermehrte Auflage. Prachtvoll geb. mit Goldschnitt 1 Thlr. 15 Ngr.

Weber, Carl Maria von, Ein Lebensbild von Max Maria v. Weber. 3 Bände. Eleg. brosch. 6 Thlr. 25 Ngr.

Werner, Gartenlaubenblüthen. 2 Bände. Eleg. brosch. 6 Thlr. 25 Ngr.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. In welch verlockender Weise, die namentlich auf die Masse des Volks berechnet war, dies geschah, darüber werden jetzt haarsträubende Thatsachen laut. Um sich das Zuströmen der Capitalien zu sichern, gewährte sie ungeheure Zinsen und zahlte diese in dem Augenblick, wo bei ihr das Capital angelegt wurde, gleich baar aus. Zu einer Zeit, in welcher man in München zu 4½ % jährlich überall Hypotheken haben konnte, in der jede Bank nur 5 % für das Jahr rechnete, gab die Spitzeder 10 % monatlich. Brachte ihr also Jemand 100 fl. auf ein Jahr, so zahlte sie gleich 30 fl. = 10 % Zinsen auf drei Monate im Voraus. Nach Verlauf von drei Monaten zahlte sie abermals 30 fl., nach einem Jahr hatte also der glückliche Darleiher an Zinsen schon 120 fl. zurückempfangen und war außerdem noch im Besitz eines Wechsels von Fräulein Adele Spitzeder, welche Wechsel allezeit prompt honorirt wurden. Da alle ihre Wechsel auf sie lauteten und nicht weiter übertragen werden konnten, so war sie vor jedem äußern Eingriff in ihr „Geschäft“ geschützt. Freilich sollen dieselben auch die böse Eigenthümlichkeit haben, daß die Gläubigernamen durchweg ungenau und meist ganz falsch geschrieben, ja viele Wechsel sogar mit fingirten Namen versehen, also gleich von vornherein ungültig sind. Vor der Hand genüge unsern Lesern diese Andeutung über den sogenannten Geschäftsbetrieb eines Schwindels, der zu den entsetzlichsten „besonderen Kennzeichen“ unsers Jahrhunderts gehört.
    D. Red.
  2. Bildniß und Lebensskizze des bekannten Freiherrn Hans von Aufseß brachte die Gartenlaube im Jahrgang 1859, S. 109 ff. Wenn wir jetzt unsere Leser in die Stammburg des Aufsessischen Geschlechts führen, so werden wir zunächst dazu veranlaßt durch den Schatten, welchen leider der Name Aufseß auf das Straßburger Universitäts-Weihefest werfen sollte, und durch seinen so plötzlichen Tod. Ist dadurch auch ein Trauerflor auf das „Germanische Museum“, das unvergänglichste Denkmal, das er sich selbst aufgerichtet, gefallen, so ist die Größe seiner Schöpfung, wie der Blick auf die helle, heitere Vergangenheit des Mannes doch recht gut geeignet, Schatten und Flor in Vergessenheit zu bringen und nur den Eichenkranz um seinen Namen zu erhalten.
    Die Redaction.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Johannes von Viltring