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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[717]

No. 44.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


21.


Es war vielleicht zehn Uhr, aber, obgleich man im Hochsommer sich befand, und der Mond bereits aufgegangen sein mußte, so dunkel, wie es nur eine mondlose Herbstnacht sein konnte. Und herbstlich kalt wehte der Wind über die Roggenstoppeln, und herbstlich kalt schlug ihnen der Regen in’s Gesicht, welcher eben wieder mit erneuter Heftigkeit einsetzte.

„Knöpfen Sie sich fest zu,“ sagte Gotthold zu seinem Gefährten, der unbehaglich in seinem Sitz hin- und herrückte. „Sie schienen vorher sehr erhitzt.“

„Weil ich den ganzen Abend zugeknöpft gewesen bin,“ erwiderte der Assessor, „ich meine im wirklichen Sinne, wegen der Zehntausend, die ich seitdem in der Brusttasche trage; in figürlichem hätte ich es wohl etwas mehr sein können; trotzdem aber, – ich bitte Sie, lieber Freund, erklären Sie mir Brandow’s räthselhaftes Betragen! Er hat mir ja geradezu den Stuhl vor die Thür gesetzt! Und weshalb? ich verstehe es nicht! nachdem wir den ganzen Abend auf das Cordialste miteinander verkehrt! nachdem wir, so zu sagen, Hand und Handschuh gewesen! Und Alles zwischen uns in bester Ordnung! die ganze große Summe baar bezahlt bei Heller und Pfennig, was freilich das größte Räthsel ist! Und von Wollnow will er das Geld haben! Hat Wollnow mich mystificirt? Und warum? Ich sehe in dem Allen so wenig Licht, wie ich hier meine Hand vor den Augen sehen kann. Abscheuliche Dunkelheit!“

„Der Mond ist schon seit einer Stunde auf,“ sagte Hinrich Scheel.

„Und darum habt Ihr auch wohl keine Laternen am Wagen?“

„Herr von Plüggen hat auch keine gehabt.“

„Und dann dachtet Ihr, daß uns Eure Pfeife hinreichend Licht geben würde, nicht wahr?“

„Ich brauche nicht zu rauchen, Herr!“

„Dann laßt es lieber; ich kann nicht sagen, daß ich den Duft Eures Knasters sehr goutirte.“

„Unser Einer kann keinen feinen Tabak rauchen, wie die feinen Herren,“ sagte Hinrich Scheel, die Pfeife ausklopfend, daß die Funken durch die Nacht dahinstoben, und sie in die Brusttasche steckend.

„Ist das nicht derselbe Kerl, der uns heute Nachmittag fuhr?“ fragte der Assessor leise.

„Derselbe,“ erwiderte Gotthold, „und ich möchte Ihnen zu derselben Vorsicht rathen, deren wir uns auf der Herfahrt bedienten.“

Aber der Assessor war nicht in der Stimmung, Gotthold’s Rathe zu folgen. Der Rausch, welchen die Scene mit Brandow nur für kurze Zeit unterbrochen, stellte sich in der sausenden kalten Nachtluft mit doppelter Starre wieder ein. Er fing an, auf Brandow zu schelten, dem er im Curatorium immer das Wort geredet, der ohne ihn bereits vor einem Jahre von Dollan hätte abziehen müssen, der ihm in jeder Beziehung zu großem Danke verpflichtet sei, und von dem er nun so mit schnödem Undank belohnt werde. Aber mit seiner Freundschaft, mit seiner Protection sei es jetzt zu Ende. Er habe den saubern Herrn noch immer in der Hand. Die Pacht müsse, so wie so, erneuert werden. Nun habe Brandow freilich bezahlt, aber welche Gewähr der Sicherheit sei bei einem Manne, der in einer so precären Lage sich noch eine Spielschuld von fünftausend Thalern auf den Hals lade? Er brauche dem Curatorium nur diese Mittheilung zu machen, und Brandow sei geliefert. Ob Brandow glaube, das Curatorium dadurch zu beruhigen, daß er ihm den Brownlock vorreite? Brownlock hin, Brownlock her! Noch habe Brandow nicht gesiegt, und man nehme es etwas streng auf dem Rennplatze. Noch im vorigen Jahre habe man den jungen Klebenitz ausgeschlossen – Majoratsherr, wie er sei – weil bekannt geworden, daß er eine Spielschuld vierundzwanzig Stunden zu spät bezahlt. Es sei doch sehr fraglich, ob Redebas die Fünftausend, die er eben dem Brandow abgenommen, bis morgen Mittag in seinem Secretär liegen haben werde.

Es war ganz vergeblich gewesen, daß Gotthold den Redseligen zu unterbrechen suchte; und er war deshalb nicht unzufrieden, als jener, nachdem er noch ein paar unzusammenhängende Worte gelallt, plötzlich schwieg und, in seine Ecke zurückgelehnt, seinen Rausch verschlafen zu wollen schien. Gotthold legte ihm noch seine eigene Decke über die Kniee, schlug ihm den Kragen des Ueberziehers in die Höhe, und überließ sich, in die Dunkelheit hineinstarrend, seinen Betrachtungen. Auch ihm war Brandow’s Betragen unbegreiflich. Was konnte ihn bewogen haben, den Assessor in dieser Weise zu beleidigen, einen Mann, dessen Gunst sich zu erhalten er jede Veranlassung hatte? War auch er betrunken gewesen? aber diese Trunkenheit mußte sehr plötzlich über ihn gekommen sein, und hatte jedenfalls eine seltsame Miene angenommen – die Miene des Hasses, der sich in kalte Höflichkeit [718] hüllt. Oder hatte das Alles nur ihm gegolten? war ihm so viel daran gelegen gewesen, den Feind aus dem Hause zu haben, daß er es sich selbst die Freundschaft des einflußreichen Mannes kosten ließ? Das war so einfach menschlich, sah dem kalt berechnenden Menschen so wenig ähnlich – aber, wenn nicht Trunkenheit, die sich austoben, nicht Haß, der sich befriedigen will – was war es dann?

Und wenn es nun Haß wäre, der sich befriedigen will um jeden Preis? und wenn dieser Haß ihr nicht minder galt als ihm, ihr vielleicht mehr noch als ihm? wenn der Fürchterliche das Haus frei haben wollte, um seinem wüthenden Haß freien Lauf lassen, schwelgen zu können in grausamer Rache?

Gotthold richtete sich, laut stöhnend, halb von seinem Sitze auf, und sank wieder zurück und schalt sich, daß er solche Grauengespenster heraufbeschwor. Es war ja doch das Unwahrscheinlichste von Allem! Welches Mittels er sich auch gestern Nacht bedient haben mochte, den Stolz der Stolzen zu brechen – er hatte gesiegt, er war der Herr der Situation! er konnte zufrieden sein! Und war er es nicht – er wußte ja jetzt das Geheimniß, Gold zu machen, der schlaue Alchymist; und wie bald er wieder in die Lage kommen konnte, seine Kunst in Anwendung bringen zu müssen – der heutige Abend hatte es bewiesen! – Wo bleibt das Wasser, das du zwischen die Finger nimmst? wo bleibt das Gold, das du einem Spieler giebst? Vetter Boslaf hatte Recht gehabt!

Aber je mehr Gotthold bemüht war, sich das Entsetzliche auszureden, als unwahrscheinlich, ja unmöglich hinzustellen, um so deutlicher trat es vor seine Augen. Er sah ihn nach ihrem Zimmer schleichen, sah ihn leise vorsichtig die Thür öffnen, hineinschlüpfen, auf ihr Bett zu. Heiliger Gott, was war das? Er hatte ganz deutlich seinen Namen rufen hören in schrillem Tone tödtlichster Angst.

Es war nur ein Spiel seiner aufgeregten Sinne, ein Uhu vielleicht, der auf unhörbaren Schwingen, vom Sturm geschleudert, dicht über seinen Kopf weggestrichen war, und in der Ueberraschung den Schrei ausgestoßen hatte. Dies, oder etwas der Art.

Ohne Zweifel, nur daß die Phantasie ihr grausames Spiel deshalb um nichts minder eifrig fortsetzte, und aus dem langgezogenen Heulen und dumpfen Brausen des Sturmes über die Haide, aus dem Rascheln der Ginsterstauden an der Wegseite, aus dem Kreischen des mühsam gleisenden Wagens, aus dem Schnaufen der sich abarbeitenden Pferde geisterhafte Töne formte, die sich in grausige Worte umsetzten, Töne und Worte, wie sie die Gestalten raunen und röcheln konnten, die rechts neben dem Wagen her auf den Haidehügeln durch die grauschwarze Dämmerung der Felsblöcke schlüpften, oder unten links durch die undurchdringliche Nacht huschten, die von dem Moore kalt heraufathmete.

Der Weg war schon eine Zeitlang gestiegen, nach Gotthold’s Meinung mußten sie beinahe auf der Höhe des Hügels sein, als plötzlich die Pferde schnaufend stillstanden.

„Was heißt das?“ fragte Gotthold.

Hinrich Scheel antwortete nur mit ein paar sausenden Peitschenhieben, welche die Pferde wieder vorwärts trieben, aber nur ein paar Schritte, dann standen sie wieder, unruhiger noch als vorher schnaufend und sich in dem Geschirre zurücklegend, daß der Wagen ein wenig hügelabwärts glitt.

„Die verdammten Mähren!“ schrie Hinrich Scheel, aber nicht mehr von seinem Sitze, sondern rechts neben dem Wagen.

„Noch einmal, was giebt’s?“ rief Gotthold, sich aufrichtend.

„Gar nichts,“ schrie Hinrich, „bleiben Sie ruhig sitzen. Die verdammten Mähren! das bischen Arbeit! ich will’s ihnen beibringen! bleiben Sie ruhig sitzen, wir sind ja gleich oben! Die verdammte Peitsche!“

Hinrich, der bis jetzt wie unsinnig auf die Pferde losgeschlagen hatte, war neben dem Wagen verschwunden; die angstvoll vorwärts drängenden Pferde thaten noch ein paar Sprünge – plötzlich neigt sich der Wagen nach links auf die Seite – tiefer und tiefer – wie ein Blitz durchfährt es Gotthold, daß, wenn der Wagen hier umschlägt, er unaufhaltsam sechszig Fuß tief die Böschung hinab in das Moor stürzt – er hat bereits die Hand auf der Lehne, sich nach rechts hinauszuschwingen – er will sich nicht retten ohne den Gefährten. Der aber regt sich nicht, rührt sich nicht. Er hat ihn umfaßt, sich mit ihm aus dem Wagen zu werfen. Es ist zu spät. Ein dumpfes Krachen, Rauschen, Rascheln, als ob die Erde selbst sich aufthäte, um Wagen, Roß und Mann auf einmal zu verschlingen; ein Sausen und Knattern des Windes in den Ohren – ein furchtbarer Schlag, ein Stürzen, Rollen, Aufschlagen, wieder Stürzen, Rollen, Aufschlagen und dann – vorbei der Graus!




22.


In dem großen behaglichen Zimmer neben dem Comptoir saßen beim gedämpften Scheine einer prachtvollen Lampe – die Schwesterlampe brannte auf dem Spiegelconsol in der Tiefe des Zimmers – Frau Ottilie Wollnow und Alma Sellien; Ottilie mit einer feinen Handarbeit beschäftigt, während Alma, die schlanken Hände müßig in den Schooß gelegt, in der Sophaecke lehnte. Ueber den Damen stand auf einem hochlehnigen Stuhle und gut in das Licht gerückt Gotthold’s Bild von Dollan, und Alma warf von Zeit zu Zeit einen ihrer schmachtenden Blicke darauf. Sie wollte, wenn die Herren heute Abend kamen, Gotthold eine angenehme Ueberraschung mit dem Interesse bereiten, das sie an seinem Werke nahm, und deshalb mußte das Bild, das vorhin auf ihren Wunsch herabgenommen war, hier stehen bleiben.

„Ich fürchte nur, es könnte herabgleiten und beschädigt werden,“ sagte Ottilie; „und überdies – ich bin gar nicht so sicher, daß sie heute Abend noch zurückkommen.“

„Ich weiß nicht, was das Zurückkommen der Herren mit meinem Kunstgenusse zu thun hat,“ erwiderte Alma, die Augen mit der Hand beschattend und das Bild mit scheinbar erhöhtem Interesse betrachtend. „Wie kräftig diese Buchen hier in dem Vordergrunde, wie bequem der Blick in den zweiten Plan hinübergleitet und in süßer Ruhe dort verweilt, um sich dann links mit Lust auf der braunen Haide zu ergehen, oder rechts sehnsuchtsvoll in die blaue duftige Meeresferne hinauszuschweifen. Er ist wirklich ein großer Künstler.“

Ottilie lachte. „Und das willst Du ihm Alles sagen?“

„Warum nicht?“ erwiderte Alma, „ich gebe gern Jedem, was ihm zukommt.“

„Besonders wenn der ‚Jede‘ ein so liebenswürdiger Mann ist wie Gotthold.“

„Ich habe ihn ja heute Morgen kaum fünf Minuten gesehen und gesprochen.“

„Und das reicht für eine so seine Kennerin auch vollkommen hin. Gestehe, Alma, Du bist bezaubert und siehst jetzt, daß unsere arme Cäcilie doch nicht so hart zu verurtheilen ist, wenn sie wirklich das Unglück gehabt haben sollte, einen solchen Mann liebenswürdig zu finden.“

„Du weißt, ich denke in diesen Dingen sehr streng,“ entgegnete Alma; „ja, sehr streng, trotz der großen Augen, die Du zu machen beliebst. Aber, offen gestanden, es ist mir passabel gleichgültig, was Deine arme Cäcilie findet oder nicht findet; ich möchte nur nicht gern an dem guten Geschmacke und dem Tacte der Männer verzweifeln, und das müßte ich, fände wirklich umgekehrt ein solcher Mann Deine arme Cäcilie liebenswürdig.“

„Aber, Alma!“

„Bitte, liebe Ottilie, erlaube, daß ich in diesem Punkte meine eigene Ansicht habe und festhalte. Sage mir lieber – denn das interessirt mich jetzt, nachdem ich ihn persönlich kennen gelernt habe –, was Du von seinen sonstigen Verhältnissen weißt. Hugo behauptet, er sei ein halber Millionär. Ist er wirklich so reich? und wie ist er zu dem Vermögen gekommen? Hugo sagt, es sei eine ganz mysteriöse Geschichte – das sagt er aber immer, wenn er über etwas keine Auskunft geben kann. Was ist daran?“

„Gar nichts,“ erwiderte Ottilie; „ich meine gar nichts Mysteriöses, aber traurig ist die Geschichte; ich habe, als mein Emil sie mir neulich erzählte – er hatte vorher nie mit mir davon gesprochen –, so weinen müssen!“

Und Ottilie Wollnow trocknete die Thränen, die ihr bereits in den dunkeln Wimpern hingen.

„Du machst mich unglaublich neugierig,“ sagte Alma; „wie kann eine Geschichte traurig sein, bei der schließlich eine halbe Million herausspringt?“

„So viel ist es nun wohl nicht,“ sagte Ottilie; „überhaupt darfst Du keine Details von mir verlangen, da Emil’s Erzählung selbst sehr – wie soll ich sagen? – sehr discret war – aus [719] Gründen, die ich Dir heute Morgen bereits andeutete, und ich – aus ebendenselben Gründen – nicht weiter in ihn zu dringen wagte. Man muß solche alte Cotillonorden immer respectiren und für richtige, echte Orden zu halten scheinen.“

„Alte Cotillonorden?“ fragte Alma erstaunt.

Ottilie lachte. „Ich nenne so die Reminiscenzen unserer Männer an ihre alten Liebschaften, die sie mit so possirlicher Rührung conserviren und, so zu sagen, immer heimlich unter dem Rock tragen, um uns nicht durch den Glanz zu beschämen; denn wir sind ja gute und vortreffliche Frauen, aber wie könnten wir uns mit diesen Huldinnen messen! In diesem Falle freilich –“

„Verzeihe, liebe Ottilie, daß ich Dich unterbreche! aber Du wolltest mir erzählen, wie Gotthold zu seinem Vermögen gekommen ist.“

„Das steht ja Alles im engsten Zusammenhange,“ erwiderte Ottilie; „der Cotillonorden, ich meine die alte Flamme meines guten Emil und Gotthold’s Mutter, das ist ja eine und dieselbe Person; aber freilich, ich fange meine Geschichten immer am Ende an, behauptet Emil. Also nun, ausnahmsweise mit dem Anfang. Aber wie das?“

„Vielleicht, indem Du sagst, wer denn die genannte Dame eigentlich war.“

„Du triffst doch immer den Nagel auf den Kopf! Gewiß; wer sie war? das einzige Kind ihrer Eltern – ihr Vater ein reicher Kaufmann in Stettin, Reginald Lenz mit Namen – ihre Mutter – ich habe vergessen, wie sie hieß; aber sie muß ein herziges, liebes Geschöpf gewesen sein und ihren Mann leidenschaftlich geliebt haben, zu leidenschaftlich vielleicht. Auch mag der Mann wohl sehr liebenswürdig gewesen sein – sie haben ihn nur immer den ‚schönen Lenz‘ genannt; und wie denn solche verwöhnte Herren sind: das lustige Junggesellenleben wird in der Ehe fortgesetzt; ein paar unglückliche Speculationen mögen noch dazu gekommen sein; mit Einem Worte: Herr Lenz fallirte nach ein paar Jahren oder stand vor dem Banquerott, und die Bücher stimmten wohl nicht, wie sie sollten; er wollte die Schande nicht überleben, und – es ist schrecklich, wenn man sich das vorstellt – er nimmt ganz heiter Abschied von seiner jungen Frau, um auf die Jagd zu gehen und sich nach dem vielen Rechnen, wie er sagt, den Kopf klar zu machen, und am Abend bringen sie ihn mit zerschmettertem Schädel –; ist es nicht fürchterlich?“

„Weiter!“ sagte Alma.

„Ja, das Weitere ist fast ebenso schlimm. Die junge Frau, die keine Ahnung von der Lage ihres Mannes hatte – sie hätte ihn sonst gewiß nicht fortgelassen –, sieht ganz unvorbereitet die Leiche. Sie sehen, mit einem gräßlichen Schrei zusammenbrechen ist bei der Aermsten Eines. Eine Stunde später – die Unglückliche hat ein zweites Kind unter dem Herzen getragen – rast sie in einem hitzigen Fieber und ist nach ein paar Tagen eine Leiche.“

„Wie unvorsichtig!“ sagte Alma.

„Die kleine fünfjährige Marie –“

„Ein häßlicher Name,“ sagte Alma.

„Ich kann es nicht finden; jedenfalls ist die Trägerin desselben nichts weniger als häßlich gewesen, versichert Emil; und, offen gestanden, ich bin überzeugt, daß er in diesem Punkte nicht übertreibt und daß die kleine Dame, die natürlich im Laufe der Jahre ein große Dame wurde, in der That alle die vorzüglichen Eigenschaften hatte, die dem armen Jungen, der damals so einige Zwanzig war, den Kopf verdrehten. Und nicht blos ihm: sämmtlichen anderen jungen Leuten in dem Geschäfte ist es nicht anders gegangen. Ich vergaß nämlich zu sagen, oder wollte sagen, daß die arme kleine Waise in das Haus ihres Onkels gekommen, des Bruders ihres unglücklichen Vaters, der aber in jeder Beziehung das Gegentheil von Jenem war: häßlich, streng, ja pedantisch, freilich ein vorzüglicher Geschäftsmann, aus der alten Schule, wie Emil sagt, der in dem Geschäfte gelernt und sich zu dieser Zeit bis zum Procuristen aufgeschwungen hatte. Die Frau soll wunderbar gut zu ihm gepaßt, das heißt, ihm weder an Häßlichkeit noch an pedantischer Strenge etwas nachgegeben haben, so daß das arme Mädchen in diesem Hause gerade nicht auf Rosen gebettet gewesen ist.“

„Trotz aller Bewunderer?“

„Trotz aller Bewunderer. Sie hat es von ihrem Vater gehabt, der auch immer hoch hinaus gewollt hat.“

„Vielleicht hat sie überhaupt nicht gewußt, was sie wollte.“

„Ist auch möglich; jedenfalls hat von den jungen Leuten keiner Gnade vor ihren Augen gefunden, höchstens Emil ein wenig, aber er behauptet, nur deshalb, weil er der einzige Jude in dem christlichen Geschäfte gewesen ist und also gewissermaßen nicht mitgezählt hat – die Stellung der Juden, mußt Du wissen, war damals, vor dreißig Jahren, noch ein wenig precärer und ungemüthlicher als jetzt, trotzdem auch jetzt vielleicht noch nicht Alles ist, wie es sein sollte. Wenigstens hat sie den am schlechtesten behandelt, der, was die äußeren Verhältnisse betrifft, die größten Ansprüche machen konnte – ihren Cousin Eduard nämlich, den einzigen Sohn des Hauses, einen stillen, schüchternen jungen Menschen, der sie grenzenlos geliebt hat. Emil sagt, ihm könnten noch jetzt die Thränen in die Augen kommen, wenn er an die Zeit zurückdenkt, wo ihm Eduard, dessen bester Freund er gewesen ist, sein Herzeleid geklagt hat – nicht so pomphaft, weißt Du, mit großen Worten, die gar nicht seine Sache gewesen sind, sondern so sanft, so resignirt –“

„Ich kann diese sanften, resignirten Menschen nicht leiden,“ sagte Alma.

„Sie bringen es auch selten sehr weit, wie das Beispiel des armen Eduard zeigt. Aber freilich, sie hat noch ganz anderen Leuten Körbe gegeben, die keineswegs sanft und resignirt waren: Officieren, Baronen und Grafen – was weiß ich; sie ist ja das Wunder der Stadt und der Abgott der ganzen jungen Männerwelt gewesen, und sie hat sie nicht mehr beachtet, als wie die Sonne die Nebel.“

„Du wirst ja ganz poetisch,“ sagte Alma.

„Ein Bild von Emil, der immer poetisch wird, sobald er von ihr spricht – bis dann der Rechte kam.“

„Der Landpastor! Du lieber Himmel! Tant de bruit pour une omelette!“ sagte Alma.

„Bitte, er ist gar keine Omelette gewesen, im Gegentheil ein ganz außergewöhnlicher Mensch, der den Frauen gerade so den Kopf verdreht hat, wie sie den Männern. Und nicht blos den Frauen; viele Männer, und nicht die schlechtesten, haben auch für ihn geschwärmt, unter andern mein Emil, der, seitdem er sich zu unserer Hochzeit hat taufen lassen, keinen Fuß in eine Kirche gesetzt hat, und der damals allsonntäglich, Jude wie er war, dem Gottesdienste beiwohnte, welchen der junge Prediger-Substitut – so, glaube ich, nennt man sie – abgehalten. Die ganze Stadt, sagt er, ist dagewesen; die große Kirche hat die Leute nicht fassen können; sie haben in den Thüren, ja, vor den Thüren gestanden, ihn nur herauskommen zu sehen. Mit einem Worte: dieser junge Prediger war der Rechte. Wie sie sich kennen gelernt haben, weiß ich nicht; thut auch nichts zur Sache. Sich sehen, sich lieben, war Eines. Die Pflegeeltern, die ihres Eduard wegen froh gewesen sind, sie aus dem Hause zu haben, gaben selbstverständlich sofort ihre Einwilligung, trotzdem die kleine Pfarre hier in Rammin, aus die hin sie heiratheten, eher zum Verhungern, als zum Leben war. So sind sie denn von Stettin fort und hierher gezogen und –“

„Die Geschichte ist zu Ende,“ sagte Alma, „wie dergleichen Geschichten, die so überschwänglich anfangen, zu Ende zu gehen pflegen: in Alltagsmisère. Aber dabei weiß ich noch immer nicht, wie Gotthold zu seiner halben Million kam.“

„Keine halbe Million,“ erwiderte Ottilie, „Hunderttausend etwa, meint Emil; und von wem anders sollte er sie wohl haben, als von dem guten Eduard, der nie hat heirathen wollen, so glänzende Partien natürlich der reiche Erbe machen konnte, sondern seiner Jugendliebe treu geblieben ist bis an das Grab, und, als es zum Sterben kam, sein großes Vermögen an wohlthätige Anstalten gewandt und den Rest dem Sohne seiner Cousine als seinem nächsten Erben vermacht hat.“

„Es muß eine sehr angenehme Ueberraschung gewesen sein,“ sagte Alma.

„Ohne Zweifel, obgleich ich doch wieder sagen muß, daß kein rechter Segen bei dem Gelde ist. Nun ja, er ist jetzt ein reicher oder doch wohlhabender Mann; was hat er persönlich davon? So gut wie nichts. In Emil’s Geschäft stehen schon von der Zeit vor unserer Heirath – seitdem braucht Emil, Gott sei Dank, kein fremdes Geld mehr – zehntausend Thaler oder so – er hat sich nie darum bekümmert; das andere hat er dem Stettiner Geschäft gelassen, das von einem der Theilhaber [720] unter der alten Firma fortgeführt wird, und wo es gar nicht mehr sehr sicher angelegt sein soll; aber er rührt nicht einmal die Zinsen an, außer wenn es gilt, hülfsbedürftigen Künstlern beizuspringen, oder junge, strebsame Talente zu fördern, ihnen den Aufenthalt auf der Akademie, eine Reise nach Italien zu ermöglichen, und was dergleichen mehr ist. Nun, er braucht es ja nicht; er verdient ja mit Leichtigkeit so viel, wie er will, und ist ja überdies ein so grundguter Mensch, dem Andern wohlzuthun Bedürfniß ist, aber ich glaube, es hat doch damit seine eigene Bewandtniß.“

„Womit?“ fragte Alma.

„Warum heirathet er nicht? Gelegenheit dazu hat sich ihm doch gewiß die beste geboten, und er ist achtundzwanzig Jahre! Ich fürchte, ich fürchte, er wird ein Junggeselle bleiben, wie sein Onkel in Stettin; und – aus demselben Grunde. Und wo das Geld bleibt, das glaube ich auch schon zu wissen. Nach dem, was wir heute Morgen über Brandow’s Verhältnisse gehört haben, wäre es dann auch recht gut placirt; von Vater und Mutter wird das arme Gretchen wohl nicht viel zu erben haben.“

„Er wird kein Narr sein,“ sagte Alma.

„Das werden die Leute von dem guten Eduard Lenz ebenfalls gesagt haben. Und ich glaube, ich glaube – aber Du mußt mich nicht verrathen, wenn Dein Mann zurückkommt –, ich glaube, ein Theil von Gotthold’s Vermögen ist heute schon in Brandow’s Hände gewandert.“

„Sagte Dein Mann das?“

„Dann wüßte ich es ja; Emil und Ausplaudern – da kennst Du ihn schlecht. Alles eigene Combination, aber die sich bestätigen wird, wenn die Herren morgen zurückkommen.“

„Ich habe ihnen noch beim Wegfahren gesagt, daß ich sie heute Abend mit Bestimmtheit zurückerwarte,“ sagte Alma, durch die hohle Hand auf das Gemälde blickend, und im Stillen die Phrase wiederholend, mit der sie Gotthold empfangen wollte.

„Wahrhaftig, da sind sie schon! rief Ottilie, als jetzt die Hausglocke ertönte.

„Es kann ja auch Dein Mann aus seinem Club sein.“

„Der klingelt nicht,“ sagte Ottilie; „es ist auch nicht sein Schritt.“

Ottilie ging mit einem „Herein“ auf die Thür zu, an welche jetzt geklopft wurde; Alma lehnte sich in die Sophaecke, den Kopf ein wenig hintenübergeneigt, im Begriff, die weißen Hände in dem Schooße möglichst vortheilhaft zu arrangiren, als sie durch einen leisen Schrei Ottiliens aus ihrer Pose aufgeschreckt wurde.

„Herr Brandow!“

„Verzeihen Sie, gnädige Frau, verzeihen die Damen, daß ich mich, in Ermangelung eines Domestiken, der mich hätte melden können, unangemeldet introducire. Ich hoffe, daß Sie mich einige Minuten bei sich dulden und mir so einen Scherz ausführen helfen, den ich unsern Freunden zugedacht habe.“

Brandow verbeugte sich; Ottilie blickte ihn überrascht, ja erschrocken an. Herr Brandow sah so gar nicht aus wie Jemand, der einen Scherz auszuführen gedenkt; sein Gesicht bleich und wie entstellt, sein langer blonder Schnurrbart zerzaust, seine Kleidung eine seltsame Zusammenstellung von Gesellschaftsanzug und Reitcostüm, mit Spritzflecken, die bis zur Schulter hinaufreichten. Und in dieser Verfassung, zu dieser späten Stunde in ein Haus zu kommen, das ihm so gut wie fremd, ja seit Jahren eigentlich verschlossen war! Ottilie hatte für das Alles nur eine Erklärung.

„Es hat doch kein Unglück gegeben?“ rief sie.

„Ein Unglück?“ sagte Brandow, „daß ich nicht wüßte; oder doch, das Unglück, das ich gehabt habe, mich den Freunden gegenüber ein wenig tactlos – ein wenig sehr tactlos, meine Damen, zu benehmen. Und da ich, obgleich sonst ein vielgeprüfter Mann, meine Damen, an diese Sorte Unglück nicht sehr gewöhnt bin, hat es mich nicht gelitten, bis ich den Versuch gemacht, mich in meinen Augen zu rehabilitiren, von den Freunden zu schweigen, die mir meine Ungeschicklichkeit gewiß schon unterwegs vergeben haben.“

„Nicht wahr, sie kommen heute Abend? ich habe es ja gesagt!“ rief Alma.

„Ohne Zweifel, gnädige Frau; und sie werden gleich hier sein, in – sagen wir in zwanzig Minuten – ganz recht, zwanzig Minuten. Sie fuhren genau zehn Minuten vor zehn von Dollan ab; jetzt ist es genau ein halb elf; sie brauchen, trotz des abscheulichen Wetters, mit meinen kräftigen Pferden und einem so ausgezeichneten Kutscher, wie mein Hinrich, eine Stunde; also in zwanzig Minuten, meine Damen, werden wir den Wagen vorfahren hören.“

Brandow hatte seine Uhr hervorgenommen und blickte nicht von derselben auf, während er seine Rechnung anstellte.

„Und Sie selbst?“ fragte Alma.

„Ich selbst, gnädige Frau, ritt, nachdem ich mich von den Herren mit einer Unfreundlichkeit verabschiedet, die ich tief bedauere, Schlag zehn Uhr von Dollan ab und stellte genau fünfundzwanzig Minuten später meinen Gaul in den Stall des Fürstenhofes, das heißt, ich habe zu den anderthalb Meilen von Dollan bis zum Fürstenhof genau fünfmal so viel Zeit gebraucht, wie zu den fünfhundert Schritt vom Fürstenhof bis hierher.“

„In fünfundzwanzig Minuten denselben Weg, auf dem die Anderen eine Stunde fahren!“ rief Alma.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau; ich konnte nicht denselben Weg über die Dollaner Haide nehmen, den die Freunde genommen, sonst wäre ja die Ueberraschung unmöglich gewesen. Ich ritt einen zweiten über Neuenhof, Lankenitz, Faschwitz und so weiter. Frau Wollnow wird ungefähr die Direction verfolgen können – einen Weg, der mindestens noch einmal so lang, und – noch einmal so schlecht ist, wie ich leider an meinen Kleidern zu spät bemerke.“

„O, wie ich diese kühnen Reiterstücke liebe!“ rief Alma mit einem schwärmerischen Augenaufschlage. „Setzen Sie sich zu mir, lieber Brandow, hierher.“

Sie hatte das Arrangement vergessen, das sie zu Gotthold’s Empfang gemacht, und indem sie mit der ausgestreckten Hand an die Lehne des Stuhles stieß, glitt das Bild herab und fiel auf die Erde. Ottilie, die es fallen sah, kreischte; Brandow sprang hinzu, es aufzuheben; aber er hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als er mit einem dumpfen Schrei es aus der Hand gleiten ließ.

„Mein armes Bild!“ rief Ottilie.

„Ich bitte tausendmal um Verzeihung,“ sagte Brandow, „ich sehe, wenn man anderthalb Meilen in fünfundzwanzig Minuten reitet, ist man doch nicht ganz Herr seiner Gliedmaßen.“

In der That zitterte er, als er das Bild abermals in die Hand nahm, ja er schien Mühe zu haben, sich aufrecht zu erhalten; Ottilie, die es bemerkte, bat ihn nun endlich auch, Platz zu nehmen.


(Fortsetzung folgt.)




Ein deutsches Kaiser- und Dichterheim.


Bei Aachen an der Kaiserstadt,
Da liegt ein grüner See –[1]

traumhafte Stille ruht über seinen dunkeln Wassern, deren glatter, von dichtem Eichen- und Buchengezweige umrahmter Spiegel von keinem Windhauche bewegt wird. Nur das Schilf nickt und flüstert leise, als ob es drunten mit den Wasserrosen geheime Zwiesprache führen wollte, die weithin leuchtend aus dem See emporlugen, auf dessen dunkelm Grunde, wie die Sage erzählt, der Zauberring Fastradens, der schönen Kaiserin, seit einem Jahrtausend in den Fluthen ruht.

Ueber dem See, aus hohen, dichtbelaubten Wipfeln erhebt sich das graue, von Epheu umsponnene Gemäuer eines alten Schlosses, die Burg Frankenberg, einst der Lieblingssitz Karl’s des Großen, der, von dem Zauber jenes Ringes hier gebannt, hinter diesen Mauern um sein verlorenes Liebesglück trauerte.

Schenkendorf, der längere Zeit hier lebte und in jenem

[721] grauen Thurme seine Wohnung aufgeschlagen hatte, singt von der alten Burg:

„Ich zieh’ in euch, ihr Mauern,
Mit Wehmuth und mit Lust:
O Vorzeit, reich an Schauern,
Du ziehst in meine Brust.

Ihr Wände habt belauschet
Des alten Kaisers Glück,
Vom Saitenklang durchrauschet,
Erhellt vom Sonnenblick.“

Von der Romantik der Sage umwoben und in manchem Liede verherrlicht, schaut die alte Burg als ein Zeuge aus längst vergangener Zeit zu uns herüber. Die an sie und den dunkeln

Burg Frankenberg bei Aachen.
Nach einer Skizze von Rudolf Scipio.

stillen See sich knüpfende Sage ist eine überaus sinnige und ansprechende. Die schöne Fastrade, Karl’s des Großen inniggeliebtes Ehegemahl, war ihm durch den Tod entrissen; doch der Kaiser vermochte sich nicht an den Gedanken seines unersetzlichen Verlustes zu gewöhnen. Er glaubte noch immer, daß Fastrade zum Leben erwachen und in seine Arme zurückkehren werde,

„– – und herzt und küßt das bleiche Bild,
Als wär’s noch rosenroth.“

Erzbischof Turpin, der Freund und vertraute Rath des Helden, sann vergebens nach, wie er den Kaiser von der traurigen Wahrheit überzeugen könne, daß die schöne Fastrade nie wieder die hellen Augen aufschlagen werde. Endlich zeigte ihm ein Traumbild in dem Haarschmucke der todten Herrin den Ring, von dem jener Zauber, der den Kaiser bestrickt hatte, ausging. Kaum hatte der Erzbischof am andern Tage das Kleinod aus Fastradens Haar entfernt, als Karl’s Augen sich öffneten und dieser nun in wilden Schmerz um den Tod der Geliebten ausbrach. In Gold und Purpur gekleidet, wurde Fastrade in der Kaisergruft beigesetzt, und von Stund’ an wandte Karl seine ganze Anhänglichkeit und Liebe dem im Besitze des Ringes befindlichen Freunde zu, bis dieser, um den Zauber, den er für gottlos hielt, zu brechen, das Kleinod in den dunkeln See warf.

„Und was ihn so gekränket,
Was ihm sein Herz bezwang,
Hier liegt’s im See versenket
Schon tausend Jahre lang.“

Doch auch in der Tiefe des See’s hatte das Kleinod seine Zaubermacht über den Kaiser noch nicht verloren. Karl zog fortan die Burg Frankenberg allen seinen anderen Schlössern vor. Hier in der durch Nichts gestörten Stille, fern von dem Getriebe der Welt, saß er Tage lang an den einsamen Ufern des Sees und blickte, vergangener Zeiten und seines verlorenen Glückes gedenkend, hinab in die dunkle Fluth.

Schenkendorf singt, an die Sage anknüpfend:

„Hier hat der Held gesessen,
Als ihm sein Lieb entschlief,
Die Lust war ungemessen,
Das Leid war gar zu tief.

D’rum ist der See so trübe,
Mit Laub und Schilf bedeckt,
Weil ihren Gram die Liebe
Gern aller Welt versteckt.“

[722] Der große Frankenheld, dessen Erzbild heute den Platz vor dem alten Rathhause zu Aachen schmückt, schlummert nun auch in der alten Kaisergruft, im Tode mit seiner geliebten Fastrade auf’s Neue vereint. Der Zauberring der schönen Kaiserin aber bewährt noch heute, nach mehr als tausend Jahren seine alte Kraft: Wie einst der alte Kaiser, so möchte man auch noch heute unter den schattigen Bäumen an dem See ruhen, wo sich so schön träumen läßt, und in die Fluthen hinabschauen, in denen das Kleinod versenkt ist, während die rauschenden Bäume und das flüsternde Schilf und die nickenden Wasserrosen uns alte Geschichten aus ferner Zeit erzählen.

Doch nicht allzu lange mehr wird es dauern, und der Zauber wird gebrochen sein. Die frische, duftende Wiese, der rauschende, schattige Wald, der stille, geheimnißvolle See und die alte Kaiserburg darin, sie werden, wie so manches andere Stück alter Romantik dem zerstörenden Geiste der Zeit erliegen. „Wohnungsnoth“ heißt das arge Zauberwort, welches hier einem tausendjährigen Heiligthume mit Vernichtung droht. Schon hat eine Actiengesellschaft dieses schöne Fleckchen Erde angekauft, um ein neues Stadtviertel darauf zu errichten. Noch wenige Jahre und wo heute der Fuß des Wanderers über den weichen Wiesenteppich oder unter schattigen Bäumen dahin schreitet, wird eine von abgetriebenen Pferden gezogene Droschke über das Straßenpflaster rumpeln. In der Fluth, die den Zauberring birgt, wird man dann vielleicht die Wäsche reinigen, während die alte Kaiserburg längst zu einer Restauration umgewandelt worden ist, wenn man sie nicht bis dahin etwa ganz abgebrochen und ihre Steine zu einem Neubau benutzt haben wird.

„So ist die Welt. Das schöne, würd’ge Alte,
Es stürzt im Lauf der flücht’gen Zeit
Und die Cultur, die rechnende, die kalte,
Baut rastlos fort auf der Vergangenheit.“

Rudolf Scipio.




Follen, Sand und Löning.


Neues Licht in altes Dunkel, aus den Erinnerungen von Friedrich Münch in Missouri.


Vorbemerkung der Redaction. Zu den Partien unserer Geschichte, welche der Aufklärung noch ganz besonders bedürfen, gehören die Zeiten der sogenannten demagogischen Umtriebe und Verfolgungen. Die Schuld an so mancher ungerechtfertigten Behauptung, welche noch heute in dieser Hinsicht ein Geschichtsschreiber vom andern auf Treue und Glauben annimmt, ruht auf einer doppelten Verschlossenheit: der der Archive, die zum Theil vielleicht aus Schamhaftigkeit zugehalten wurden, und der der zumeist betheiligten Menschen. Wer aber von all den Verhörten, Verurtheilten, Vertriebenen oder nach jahrelanger Haft Begnadigten hätte sein Erlebtes von damals aufdecken sollen? Alle, die in Deutschland blieben, waren mundtodt; dafür hatte Metternich durch die Karlsbader Beschlüsse und den deutschen Bundestag bestens gesorgt. Ehe in Deutschland die Preßverhältnisse nach zwei Volks- und zwei Fürstenerhebungen so weit vorgeschritten waren, daß die Wahrheit aus jener Zeit gedruckt werden konnte, ohne durch den Inhalt die Veröffentlicher in Strafe zu bringen, waren von den Betheiligten die meisten alt und morsch geworden, im Staatsdienste ergraut, in der Fremde verkommen oder gestorben; jenen Lebenden verging die Lust am öffentlichen Auftreten, und die Todten sind still.

Nur Wenige im sichern Auslande, wie Arnold Ruge, konnten mit der Wahrheit an den Tag treten; Andere machten sie versöhnlicher durch ein poetisches Gewand, wie Fritz Reuter, und wieder Andere, und vielleicht nicht Wenige, legten sie in einer „Hauschronik“ nieder, wie der Friedländer Niemann, der Wartburgfestredner von 1817. Viel Klarheit kann noch geschöpft werden, wenn diese reinen Quellen sich eröffnen. Und eine dieser Quellen ist’s, aus welcher wir das Nachfolgende mittheilen.

Ein Vielgenannter und ein Raschvergessener werden noch einmal an das Licht gezogen, Sand und Löning. Beide galten bis jetzt für junge überspannte Leute, „die aus eigener Bewegung und nicht, wie fälschlich behauptet worden, von einer patriotischen Vehme dazu bestellt, das Amt von Blutrichtern übernahmen.“ So behaupteten unsere Geschichtsschreiber. Und doch beweist ein Zeitgenosse jener beiden Opfern einer unglücklichen Zeit jetzt das Gegentheil.

Friedrich Münch, in den ersten dreißiger Jahren viel genannt als mit Paul Follen an der Spitze der nun auch vergessenen „Gießener Auswanderungsgesellschaft“ stehend, hat seinem dreiundsiebenzigjährigen Kopf noch die Aufgabe gestellt, seine und seiner nächsten Freunde und hessischen Landsleute Vergangenheit zu erzählen; er gestattete uns vor dem so eben beginnenden Druck Einsicht in das Manuscript und beliebige Benutzung desselben.[2] Münch war in Gießen Studiengenosse der drei sämmtlich sehr begabten Brüder Follen und in innigster Freundschaft namentlich mit Karl und Paul verbunden; er war auch Mitglied des von Karl gestifteten „Bundes der Schwarzen“, einer ursprünglich studentischen, später auch Männer-Verbindung mit rothester politischer Färbung. Solche Freunde, wie Münch und Follen, hatten kein Geheimniß vor einander, und darum ist es ganz natürlich, daß Münch über die verhängnißvollste Periode von Karl Follen’s Leben besser unterrichtet ist, als dessen Wittwe, welche eine außerdem höchst schätzenswerthe Lebensbeschreibung ihres Gatten in englischer Sprache veröffentlicht hat.

Ueber Karl Follen’s Leben und Wesen giebt Münch uns ein in vieler Beziehung neues und wahrhaft prächtiges Bild. Wir sehen ihn als Knaben im Vaterhaus, dann zu frühzeitiger Selbstständigkeit des Charakters herangereift, als freiwilligen Jäger mit den Hessen in den Befreiungskrieg ziehen, dann, heimgekehrt, den Ernst der Zeit in das Studentenleben übertragen und den Bund der Schwarzen gründen. Als Privatdocent der Rechte in Gießen fesselt er ebenso durch seine Persönlichkeit, wie seine politischen Lehren Staunen, Begeisterung und Grauen erwecken. So steht er auch in Jena da, bis die Folgen von Sand’s That ihn vertreiben. Dann als Flüchtling herumgehetzt in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, siedelt er schließlich nach Amerika über, wirkt dort als Lehrer und Redner Außerordentliches und findet endlich (1840) bei einer Dampfschiffexplosion zwischen New-York und Boston seinen Tod in den Wellen.

Hier theilen wir aus Münch’s Manuscripte ausschließlich diejenigen Stellen mit, welche den innigen Zusammenhang von Karl Follen’s Lehren mit Sand’s und Löning’s Thaten darthun. Gestehen wollen wir aber und ganz besonders betonen, daß unsere jetzt so gesicherten und gefestigten vaterländischen Zustände dazu gehören, um solche Mittheilungen ohne Bedenken in einen Leserkreis zu bringen, wie er die „Gartenlaube“ gegenwärtig ehrt; heute weiß Jedermann, daß man solche „Grundsätze“ nicht in dieser Weise darlegt, blos um sie unter die Leute zu bringen, sondern daß man es für seine Pflicht hält, sie an das Licht zu ziehen, weil nur dadurch Wahrheit in die noch vielfach gefälschte Geschichte unseres Volkes gebracht werden kann.

Eine solche Fälschung hat die Geschichte dem Urtheil der Demagogenrichter nachgesprochen, welche für Sand’s That die deutsche Burschenschaft verantwortlich machen wollte. Trotzdem in den (weiter unten in der Anmerkung genannten) bezüglichen Schriften der Brüder Keil schon 1858 und 1865 die Beziehungen Follen’s zur Burschenschaft auf das Klarste dargelegt sind, müssen wir doch in dem siebzehnten Bande der weitverbreiteten Becker’schen Weltgeschichte (gedruckt 1867) lesen: daß „einzelne Führer (der Burschenschaft), wie z. B. der damalige Privatdocent und Doctor der Rechte Karl Follenius, der bei Gründung der Burschenschaft und auf der Wartburg besonders hervorgetreten, einen unbegrenzten Einfluß auf ihre jugendlichen Genossen ausgeübt hätten“. Nun hat zwar Follen an der Gründung der Burschenschaft in Jena gar keinen

[723] Antheil gehabt, ist gar nicht beim Wartburgfest gewesen und hat in Jena mit der Burschenschaft fast immer in Hader gelebt, – aber nichtsdestoweniger hält die Geschichte die vom Demagogenrichter verhängte Verdächtigung aufrecht! –

Darum lassen wir den Mann reden, der aus eigener Quelle schöpft. Nachdem Münch erzählt hat, wie Follen im Bunde der Schwarzen von Gießen sie mit dem glühendsten Haß gegen das Königthum erfüllt und zu entschiedenen Republikanern erzogen habe, fährt er fort:

In dieser (Gießener) Zeit sprach Follen eine Lehre aus, die wohl auch schon von Anderen verkündigt und in Anwendung gebracht, niemals zuvor aber mit solcher Schärfe und schneidenden Consequenz vorgetragen worden ist, sie hieß später einfach der „Grundsatz“ oder der „Grundsatz der Unbedingten“ und lautet so:

„Dem Menschen, welcher sich selbst achtet, bleibt keine andere Wahl als seine eigene klare und wohldurchdachte Ueberzeugung zur Ausführung zu bringen. Entgegenstehende Meinungen Anderer, Hindernisse aller Art, Opfer – auch die schwersten, die er desfalls zu bringen hat – dürfen ihn nicht beirren, wenn es gilt, Das zu erringen, wovon die ganze Würde des menschlichen Daseins abhängt, nämlich ein freies und veredeltes Volkswesen. Ohne ein solches ist unser ganzes menschliches Treiben werthlos, ja des Bestehens unwürdig; denn wir sind auf den innigsten Verkehr mit anderen Menschen angewiesen.

Es ist freilich das Natürlichste, Menschlichste und dem Gesitteten das Liebste, ein solches Volksleben zusammenzubringen auf friedlichem Wege; aber wenn dies nicht sein kann, so verliert dadurch unsere Verpflichtung nichts an ihrem strengsten Ernste. Es ist am Ende bloße Feigheit oder doch Gefühlsverweichlichung, wenn wir von rechtmäßigen Mitteln zur Erlangung der Volksfreiheit reden wollen, weil ja Niemand ein Recht haben kann, sie vorzuenthalten; wir müssen sie erlangen durch jedes Mittel, welches immer sich uns bietet. Aufruhr, Tyrannenmord und Alles, was man im gewöhnlichen Leben als Verbrechen bezeichnet und mit Recht straft, muß man einfach zu den Mitteln zählen, durch welche, wenn andere Mittel fehlen, die Volksfreiheit zu erringen ist, zu den Waffen, welche gegen die Tyrannen allein uns übrig bleiben. Gegen unser sogenanntes rechtliches Handeln wissen sie vielleicht für immer sich zu schirmen, – sie müssen vor unseren Dolchen erzittern lernen. Wer aus Feigheit oder Selbstsucht eines der genannten Mittel ergreift, ist verächtlich, – wer es mit der innern Gewißheit thut, daß er das eigene Leben und alles Theuerste dem Wohle des Vaterlandes jeden Augenblick zu opfern bereit ist, steht sittlich um so höher, je mehr er nöthigen Falles ein natürliches Gefühl gegen die genannten Thaten in sich niederzukämpfen vermag.“

Den Hörern war es bei solchen Reden mitunter zu Muthe, als ob sie an einem bodenlosen Abgrunde ständen und ihnen geboten würde, den Sprung hinab zu thun. Der Consequenz war nicht zu entgehen und doch sträubte sich das Gefühl dieser gerade so streng an sittlichen Grundsätzen haltenden Jünglinge dagegen.

„Kann diese Lehre recht sein vor dem ewigen Richter?“ sagte Einer derselben.

Chr. S., einer der bereits Ueberzeugten, erwiderte: „Gut, wenn ich wegen einer That, durch welche ich mein Volk errette, ewig verdammt sein soll, so ist es besser, daß ich Einzelner die Verdammniß ertrage, als daß mein ganzes Volk länger in Knechtschaft schmachtet.“

Dies ist wohl die fürchterlichste Logik, welche jemals ausgesprochen worden ist.

Während Follen in Jena (wohin er erst 1818 kam, wo die Burschenschaft schon fest begründet und im Jenaischen Studentenleben alleinherrschend war) mit dem außerordentlichsten Erfolge Pandecten vortrug, galt es ihm natürlich weit mehr darum, für diese seine Grundsätze des politischen Handelns Propaganda zu machen, wobei er indessen auf größere Schwierigkeiten stieß, als er wohl erwartet hatte. Obzwar er unter den besseren der jüngeren und älteren Männer eine edle Freiheitsliebe antraf, die ihm wohl that, fand er wenige geneigt, auf seine praktischen Grundsätze zur Erringung der Freiheit einzugehen. Außerdem fand er in Fries (dem Philosophen) und Anderen bei Weitem streitgeübtere Gegner, als dies in Gießen der Fall gewesen war. Dennoch wich er aus seiner Stellung auch um kein Haar.

Man hielt ihm vor, daß seine Forderungen die eines allzu stolzen Menschen seien, der auf das unvermeidlich Mangelhafte in der Welt und im menschlichen Wesen keine Rücksicht nehme, konnte ihm persönlich aber kaum diesen Stolz verargen, weil er offenbar die höchsten Forderungen immer zuerst an sich selbst stellte und nur darum auch bei Anderen keinen Widerspruch zwischen Erkenntniß, Wille und That dulden wollte. Was man in ihm zu ehren gezwungen war, scheute man sich doch zum Grundsatze des eigenen Handelns zu machen. So konnte Follen nach langem und heftigem Streiten in Jena nur drei Anhänger für seine Lehre gewinnen, unter welchen eine Judasseele war (der zuletzt in ultramontanem Dienst berüchtigte Witt, genannt v. Dörring) und ein trefflicher Jüngling, dessen Name bald genug in den weitesten Kreisen genannt werden sollte.

Im März 1819 erfolgte die Ermordung Kotzebue’s durch Sand. Das darüber fast einstimmig gefällte Urtheil geht dahin, daß es eine in dem wilden Fanatismus oder doch in der jugendlichen Ueberspannung eines sonst edlen Menschen, der sich für ein ausersehenes Werkzeug des Himmels hielt, gereifte That war, daß ein Wahn, um den kein Anderer wußte, den Mörder trieb. Das Letztere wird um so mehr allgemein angenommen, da die schärfste Inquisition nicht im Stande gewesen ist, einen Mitschuldigen oder Mitwisser aufzufinden. Mag man indessen auch die Stimmung und Ansicht, aus welcher jene That hervorging, schwärmerisch nennen, so dürfen die Leser es doch mir glauben, daß die That ebenso kühl ausgedacht war, wie sie mit entschiedenem Willen vollführt wurde, und daß alle Folgen, die sich daran knüpfen sollten, überlegt und berechnet waren, und zwar nicht in Sand’s Innerem allein. Nachgerade „waren der Worte genug gewechselt worden“, sollte es einmal zu Thaten nach Follen’s Grundsätzen kommen. Was war das zunächst Thunliche? Eine Revolution direct zu machen, ging nicht an. Aber einen allgemein als Verräther an der deutschen Ehre und Freiheit gebrandmarkten Menschen in der möglichst auffallenden Weise zu strafen und aus dem Wege zu schaffen, dadurch die ganze Nation zum Gefühl ihrer Schmach mächtig aufzuregen, Tausende anzufeuern, daß sie, dem gegebenen Beispiele folgend, auch ihre Dolche blitzen ließen, wonach dann das Volk zu den Waffen greifen und alle seine Plager todtschlagen würde, das war erreichbar und thunlich und es verstand sich also nach dem „Grundsatze“ von selbst, daß es gethan wurde. Das Falsche in der Berechnung rührt daher, daß Follen bei aller sonstigen Einsicht doch die Masse des Volkes, seine Stimmung und Anschauung nicht kannte. Es verstand die Bedeutung dieser That so wenig, daß es für den Gemordeten viel mehr Mitgefühl als für den zugleich sich selbst opfernden Mörder an den Tag legte und auch den später eingekerkerten sogenannten Demagogen kaum irgend eine Theilnahme bewies. Follen konnte so wenig durch solche Thaten wie durch Worte der großen Menge sich verständlich machen.

Und warum verrichtete Follen die That nicht selbst? Aus reiner Oekonomie; denn der Gedanke der Selbstaufopferung war ihm in der That einer der liebsten. Ihm aber war eine höhere Aufgabe gestellt; seiner konnte die künftige Revolution als eines Führers nicht entbehren – er mußte für das Schwerere, das noch kommen sollte, sich erhalten. Hätte er sich dies nicht selbst gesagt, so sagte Sand es ihm jedenfalls, und er mußte die That dem Freunde überlassen, der eben dafür und nicht für noch Bedeutenderes sich befähigt hielt. Sand hatte Follen’s Ideen vollkommen sich zu eigen gemacht und hielt sich für berufen, den Anfang zu ihrer Ausführung zu machen. So allein wird diese That verständlich, und so sollte sie auf die Nachwelt kommen.

Sand, durchaus religiös und sittlich gestimmt, hatte den „Grundsatz“ zu seinem höchsten Glaubenssatz erhoben, in welchem weder ein langes Schmerzenslager, noch die Todesnähe, weder Zureden, noch Drohung ihn wankend machen konnten. Sein Tod war bei ihm selbst vorausbestimmt; denn als freiwillige Selbstaufopferung sollte und mußte die That erscheinen, nicht als gemeiner Act der Rache, um die beabsichtigte Wirkung auf die Nation hervorzubringen, und es war nicht Mangel an Willen, daß er nicht auf der Stelle todt blieb. Mit der größten Besonnenheit und Ruhe hatte er die ganze lange Reise vollendet, sich das Merkwürdigste in den Städten, namentlich in Darmstadt, angesehen, mit den Freunden verkehrt, dann kühl den rechten Moment gewählt – ist es zu verwundern, wenn er auch in den [724] nachfolgenden Verhören unbeugsam bei dem Leugnen aller Mitwissenschaft Anderer beharrte? Was im gewöhnlichen Leben eine Lüge heißt, war ihm in seinem Falle eine sittliche Nothwendigkeit, mit welcher er auch vor einen höchsten Richter zu treten nicht das geringste Bedenken hatte.

Auf Follen ruhte dennoch mit Recht der größte Verdacht; denn daß mit ihm Sand vorzugsweise in der letzten Zeit Umgang gepflogen hatte, war leicht zu ermitteln. (War doch selbst das Reisegeld Sand’s aus seiner Casse geflossen.) So wurde im Mai Follen gerichtlich vorgeladen, in Weimar zu erscheinen und sich verhören zu lassen. Die Behörden hätten es sich selbst voraussagen können, daß damit einem Manne wie Follen gegenüber nichts zu erreichen war.

Um dieselbe Zeit war man dem Vorhandensein des sog. „großen Liedes“ auf die Spur gekommen; Theile davon wurden öffentlich gesungen und selbst gedruckt war es zu sehen. Follen war der Abfassung und Sand der Verbreitung[3] verdächtig, was die Vermuthung, daß Follen Sand’s Mitschuldiger war, verstärken mußte. In Folge davon wurde Follen, der seine Vorlesungen in Jena ruhig fortsetzte, im folgenden October in der Nacht von Gensd’armen überfallen. Sie sagten ihm, daß sie gekommen seien, um ihn nach Mannheim zu transportiren, woraus Follen sogleich abnahm, daß er mit Sand confrontirt werden solle. Obgleich aus tiefem Schlafe geweckt, fand Follen sogleich die vollste Besonnenheit; und als nun der Anführer der Gensd’armen vorerst seiner Papiere sich bemächtigte, nachdem Follen sich mittlerweile angekleidet hatte, galt es darum, einen Brief zu beseitigen, der ihn im höchsten Grade verdächtig machen mußte. Ruhig stellte er sich neben die Gensd’armen, that im rechten Augenblick einen Griff zwischen die Papiere, nahm den Brief weg und verbrannte ihn in dem Ofen, der zum Glück noch Feuer enthielt, bevor die Häscher nur hinlänglich von ihrem Erstaunen sich erholen konnten, um ihn darüber zur Rede zu stellen.

„Ich habe einen Brief verbrannt,“ sagte er ganz gelassen, „denn es war mein Brief, mit dem ich also thun kann, was ich will.“

Man brachte ihn vorerst nach Weimar, wo er natürlich auch wegen des verbrannten Briefes verhört wurde.

„Es betraf ein zartes Verhältniß, und es war deshalb unpassend, daß er in ungeweihte Hände kommen sollte,“ sagte Follen, und mit dieser Erklärung, unbefriedigend wie sie war, mußte man eben zufrieden sein.

Man ließ ihn auf sein Ehrenwort hin die weitere Reise nach Mannheim unbegleitet machen. Dort wurde er auf’s Neue in das schärfste Verhör genommen, doch ohne allen Erfolg. Es blieb nur übrig, ihn mit Sand selbst zu confrontiren, was aber sicher sogar in dem Falle nutzlos gewesen sein würde, wenn der Letztere irgend wankend geworden wäre; denn durch eine etwaige Gemüthserschütterung Follen auch nur für einen Augenblick der vollsten Selbstbeherrschung zu berauben, war jedenfalls eine vergebliche Hoffnung. Wir wissen aber, daß auch Sand fest blieb bis zum letzten Augenblicke. Nach dem Eintritte in Sand’s Gefängnißzimmer wollte ihm Follen die Bruderhand reichen, was aber verhindert wurde. Wie tief ihn auch der Anblick des Freundes erschüttern mußte, der in seiner Idee gehandelt hatte, bleich auf sein Lager hingestreckt, an einer schmerzhaften Wunde leidend, deren Verheilung nur abgewartet wurde, damit er dann zum Richtplatze geschleppt würde, so hinderte dies doch die beiden Freunde nicht, sich einander und ihrer Sache treu bleibend, den ergreifenden Auftritt zu bestehen ohne den geringsten Gewinn für die Untersuchungsrichter. Als man am Schlusse Follen wieder entfernen wollte, drängte er die Umstehenden zur Seite, nahte sich rasch dem Lager des Freundes, faßte ihn in seine Arme, drückte ihn an die Bruderbrust, um dann für immer von ihm zu scheiden. Es schien ihm unwürdig, der Aeußerung des natürlichen Menschengefühls in diesem Augenblicke sich berauben zu lassen. Natürlich wurde der Scene baldigst ein Ende gemacht.

Man konnte nicht anders, als Follen völlig freisprechen, die Regierung zu Weimar mußte sich jedoch dazu verstehen, die ihm ertheilte Erlaubniß zu Vorträgen zurückzunehmen, so daß er Jena zu verlassen genöthigt war.

Ich habe nicht umhin gekonnt, in Vorstehendem von der Darstellung in dem Werke der Wittwe Follen’s wesentlich abzuweichen. Es kann Dinge geben, welche der Mann auch dem geliebtesten Wesen, der eigenen Frau, doch nicht mittheilt; ich darf aber an der Untrüglichkeit meiner eigenen Quelle keinen Augenblick zweifeln.

Karl Follen’s Grundsätze lebten in einer kleinen Zahl seiner Freunde in Gießen auch nach seiner Entfernung von da noch fort. Waren die „Schwarzen“ schon früher mit älteren Männern in engerer Verbindung gewesen, so bildete deren sogenannter „unbedingter“ Theil immer mehr einen im Ganzen kleinen Verein, zu welchem jetzt nur wenige der Studirenden gehörten; sie sahen und beriethen sich gelegentlich, und Jeder agitirte und handelte zugleich in seiner eigenen Weise. Das Wort „Bund“ oder gar „Verschwörung“ würde auf diesen ganz formlosen Verein gar nicht passen, man vertraute allein auf die Macht der gleichen Gesinnung, ohne daß Alle in dem, was sie von der nächsten Zukunft erwarteten, oder was geschehen müsse, übereinstimmten. Die in Gießen Zurückgebliebenen standen besonders mit Dr. Weidig (dem Unermüdlichsten von Allen), Advocat Heinrich Hoffmann in Darmstadt und Anderen in näherem Verkehr.

War Sand’s That von Jena ausgegangen, so mußte die zweite der Ordnung gemäß von Gießen aus erfolgen. Und wem galt zunächst die Reihe? Unter den Fürsten war damals keiner, der sich durch auffallende Schlechtigkeit so sehr vor den andern hervorgethan hätte, daß ein Einzelner von ihnen ein passendes Opfer gewesen wäre; hätte man sie mit einem Schlage alle zermalmen können, dieser Schlag wäre ohne Zweifel geführt worden. Außerdem war es klar, daß nicht sowohl die Fürsten das Unglück, unter welchem Deutschland seufzte, über dasselbe absichtlich brachten, als daß deren Rathgeber ihren Verstand zur Unterdrückung des Volkes herliehen; es schien passend und recht, jetzt an diesen zuerst ein Exempel zu statuiren. Auf den „großen Schurken“ Metternich war es eigentlich abgesehen, und mehr als einmal wurde er zu dem Tode durch das „Freiheitsmesser“ verurtheilt. Aber wie schwer war ihm beizukommen! Die Sache mußte noch immer aufgeschoben werden, zumal da es auch fast ganz an den nöthigen Geldmitteln fehlte, und man mußte vorerst mit dem näher Liegenden und Erreichbaren sich begnügen.

Minister Ibell in Wiesbaden hatte sich binnen Kurzem zum Gegenstande des Fluches von Seiten der Bewohner des Ländchens gemacht; sein Tod mußte ja wohl Schrecken in das ganze Lager seiner Genossenschaft bringen, – das Weitere, dachte man, wird sich finden.

So saßen denn in dem Hinterstübchen einer Dorfschenke an der Grenze von Hessen und Nassau in nächtlicher Berathung drei Männer zusammen. Einer aus Gießen – Derjenige, welcher [725] dort Karl Follen’s Geist am meisten vertrat –, dann Pfarrer F. aus der Wetterau (ein Mann, der sich durch freisinnige Reden im Jahre 1813 hervorgethan hatte, den Behörden aber in keiner Art verdächtig war, weil er mit großer Klugheit handelte) und der Apothekergehülfe Löning aus dem Nassau’schen, ein jüngerer Mann, welcher erst seit Kurzem aus innerem Drange die Bekanntschaft der Vaterlandsfreunde gesucht und sich ihnen angeschlossen hatte. Man einigte sich darüber, daß Ibell fallen müsse, und wollte das Loos darüber entscheiden lassen, welcher von den Dreien das Urtheil vollstrecken solle. Es fiel auf den ersten der drei Genannten, und wäre es bei dieser Entscheidung geblieben, so hätte unfehlbar des Ministers letzte Stunde geschlagen. Löning aber beruhigte sich bei dieser Entscheidung nicht, führte (ganz genau so wie wir es im Sand’schen Falle gesehen haben) überzeugend aus, daß die beiden Anderen zu Größerem berufen und fähig seien, daß er, der weniger Bedeutende, nicht hoch in Anschlag komme, daß mit Recht ihm, dem näheren Landsmanne Ibell’s, die Rolle des Rächers zukomme, und forderte die That so bestimmt für sich, daß ihm endlich nachgegeben wurde. Niemand konnte bei diesen Verhandlungen ahnen, daß Einer von den Dreien nicht lange vorher ein zartes Verhältniß angeknüpft hatte; er hatte es unter der Voraussetzung gethan, daß die Pflicht für das Vaterland jeder anderen vorgehe, und von den wenigen Frauen, mit welchen wir umgingen, verlangten wir eben dieselbe Opferfreudigkeit, welche uns beseelte.

Löning’s körperliche Kraft und Gewandtheit waren seinem Willen nicht gleich, und so entzog sich Ibell dem gegen ihn geführten Dolchstoß. In der ersten Nacht, welche Löning in dem Gefängnisse zubrachte, während man die ausgedehntesten Vorbereitungen zu einem Verhöre traf, von welchem die wichtigsten Aufschlüsse erwartet wurden, tödtete er sich selbst durch verschluckte Stücke einer Glasscheibe; es giebt wenige gräßlichere Todesarten; aber die Möglichkeit, seine Freunde in Verdacht zu bringen, war damit abgeschnitten.

Sand’s und Löning’s Thaten äußerten in keiner Weise diejenige Wirkung auf das Volk, welche man irrig davon erwartet hatte. Die Gebildeteren verurtheilten fast durchgehends das eingeschlagene Verfahren und die Grundsätze, aus welchen es hervorging, vom sittlichen Standpunkte aus; die große Masse aber blieb völlig gleichgültig bei dieser Selbstaufopferung einzelner „Enthusiasten“. Die bald allerwärts eintretende Verfolgung und Einkerkerung der sogenannten „Demagogen“ rührte die Menge so wenig, daß man ihnen vielmehr die verschärften Maßregeln der Regierungen zur Last legte. Es blieb jenen nichts Anderes übrig, als entweder in anderen Ländern oder Welttheilen eine Zuflucht oder, einer besseren Zukunft harrend, einstweilen in unverpönten Beschäftigungen, in der Gründung eines eigenen Herdes Befriedigung zu suchen, oder aber, was Manche thaten, mit den Regierungen ihren Frieden zu machen. Das neuheranwachsende Geschlecht war keineswegs geneigt, dieselbe gefährliche Bahn zu betreten; der alte Geist verschwand schneller, als man hätte erwarten sollen, um niemals in gleicher Art wieder zu erscheinen. –

Soweit Münch. Wir müssen hinzufügen, daß auch er hier nicht den Geist der Burschenschaft meint, wie er von Jena aus über Deutschland verbreitet worden ist, sondern den Follen’schen Geist der Schwarzen von Gießen. Der Geist der echten Burschenschaft hat noch 1848 mitgefochten und 1870 mitgesiegt.




Aus dem Lande der Freiheit.


Von Ludwig Büchner.[4]


Erster Brief.


„Amerika, du hast’s doch besser
Als unser Continent, der alte!
Hast keine verfallenen Schlösser
Und keine Basalte!
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit!“

Besser, als mit diesen berühmten Versen des Altmeister Goethe, kann der Gegensatz zwischen dem mit riesiger Gewalt emporstrebenden neuen Welttheile Amerika und dem alten und vielleicht auch alternden Europa nicht wohl bezeichnet werden. Was Amerika fehlt – ist die historische Erinnerung, und wenn dieses auf der einen Seite als ein Mangel bezeichnet werden darf, so ist es doch auch auf der andern Seite ein großer Vortheil, indem es den Welttheil nöthigt, stets vorwärts, nie rückwärts zu blicken, ähnlich einem Menschen, welcher ein neues Leben angefangen hat und durch keine Erinnerung an seine Vergangenheit mehr gestört sein will. Daraus erklärt sich denn auch das hastige, nie ruhende Vorwärtsstreben des Amerikaners, welches durch keine Rücksicht auf hinter ihm Liegendes gelähmt und durch die Großartigkeit seines Welttheils selbst, durch das Ungebundene und Riesenhafte der ihn umgebenden Natur unterstützt wird. Im Gegensatze dazu gleicht unser Europa einer schon etwas alternden, durch viele Schicksalsschläge und bittere Erfahrungen vorsichtig und ängstlich gemachten Matrone, welche ihr ferneres Leben in möglichster Ruhe zu genießen wünscht. Dennoch ist und bleibt sie die Mutter des jungen Riesen im Westen und übertrifft ihn weit durch Erfahrung und Weltkenntniß nicht bloß, sondern auch durch den seit lange aufgehäuften Besitz zahlreicher geistiger und materieller Schätze. Namentlich in geistiger Beziehung empfindet Amerika, welchem seine fieberhafte Thätigkeit im Erwerben weder Zeit noch Muße zur Einkehr der Geister in sich selbst läßt, tief seine Abhängigkeit von dem durch Jahrtausende alte Cultur und Wissenschaft getragenen Europa; und dieses eigenthümliche Verhältniß mag mit dazu gewirkt haben, daß in Folge einer besonderen Verkettung von Umständen und folgend einer Jahre hindurch sich wiederholenden Einladung der Verfasser dieser Briefe sich am 11. September dieses Jahres auf dem von Hamburg nach New-York segelnden Dampfer der Hamburger Paketfahrt-Actiengesellschaft „Thuringia“ wiederfand, nachdem er von seinen Lieben in der Heimath einen dieses Mal nicht gerade leichten Abschied genommen hatte. Denn als er auf dem Perron des Darmstädter Bahnhofes an demselben Tage, als der Kronprinz des deutschen Reiches unter ungemessenem Jubel der Bevölkerung dort einzog, umwogt von drängenden Menschenmassen, seinen vier blühenden Kleinen zum letzten Male in das Auge geschaut hatte, nicht wissend, ob und ob er sie so wiedersehen würde, da durfte er sich der Thränen nicht schämen, welche sich ihm mit Gewalt in das Auge drängten. Aber der brausende Zug führte ihn rasch davon und ganz anderen Lebensinteressen entgegen, als den bisher gewohnten. In der Jugend nimmt man solchen Wechsel leicht und mit Vergnügen entgegen; in einem gewissen Alter dagegen wird es schwer, Allem, was uns an das Leben und an das gewohnte Leben knüpft, für längere Zeit Lebewohl zu sagen.

Und so bin ich also für beinahe ganze vierzehn Tage auf den Raum eines Schiffes beschränkt, das zwar nicht zu den kleinen gehört, sondern bei einer Breite von circa fünfzig und einer Länge von drei- bis vierhundert Fuß nicht weniger als tausend und mehr Menschen Unterkunft gewährt, neben ungeheuren Massen von Gepäck, Proviant, Fracht, Steinkohlen etc., und in dessen Bodenraum man hinabblickt, als ob man beinahe auf einer Kirchthurmspitze stände. Aber wäre das Schiff auch zehnmal so groß, als es wirklich ist, auf dem unendlichen Ocean gleicht es doch nur einer Nußschale, mit welcher Wind und Wetter spielen. Auch ist der Raum, über den der Einzelne an Bord eines solchen Riesenbaues zu verfügen hat, ein gar geringer; und in der Schlafkoje, wenn sie auch dem sogenannten oberen Salon der mit großem Luxus ausgestatteten ersten Kajüte angehört, muß man sich in Gesellschaft eines Gefährten mit einem Räumchen begnügen, das [726] uns zu Hause als eine Art von Gefängniß erscheinen würde. Einer näheren Beschreibung des Schiffes und seiner Einrichtungen darf ich mich überheben, da gerade die „Thuringia“, auf der ich die Reise machte, vor nicht langer Zeit einer eingehenden Schilderung in diesen Blättern gewürdigt worden ist.

Als uns am Morgen des 11. September ein kleiner Dampfer von Hamburg aus nach dem weiter hinaus in der Elbe ankernden Oceandampfer gebracht hatte, tobten Wind und Regen um die Wette mit dem Geräusch des dem Schlot entströmenden Dampfes und dem donnernden Krachen der Riesenmaschine, welche das Schiff bewegte, und die Gefühle, mit denen die meisten Passagiere bald darnach in die wogende Nordsee hinausfuhren, mögen wohl nicht die angenehmsten gewesen sein. Die gefürchtete Seekrankheit ergriff alsbald ihre zahlreichen Opfer, und der um fünf Uhr stattfindende Mittagstisch fand von der ganzen Bevölkerung der oberen Kajüte nur zwölf, der Abends gereichte Thee gar nur fünf Personen beisammen; unter ihnen ich selbst, der ich trotz starker nervöser Anlage bis jetzt noch nie von Seekrankheit zu leiden hatte.

Der folgende Abend zeigte eine gänzlich veränderte Scene. Der Wind hatte sich gelegt, der Himmel war rein und der zunehmende Mond ergoß sein mattes Licht über die weißen Kreidefelsen der englischen Küste, an der wir mit einer Geschwindigkeit von dreizehn englischen Meilen in der Stunde dahinjagten. Die Stadt Dover sahen wir im vollen Lichterglanze vor uns liegen, auf der andern Seite zeigten sich entfernte französische Leuchtfeuer. Schon Freitag Morgen vor sechs Uhr fuhren wir in den Hafen Havre ein, wo die Hamburger Post-Schiffe vierundzwanzig Stunden liegen zu bleiben pflegen, um Kohlen und neue Passagiere einzunehmen, und suchten wir uns während dieser Zeit beim schönsten Wetter (die Sonne brannte so heiß wie im Juli) die Zeit in der schönen Stadt Havre mit ihrem prächtigen, jetzt in eine förmliche Festung verwandelten Hafen so gut als möglich zu vertreiben. Sonntag Morgens um sechs Uhr war das Schiff schon wieder in Bewegung und begann jene dreitausend englische Meilen weite Reise über den atlantischen Ocean, welche an Einförmigkeit und Langeweile in der Regel nichts zu wünschen übrig läßt und den Reisenden dazu verurtheilt, entweder in sich selbst oder in seiner Schiffsgesellschaft oder in Betrachtung der auf dem Schiffe vor sich gehenden Scenen Befriedigung seiner geistigen Bedürfnisse zu finden. Zum Ersteren lassen Einem das beständige Lärmen des Schiffes und Natur und Menschen wenig Muße, daher man sich um so lieber an die letztgenannten Auskunftsmittel wendet. Bekanntlich dienen die Bremer und Hamburger Schiffe nicht blos als Passagier-, sondern auch als Auswanderer-Schiffe, und die Scenen, welche sich auf und in dem für Auswanderer bestimmten Vordertheil des Schiffes oder sogenannten Zwischendeck abspielen, sind gar mannigfaltiger Art und die bekannten und oft geschilderten.

Natürlich ist hier von dem vielgerühmten Comfort der Kajüten, der übrigens auch schon in der zweiten Kajüte auf ein sehr bescheidenes Maß reducirt ist, nichts zu entdecken, und der Aufenthalt eigentlich nur bei gutem Wetter, wo man sich auf Deck aufhalten kann, erträglich. In der That ist dann auch das Deck der Lieblingsaufenthalt der Zwischendecker, welche sich in nicht zu kalten Nächten, in ihre Bettdecken eingehüllt, wie Wollsäcke, daselbst zum Schlafen niederlegen. Liebende und ihre Verliebtheit offen zur Schau tragende Pärchen, schreiende und sich wälzende Kinder, alte zusammengekauerte Mütterchen bilden die Staffage, während das für die Bewohner der zweiten Kajüte bestimmte Deck ein Mittelding zwischen erster Kajüte und Zwischendeck bildet und die eigentlich lustige Gesellschaft, soweit eine solche überhaupt möglich ist, vorstellt. Man hört bisweilen das Leben auf einer solchen Seereise als ein lustiges und angenehmes schildern; in Wirklichkeit aber leidet es an einer unvergleichlichen Einförmigkeit und Langeweile, und die letzten Tage werden beinahe allen Passagieren zu einer Marter und namentlich den armen Seekranken.

Das Wetter begünstigte übrigens unsere Reise mehr, als man es im Monat September erwarten konnte, und so liefen wir schon am 24. September in die Bai von New-York ein, deren malerische Umgebung schon so oft geschildert worden ist. Man sieht die berühmten amerikanischen Flachboote nach allen Seiten umherschießen, um den ungeheuren Verkehr zwischen dem von zwei Meeresarmen umströmten New-York und den dasselbe an den gegenüberliegenden Uferseiten umgebenden Städten oder Vorstädten zu vermitteln, und sieht sich alsbald selbst durch ein solches Boot von dem in Hoboken gelegenen Landungsplatz der Hamburger Dampfer nach der Riesenstadt versetzt, deren aller Beschreibung spottendes Getöse und Gedränge uns sofort den Eindruck der Weltstadt macht und uns erkennen läßt, daß wir uns inmitten eines der großen Centralpunkte des Weltverkehrs befinden. Selbst das vielbeschriebene Gedränge der Londoner City scheint durch das unbeschreibliche Treiben in den unteren Theilen des New-Yorker Broadways übertroffen zu werden. Im Uebrigen unterscheidet sich New-York in seinem äußeren Anblick nicht viel von dem Ansehen europäischer Städte und verräth seinen jugendlichen Ursprung und seine rapide Entwicklung vielleicht nur dadurch, daß die großartigsten Prachtbauten, welche jeder Metropole zur höchsten Zierde gereichen würden, in der Regel flankirt sind von kleinen, unansehnlichen Häuschen oder Baracken, wie man sie sonst nur in Landstädten zu sehen gewohnt ist. Auch seine quadratische Bauart unterscheidet es wesentlich von alten, aus allmählicher Agglomeration entstandenen Städten. Endlich giebt ihm die fast auf jedem Schritt sichtbare Mischung von deutschem und amerikanischem Wesen ein eigenthümliches Gepräge. Die Zahl der in New-York lebenden Deutschen ist bekanntlich eine so große, daß New-York als die drittgrößte deutsche Stadt bezeichnet zu werden pflegt. Was übrigens die Deutschen hier treiben, wie sie leben und bemüht sind, deutsches Wesen und deutschen Geist zu pflegen und unter sich aufrecht zu erhalten – davon werde ich den Lesern der Gartenlaube in einem meiner nächsten Briefe berichten.




Der Meister an die Lehrlinge.


Zur Beherzigung für Viele.


Die Jugend ist die lebendige Poesie. Sie liest darum auch am liebsten Gedichtetes, sie dichtet selbst am liebsten, und wir halten es für ein Unrecht, wenn der reife, im Laufe der Jahre welterfahrene Mann auf diesen seltsamen Trieb der Jugend, unermüdlich und begeisterungsvoll Vers an Vers und Reim an Reim zu reihen, mit überlegener Selbstironie als auf eine „lyrische Jugendsünde“ herabsieht. Hippel, der geistvolle, menschenerfahrene Denker, der auch heute noch umsomehr gelesen werden dürfte, je ärmer die Gegenwart an echten, wahrhaft hervorragenden Humoristen ist, schrieb einmal: „Wer nicht in seiner Jugend Verse gemacht hat, ist wenigstens kein Kopf.“ Aber mehr noch: liegt nicht in jedem auch selbst unbedeutenden Menschen im Grunde ein tieferer und edlerer verborgen, wenn der wirklich erscheinende nicht viel taugt?

Dieser edlere Mensch ist es, welcher unruhvoll von Zeit zu Zeit immer wieder an die Oberfläche drängt, scheu, geheim, in der Einsamkeit, und in diesem schönen Gefühl, das um so mächtiger aufzuwallen pflegt, je reicher begabt und – wir möchten sagen – je zarter und unbefleckter die Seele sich erhalten hat, formt die Jugend ihre Verse – Blüthenzweige, die sie sich um ihre Stirn schlingt und deren Duft, deren Farbe sie entzückt.

Wir halten diesen poetischen Trieb der Jugend nicht nur für harmlos und unschädlich, er ist sogar eine der köstlichsten Gaben, die der Jugend mit in’s Leben gegeben worden, so lange – diese nur auch die Blüthenzweige lediglich für solche, nicht aber schon für Fruchtzweige ansieht. Unsere Leser wissen, von welcher Fluth lyrischer Gedichte wir Jahr aus, Jahr ein überschüttet werden. Wir weisen dieselben mit unermüdlicher Geduld immer und immer wieder zurück und ertragen es selbst mit Seelenruhe, wenn einer dieser jugendlichen Dichter – sie stehen gewöhnlich im Alter von sechszehn bis achtzehn Jahren und im Begriff, eben die Universität oder Realschule zu beziehen – uns für die Nichtbeachtung, die wir ihm schenken, einen groben Brief schreibt. Mit dieser Nichtbeachtung strafen wir ihn aber nicht, weil seine Verse etwa schlecht sind – sie sind in dem gegebenen Falle vielleicht sogar wirklich gut; auch nicht darum, weil sie voll schwarzer und finsterer Nachtgedanken sind – schweben doch der Jugend, wie Jean Paul sagt, die Gottesäcker als hangende [727] Gärten in Lüften und sie sehnt sich danach. Nein, die Verse wurden und werden von uns häufig nur aus dem Grunde abgewiesen, weil ihre jugendlichen Verfasser – um das gebrauchte Gleichniß noch einmal zu gebrauchen – in den Blüthenzweigen bereits Fruchtzweige sehen, Fruchtzweige, von denen sie für ihr ganzes Leben lang pflücken wollen und die auch für ihr ganzes Leben lang ausreichen sollen. Mit Einem Worte: weil ihnen ein paar gute Verse gelungen – in der „gebildeten Sprache, die für uns dichtet und denkt“ – glauben sie jetzt auch schon wirkliche Dichter zu sein, und darin liegt ihr verhängnißvoller Irrthum. Verhängnißvoll, weil sie auf jene paar Verse ein ganzes Lebensglück aufbauen wollen und weil sie, vom Beifallsruf unverständiger Freunde ermuntert, die Poesie fortan zum „Lebensberuf“ machen zu sollen glauben, um doch diesen unseligen Entschluß nach längerer oder kürzerer Zeit nur mit der jammervollsten Enttäuschung, vielleicht sogar mit dem Schiffbruch ihres ganzen Lebens zu bezahlen.

Die Briefe, von welchen solche poetische Zusendungen an die Redaction der Gartenlaube begleitet sind, zeugen oft genug von wirklich aufgeregter Gemüthsstimmung der Verfasser, die vielleicht schon an sich irre geworden und trotzdem noch nicht stark genug waren, dem liebgewordenen, schmeichlerischen Traume zu entsagen. Man braucht indessen nur im Besitze einer sehr geringen Menschenkenntniß zu sein, um einzusehen, wie unrecht und lieblos es wäre, die schillernden und nichtigen Phantasiegebilde solcher jugendlich thörichten Herzen zu bespötteln. Vielmehr war es schon längst unsere Absicht, aus freundlichem, theilnehmendem Herzen heraus ein warnendes, ernst berathendes Wort an diese unsere „jungen Dichter“ zu richten.

Da kam uns in den letzten Tagen ein Blatt in die Hände, fast vergilbt und vor einer Reihe von Jahren schon aus dem ganz gleichen Anlaß geschrieben, den wir eben schilderten. Es bedurfte für uns nur eines Blickes, um uns zu überzeugen, daß hier schon Alles gesagt sei, was wir unseren „jungen Dichtern“ sagen wollten, und zwar von berufener Hand so frei, so schmucklos und mit so überzeugender Offenheit, daß es besser, unbefangener und herzlicher gewiß nicht gesagt werden könnte. Der Schreiber des Briefes war Oskar von Redwitz, damals – vor etwa sechszehn Jahren – auf seinem stattlichen Schlosse Schmölz in Franken wohnend, der Empfänger ein angehender Studiosus, der sich des Dichters Worte ernst genug zu Herzen nahm, um „tüchtiges Holz des Lernens nachzulegen“ und im Laufe der späteren Jahre mit Gedichten hervortreten zu können, die, wie wir hier beiläufig bemerken wollen, allseitig Aufnahme gefunden haben.

Daß in uns sofort der Wunsch entstand, den Brief des Herrn von Redwitz hier zu veröffentlichen, ist natürlich. Und sollte dieser etwas dagegen einzuwenden haben, wenn sein goldenes Wort, ursprünglich nur für Einen bestimmt, nun in die Herzen von Tausenden berathend und segnend fallen sollte? Gewiß nicht. Und liegt doch gerade darin, daß der Brief nicht für die Oeffentlichkeit geschrieben ist, also unbefangen und frei von jeder Tendenz einer eleganten oder geistreichen Stilistik, sein großer Vorzug. Wie der Dichter des „Liedes vom neuen deutschen Reiche“ auf seine Worte, deren Veröffentlichung ohne sein Wissen geschieht, blicken wird, wenn sie ihm so unerwartet und nach so vielen Jahren gedruckt hier wieder begegnen? Gewiß wird er sich auch heute noch freudig zu jeder Zeile bekennen und wir unsererseits sind überzeugt, daß wir durch Veröffentlichung seines Briefes uns bei Eltern und Lehrern ebenso viel Dank erwerben werden, als dem Dichter heute noch Derjenige zollt, an den der Brief ursprünglich gerichtet war. Der Brief selbst lautet:

„Weil das geschriebene Wort immer bestimmter ist und mit größerem Nachdruck sich dem Geiste offenbart, als das gesprochene, so möchte ich’s vorziehen, mein Urtheil über Ihre Gedichte schriftlich zu fällen, besonders auch darum, daß Sie sich in späterer Zeit meine Worte dann und wann noch einmal anschauen mögen. –

Ich sage also einfach und offen, nach meiner innersten Ueberzeugung, und in voller Berücksichtigung des tiefen Ernstes, mit dem diese Frage Ihrem Gemüthszustand gegenüber behandelt werden muß: Ich finde in Ihren poetischen Versuchen wirkliches poetisches Talent. Sie besitzen Phantasie der Erfindung und Gemüth, echte poetische Stimmung dem inneren Herzensleben und der Natur abzulauschen. Dabei ist Kraft und Weichheit der Empfindungen in gleichem Maße Ihnen eigen. – Die dichterische, oder besser gesagt, künstlerische Ausdrucksweise jedoch ist sehr oft höchst nachlässig und schülerhaft (sit venia verbo!). Es ist kein Fleiß in der äußeren und inneren Form. Sie lassen sich zu sehr gehen, man merkt kein fleißiges Ringen, wie es jede Kunst unabweisbar erheischt. Und was sind richtiger, geschulter Rhythmus, untadelhafter Reim – was sind diese höchst äußerlichen, aber dennoch nothwendigen Formvollkommenheiten gegen die künstlerische innere Form der Poesie? – Ich verstehe nämlich unter innerer Formkunst – die Kunst, jeden dichterischen Gedanken mit den concreten, künstlerisch richtigen Mitteln des Wortes, des Ausdrucks zu vollendetem Ganzen zu umkleiden, und diese Kunst erst ist die schwerste, die unermüdliches, geistiges Ringen erfordert, deren geheime Gesetze eben nirgends als in der Dichterbrust selbst geschrieben stehen und von der man nie sagen kann, daß man in ihrer Vollendung zu Ende sei. –

Die Ausübung dieser Kunst, der inneren Formvollendung, gehört aber erst dem reiferen Alter an. Ihre Aufgabe ist vor der Hand, sich streng einer richtigen äußeren Form zu befleißigen, die heutzutage stillschweigendes Erforderniß eines guten Gedichtes geworden ist. Vermeiden Sie deshalb unnachsichtlich jeden falschen Reim! Sehen Sie dies Gebot nicht in falscher Genialität als pedantischen Zopf an, nicht als Hemmschuh für den Lauf des Gedankens! – Der gewandte Dichter kann ebenso gut in gutem Reime den Gedanken zum Verse bilden; es will nur streng angewöhnt sein, dann kommt Ihnen ein unreiner Reim ebensowenig mehr in die Feder, wie ein unorthographisches Wort. – Dann lassen Sie vor der Hand noch die Strophen bei Seite, darin nur zwei Verse gereimt sind, das sind lauter Versuchungen zum Formschlendrian. Und zuletzt hüten Sie sich vor dem bewegten Versmaß, das für einen Anfänger auch immer seine Gefahr hat, sich nachlässig gehen zu lassen, und zu dem, um schön zu bleiben und in gesetzloser, nur innerlich gefühlter Rhythmusschönheit sich zu bewegen, schon großer und sehr fein ausgebildeter Formsinn gehört. Der junge Dichter aber muß sich nothwendig nach dem bestimmten Gesetze fügen, und erst wenn er unter dessen Herrschaft sich recht erprobt hat, mag er seinen eigenen Formsinn zum freien, genialen Gesetzgeber ernennen. – So viel im Allgemeinen über Ihre poetischen Versuche, über die man eben nur allgemein reden kann.

Und nun noch ein besonderes, beredtes Wort an Ihre Person! – Ich muß Ihnen vor Allem eine sehr ernste Mahnung an’s Herz legen, die sie wahrscheinlich jetzt verletzen wird, die aber ohne allen Zweifel unendlich wahr ist, und das ist doch am Ende die eine Hauptsache bei allen Fragen dieses Lebens: Denken Sie nicht, weil Ihnen der liebe Gott poetisches Talent gegeben hat, daß mit diesen dichterischen Anfängen schon Ihr ganzer künftiger Lebenslauf entschieden sei, ein Dichter zu sein. Geben Sie sich auch nicht der Schwärmerei hin, schon jetzt ein Dichter zu sein, was ich nämlich unter einem ‚Dichter‘ verstehe. Denn, glauben Sie mir das auf’s Wort, ich kenne mehr denn zehn junge Männer, die in Ihrem Alter mindestens eben so gute Gedichte an’s Licht brachten, die von poetischer Begeisterung durch und durch entflammt waren, die besonders von sentimentalen, unverständigen Damen bereits als ‚Genies‘ gehätschelt worden waren, und was ist aus ihnen geworden? – Ihre Gedichte im Alter von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren waren weit weniger gut, als die der ersten, schwärmerischen Jünglingsjahre. Das poetische Feuer war schnell verflackert; das ‚Genie‘ war in ihnen zu stolz, um tüchtiges Holz des Lernens nachzulegen, und so waren sie in ihren Mannesjahren armselige, um ihr ganzes Lebensglück getäuschte, ausgebrannte Kräterlein. – Ich sage Ihnen auf das Bestimmteste: Niemand kann einem mit poetischem Talent begabten Jüngling von sechszehn Jahren ein bestimmtes Horoskop stellen, ob er in den Mannesjahren ein wirklicher (!) Dichter werden möge. Und wer’s thut, ist ein Phantast und kennt die Natur des menschlichen Geistes nicht, oder er schwatzt ohne Verstand. Es müßten denn gerade diese ersten Poesien der Jugendzeit etwas ganz Außergewöhnliches, ganz selten Großartiges sein, daß man mit Bestimmtheit einen Schluß auf die Zukunft machen könnte. Und selbst da kann eine täuschende Frühreife des Geistes diesen Schluß später wieder illusorisch machen.

Darum, wollen Sie sich nicht den sichern Boden Ihres zukünftigen Lebensglückes in unseliger Verblendung unter Ihren [728] Füßen wegziehen, um stete, innere Unruhe, schwärmerische Gereiztheit, Unmuth über geträumte Verkennung und krankhaften Trübsinn dafür zu ernten, wollen Sie diese bedauernswerthen Gemüthszustände, die ich bei Ihnen alle nach meiner Menschenkenntniß befürchte, nicht gegen gesunden, heitern und zufriedenen Sinn umtauschen, so thun Sie sich ein für alle Mal mit jugendlicher, besonnener Seelenstärke Gewalt an, und denken Sie einfach und kerngesund so: – Jetzt gehe ich auf die Universität, und da will ich einmal ein ganzer Jurist werden. Was ich gründlich Schönes in Kunst und Wissenschaft erhaschen kann, will ich mit begeistertem Ernste mir aneignen; nicht nur flüchtig daran nippen, nein, gründlich will ich an dieser Quelle trinken. Aber die edle Jurisprudenz, die geiststärkende und verstandschärfende, die soll mein kräftig, täglich Brod werden, wenn’s mir auch gar oft sauer schmecken wird. – Drängt mich dann die Poesie, so will ich auch ihr mich freudig hingeben, aber nur wenig, und dann aber ernst, mit tiefem Fleiß. – Ob der liebe Gott dann mit den Jahren, und wenn ich einmal die Welt kennen lerne, wie sie ist, mein poetisches Talent in solchem Maße reifen läßt, ob ich dereinst so als vates begnadigt werde, um in der Welt die unendlich ernste und opfervolle Mission des Dichters auf meinem Schultern zu nehmen – das Alles will ich getrost dem lieben Gott überlassen. Einstweilen will ich mir den sicheren Boden für mein zukünftiges Leben gründen – und soll ich wirklich in zehn bis fünfzehn Jahren ein wirklicher Dichter sein, so kann ich getrost mein heiliges Sängeramt ausüben, denn die Kunst braucht dann bei mir nicht nach Brod zu gehen, weil ich mir meinen Unterhalt gesichert habe. –

Sehen Sie, so denken Sie jetzt und immerdar! – Und im Momente, wo Sie aufhören, so zu denken, und vielleicht andern, phantastischen Rathschlägen Gehör geben, in diesem Augenblick haben Sie den Grundstein Ihres Lebensglückes zerschlagen. Das glauben Sie Ihrem es mit Ihnen ernstlich gut meinenden

O. Freiherrn von Redwitz.

Schmölz, 29. September 1856.“




Der deutschen Nordmark Ehrenwacht.


In der Entwickelung der Geschichte giebt es keine unvermittelten Uebergänge, keine jähen Sprünge. Jede Zeit, auch die größte, hat ihre Vorbedingung

Siegesdenkmal auf den Düppeler Höhen.
Nach einer Photographie.

in einer früheren. So müssen wir auch, wenn wir die Wurzeln suchen, aus welchen die Großthaten der letzten beiden Jahre erwuchsen, über die Ereignisse des Jahres 1866 zurückgehen bis in die Tage jener Kämpfe, welche die Wiedervereinigung des verlorenen Bruderstammes von Schleswig-Holstein mit dem deutschen Mutterlande im Jahre 1864 zur Folge hatten. Düppel und Alsen sind die großen Namen, an welche die stolzesten Erinnerungen jener Zeit sich knüpfen. Und so mag es denn auch zeitgemäß sein, heute, da wir uns der Errungenschaften des letzten französischen Krieges erfreuen, uns einmal wieder zurückzuwenden zu der Bedeutung dieser beiden Namen, zumal sie neuerdings gelegentlich der Enthüllung zweier Erinnerungsmale wieder häufiger genannt worden sind.

Prinz Friedrich Karl, so erzählt der schleswig-holsteinische Geschichtsschreiber Graf von Baudissin dieses Ereigniß, hielt am Abende des 17. April auf dem Schlosse zu Gravenstein einen Kriegsrath ab, in welchem beschlossen wurde, am folgenden Tage die Schanzen Nr. 1 bis 6 zu stürmen, denn die übrigen vier hatten noch zu wenig gelitten und wurden als unangreifbar angesehen. Um halb drei Uhr Morgens sollten die Sturmcolonnen sich in den Laufgräben und Parallelen aufstellen, von drei bis zehn Uhr die Batterien gegen die Schanzen ein Schnellfeuer unterhalten, und dann die Sturmcolonnen, ohne einen Schuß zu feuern, hervorbrechen und mit dem Bajonnet angreifen. Weil kein Bataillon auf die Ehre verzichten wollte, sich an dem Waffentanze zu betheiligen, im Ganzen aber nur sechsundvierzig Compagnien zur Verwendung gelangen konnten, mußte das Loos darüber entscheiden, welche Truppentheile vorläufig in Reserve stehen bleiben sollten. Die nach Ausfall solchen Loosens zum ersten Vorrücken bestimmten, in sechs Colonnen getheilten und mit Pionnieren, Artilleristen und Siegesfahnenträgern versehenen Truppentheile rückten neuntausend Mann stark in stiller, dunkler Nacht in die Laufgräben und Parallelen ein. Sie hatten am Tage vorher das Abendmahl empfangen. Da mag denn wohl Vielen das Herz lauter geschlagen haben, und mancher feuchte Blick wird nach der theuren Heimath und den lieben Angehörigen gerichtet worden sein! Zu dem furchtbaren Ernst dessen, was bevorstand, kam aber noch die peinliche Aufgabe, viele bange Stunden ausharren zu müssen, bevor es zum Angriff ging. Um zehn Uhr Vormittags gab Prinz Friedrich Karl das Zeichen zum Angriff. Um diese Zeit war bemerkt worden, daß einige dänische Regimenter nach Sonderburg zurückgingen, was darin seinen Grund hatte, daß der dänische General du Plat, welcher bei Tagesanbruch wohl einen Ueberfall erwartet hatte, diesen aufgegeben wähnte, als Stunde um Stunde verlief, ohne daß die Belagerer sich regten.

Das verhängnißvolle Zeichen war also gegeben, und während die Musikbanden in Parallele Nr. 2 den von Friedrich dem Großen componirten Marsch aufspielten, brachen die sechs Sturmcolonnen mit donnerndem Hurrah hervor und legten den zwischen drei- und vierhundert Schritt betragenden Zwischenraum [729] im Laufschritt zurück. Aber auch die Dänen zeigten sofort, daß sie auf Alles gefaßt seien. Die entsendeten Regimenter hatten bald wieder den Weg nach den Schanzen zurückgelegt, und Gewehrkugeln wie Kartätschen sausten auf die Heranstürmenden herab. Palissaden und Sturmpfähle gähnten den Angreifenden entgegen und diese mußten die Pionniere erst mit gewaltigen Streichen zerhauen. Dabei erfüllte wohl Jeder getreu seine Pflicht, aber Einer that sich doch besonders hervor. Vor Schanze Nr. 2, in welcher der in jener Zeit oft rühmlich genannte dänische Lieutenant Anker befehligte, ging es besonders heiß her, und die Pionniere vermochten hier gegen die Palissaden nichts auszurichten. Da trat der Pionnier Wilhelm Klincke mit einem Pulversack vor und rief: ‚Durch müßt Ihr, Cameraden, und koste es auch mein Leben!‘ mit diesen Worten hängte er den Pulversack an eine Palissade, entzündete ihn und stürzte gräßlich zerstümmelt nieder – ein zweiter Winkelried! denn er hatte den Nachstürmenden eine Gasse eröffnet. Grausig wütete nun der Kampf in dieser Schanze, denn hier war von Pardonnehmen oder Pardongeben nicht die Rede. Die dänischen Soldaten wehrten sich – zu ihrem Ruhme sei es gesagt – mit äußerster Bravour und verkauften ihr Leben theuer, aber unter den Kolbenschlägen der Angreifer sank einer nach dem Andern hin, und auch Anker würde diesem Schicksal nicht entgangen sein, wenn preußische Officiere ihm nicht das Schwert mit Gewalt entrissen und ihn gerettet hätten.

Siegesdenkmal zu Arnkiel am Alsensunde.
Nach einer Photographie.

Doch nicht blos hier wüthete der Kampf, denn auch bei den anderen Schanzen schritt der Kriegsgott grimmig einher, und Todte und Sterbende bezeichneten seine Pfade. Schanze Nr. 6 kostete namentlich viele Opfer, und hier fand auch Major von Beeren den Heldentod. Er hatte schon in den Jahren 1848 und 1849 für Schleswig-Holstein gefochten und gelegentlich geäußert: ‚Für dies Land möchte ich sterben!‘ Dieser Wunsch wurde hier erfüllt, aber Schleswig-Holstein wird des Braven auch nie vergessen!

Nur zweiundzwanzig Minuten waren verflossen, als schmetternde Fanfaren verkünden konnten, daß die Schanzen Eins bis Sechs genommen seien; das Tagewerk war damit aber noch nicht beendet. Es waren vier dänische Regimenter aus dem Brückenkopf hervorgebrochen, und diese suchten die Schanzen hinter Nr. 4 wieder zu erobern. Diesen frischen Truppen vermochten die geschwächten preußischen Compagnien um so weniger zu widerstehen, als ‚Rolf Krake‘ (das damals vielgenannte dänische Thurmschiff) mittlerweile ebenfalls herbeigekommen war und aus seinen Vierundachtzigpfündern ein mörderisches Feuer auf sie eröffnete. Zum Glück gelang es der (auf Sundewitt angelegten und mit sehr schwerem Geschütz ausgerüsteten) Gammelmark-Batterie, in die Schießscharte des Drehthurmes zu treffen, wodurch das Panzerschiff gezwungen wurde, sich aus der Schußlinie zurückzuziehen. Hierzu kam, daß die mitgenommenen Artilleristen die in den Schanzen eroberten Geschütze gegen den Feind hatten kehren können, so daß dieser nun auch aus seinen eigenen Kanonen mit Kugeln überschüttet wurde. Ein glücklicher Gedanke des Prinzen Friedrich Karl gab in diesem Moment wohl den Ausschlag. Er hatte nämlich dem Generalmajor von Goeben den Befehl ertheilt, mit seiner Brigade nach dem Alsensund vorzurücken und scheinbar Anstalten zu treffen, um nach der Insel überzugehen. Diese Kriegslist gelang, denn zwei dänische Regimenter, die schon im Begriff standen, in die Action einzugreifen, erhielten jetzt Gegenbefehl, und den im Brückenkopf kämpfenden dänischen Truppen ging die Ordre zu, nach Alsen zurückzugehen. Dies entflammte den Muth der Preußen auf’s Neue, und als nun auch die Brigaden Raven und Cannstein im Sturmschritt vordrangen, wobei sie das feindliche zweiundzwanzigste Regiment über den Haufen rannten und total vernichteten, – da war ein blutiger Sieg errungen! Nicht fähig, dem Anprall der Preußen länger zu widerstehen, suchten die Dänen nur noch zu retten, was zu retten war, und da sie die Insel Alsen als letzten sichern Zufluchtsort ansehen mußten, versenkten sie, um dem Feinde den Uebergang abzuschneiden, einen Theil der Pontons und ließen andere in Flammen aufgehen. Sie nahmen dadurch allerdings den eigenen Leuten die Möglichkeit des Rückzuges, denn bei dem Falle der vier übrigen Schanzen geriethen dreitausend Dänen in Gefangenschaft; aber sie schützten den Rest vor gleichem Schicksal, denn nach der Insel konnten die Preußen wenigstens sofort nicht gelangen.

Es mochte ein Uhr Nachmittags sein, als die preußischen Fahnen auf sämmtlichen Schanzen flatterten und kein dänischer Soldat mehr im Sundewitt stand. Außer vielen Fahnen und Geschützen verloren die Dänen an diesem 18. April an Todten, Verwundeten und Gefangenen über 5500 Mann.

Aber auch auf preußischer Seite waren schwere Opfer zu beklagen! Mit den 39 in dänische Gefangenschaft gerathenen Soldaten betrug der Verlust preußischerseits an Todten und Verwundeten 1192 Mann.

Nach dieser Niederlage und nachdem die Dänen genugsam erfahren, daß sie irrthümlich ihre Artillerie für die beste der Welt gehalten hatten, glaubte die in London sitzende Diplomatie, vom Waffenstillstand zu den Friedensverhandlungen übergehen zu können; sie stieß aber auf so unbeugsamen dänischen Trotz, daß den Waffen die letzte Entscheidung überlassen werden mußte.

Beim Wiederbeginn der Feindseligkeiten richteten die Preußen ihre Blicke nach der Insel Alsen, welche die Dänen noch vollständig inne hatten und von wo aus sie mit Hülfe ihrer Schiffe noch viel Unheil anrichten konnten. Prinz Friedrich Karl war schon im März 1864 ernstlich darauf bedacht gewesen, dieselbe durch einen Handstreich zu nehmen, aber Stürme machten es unmöglich, die wogende See auf Kähnen zu überschiffen. Auch jetzt schien ein Uebergang nach Alsen ein tolles Wagestück zu sein, denn es galt hierbei nichts weniger, als mit einer verhältnißmäßig schwachen Macht in Kähnen und Booten eine durch Schanzen, Laufgräben, Batterien mit zahlreichem Geschütz, [730] 10,000 dänische Soldaten und eine Anzahl Kriegsschiffe vertheidigte Insel zu erobern; – aber es mußte versucht werden, und es gelang!

Das Ueberschiffen sollte am Morgen des 29. Juni vor Tagesanbruch in hundertsechsundsechszig Kähnen und Booten erfolgen und die Division Manstein zuerst übergesetzt werden; ihr sollte die Division Wintzingerode folgen. Nach diesem Befehl begann die Mannschaft der ersten Division um zwei Uhr Morgens in aller Stille ihre Fahrzeuge in das Wasser zu schieben. Das Ufer war so flach, daß die Soldaten eine längere Strecke im Wasser waten mußten, bevor sie einsteigen konnten. Einige Boote schlugen um, weil die Soldaten nur an einer Seite einstiegen; es ging aber dabei kein Menschenleben verloren. Sowie ein Boot flott war, griff Alles, Officiere wie Soldaten, nach den Rudern, und es begann ein edler Wettkampf, denn jedes Fahrzeug wollte das erste am jenseitigen Ufer sein!

Die vorderste Reihe der Kähne und Boote mochte sich noch sechshundert bis siebenhundert Schritte von den feindlichen Laufgräben befinden, als von dort her ein Schuß fiel. Er wurde auf allen Fahrzeugen mit lautem „Hurrah!“ beantwortet, was aber zur Folge hatte, daß nun in den Tranchéen ein lebhaftes Feuer entstand, welches wieder aus den Fahrzeugen nicht minder lebhaft erwidert wurde. Viele Boote wurden von Kugeln durchlöchert und einige sanken, darunter dasjenige, auf welchem sich der Fahnenunterofficier des ersten Bataillons vom vierundzwanzigsten Regimente befand. Hauptmann von Radowitz eilte schwimmend hinzu und rettete Fahne und Unterofficier; von der übrigen Mannschaft der gesunkenen Boote erreichten die Meisten schwimmend glücklich das Ufer.

Bisher hatte dunkle Nacht die beschriebenen Scenen umhüllt, aber plötzlich flammte das rothe Licht des Fanals an der Alsenküste auf und zischende Raketen stiegen gen Himmel. Es war ein Feuerwerk, wie man noch keins gesehen hatte, und im rosigen Lichte desselben sprangen die Preußen aus den Booten und stürmten dem Ufer zu. Lieutenant Petry, vom brandenburgischen Pionnierbataillon, war der Erste, der den Fuß auf die Insel setzte; Oberst Hacke pflanzte mit eigener Hand die erste Fahne auf die Brustwehr.

Die zweite Colonne folgte nun und hierauf die dritte; aber Granaten, Kartätschen und Gewehrkugeln begrüßten die Herannahenden und brachten Tod und Verderben. Eine Granate zerschmetterte einen der Kähne, und im Nu verschwand die Mannschaft in der Tiefe. Die nächsten Boote wollten helfen und retten; aber ‚Vorwärts!‘ donnerte das Commando, denn es stand Größeres auf dem Spiele! Zum Glück enthielt dieser Kahn gute Schwimmer, doch mußten Drei den Tod in den Wellen finden.

Es hatten jetzt nach und nach drei Colonnen das jenseitige Ufer erreicht, und die Kriegsfurien durchflogen die Reihen! Die Dänen wehrten sich anfangs tapfer, und so entspann sich auf beiden Seiten ein wüthender Kampf; dem stürmischen Angriffe der Preußen vermochten sie aber doch nicht lange zu widerstehen, und als sie erst aus ihren Schanzen hinausgeworfen und auf die dahinterliegende Fohlenkoppel zurückgedrängt waren, hielten sie nicht mehr Stand, sondern retirirten nach Rönhof und Kjaer, wo sie von frischen Truppen aufgenommen wurden. General v. Manstein gebot seinen Truppen hier auch Halt, weil er abwarten wollte, daß ein zweites Echelon mit einer Batterie übergesetzt sein würde. Dies hatte auf der Ueberfahrt mit dem dänischen Panzerschiff ‚Rolf Krake‘ einen harten Strauß zu bestehen. Kaum war dies Ungethüm herangedampft, als es die Boote mit Kartätschen und Kugeln zu überschütten begann; es sollte aber erfahren, daß man einen Gegengruß in Bereitschaft hatte. Die Bemannung auf dem Decke wurde durch die Zündnadelgewehre weggefegt, und aus einer Anzahl schwerer gezogener Geschütze am Strande schlug eine solche Masse Kugeln in das Schiff, daß es nach wenigen Minuten umkehren mußte. Die Landung wurde nun glücklich vollbracht.

Während der nun folgenden Kämpfe gegen die Besatzung der Insel war General von Goeben gegen Sonderburg marschirt und rückte in drei Colonnen vor. Alle drei Colonnen stießen auf den Feind, dieser leistete aber nur matten Widerstand, und als die Preußen die Stadt erreichten, fanden sie diese von den Dänen verlassen.

Die ruhmvolle Eroberung der ganzen Insel kostete den Preußen dreihundertdreiundsiebenzig Mann an Todten und Verwundeten. Der Verlust der Dänen betrug nach ihrer eigenen Angabe fünfundsiebenzig Officiere und dreitausendeinhundertsechsundzwanzig Mann. Außerdem büßten sie sämmtliche Positionsgeschütze, eine Menge Munition, Brückenmaterial, achthundert Betten, viele Lazarethgegenstände, bedeutende Quantitäten an Holz, viele Boote, Schiffe und Waffen aller Art und eine wohlgefüllte Kriegscasse ein.

Eingedenk dieser beiden großen Waffenthaten hat nun die deutsche Nation den gefallenen Heldenbrüdern auf Düppel und Alsen zwei Denkmäler gesetzt, deren Hülle unter angemessener Feierlichkeit am 30. September dieses Jahres gefallen ist.

Beinahe auf dem höchsten Punkte der Düppeler Höhen, etwa eine halbe Stunde von Sonderburg entfernt, dort, wo einst in der dänischen Schanze Nr. 2 Leutenant Anker sich so tapfer vertheidigte, erhebt sich das Düppel-Denkmal. Dasselbe, nach einem Entwurf des Herrn Oberhofbaurath Strack in Berlin, von Mayer und Kopp zu Herford in Sandstein ausgeführt, hat eine Höhe von siebenzig Fuß rheinisches Maß und schaut stolz auf Land und Meer herab.

Die vier Figuren des Denkmals stellen zwei Infanteristen im Sturmanzug, einen Pionnier und einen Artilleristen dar. Die Reliefs, je eins zwischen zwei Figuren, zeigen nacheinander die Widmungsinschrift, welche die Worte trägt: „Den bei der Erstürmung der Düppler Schanzen am 18. April 1864 siegreich Gefallenen zum fortdauernden Andenken“; ferner einen Kriegsrath mit dem Kronprinzen, Prinz Friedrich Karl, dem Feldmarschall Wrangel und dem Artilleriegeneral Hindersin; dann den Ingenieurobristen Mertens in den Laufgräben und Pionniere, welche mit Schippe und Hacke arbeiten; endlich eine Gruppe Stürmender, unter ihnen den Feldwebel Probst, welcher, wie er die Fahne aufpflanzt, fällt. Ueber jedem Relief befindet sich ein Orden und zwar der Reihe nach: pour le mérite, Hohenzollersche Hausorden, Kronen- und rother Adlerorden mit Schwertern. Rings um das eigentliche Denkmal, das ein eiserner Zaun umschließt, läuft eine größere Plattform, zu der hinauf einige Stufen führen und auf welcher nach drei Seiten zu steinerne Bänke angebracht sind.

Das Denkmal zu Arnkiel, wohin man mit gutem Winde von Sonderburg aus in einer Stunde gelangen kann, liegt dicht am Alsensunde, an der Stelle, wo am 29. Juni 1864 das vierundzwanzigste Regiment gelandet ist. Noch bezeichnet auf dem kurzen Wege vom Strande zum Denkmal ein einfacher Stein, den ein ehemaliger Officier obigen Regimentes, der jetzige Obrist von C., zum Andenken an die glorreiche That hat setzen lassen, genau den Ort, wo der erste Kahn mit Preußen gelandet ist. Das Denkmal ist ebenfalls, wie das Schwesterdenkmal zu Düppel, nach einem Entwurfe des Herrn Oberhofbaurath Strack in Berlin, von den Herren Mayer und Kopp in Herford in Sandstein ausgeführt und hat eine Höhe von achtundsechszig Fuß rheinisches Maß. Auch hier ist die Plattform, hier der eiserne Zaun um das Denkmal, hier die Reliefs, die Orden, die Figuren. Letztere zeigen nach Westen – dem Wasser zu – einen Pionnier im Kahne, nach Norden einen Infanteristen, der mit der Mütze dem Lande zuwinkt, nach Osten – dem Walde zu – einen Jäger und endlich nach Süden einen Artilleristen, der nach den Schanzen hinschaut. Unter ihnen sind auch hier die vier Orden pour le mérite, rother Adlerorden, Kronenorden, Hohenzollersche Hausorden angebracht. Die Reliefs zeigen die Inschrift: „Den bei dem Meeresübergange und der Eroberung von Alsen am 29. Juni 1864 heldenmüthig Gefallenen zum ehrenden Gedächtniß“; ferner: einen Kriegsrath, einen Kahn, in welchem der Steuermann tödtlich getroffen zurücksinkt, während der Officier das Steuer ergreift; endlich noch eine Gruppe Landender.

So ragt denn empor, ihr Siegesdenkmale, als Zeugen einer Kraft, die hier den ersten Schritt auf der Heldenbahn einer neuen Zeit gethan und schon sechs Jahre darnach ihre Triumphbanner auf den wieder deutsch gewordenen Thürmen von Metz und Straßburg aufpflanzte. Und wie diese als Ehrenwächter des Reichs im Westen dastehen, so sind jene beiden Denkmalthürme auf ihren Siegesstätten die deutschen Ehrenwächter gegen den Norden, der leider in kindischem Haß noch immer vergißt, daß aller germanische Geist fortan keinen festeren Schutz hat, als das deutsche Schwert.




[731]
Blätter und Blüthen.


Schlangenzauber. Unter den vielerlei Arten von Aberglauben, die in Amerika grassiren, ist auch derjenige verbreitet, daß giftige Schlangen im Stande seien, Menschen zu bezaubern, namentlich Kinder. Zwischen Kindern und Giftschlangen soll eine besondere Sympathie bestehen, sie sollen einander, wo sie nur immer Gelegenheit finden, sich anzunähern suchen. Ja es wird behauptet, daß es nicht räthlich sei, ihnen den wechselseitigen Umgang zu wehren, die Kinder von den einmal liebgewonnenen Schlangen zu trennen, weil sonst die Kinder aus einer Art Heimweh nach der Schlangengesellschaft erkranken, langsam abzehren und sterben. Es mochte im Juli 1865 sein, daß ich, damals in West-Canada verweilend, aus mündlichen Erzählungen wie aus öffentlichen Blättern, freilich mit mancherlei Abänderungen aufgetischt, folgende Geschichte vernahm.

In Gilmanton, im Staat New-Hampshire, so lauteten die Nachrichten, befinde sich ein hübsches, etwa achtjähriges Mädchen, das einzige Kind eines Wittwers, welches schon seit einigen Wochen der Gegenstand des Dorf- und Stadtgesprächs sei wegen einer besonderen merkwürdigen Begebenheit, die sich mit ihm zugetragen. Das Kind sei einmal vom Hause seines Vaters weggelaufen, um in einem nahen Wald Blumen und Brombeeren zu suchen, und da habe es Bekanntschaft mit einem Paar kohlschwarzer giftiger Schlangen gemacht, das heißt es sei von ihnen bezaubert worden, sie hätten in ihm eine solche Zuneigung erweckt, daß es darüber das Nachhausegehen fast vergessen habe.

Der Vater des Kindes hätte einige Male bemerkt, daß es sich den Tag über vom Hause entferne und spät zurückkehre, ohne auf das Befragen, wo es so lange gewesen, bestimmte Antwort zu geben. Ja es zeigte sich jedes Mal in sichtbarer Verlegenheit, so oft man sich nach seinem langen Ausbleiben des Näheren erkundigen wollte. Das kam dem Manne verdächtig vor, und er beschloß, der Sache auf die Spur zu kommen.

Als das Mädchen sich wieder einmal vom Hause entfernte und sich bald, vom Fahrwege ablenkend, in’s Gebüsch verlor, schlich ihm der Vater in einiger Entfernung nach, um aufzuspähen, wohin es gehe und wo es sich verweile. Er mußte, weil er nicht dreist vorgehen, sondern versteckt bleiben und das Kind ungestört belauschen wollte, lange suchen, behutsam durch das Gestrüpp sich winden, bis er in die Nähe eines hochgewachsenen Gebüsches kam, hinter dem sich ein ziemlich weiter Rasenplatz befand, hell von der warmen Sonne beschienen. In der Mitte des Platzes befand sich ein bemooster Steinhaufen, theilweise mit niedrigem Strauchwerk bedeckt. Und hier in der Nähe des Steinhügels hatte sich das Kind auf dem sonnenwarmen Grasboden niedergelassen und spielte – anfänglich zum größten Schreck des Vaters – mit zwei großen rabenschwarzen Schlangen, die aus dem Steinhaufen, sobald sich das Kind in der Nähe desselben niedergesetzt hatte, hervorgekrochen waren, sich von seinen Händen streicheln ließen, in seinem Schooß sich ganz behaglich ringelten und wieder öffneten, um sich schmeichelnd um seinen Körper zu schlingen. Nachdem der Vater einige Zeit zugesehen, rief er seinem Kind laut mit Namen, so daß es heftig darüber erschrak und sich erhob, worauf die Schlangen in ihr Versteck zurückkrochen, als ob sie die rauhe Mannesstimme verscheucht hätte.

Im Nachhausegehen gestand das Kind seinem Vater, daß es die Schlangen liebe und, seitdem es zum ersten Mal mit ihnen zusammengetroffen sei, es nicht lassen könne, sie immer wieder zu besuchen und mit ihnen zu spielen.

Der Vater machte ihm aber ernstliche Vorstellungen dagegen, mit so falschen, giftigen Thieren vertraulichen Umgang zu pflegen; es könnte ein böses Ende nehmen. Er verbot ihm geradezu, bei Androhung von Strafe, dieses gefährliche Spiel fortzusetzen. Das Kind versprach, dem Vater zu folgen; aber ein unwiderstehlicher Antrieb lockte es immer zum Walde und in die Gesellschaft der Schlangen. Trotz Verbot und Versprechen machte es, so oft es ihm möglich war, sich heimlich vom Hause zu entfernen, seine alten Gänge, liebkoste das Giftgewürm und ließ sich von demselben liebkosen. Keine Ueberredung, keine Strafe übte so viel Gewalt über das Gemüth des Kindes, daß es die große Gefahr gemieden hätte.

Der Vater sah sich endlich genöthigt, das Kind in seiner Abwesenheit einzusperren. In seiner Gefangenschaft zeigte sich aber das Kind bald äußerst niedergeschlagen, bald heftig aufgeregt, verschmähte hartnäckig Speise und Trank zu sich zu nehmen, so daß es anfing sichtlich abzuzehren. Um nun das Kind nicht elendiglich hinsterben zu lassen, wußte der Vater am Ende kein anderes Mittel mehr, als die Schlangen zu sich in’s Haus zu nehmen.

In einem nahen Schuppen beim Hause befand sich ein großer unbenützter Futterkasten mit verschließbarem Deckel. Da brachte der Mann etliche Luftlöcher an, bereitete ihnen darin ein warmes Lager aus Moos und etlichen Stücken von einem alten, wollenen Fußteppich. Verschiedene Kräuter, Obst, Würmer, Kröten etc., waren die Nahrung der Schlangen. Wollte das Kind mit ihnen spielen, so ging es zum Kasten und nahm sie heraus.

Da nun – so erzählt der Vater – habe man bei näherer Beobachtung ein äußerst merkwürdiges sympathetisches Verhältniß zwischen dem Kinde und den Schlangen bemerken können. Wenn die Schlangen z. B. in ihrem Neste schliefen, so schlief auch das Kind an seinem Ort, wo es sich gerade befand, und so auch zeigte es sich wachend, sobald die Schlangen wachten. Wenn man das Kind in sein Bett brachte, rollte es sich ganz nach Schlangenart zusammen, so daß der Vater, eine schlimme bleibende Verwachsung befürchtend, sich oft veranlaßt sah, die zusammengekrümmten Beine wieder gerade zu strecken.

Als diese in gar mancherlei Weise ausstaffirten Zeitungsnachrichten in der Heimath der Geisterklopferei ungeheures Aufsehen erregten, dachte der Vater des Kindes, ein schlauer Yankee, sofort daran, dieses erstaunliche, unerklärliche „Wunder“ auch in natürlicher, greiflicher Weise auszubeuten. Nachdem er die nöthigen Vorbereitungen dazu gemacht, ein einspänniges Wägelchen mit einer Plane, einen leicht transportablen Schlangenbehälter sich angeschafft, entschloß er sich mit Kind und Schlangen nach allen größeren Städten der Union zu reisen, und dem großen Barnum in New-York Concurrenz zu machen. Er hegte die Hoffnung, mit seinem „Schlangenwunder“ schon in Jahr und Tag so wunderbare Geschäfte gemacht zu haben, daß er nimmer nöthig hätte, als ärmlicher Landbauer oder Hausirer mit kurzen Waaren sein karges Brod zu verdienen. Der Anfang der Wunderproductionen zu Stadt und Land entsprach in der That den Berechnungen und Erwartungen des geschäftsverständigen Yankee und brachte ihm einen sehr leicht verdienten und schwer wiegenden Gewinn.

In einigen Städten, wo er seine Wunder zum Besten gab, befanden sich unter der Masse des wundersüchtigen Amerikanervolkes auch etliche deutsche (spöttisch „Dötschmän“ geheißen), die unter den dortigen Frommen und Glaubensseligen meist als „ungläubig“ und „gottlos“ verrufen sind, aus keinem andern Grunde, als weil sie in religiösen Dingen heller und richtiger denken, als die gewöhnlichen amerikanischen Sectenchristen.

Einige dieser nüchternen deutschen Männer wollten zuerst bemerkt haben, daß das Mädchen durchaus keine zärtliche Neigung für das Giftgewürm besitze, ja eher eine schwer unterdrückbare Angst und Ekel verrathe, so oft die Schlangen ihren Leib berührten, um ihren Hals und ihre Arme sich ringelten und an ihren Busen sich schmiegten. Für diese Wenigen lag der Verdacht nicht fern: der fein speculirende Yankee gehöre wahrscheinlich in die Classe der marktschreierischen Gaukler, er habe die Schlangen und sein Kind blos abgerichtet, das Ganze sei eine leere Komödie, eine Art Barnumspuff, um mit lauter Spazierenfahren ein ausgezeichnetes „Bisneß“ (Geschäft) zu machen, und nebenher die Leute noch auslachen zu können, die so dumm seien, über sein Wundertheater die Augen aufzusperren und Schillinge zu opfern. Allein die Masse der Wundersüchtigen und Starkgläubigen verachtete solche Stimmen, und dreimal, wenn sie aus dem Munde eines „Dötschmän“ kamen.

In der Stadt Boston, die unter allen Städten Amerikas durch ihre religiöse Aufklärung, berühmt ist, die auch unter den eingeborenen, englisch sprechenden Amerikanern freisinnige Prediger besitzt, sollte das rollende Glücksrad des pfiffigen Yankee seinen ersten Stoß erhalten und das unerklärliche Sympathiewunder zum begreiflichen Durchbruch kommen …

Während der Production vor einer großen Zuschauermenge ereignete sich ein höchst unwillkommener, sowohl das Publicum wie die spielenden Personen mit einem plötzlichen Schreck überraschender Vorfall.

Eine der Schlangen mußte ihre Lection vergessen haben, oder war sie in irgend einer Art dazu gereizt worden – sie biß das Kind in den Arm, daß es anfing laut aufzuschreien und das Thier von sich zu schütteln. Die Zuschauer sahen in diesem Ereigniß den sichern Tod des Kindes schon voraus, weil sie, wie der Vorzeiger des „Wunders“ sie hatte glauben lassen, die Schlangen wirklich für giftige Thiere hielten, schon ihre schwarze Teufelsfarbe ihnen nichts Gutes verhieß … Die Polizei wurde sofort von dem Vorgefallenen in Kenntniß gesetzt, der Mann sammt Kind und Schlangen in Verwahrung genommen und ihm der Proceß gemacht. Es stellte sich zur augenscheinlichen Ueberzeugung heraus, daß der Vater die ganze Einleitung zur Aufregung der Neugier des Publicums, die Sympathiegeschichte zwischen Kind und Schlangen, rein erdichtet hatte. Vielmehr waren die Schlangen noch jung von ihm gefangen und, trotz Widerstreben seines Kindes, mit diesem in Berührung gebracht und in Dressur genommen worden. Die Giftzähne hatte ihnen der Yankee, wie er nun angab, zu seiner und seines Kindes Sicherheit längst ausgebrochen.

Der Vater wurde angeklagt, sein eignes Kind durch die Schlangen einer täglichen Lebensgefahr ausgesetzt zu haben, und mußte fünfhundert Dollars Caution stellen, mit dem Versprechen, sich des Mißbrauchs der väterlichen Gewalt nicht mehr schuldig zu machen. Seine empfindlichste Strafe bestand aber in der Enthüllung seines Lügenwerks und daß er als Betrüger an den Pranger der Oeffentlichkeit bestellt wurde.

Die Wundergläubigen zogen, als die nackte Thatsache bekannt wurde, freilich lange Gesichter; aber unter einem durch kirchlichen Wahn- und Wunderglauben an seinem gesunden Menschenverstand so sehr beschädigten Publicum findet der nächste Betrüger immer wieder seine blindgläubige Herde.

J. E.




Pater Smaelen. Der Streit auf dem religiösen Gebiet ist in Belgien ganz verschieden von dem, welcher in diesem Augenblick Deutschland beschäftigt. Der Kampf gegen die Jesuiten, diese Feinde des Staates und der ruhigen Entwickelung der bürgerlichen Errungenschaften, hat noch nicht begonnen. Einzelne Manifestationen schwacher Körperschaften oder noch schwächerer Persönlichkeiten können nicht dafür gelten.

Der Unwille gegen die Clerisei hat in Belgien indessen in einer eigenthümlichen Bewegung einen Ausdruck gefunden, der in seinen Folgen vielleicht gewichtig sein möchte, wenn auch im Anfange weniger in die Augen fallend. Vor fünfzehn bis zwanzig Jahren hat diese Bewegung ihren Ursprung genommen, sie ist im steten Wachsen begriffen und wenn auch bis jetzt noch unbedeutend im Ganzen, so wird sie sich doch Bahn brechen: ich meine das individuelle Sichlosreißen des Bürgers von allen kirchlichen Ceremonien, welches nur in Folge der freisinnigen Gesetze Belgiens möglich ist. Selbstverständlich ist, daß, wenn diese Bewegung um sich greift, es mit der Macht der Pfaffen zu Ende sein wird; wenn man dem Bäcker kein Brod mehr abkauft, so macht der Bäcker Banquerott und wird Ziegelbrenner oder Schneiderlehrling.

Diese neue Partei nennt man in Belgien schlechtweg „libres-penseurs“ (Freidenker). Es ist keine religiöse Secte, sie macht keinerlei Propaganda; sie kämpft nur mit der Waffe des öffentlichen Beispiels, und je mehr einflußreiche, geachtete Persönlichkeiten zu ihr übertreten, desto mehr Macht und Ansehen gewinnt sie selbst. Ihre Thätigkeit gipfelt in dem civilen [732] Begräbniß; mit anderen Worten: die Freidenker verweigern das Sterbesacrament und schließen dem Priester ihre Thür. Die Beerdigung wird alsdann ohne die Beihülfe der Geistlichkeit vollzogen.

Das lautet sehr einfach, ist aber oft mit den größten Kämpfen, den komischsten oder unwürdigsten Scenen verbunden. Der Fanatismus der Römlinge läßt ihnen keine Ruhe: sobald ein Freidenker schwer erkrankt ist, werden Eltern, Geschwister, Verwandte durch Pfaffen oder andere Agenten bestürmt; alle Mittel werden in’s Werk gesetzt, der Beichtstuhl spielt eine große Rolle, den Frauen wird die Hölle heiß gemacht, den Hinterbliebenen, welche ein Geschäft betreiben, droht man, die Kundschaft zu ruiniren etc. Oft werden die angesehensten Bürger von der Kanzel herunter mit Koth beworfen, was hier und da zu Verleumdungsprocessen Veranlassung giebt, in welchen die Pfaffen gewöhnlich den Kürzeren ziehn. Es ist vorgekommen, daß Priester Särge haben ausgraben lassen, um sie über die Kirchhofmauer auf den Weg zu werfen, daß Andere Särge mit Freidenkern an einen bestimmten Ort im Kirchhof, wo nur Hingerichtete bestattet werden unterbringen ließen, daß wieder Andere sich seit Jahren weigern den Kirchhof zu betreten, weil „libres-penseurs“ in die geweihte Erde versenkt wurden.

Um diesem Unfug ein Ende zu machen, hat die liberale Partei, als sie sich am Staatsruder befand, ein „Gesetz über die Kirchhöfe“ gemacht. Nach demselben hat die Gemeinde über den Kirchhof zu verfügen und nicht die Kirche. Allein da es sehr viele grundkatholische Gemeinden giebt, namentlich auf dem Lande, so ist dadurch dem Uebel noch lange nicht abgeholfen. Die Streitigkeiten erneuern sich jeden Augenblick, sie bilden einen stehenden Artikel der belgischen Tagesneuigkeiten.

Wichtiger sind die seit ungefähr zwanzig Jahren gebildeten Beerdigungsgesellschaften. Brüssel besitzt seine „Solidaires“, „Libre-Pensée“ und andere, Lüttich seine „Libre-Pensée“, Verviers seine „Tolérance“ etc. Die Mitglieder bezahlen jährlich eine gewisse Summe, gewöhnlich fünf Franken; dagegen übernimmt die Gesellschaft die Kosten der civilen Beerdigung und wahrt durch ihren Einfluß die Leiche vor jedem unwürdigen Incidenzfall. Jede dieser Beerdigungen ist eine kleine Manifestation. Der Leichenwagen trägt gewöhnlich kein Kreuz, die Mitglieder ziehen oft schaarenweise zum Kirchhof, woselbst schwungvolle Reden gehalten werden. Und man soll nicht glauben, daß der Wirkungskreis dieser Gesellschaften ein geringer wäre; bedeutende Persönlichkeiten wie de Potter, Verhaegen, Gendebien, Defaez etc., sind auf diese Art zur letzten Ruhestätte gebracht worden.

Zur Beleuchtung dieser eigenthümlichen Verhältnisse diene die Mittheilung eines jüngst in Brüssel vorgekommenen Ereignisses.

Herr Altmeyer, Professor an der freien Universität Brüssel, bekannt durch seine Kämpfe mit den Jesuiten, erkrankt plötzlich schwer, inmitten eines Examens. Er wird nach Hause gebracht; man erwartet jeden Augenblick seinen Tod. Der Pfarrer des Kirchspiels erscheint, um dem Sterbenden die letzte Oelung zu bringen; nachdem man ihm gemeldet, daß Herr Altmeyer Niemanden empfange, verabschiedet er sich. Einige Stunden später erscheint Pater Smaelen, ein Jesuit aus Alost. Er schellt, die Magd theilt ihm mit, sie habe Befehl, keinen Menschen einzulassen. Der Pater stößt die Magd zurück und dringt durch. Hierauf kommt Frau Altmeyer, dem Pater den Weg zum Krankenzimmer, welches im Erdgeschosse liegt, abschneidend.

„Ich habe strenge Befehle,“ ruft Pater Smaelen aus; „ich will und werde durchkommen. Ich bin der Arzt des Geistes und habe wenigstens ebensoviel Rechte wie der Arzt des Körpers!“ Er wehrt mit dem Arme die Dame ab und will die Thür öffnen. Hier tritt ihm Fräulein Altmeyer entgegen, welche den Schlüssel abzieht und einsteckt. „Der Kranke ist von Heiden und Heuchlern umgeben!“ ruft heftig gesticulirend der Pater im höchsten Affecte.

Unterdessen hat Frau Altmeyer ihren Schwiegersohn herbeirufen lassen, der sich schließlich genöthigt sieht, den keine Grenzen mehr kennenden Mann der Kirche zur Thür hinauszuwerfen. Der Schwiegersohn, Herr D., setzt sich darauf hin und schreibt an den Bürgermeister von Brüssel; er beklagt sich, daß eine Wohnungsverletzung stattgefunden habe, und bittet die Gemeindebehörde Maßregeln zu treffen, damit ein solcher Fall sich nicht wiederholen könne. Der Bürgermeister, Herr Anspach, stellt alsbald eine Schildwache vor das Haus des Kranken und zieht den Pater Smaelen vor das Strafpolizeigericht. Schließlich wird der Pater verurtheilt. Da lindernde Umstände vorhanden sind, darin bestehend, daß er Herrn Altmeyer früher gekannt hat, lautet das Urtheil auf nur hundert Franken Strafe. Die Strafe ist mäßig, aber – der Pater ist verurtheilt.

Dieses ist eine der in Belgien so häufig vorkommenden Episoden der religiösen Streitigkeiten. Man erinnert sich noch heute eines ähnlichen Falles beim Tode des ehrwürdigen Verhaegen, seiner Zeit Präsident der Deputirtenkammer und Großmeister der Freimaurerei. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln befürchtete man, daß sich ein Priester in das Krankenzimmer einschleichen könne, so daß der sterbende Verhaegen eine geladene Pistole unter sein Kopfkissen legen ließ und erklärte, er würde sich beim Eintreten eines Pfaffen eine Kugel durch den Kopf jagen.

Die Pfaffen arbeiten mit Riesenkräften gegen den immer stärker werdenden Strom der Opposition. Protestanten, Freimaurer und Freidenker werden in einen Topf geworfen und von der Kanzel herunter den flennenden Weibern als die Trabanten Satans bezeichnet. Die Bischöfe fassen Tractätlein ab, um zu beweisen, daß jeder Nichtkatholik schlechterdings ein unehrliches Geschöpf sein müsse. Durch den Beichtstuhl können sie in den Familien den Unfrieden stiften, durch die Minister Plätze entziehen, wenn gerade die Regierung eine katholische ist; sonst ist ihre Macht gebrochen, und das einzig und allein durch die Constitution, wenn ihre Gegner sie zu handhaben verstehen. Kein Kind braucht gesetzlich getauft, keine Heirath muß kirchlich vollzogen werden. Jeder Bürger hat das Recht, den Beamten eines statistischen Bureaus die Mittheilung seiner Religion zu verweigern. Und in der letzten Zeit ist es sogar vorgekommen, daß Zeugen, welche sich vor dem Richter weigerten, den Schwur zu leisten: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen ..…“ freigesprochen wurden, einzig und allein weil § 15 der Constitution lautet: „Kein Bürger darf wegen seiner religiösen Ueberzeugung behelligt werden.“

Dr. R. W. Grün.




Oettinger’s „Moniteur des Dates“ – nur der Titel ist französisch, das Werk selbst aber ist in deutscher Sprache, mit deutschem Fleiß und deutscher Gründlichkeit verfaßt – enthält eine gedrängte, übersichtliche und, soweit dies überhaupt möglich, auch zuverlässige Zusammenstellung fast aller biographischen Daten, die in den zu ganzen Bibliotheken angeschwollenen historisch-genealogischen Handbüchern und biographischen Sammelwerken aller Zeiten und Länder verzeichnet sind. Es ist ein Werk, das als die reichste Fundgrube für dergleichen Daten und wegen der darin zugleich an die Hand gegebenen chronologischen Hülfsmittel den Gelehrten und Schriftstellern aller Fächer, den Sammlern von Kunstgegenständen, Autographen etc. unentbehrlich ist und namentlich in keiner Bibliothek fehlen sollte. Es empfiehlt sich daher vorzugsweise auch zu Geschenken an Unterrichtsanstalten, Vereine und Gesellschaften mit wissenschaftlichen Zwecken. Die Fortsetzung ist auch nach dem kürzlich erfolgten Ableben Oettinger’s dadurch gesichert, daß er seinen Freund Dr. Hugo Schramm in Dresden, der sich bereits der mühe- und arbeitsvollen Redaction der bisher erschienenen vier Supplementlieferungen auf’s Uneigennützigste unterzog, zum Erben des „Moniteurs“ eingesetzt hat. Letztgenannter Schriftsteller nimmt auch ergänzende und berichtigende Beiträge mit Dank entgegen.




Kleiner Briefkasten.

K. in B. Der Druckfehler auf Seite 681 (Unterfranken) ist nur in dem einen Satze und bei wenigen tausend Exemplaren durchgewischt. Um die Auflage rasch zu fördern, wird bekanntlich jede Nummer drei Mal gesetzt. Daß bei der Schnelligkeit, mit der dieser dreimalige Satz hergestellt werden muß, trotz aller Aufmerksamkeit doch hie und da ein Fehler durchschlüpft, ist zwar nicht ganz zu entschuldigen, aber doch zu begreifen. Also: „komm doch zur Ruh’, bewegt’ Gemüth!“

S. in Frkft. Wir freuen uns, Ihre Bitte erfüllen zu können. Der neue Jahrgang unseres Blattes wird mit einer Erzählung von Werner, dem Verfasser der vielbesprochenen Erzählung Am Altar, beginnen.




Herman Schmid!

Wir eröffnen hiermit eine neue Subscription auf die zweite Auflage der

Volks- und Familien-Ausgabe
von
Herman Schmid’s gesammelten Schriften,

welche zugleich eine in den Bezugsbedingungen um die Hälfte billigere Ausgabe derselben ist, insofern sie dem Publicum

in Heften à 3½ Ngr. = 10½ kr. rhein.
(die erste Auflage erschien in Bänden à 7½ Ngr.)

zugänglich gemacht wird. Von dem soeben erschienenen ersten Hefte kann in allen Buchhandlungen Einsicht genommen werden.

Herman Schmid ist längst ein Lieblingsschriftsteller des deutschen Volks geworden – im Süden wie im Norden haben die Erzählungen aus den bairischen Bergen, seiner Heimath, sowohl, als die mit geschichtlichem Hintergrund wegen ihrer spannenden, eigenthümlichen Stoffe und wegen der bei aller Einfachheit kunstvollen Form gleichmäßig großen Beifall gefunden und sich insbesondere durch ihren gemüthvollen, durchaus reinen Inhalt das Bürgerrecht in der Familie erworben. Die Volksausgabe seiner sämmtlichen erzählenden Schriften, deren erste Auflage trotz der kriegerischen Unterbrechung der letzten Jahre längst vergriffen ist, wird daher gewiß auch in zweiter, durch die neueren Erzählungen, wie „Bergwirth“, „Gasselbuben“, „Zuwiderwurzen“ etc. vermehrten Auflage sich der allgemeinsten Theilnahme um so mehr zu erfreuen haben, als dadurch Jedem, auch dem Unbemitteltsten, Gelegenheit gegeben ist, sich die Erzählungen Herman Schmid’s, der ein wahrer Volksschriftsteller im edelsten Sinne des Wortes ist, und damit eine Lectüre zu verschaffen, die in keinem deutschen Hause fehlen sollte.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wilhelm Müller, „Die Burg Frankenberg“.
  2. Das Werk erscheint in den nächsten Wochen und unter dem Titel: „Erinnerungen aus der Zeit der ersten Anfänge von Deutschlands Wiedergeburt“, enthaltend die Biographien von Karl und Paul Follen und die Selbstbiographie Fr. Münch’s. Neustadt an der Haardt, Verlag der Witter-Gottschick’schen Buchhandlung. Mit den Bildnissen von Karl Follen und Münch. Dasselbe bedarf wohl nach unserer Mittheilung daraus keiner weiteren Empfehlung.
  3. Robert und Richard Keil, die sehr verdienten Geschichtschreiber des „Jenaischen Studentenlebens“, der „Burschenschaft“ und der „Wartburgfeste“, Werke, welche nicht nur jeder Freund der akademischen Entwickelung unserer Jugend besitzen, sondern auch jeder Geschichtsforscher beachten sollte, theilen in dem erstgenannten Buche (Leipzig, Brockhaus, 1858) S. 445 Folgendes hierüber mit: „Von Jena, von Kahla und Apolda aus und auf einer Reise nach Berlin verbreitete Sand jenes schwülstige Gedicht, das so großes Aufsehen gemacht hat, dessen Abdruck aber früher die Censur nicht zuließ. Es lautete unter dem Titel ‚Deutsche Jugend an die deutsche Menge‘ oder ‚Dreißig oder dreiunddreißig – gleichviel‘ wörtlich so:

    ‚Menschenmenge, große Menschenwüste,
    Die umsonst der Geistesfrühling grüßte,
    Reiße, krache endlich, altes Eis!
    Stürz’ in starken, stolzen Meeresstrudeln
    Hin auf Knecht und Zwingherrn, die dich hudeln,
    Sei ein Volk, ein Freistaat, werde heiß.

    Bleibt im Freiheitskampf das Herz dir frostig,
    In der Scheide wird dein Schwert dann rostig,
    Männerwille, aller Schwerter Schwert!
    Wird es gar im Fürstenkampf geschwungen,
    Bald ist es zerschroten, bald zersprungen,
    Nur im Volkskampf blitzt es unversehrt.

    Thurmhoch auf des Bürgers und des Bauern
    Nacken mögt ihr eure Zwingburg mauern,
    Fürstenmaurer, drei und dreimal zehn,
    Babels Herrenthum und faule Weichheit
    Bricht ein Blitz und Donner, Freiheit, Gleichheit,
    Gottheit aus der Menschheit Mutterweh’n.‘“

    Diese Verse, die man sogar Sand selbst zugeschrieben, sind, nach Münch’s Mittheilung, nur Theile des sogenannten „großen Liedes“, das den „Grundsatz“ und seine Einführung in’s Leben verherrlichte.

  4. Wir benachrichtigten unsere Leser bereits früher, daß der berühmte Verfasser von „Kraft und Stoff“ (Ludwig Büchner) behufs Vorlesungen nach Amerika berufen worden sei und uns von dort aus regelmäßige „Reisen und Vorlesungsbilder“ senden würde. Heute beginnen wir mit einem Vorbericht, dem nun baldigst die Schilderungen des geistreichen Naturforschers folgen werden.
    Die Redaction