Die Gartenlaube (1872)/Heft 43
[701]
No. 43. | 1872. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Gotthold hatte die abwehrende Bewegung Cäciliens nicht mehr gesehen, ihre Worte nicht mehr gehört. Er war eilends durch die Thür, die er nur angelehnt fand, hereingetreten und lag jetzt zu ihren Füßen, ihre Hände ergreifend und mit leidenschaftlichen Küssen bedeckend.
Und Alles, was in diesen letzten wunderbaren, von Liebesleid und Liebeslust überreichen Tagen seine Brust bewegt und zum Zerspringen erfüllt hatte, was er von gestern Abend bis zu diesem Augenblicke Namenloses gelitten – es fluthete in wildbewegten Worten über seine Lippen; und wie sie sich auch sträuben mochte, sie fühlte sich fortgerissen und ließ sich dahintragen von der Fluth, bis er, aufspringend und sie mit sich emporziehend, rief: „So komm, Cäcilie! Nicht einen Augenblick länger darfst Du in diesem Hause, darfst Du unter einem Dache mit diesem Elenden sein, der sich die Schmach, sein Weib von einem Andern geliebt zu wissen und zu wissen, daß sein Weib diesen Andern liebt, abkaufen läßt mit schnödem Gelde. Ich bin heute Morgen gegangen ohne Dich – es kam das Alles so plötzlich, war so unbegreiflich; ich meinte, daß ich Deinem Befehle folgen müsse, auch wenn ich Dich nicht verstand, auch wenn Du, was Du thatest, aus Mitleid mit dem Manne thatest, den Du einst geliebt, ja aus einem Rest von Liebe für diesen Mann. Jetzt verstehe ich Dich besser; jetzt weiß ich für immer und ewig, daß Du mich liebst; jetzt habe ich mich – haben wir uns wiedergefunden; jetzt soll uns Niemand und Nichts trennen! Cäcilie! Du antwortest mir nicht!“
Sie hatte ihn mit großen Augen angeblickt, in denen sich schmerzlichste Verwunderung malte. Jetzt ergriff sie das Licht und leuchtete ihm voran in die Schlafstube, in deren Hintergrunde ihr Bett stand, dicht vor demselben das Bettchen ihres Kindes.
Die Kleine lag da, die Augen nicht ganz geschlossen, das Mündchen leise geöffnet, die Wänglein geröthet in jenem süßen Kinderschlaf, der dem Wachen folgt wie das Abendroth der untertauchenden Sonne. Cäcilie deutete nicht auf das Kind; aber ihr Blick, der Ausdruck ihrer Züge sagte: das ist meine Antwort.
Gotthold’s Blick suchte den Boden; er hatte in dem Egoismus der Leidenschaft kaum an das Kind gedacht und ganz gewiß nie, daß es ein Hinderniß sein könne. Er begriff das auch jetzt noch nicht. „Dein Kind wird mein Kind sein,“ stammelte er. „Du sollst Dich nie von dem Kinde trennen; ich will Dich nie von dem Kinde trennen.“
Sie hatte das Licht auf den Boden gestellt, damit es Gretchen nicht in die Augen schien, und war dann an dem Bettchen hingekniet, die Stirn auf den Rand des Gatters gedrückt, mit der Hand winkend, daß er gehen solle. Gotthold stand neben der Knieenden, mit der verzweiflungsvollen Empfindung Jemandes, der ahnt, daß seine Sache verloren ist, und sie doch nicht verloren geben kann und will. Plötzlich begann der Hund, welcher ihnen gefolgt war, zu knurren und brach dann in leises Bellen aus, indem er die Spitze seiner Schnauze gegen die Schwelle der Thür richtete, durch die man aus dem Schlafzimmer in das Wohnzimmer gelangte; Gotthold glaubte, dort ein Geräusch gehört zu haben; er ging nach der Thür; Cäcilie warf sich ihm in den Weg. Ihre Miene, ihre Geberde drückte die tödtlichste Angst aus; sie deutete nach der Kinderstube, durch die sie hereingekommen, und eilte, als Gotthold nicht alsbald ihrer Weisung nachkam, selbst ihm voraus, dorthin; Gotthold folgte mechanisch.
„Um Gottes willen, geh!“ rief Cäcilie.
Es waren die ersten Worte, die über ihre Lippen kamen.
„Ich fliehe nicht noch einmal!“
„Du mußt! oder es ist Alles vergebens gewesen! die Qual, der Kampf, die Schmach – Alles, Alles!“
„Cäcilie,“ rief Gotthold außer sich, „ich müßte kein Mann sein, wenn ich so noch einmal ginge. Ich will Licht; ich will wissen, was ich thue, warum ich es thue.“
„Ich darf nichts weiter sagen; Du mußt mich verstehen; ich glaubte, Du hättest es von Anfang an, ich hätte sonst nicht den Muth gehabt; ich wäre das unseligste Geschöpf auf Erden, wenn Du mich jetzt noch nicht verstündest. Aber Du wirst es; ich könnte Dich ja nicht lieben, wenn es anders wäre. Und nun, bei Deiner Liebe zu mir, Gotthold, keine Secunde darfst Du länger hier sein. Leb’ wohl und ewig wohl!“
Es war wie ein Kampf gewesen zwischen den Beiden in dem halbdunkeln Gemache; er hatte sie, sie hatte ihn gehalten, als sollte es für immer sein; sie hatte sich verzweifelt losgerissen, hatte ihn von sich gedrängt, als müßte der nächste Augenblick seiner Gegenwart Tod und Verderben bringen. Nun hielt er noch einmal die holde Gestalt in den Armen, an seinem Herzen; er fühlte ihre heißen, zuckenden Lippen auf seinen Lippen, und dann stand er draußen, und der Regen schlug ihm in’s Gesicht, und über ihm rauschte und raunte es in den sich schüttelnden Bäumen, und neben ihm aus den hohen Hecken raschelte und [702] zischelte es wie von tausend und tausend spitzen Zungen: „Du Narr, Du blöder Thor, Du dummer Hans, der Du Dich anführen läßt, einmal, zweimal, so oft sie will, so oft er will – was weiß ich!“
Und er brach in ein Gelächter aus, und während er noch lachte, quoll es in seiner Brust auf, heiß und heißer; er hätte viel darum gegeben, wenn er hätte weinen können. Aber weinen konnte er nicht, weinen wollte er nicht. Es war noch nichts entschieden, trotz alledem; es war noch nichts verloren, trotz alledem, trotzdem es so dunkel nächtig in seiner Seele war, wie um ihn her dunkle Nacht die Erde bedeckte. Kein Stern durch den Graus schwarzer jagender Wolken, nach Westen kaum der matteste Schimmer einer Helligkeit. Und doch – dieser matte Schimmer kam von der Sonne, die untergegangen war und morgen wieder aufgehen würde; er war der Bürge, daß die finstere Nacht nicht ewig dauern würde. Und auf seinen Lippen schwebte noch ein Etwas von dem Hauch ihres Mundes, von der Gluth ihres Kusses. Nein! nein! es konnte keine Trennung für immer sein! es konnte diese Qual nicht ewig dauern!
Die hübsche Rieke war länger im Spielzimmer festgehalten worden, als ihr lieb war. Der Pastor hatte sein Schenkenamt nur mit unsicherer Hand geübt, und noch dazu mit langathmigen, einigermaßen confusen Reden begleiten zu müssen geglaubt; desto schneller aber hatten die Herren am Spieltische getrunken und ungeduldig nach mehr verlangt, bis Rieke zuletzt, des Hin- und Herlaufens, das kein Ende nehmen wollte, müde, kurz entschlossen den Schenktisch mit der Bowle zum Spieltische trug und es so dem dienstwilligen Pastor möglich machte, die Gläser, die er gefüllt, auch selbst zu credenzen. Dann hatte sie, sich über Hans Redebas’ Stuhl beugend, noch ein paar Augenblicke dem Spiele zugeschaut und war dann schnell aus dem Zimmer geschlüpft.
Es verlangte sie, das Gespräch mit Gotthold fortzusetzen. Sie hatte den schönen, stillen Mann eigentlich immer gern gehabt und die Aufpasserrolle, welche ihr Brandow zur Pflicht gemacht, weniger aus Liebe zu ihrem Herrn als aus Eifersucht gegen ihre Frau, der sie den stattlichen Fremden nicht gönnte, mit solcher Emsigkeit betrieben. Nun hatte sie heute Morgen sein überreichliches Geschenk einigermaßen gerührt, ja stutzig gemacht, und die Freundlichkeit, die er ihr eben bezeigt, hatte sie vollends entwaffnet. Natürlich war er nur der Frau willen zurückgekommen; aber ihrem leichtbeweglichen Herzen war es durchaus kein unlösbares Räthsel, wie man das Eine thun könne, ohne das Andere zu lassen. Sie wollte ihm sogar behülflich sein, wenn er jetzt sehr, sehr freundlich zu ihr war, und eigentlich war es ja doch nur ihr Vortheil, wenn schließlich der fremde Herr mit ihrer Frau davonlief.
Aber sie fand ihn nicht an der Hausthür, wo sie ihn verlassen. Die Hausthür war auch kein geeigneter Ort, das interessante Gespräch fortzusetzen: es konnte jeden Augenblick Jemand kommen; ebenso bedenklich war der Flur. Vielleicht war er im Speisesaale. Er war nicht dort; im Garten, in den sie einen Blick warf, schüttelten sich die Bäume gar zu unwirsch. Wo konnte er geblieben sein? wo anders als auf seinem Zimmer, nach den Sachen zu sehen, die er dort zurückgelassen! Sie mußte ihm doch dabei helfen; er konnte ja in der Dunkelheit sich gar nicht zurechtfinden.
Die hübsche Dirne athmete tief und war dann im Nu unhörbaren Schrittes die Treppe hinauf über den Bodenraum nach dem Giebelzimmer gehuscht, das Gotthold während seiner Anwesenheit bewohnt. Hier blieb sie stehen, die Hände gegen die brennenden Wangen und gegen den wogenden Busen drückend, und öffnete dann nach leisem Klopfen, auf das sie kein Herein erwartete, wie schüchtern zögernd, die Thür. Ihre Wangen hatten vergebens gebrannt, ihr Herz hatte vergebens gepocht – das Zimmer war leer. Sie trat an das Fenster und sofort wieder zurück. Da, dicht unter ihr, in dem Spielgarten war er ja, den sie suchte, vorsichtig langsam sich den Fenstern nähernd, aus denen ein schwaches, wechselndes Licht auf die Baumstämme fiel; und dann war er verschwunden – wohin anders als durch die Kinderstubenthür zu ihr! Das hatte sie den beiden Scheinheiligen nicht zugetraut; sie wußten sich selbst zu helfen, wahrhaftig! es war zu frech! Dann mochte ja auch wahr werden, was er ihr schon ein paar Male gesagt und sie eigentlich nicht geglaubt, daß er sie zu seiner Frau machen wolle, wenn die Andere erst fort sei. Erfahren sollte er es jedenfalls; die Beiden verdienten es nicht besser.
„Was soll denn das heißen?“ rief Hans Redebas, als Brandow mit einer flüchtigen Entschuldigung, da eben die Taille zu Ende war, sich von dem Tische erhob.
„Ich komme sofort wieder,“ sagte Brandow.
„Das wollten wir uns auch ausgebeten haben,“ schrie Hans Redebas. „Pastor, noch ein Glas!“
Brandow verließ den Tisch nur ungern; er hatte wiederum sehr bedeutend gewonnen, und sein Spieleraberglaube sagte ihm, daß er dem Spiele nicht den Rücken wenden dürfe; aber die Rieke hatte ihm über Hans Redebas’ schwarzhaarigen Kopf weg ein Zeichen gemacht – es mußte etwas ganz Besonderes geschehen sein.
Er folgte dem Mädchen auf den Flur, von dort in die Wohnstube linker Hand, wo sie ihm durch Zeichen bedeutete, leise aufzutreten, bis sie zu der schmalen Thür gelangten, die in Cäciliens Schlafzimmer führte. Unter der Thür weg durch die Ritze fiel ein schwacher Lichtstreif. Das Mädchen kauerte sich auf die Schwelle und drückte das Ohr an die Thür; Brandow stand über sie hingebeugt, ebenso lauschend. Man konnte wohl hören, daß Jemand sprach, aber nicht wer oder was. Wozu auch? Mit wem konnte sie hier sprechen als mit ihm? Was konnten sie sprechen, als was sie nicht hören lassen durften? Und jetzt wurde der Lichtschein stärker – man war in die Schlafstube getreten. Brandow bebte am ganzen Leibe vor eifersüchtiger Wuth. Sollte er hineinstürzen und das verbuhlte Paar erwürgen, der öffentlichen Schande preisgeben? Aber Gotthold war nicht mehr der schwächliche Knabe von ehemals; der Ausgang des Kampfes mit ihm, Mann gegen Mann, war mindestens zweifelhaft, und – er hatte ja schon die Bezahlung erhalten! Die Schande blieb bei ihm, und – es war zu spät! Das Bellen des Hundes, das ihn und seine Helfershelferin von der Thür zurückfliegen machte, mußte auch sie gewarnt haben; er würde das Nest leer finden. Mochte es sein; er hatte genug gehört.
„Nun?“ sagte Rieke, als sie durch das Wohnzimmer zurückgeschlichen waren und wieder auf dem Flur standen.
„Geh’ hinein und sag’, ich käme gleich,“ erwiderte Brandow.
Der Ton, in welchem er das sagte, weissagte Schlimmes; Rieke that beinahe leid, was sie gethan. „Er ist nicht so wie Sie,“ sagte sie entschuldigend und aus wirklicher Ueberzeugung.
Brandow lachte höhnisch. „Mach’, daß Du hineinkommst,“ wiederholte er dann, mit dem Fuße stampfend.
Das Mädchen ging; Brandow trat in die offene Hausthür und starrte in den dunklen Hof nach den Ställen hinüber. Der Regen schlug ihm in’s Gesicht und mit dem Regen der süßliche Rauch des heimischen Tabaks. Links, unmittelbar unter ihm, vor der steinernen Bank, glühte ein feuriger Punkt, und eine rauhe Stimme fragte:
„Nun, wie ist es mit dem Anspannen?“
Es war Der, nach dem er eben ausgeschaut, auf den er bei der Ausführung des Racheplanes, der dunkel in seiner Seele gährte, gerechnet hatte, ja der, wie er sich jetzt einbildete, den ersten Keim zu diesem Plane in seine Seele gelegt hatte. Es sollte also sein.
„Er wird jetzt nicht mehr fort wollen, und wäre es auch blos des schlechten Wetters wegen.“
„Die Anderen müssen doch auch fort.“
„Sie sind oft genug hier geblieben.“
„Schicken Sie sie fort!“
Brandow dachte einen Augenblick nach. „Wenn ich noch ein paar Hundert gewinne, gehen sie von selbst,“ murmelte er. „Aber Du mußt es ihm gründlich eintränken, Hinrich, gründlich.“
„Wo kein Grund ist,“ sagte Hinrich.
Durch Brandow’s Seele zuckte es wie ein blutrother Blitz über einen nächtigen Himmel. Das war es! Das!“
„Und ich gebe Dir, was Du verlangst!“ sagte er mit heiserer Stimme, sich in den Qualm niederbeugend, der aus Hinrich’s Pfeife aufstieg.
„Umsonst ist der Tod; und das vorhin mit dem Brownlock [703] hat mich auch fünf Louisd’or gekostet; ich sollte ja die Hälfte haben.“
„Hier hast Du sie,“ sagte Brandow in die Tasche greifend und von dem Golde, das er eben gewonnen, gebend, was ihm eben in die Hand kam.
„Sie sind immer ein guter Herr gegen mich gewesen,“ sagte Hinrich, in seiner harten Faust die Goldstücke gegeneinanderreibend.
„Und will’s nun erst recht sein.“
„Die Herren wollen fort, wenn Sie nun nicht wieder hereinkommen,“ sagte Rieke, die eilig herbeikam. Sie hatte die Thür zum Spielzimmer aufgelassen, und man hörte Hans Redebas’ dröhnende Baßstimme: „Brandow! Brandow!“ und krähendes Gelächter und eine heisere Stimme intoniren: „Nach Hause geh’n wir nicht! nach Hause geh’n wir nicht!“
„Ich will Euch schon fortbringen,“ murmelte Brandow. „Du bleibst hier, Hinrich.“
„Ich habe Zeit, Herr.“
Brandow ging in das Spielzimmer zurück.
„Ihr macht von der Freiheit, welche Euch die zufällige Abwesenheit der Damen giebt, einen übertriebenen Gebrauch,“ sagte Brandow mit schneidendem Hohn, als ihn seine Gäste mit geschwungenen Gläsern und einem Halloh empfingen, in welches Gustav von Plüggen ein schnarrendes Hip, Hip, Hurrah! mischte.
„Zufällig?“ rief Hans Redebas; „gar nicht zufällig. Du machst ja heute gute Geschäfte!“
„Und wozu denn da Deine Frau?“ sagte Otto von Plüggen.
„Ich erbitte mir darüber eine Erklärung!“ rief Brandow; „ich werde nicht dulden –“
Er brach plötzlich ab. Sich heftig gegen Otto von Plüggen wendend, sah er neben demselben Gotthold stehen, der unmittelbar hinter ihm in das Zimmer gekommen sein mußte und ohne Frage Alles gehört hatte. Es war unmöglich, in seiner Gegenwart dies Thema zu erörtern. So würgte er denn den wüthenden Haß, der beim Anblick des Menschen in seinem Herzen aufkochte, mit gewaltsamer Anstrengung hinunter und rief:
„Da bist Du ja endlich! wo in aller Welt hast Du nur gesteckt? Gott sei Dank, daß Du kommst und dem abscheulichen Spiel ein Ende machst.“
„Hoho!“ rief Hans Redebas; „abscheulichen Spiel! pfeifst Du aus dem Loch? das glaube ich! sechshundert oder so hat er schon! schmeckst du prächtig!“
„Ich bin noch Niemand Revanche schuldig geblieben!“ schrie Brandow mit übertrieben heftiger Geberde.
„Aber, Brandow!“ rief der Assessor; „Sie müssen auch nicht jedes Wort auf die Goldwage legen; es ist ja Redebas nicht eingefallen, Sie beleidigen zu wollen. Er möchte nur, daß weiter gespielt wird, und – offen gestanden – ich wüßte nicht, was wir Gescheidteres thun könnten.“
„Nun, wenn Sie das meinen, Herr Assessor, der Sie auch gewonnen haben –“
„Die paar Thaler!“ sagte der Assessor nicht ohne einige Verlegenheit.
„So kann ich gewiß nichts dagegen haben,“ fuhr Brandow fort. „Ich meinte nur, daß wir Freund Gotthold, der nicht spielt und von dem wir bis jetzt so wenig gehabt haben, diese kleine Rücksicht schuldig wären, oder sage ich lieber: uns! er verliert an uns nicht viel, aber wir an ihm desto mehr.“
„Ich bitte, sich meinethalben nicht incommodiren zu wollen,“ sagte Gotthold.
„Na, denn zu, in dreier Teufel Namen!“ schrie Hans Redebas, nach den Karten greifend. „Ich will einmal Bank halten; es werden sich ja wohl noch ein paar Mutterpfennige finden.“
Und er nahm mit der Linken aus der dicken, vor ihm liegenden Brieftasche Banknoten, die er zu einem Haufen zusammendrückte. „So, nun aber ordentlich pointirt, Brandow und Ihr Anderen, das bitte ich mir aus!“
„Es thut mir leid, aber was soll ich machen? ich hoffe, daß Du mir es nicht übel nimmst,“ raunte Brandow Gotthold zu und nahm dann seinen Platz am Spieltisch wieder ein. Gotthold trat mit einer abwehrenden Handbewegung zurück und konnte nun nicht anders, als der Einladung des Pastors Folge leisten, der in der einen Ecke des großen Ledersophas saß und, als Gotthold in der andern Platz genommen, nicht ohne Anstrengung ein wenig heranrückte und mit lallender Zunge zu sprechen anfing.
„Ja, ja, geliebter Freund, eine sündige Welt, eine grausam sündige Welt! aber man darf auch nicht zu streng sein, um Himmelswillen, nicht zu streng! Sie arbeiten die ganze Woche, lassen wenigstens ihre Kerls für sie arbeiten; am Sonntag dürfen sie es nicht, bei schwerer Strafe. Wir haben erst vor Beginn dieser Ernte ein landräthliches Scriptum zugesandt erhalten, das gründlich gepfeffert war. Was sollten sie da mit den langen Stunden beginnen? Müßiggang ist aller Laster Anfang: Spielen, Trinken – Rieke, ein Glas – zwei Gläser – Du trinkst nicht? thust sehr unrecht – selber gebraut – nach einem Recept meines verehrten langjährigen Principals, des Grafen Zernikow. Ueber dreihundert Bowlen während meines Candidatenlebens gebraut – zuletzt blindlings, auf Cerevis! – mit geschlossenen Augen, mit geschlossenen Augen!“
Er hatte die letzten Worte nur noch gelallt, der schwere Kopf nickte vornüber und der untere Theil des Gesichts verschwand in den Falten des gelockerten weißen Halstuches. So sank er hülflos in seine Ecke zurück.
Gotthold erfüllte der trostlose Anblick mit zorniger Verachtung.
Der Mann hatte gehalten, was der Knabe, der Jüngling versprochen; die Maske der Scheinheiligkeit hatte der Rausch abgerissen, und da war das stupide Wüstlingsgesicht des Hallenser Corpsburschen, dessen sich Gotthold so gut erinnerte. Es konnte ja nicht anders sein. Aber daß dieser Jammermensch der Nachfolger seines Vaters war, daß diese blinzelnde Eule da saß, wo der Adler gehorstet, dessen Feuerauge allzeit die Sonne suchte; daß diesem plumpen Schalksnarren verstattet war, mit seinen Schellen an der Stätte zu klingeln, von welcher der Prediger in der Wüste mit glühender Beredsamkeit zur Buße, zur Besserung gerufen hatte – es kam ihm wie eine Beleidigung vor, die man ihm persönlich angethan. Und doch! dieser Mensch gehörte ja hierher; die Herde war des Hirten werth; es war hier Alles aus einem Guß – war wie ein Bild, von Meisterhand in kecksten Umrissen und tollkühnen Farben hingeworfen: der trunken-nickende Pfaff in der Sophaecke hier, dort die wüsten weinglühenden Gesichter der Spieler, da die üppige Dirne, ab- und zugehend und den Zechern den Feuertrank reichend, ein verbuhltes Lächeln, ein schlüpfriges Wort mit Diesem wechselnd, die Hand Jenes, die sich um ihre Hüfte legen will, kokett wegdrückend – die wahre Göttin dieses Lastertempels! – und das Alles eingehüllt in den wogenden grauen Qualm, der aus den unaufhörlich brennenden Pfeifen aufsteigt und um die trüben Flammen der Kerzen in schmutzig rothen Ringen kreist; nur daß es kein Bild, nur daß es derbste, plumpste, gemeinste Wirklichkeit war! Und ach, der Schmach, daß sie unter diesem selben Dache lebte, daß der wüste Lärm bis in ihr stilles Zimmer schallte. – heute nicht zum ersten Mal! heule nicht zum letzten Mal! – Daß dies die Menschen waren, die hier aus- und eingingen, – diese hohlköpfigen Krautjunker, dieser rohe Emporkömmling mit seinen plumpen Händen und plumpen Späßen! Und wenn sie dieser Gesellschaft der Faunen und Satyrn entflohen, als Trösterin die Einsamkeit, die sie mit den kalten, harten, stechenden Schlangenaugen anstarrt! Da waren sie, diese Augen; sie hatten eben von der Karte herübergeblickt mit einem schnellen verstohlenen Blick! diese Augen und ihre – die weichen, sanften, zärtlichen Augen!
Und Gotthold sah nicht die Spieler mehr. Er sah sie sitzen in der öden Kinderstube neben den Spielsachen ihres Kindes – die rührende Gestalt, in ihrer schlanken Zartheit selbst noch so mädchenhaft. Er sah das trauernde Antlitz von rosiger Freude überstrahlt, sah es von Schrecken und Angst entstellt – er lebte die ganze Scene wieder durch, die ihm schon jetzt wie ein Traum erschien; und träumte weiter von einer Zukunft, die ja doch kommen müsse, einer Zukunft voll Sonnenschein und Liebe und Poesie. –
Er hätte nicht sagen können, wie lange er so gesessen, als ihn ein Lärm vom Spieltisch her jäh emporfahren ließ. Es schien etwas Besonderes vorgefallen zu sein; nur Hans Redebas und Brandow saßen noch, die Anderen standen mit neugierigen Gesichtern über den Tisch gebeugt, auch Rieke blickte zu, so eifrig, daß sie den Arm des Assessors, der sich um ihre Taille geschlungen, wegzustoßen vergaß.
„Hältst Du noch einmal?“ schrie Redebas.
[704] „Ja.“
„Noch einmal tausend? Es sind dann fünf!“
„Zum Kukuk, ja!“
Eine athemlose Stille folgte, in welcher Gotthold nur das Geräusch der Karten hörte, die Redebas abzog, und abermals Lärm und Geschrei, wie es ihn vorhin aus seinen Träumen geweckt, nur diesmal so laut, daß selbst der trunkene Pfaffe aus seiner Ecke auftaumelte. Gotthold trat an den Tisch. Sein erster Blick fiel in Brandow’s Gesicht, das ganz bleich war; aber die dünnen Lippen waren fest aufeinandergepreßt und in den harten, kalten Augen blitzte sogar ein unheimliches Lächeln auf, als er jetzt, gegen den Herzutretenden gewandt, rief:
„Sie haben mich schön gerupft, Gotthold; aber noch ist es nicht aller Tage Abend.“
„Aber dieses!“ rief Redebas, die Karten auf den Tisch legend und eine Notiz in seiner Brieftasche machend; „ich danke!“
„Was heißt das?“ fragte Brandow.
„Daß ich nicht mehr spielen will,“ erwiderte Redebas mit lautem Gelächter, die Brieftasche schließend und sich schwerfällig erhebend.
„Ich meinte immer, der Verlierer könne das Spiel aufheben, nicht der Gewinner.“
„Wenn der Gewinner seiner Sache nicht sicher ist, – o ja!“
„Ich erbitte mir eine Erklärung!“ rief Brandow, den Tisch auf die Seite stoßend.
„Aber Brandow! – sei doch vernünftig!“ riefen Otto und Gustav von Plüggen durcheinander.
„Seid Ihr wieder associirt?“ schleuderte ihnen Brandow mit Hohnlachen entgegen, und dann vor Redebas tretend: „ich erbitte mir eine Erklärung, auf der Stelle!“
Der Riese war einen Schritt zurückgewichen: „Oho,“ schrie er, „willst Du so, komm’ an!“
„Aber lieber Brandow!“ sagte der Assessor, beschwichtigend dazwischen tretend.
„Bitte, Herr Assessor,“ rief Brandow, ihn auf die Seite schiebend, „ich weiß, was ich zu thun habe.“
„Und ich weiß es auch!“ schrie Redebas, das Fenster aufreißend und dann mit seiner Löwenstimme über den stillen Hof: „Anspannen! August, anspannen!“ rufend.
Eine wüste Scene folgte, in der Alle so durcheinander rasten, daß Gotthold nur hier und da ein einzelnes Wort verstehen konnte. Am meisten tobte Hans Redebas, aber, wie es schien, ebenso aus Angst als aus Zorn, während Brandow verhältnißmäßig ruhig blieb und ganz offenbar beflissen war, den Assessor, welcher sich immer wieder hineinmischte, von den drei Andern zu sondern, zu denen sich nun auch der Pastor gesellte und durch alle möglichen Zeichen die Absicht an den Tag legte, eine Rede zu halten, es auch wirklich ein paar Mal bis zu dem Ansatz: „Meine vielgeliebten Freunde!“ brachte.
Die drei Wagen, welche die geduldigen Kutscher schon längst bereit gehalten haben mochten, waren vorgefahren. Der Streit hatte sich aus der Stube auf den Flur, vom Flur vor die Hausthür bis an den Schlag des Wagens fortgesponnen.
„Es wird sich finden, es wird sich finden!“ schrie Hans Redebas unaufhörlich; „sitzt Du, Pastor? dann in dreier Teufel Namen fort! – Es wird sich finden!“ brüllte er noch einmal aus dem Wagenfenster heraus, als die gewaltigen dänischen Pferde bereits, mächtig ausholend, davontrabten, der nördlichen Ausfahrt zu, von welcher der kürzere, bei der Dunkelheit allerdings kaum fahrbare Weg durch den Wald nach Dahlitz ging.
Inzwischen waren Otto und Gustav von Plüggen zuletzt noch unter einander in Streit gerathen. Gustav, der keine Laternen an seinem Wagen hatte, erklärte, über die Haide fahren zu müssen, während Otto, der Laternen hatte, Redebas folgen wollte. Gustav hatte sich heute bereits so lange mit seinem Senior vertragen, daß er diese Weigerung für eine grimmige Beleidigung nehmen zu müssen glaubte. Er habe keine Heubündel vor dem Kopfe, und wolle sich nicht im Walde an den Bäumen den Schädel einrennen. Dann möge er sich doch das Stroh anstecken, das er im Kopfe habe, und sich damit nach Hause leuchten, replicirte Otto.
So fuhren sie von dannen, der Eine hierhin, der Andere dorthin.
„Das ist dumm,“ sagte Brandow, dem Wagen Gustav von Plüggen’s nachschauend.
„Der Eine kommt hinüber, der Andere nicht,“ sagte Hinrich Scheel.
„Man weiß, daß Du der beste Fahrer bist.“
„Ein Unglück kann dem Besten passiren.“
„Du willst es also?“
„Es scheint, daß Sie nicht wollen.“
Brandow antwortete nicht gleich. Er hatte sich die Sache doch leichter gedacht; aber er brauchte ja nicht gleich den Hals zu brechen, blos Arm und Bein!
Er warf einen scheuen Blick durch das Fenster; das Licht fiel gerade voll in Gotthold’s ernstes, schönes Gesicht. Brandow knirschte mit den Zähnen. Nein! es war nicht genug! er mußte sein Leben haben; der verfluchte Schleicher hatte es nicht besser verdient; und wo war das Verbrechen? ein Unglück konnte dem Besten passiren!
Auf einmal fuhr er zusammen. Daran hatte er vorher nicht recht gedacht. Er hatte durch seinen Streit mit den Spielgenossen glücklich verhindert, daß die ganze Gesellschaft, wie schon oft, zur Nacht oder doch bis an den hellen Morgen blieb, und hatte so Gotthold den schicklichen Vorwand geraubt, ebenfalls zu bleiben, wenn er anders diese Absicht hatte – und davon war Brandow nach dem, was er vorhin belauscht, fest überzeugt. Er hatte auch, indem er den Assessor geflissentlich vom Streite fern hielt, es diesem unmöglich gemacht, mit den Andern zugleich aufzubrechen – an Einladungen hatte es nicht gefehlt, und so wäre ihm die Beute entwischt, da Gotthold ohne den Assessor nicht wohl hätte zurückbleiben können. Aber nun – welches Mittel, die Beiden zu trennen? Blieb der Assessor – und er schien nicht an Aufbruch zu denken – so blieb auch Gotthold, hatte Gotthold wenigstens den schicklichsten Vorwand zu bleiben; und zwang er den Assessor zu gehen –
Abermals streiften seine düstern Blicke die Beiden in dem Zimmer. Sie standen noch auf derselben Stelle – der Assessor unter lebhaften Gesticulationen auf Gotthold einsprechend; dieser, nach seiner Miene und Geberde zu schließen, nur unwillig zuhörend.
„Ich habe sie ja Beide hergefahren, so kann ich sie auch Beide zurückfahren,“ sagte Hinrich Scheel, die Asche in seiner Pfeife feststopfend.
Beide! der Eine, ja! aber was hatte ihm der Andere gethan? nichts! gar nichts! und daß er ihm heute die zehntausend Thaler abgenommen –
„Es ist nur schade um das schöne Geld, wenn uns ja im Moore ein Unglück passiren sollte,“ sagte Hinrich, die Pfeife ausklopfend; „ich will den Wagen immer zurecht machen, und die Vordermähren von Jochen Klüt nehmen, um unsere Blässen wäre es doch schade.“
Und Hinrich Scheel ging langsamen Schrittes davon. Brandow’s Blicke verfolgten die untersetzte schwarze Gestalt; er wollte ihn zurückrufen, wollte ihm zurufen, er sollte nicht anspannen; aber es kam nur ein seltsam heiserer, würgender Ton aus der Kehle; die Zunge klebte ihm am Gaumen; er taumelte, als er den Fuß hob, wie ein Betrunkener und mußte sich an den Stamm einer der alten Linden festhalten, durch deren dichtes Gezweig jetzt eben ein heftiger Windstoß sauste. Der Regen, der wieder zu fallen begann, schlug ihm in das Gesicht, das seltsam brannte, trotzdem es ihn vom Wirbel bis zur Zehe durchschauerte.
Da! was war das? das Geräusch des Wagens, den Hinrich aus dem Schuppen schob. Noch war es Zeit! aber er hatte ja nichts gesagt, gar nichts; was konnte er dafür, wenn dem Hinrich in der Nacht auf der Haide ein Unglück passirte!
Gotthold und der Assessor waren im Zimmer geblieben; der Assessor bemühte sich, Gotthold umständlich zu beweisen, daß Brandow entschieden in seinem Rechte gewesen sei, als er verlangte, daß weiter gespielt werde, aber er habe Unrecht daran gethan, seinen Wunsch in dieser peremptorischen Weise auszusprechen. Denn schließlich habe er doch nicht vergessen dürfen, daß er der Wirth war, und als solcher auch eine Tactlosigkeit seiner Gäste in den Kauf nehmen mußte.
Den letzten Theil seiner langen Rede hatte der Assessor im Ton der Belehrung schon halb gegen Brandow gerichtet, der eben in das Zimmer gekommen war und, zu dem Schenktisch tretend, ein paar Gläser hinuntergestürzt hatte.
[705]
[706] „Ich habe in der That heute viel dergleichen in den Kauf nehmen müssen, und ich bin Ihnen verbunden, Herr Assessor, daß Sie mich bis zum letzten Augenblick in Uebung erhalten.“
Der Ton, in welchem Brandow dies gesagt, und die Geberde, mit der er jetzt vor den Assessor trat, waren so auffallend, daß dieser bis zu einem gewissen Grade nüchtern wurde und mit weitaufgerissenen Augen Brandow anstarrte, der jetzt noch einen Schritt näher trat und mit leiser Stimme sagte:
„Oder wie nennen Sie es, wenn die Gäste in Gegenwart der Dienstboten das Benehmen des Herrn vom Hause einer so wenig schonungsvollen Kritik unterwerfen?“ und er deutete auf Rieke, unter deren Aufsicht eine andere Magd und der Groom Fritz die auf den Tischen herumstehenden Gläser abzuräumen und die auf der Erde umhergestreuten Scherben zusammenzukehren begannen.
Der Assessor richtete sich straff in die Höhe.
„Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte er, „und Sie hatten die Freundlichkeit gehabt, Herr Brandow, mir auch für die Rückfahrt Ihren Wagen zur Disposition zu stellen. Ich bedaure, daß ich von Ihren andern Gästen eine Gefälligkeit nicht angenommen habe, um die ich Sie jetzt ersuchen muß. Ich darf doch auf Ihre Gesellschaft rechnen, Gotthold?“
„Ich denke, daß Brandow nichts dagegen haben wird.“
„Ich bitte die Herren, ganz über mich verfügen zu wollen.“
Man verbeugte sich mit höflicher Kälte gegeneinander. Wenige Minuten später rollte derselbe leichte Holsteiner Wagen, der vor einigen Stunden die Beiden gebracht, über den holprigen Damm in die finstere, sausende Nacht hinein. Hinrich Scheel lenkte die Pferde.
Werfen wir einen Blick auf die wenigen Bücher, die wir im Besitze unserer minder gebildeten und weniger mit Glücksgütern gesegneten Mitbürger vorfinden, so ist es vor allen anderen ein Buch, welches wir fast in jedem Hause antreffen – und das ist die Bibel.
„Wo keine Bibel ist im Haus,
Da sieht es öd’ und traurig aus!“
Getreu diesem echt deutschen Spruche sehen wir sie in den Palästen und in den Häusern der Reichen in mehr oder weniger kostbaren Ausgaben, geschmückt mit Stahlstichen oder Holzschnitten auf dem Tische des Salons; wir finden sie aber ebenso, wenn auch in den bescheidensten Ausgaben, auf dem Eckbrette in der Stube des Bauern oder Tagelöhners. Daneben liegt das Gesangbuch, und seine abgerissenen Ecken und sein abgenutzter Einband verrathen uns bald, daß es schon manchen Gang zur Kirche mitgemacht hat und vielleicht schon vom Vater oder Großvater benutzt wurde. Sehen wir uns aber weiter in der Bibliothek um, so ist es zunächst der Kalender, der uns in die Augen fällt, auch er ist im Palast, wie in der Hütte allüberall zu finden, denn ein Jeder soll ja wissen, wie er in der Zeit lebt. Hiernach begegnet unser Blick dem unvermeidlichen Kochbuch, in welchem sich die geschäftige Hausfrau gern Raths erholt, wenn es gilt, dem lieben Mann eine Lieblingsspeise vorzusetzen, oder wenn es sich darum handelt, in die gewohnte Speisekarte einige Abwechslung zu bringen. – Mit jedem weiteren Buche, welches uns nun in die Augen fällt, wächst auch die Bildung des Bibliothekinhabers. Die wichtigste Rolle nach dem Kochbuche nimmt, bezeichnend für unseren Nationalcharakter, das Fremdwörterbuch ein. Leider können wir uns noch immer nicht daran gewöhnen, die zahllosen und ganz überflüssigen Fremdwörter, welche sich in unsere Sprache eingedrängt haben, zu verbannen, und deshalb spielt das Fremdwörterbuch bei uns eine Rolle, welche es bei anderen Nationen nie erlangen konnte. Ist nun der unvermeidliche Petri oder Heyse angeschagt, so ist das nächste Bedürfniß für Jeden, der nach Weiterbildung und Belehrung strebt, das Conversationslexikon, diese Encyklopädie des gesammten menschlichen Wissens, die ihm über alles Fremde, was bei der Lectüre oder bei der Unterhaltung vorkommt, Auskunft und Belehrung schaffen soll. Die Zahl dieser Conversationslexika ist eine ziemlich bedeutende und wir haben deren, bald von größerem, bald von kleinerem Umfange, bald von höherem, bald von geringerem Werthe, gegen dreißig zu verzeichnen, welche im Laufe dieses Jahrhunderts in Deutschland erschienen sind. Das verbreitetste von allen ist das Brockhaus’sche Conversationslexikon, welches uns in einer älteren oder neueren Ausgabe auf dem Büchertische oder in dem Bücherschrank sehr Vieler entgegentritt. Die neueste elfte Auflage desselben bildet eine stattliche Reihe von fünfzehn Bänden, die unendlich viel Wissen und Kenntnisse in ihren Spalten bergen und gewiß geeignet sind, unser Staunen hervorzurufen, wenn wir einen Blick auf ihren Ursprung, ihre Entstehung, überhaupt auf die Grundlage derselben werfen. Möge mir daher der geneigte Leser folgen, wenn ich es versuche, ein Bild von der Entstehung dieses weltbekannten Buches vor seinen Augen zu entrollen.
Es war etwa um das Jahr 1793, als Dr. Renatus Gotthelf Löbel in Leipzig mit der Idee umging, ein dem damaligen Umfange der Conversation angemessenes Wörterbuch zu schreiben. Wie er später in der Vorrede zu demselben selber sagt, „habe vor dreißig bis vierzig Jahren das Hübner’sche Zeitungs- und Conversationslexikon wohl hingereicht, das Bedürfniß nach politischer Kenntniß, die damals fast allein Gegenstand der Conversation gewesen, zu befriedigen. Jetzt aber, wo ein allgemeineres Streben nach Geistesbildung, wenigstens nach dem Schein derselben herrsche, genüge dies nicht mehr.“
Diesem Mangel abzuhelfen, war also die Aufgabe Löbel’s; daß dieselbe bei dem Fehlen aller Unterlagen und Vorarbeiten eine sehr bedeutende und die Kraft eines Mannes weit übersteigende war, bedarf wohl keiner näheren Beleuchtung. Unser Löbel empfand dies bald sehr lebhaft und sah sich deshalb nach einer tüchtigen Unterstützung, nach einem befähigten und auf seine Ideen eingehenden Manne um. Er fand denselben in dem Advocaten Christian Wilhelm Franke in Leipzig, welcher, unterstützt durch eine gründliche Bildung, Löbel’s Plan mit regem Eifer und großer Thätigkeit zu dem seinen machte. (Sein Familienname war Francke, er schrieb sich aber aus grammatischen Rücksichten stets Franke.)
Bei dem hierdurch herbeigeführten häufigen Umgange, beim Austausch ihrer Ideen und bei dem rastlosen gemeinschaftlichen Wirken fühlten beide Männer wohl bald heraus, daß ihr Unternehmen ein gesundes und eine große Zukunft in sich bergendes sei. Ob sie keinen Buchhändler fanden, der den Verlag des Conversationslexikons übernehmen wollte, oder ob sie nach einem solchen gar nicht suchten, weil sie die Früchte ihrer Arbeit möglichst selbst genießen wollten, bleibt dahingestellt. Thatsache ist, daß sie im Februar des Jahres 1796 selbst eine Buchhandlung gründeten und durch dieselbe für die Verbreitung des Werkes mit aller Kraft zu wirken suchten. Unbekannt aber mit den buchhändlerischen Geschäften und ganz mit ihren schriftstellerischen Arbeiten für das Conversationslexikon beschäftigt, waren sie genöthigt sich nach einem tüchtigen Geschäftsmann umzusehen, welchen sie in der Person des Friedrich August Leupold, der dem Vernehmen nach bis dahin in der Baumgärtner’schen Buchhandlung als Diener angestellt war, zu finden glaubten und dem sie die Führung des jungen Geschäfts übertrugen.
Interessant für die damaligen Verhältnisse ist es, einen Blick in den Contract zu werfen, der zwischen jenen drei Herren abgeschlossen wurde. Nach demselben – das vom Februar 1796 datirte Actenstück liegt dem Verfasser in der Urschrift vor – waren Löbel und Franke alleinige Besitzer der Buchhandlung; da sie jedoch „aus bewegenden Ursachen dieselbe vor der Hand noch nicht unter ihrem eigenen Namen aufzuführen gedachten“, so wurde besagter Leupold unter folgenden Bedingungen als Geschäftsführer angestellt. Derselbe erhielt zunächst einen Gehalt von hundertzwanzig Thalern jährlich, dabei unentgeltliche Wohnung in den aus einer Stube bestehenden Geschäftsräumen und außerdem für den Winter eine Klafter Holz (für etwa mehr zu verbrauchendes wurde nichts vergütet). Unter diesen nach unseren jetzigen Begriffen wenig verlockenden Bedingungen wurde also Leupold als [707] Geschäftsführer der neuen Buchhandlung eingeführt und diese selbst mit frischem Muthe im Gewandgäßchen Nr. 620 (jetzige Straßennummer 2) eröffnet. Der Miethzins für das Local betrug anfangs acht Thaler für das Vierteljahr, stieg aber, wahrscheinlich durch Vermehrung der Räumlichkeiten, bald auf vierzehn Thaler für drei Monate an; auch für eine gemüthliche Ausstattung der Stube wurde gesorgt, denn aus dem Ausgabebuch ersieht man, daß, wohl als einziges Inventarstück, eine Schreibcommode angeschafft und mit sechsundeinhalb Thaler bezahlt wurde.
Außer verschiedenen kleinen Verlagsunternehmungen des jungen Geschäfts war es natürlicher Weise das Conversationslexikon, welches seine hauptsächlichste Thätigkeit in Anspruch nahm. Der erste Baud desselben, welcher auf vierhundert Seiten die Buchstaben A bis E umfaßte, lief 1796 unter dem Titel „Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten“ glücklich vom Stapel. Das ganze Werk sollte aus vier Bänden bestehen und der Preis eines jeden derselben einen Thaler betragen. In wie viel Exemplaren das Buch gedruckt wurde, läßt sich aus den übriggebliebenen wenigen Actenstücken nicht genau ersehen; nach der noch vorhandenen Berechnung der Ausgaben für das Papier dazu wurden wahrscheinlich anfänglich tausend Exemplare gedruckt. Der Preis für das Papier betrug für den (aus fünftausend Bogen bestehenden) Ballen zehn Thaler; das Honorar für die Verfasser wurde auf vier Thaler für den Druckbogen festgestellt. Wahrlich ein trauriger Lohn für die mit unendlicher Mühe, mit großem Zeitverlust und vielem Wissen bearbeitete erste Zusammenstellung eines Werkes von solchem Umfang und von solcher Bedeutung! –
Das Geschäft war also nun im vollen Gange; über die Einnahmen, die es machte, schweigen unsere Actenstücke gänzlich, aber wohl gewähren sie uns einen Einblick in die Ausgaben. Aus denselben ersehen wir nun hinreichend, daß die Herren Besitzer von einer geregelten Geschäftsführung keine Idee hatten. Es waren beide Gelehrte, die sich um solche Dinge nie gekümmert hatten; wer Geld in der Tasche hatte, der bezahlte und befriedigte die Gläubiger, und so ist es bald Löbel, welcher Buchdrucker oder Papierhändler bezahlt, bald ist es Franke, welcher Autoren, Miethe und sonstige Schulden deckt. Nach Ablauf des Jahres machte jeder seine Rechnung und glich sich darnach mit dem Andern aus, wobei aber Beide die schlimme Erfahrung machten, daß die Ausgaben stets größer waren, als die Einnahmen. Daß es unter solchen Umständen großer Opfer bedurfte, das Werk fortzusetzen, ist hiernach sehr erklärlich; trotz aller Schwierigkeiten aber wurde 1797 der zweite und 1798 der dritte Band davon ausgegeben.
Wahrscheinlich durch Geldverlegenheit veranlaßt, hatte Löbel am 19. October 1797 seinen Antheil am Geschäft an den Advocaten Chr. Gottfr. Rothe in Lauchstädt für achthundert Thaler – und zwar ohne Vorwissen Franke’s verkauft; als nun Löbel zwei Jahre später im Februar starb, blieb seinem Geschäftsgenossen nichts anderes übrig, als jenen Antheil von Rothe zurückzukaufen und sich hierdurch in den alleinigen Besitz des Geschäftes zu setzen. Abgesehen von den mit schweren Sorgen gebrachten pecuniären Opfern lag nun die ganze Last der Fortführung des Conversationslexikons auf Franke’s Schultern; er hatte nicht nur die Fortsetzung desselben zu bearbeiten, was um so schwieriger war, als sich in Löbel’s Hinterlassenschaft fast gar keine Vorarbeiten fanden, sondern er hatte auch die für einen in solchen Dingen wenig erfahrenen Gelehrten doppelt drückenden Sorgen für den mercantilen Theil des Geschäftes zu tragen. Da nun außerdem die Einnahmen wahrscheinlich immer geringer wurden, so war Franke, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, darauf angewiesen, einen großen Theil seiner Zeit seiner Advocatur und einigen anderen übernommenen Aemtern zu widmen.
Berücksichtigt man ferner, daß er von Haus aus mittellos war und daß eine schwächliche Gesundheit seiner sonst so außerordentlichen Thätigkeit oft Grenzen setzte, so wird man es mehr als erklärlich finden, wenn er sich unter allen Umständen eines Theiles seiner Sorgen zu entledigen suchte. Er verkaufte deshalb seine Buchhandlung an den seitherigen Verwalter derselben, Leupold, für den Preis von 2150 Thaler, nachdem er nach seinen eigenen Worten „auf diese verunglückte Entreprise 3500 Thaler aufgewendet hatte“. Leupold war ebenfalls mittellos, denn der ganze Kaufpreis blieb gegen Verzinsung von fünf Procent auf dem Geschäfte stehen, und erst nach Verlauf von drei Jahren sollte er jährlich 400 Thaler auf seine Schuld abbezahlen. – Ob Leupold überhaupt nicht der rechte Mann war, ein solches Geschäft zu leiten, oder ob die damaligen politischen Verhältnisse zu ungünstig auf dasselbe einwirkten, bleibt unentschieden; genug, das Geschäft, welches jetzt in seinem alleinigen Besitze war, ging immer schlechter, und seine Klagen darüber wurden gegen Franke immer lauter. Dieser kam ihm freundlich entgegen und ermäßigte den Kaufpreis – seine letzte pecuniäre Stütze – freiwillig auf 1800 Thaler, wie aus einem Actenstücke vom 1. September 1801 hervorgeht.
Im Jahre 1800 war unterdessen der vierte Band des Conversationslexikons erschienen; derselbe hatte eigentlich das Werk zu Ende führen sollen, aber der Stoff wuchs unserm Franke unter den Händen so gewaltig an, daß dieser Band nur bis zum Buchstaben R reichte. Leupold’s geringe Geldmittel waren durch die Ausgaben für denselben wahrscheinlich gänzlich erschöpft, und bei dem langsamen Erscheinen des Werkes verringerte sich der Absatz immer mehr. Der Druck des Conversationslexikons gerieth mehr und mehr in’s Stocken, und über Leupold’s Thätigkeit und Wirken in den nächsten Jahren fehlt jeder Anhalt. Daß Franke mit ihm nicht mehr als nöthig zu thun haben wollte, scheint daraus hervorzugehen, daß er ein 1804 von ihm bearbeitetes Werkchen, „Dramatische Kleinigkeiten“, bei einem andern Verleger (Sommer) erscheinen ließ.
Um dieselbe Zeit wahrscheinlich verkaufte nun Leupold das Conversationslexikon, sowie seinen übrigen Verlag an J. K. Werther in Leipzig; wenigstens erschien in dessen Verlage im Jahre 1806 der fünfte Band jenes Werkes. Der Herausgeber entschuldigt sich in der Vorrede wegen der langen Verzögerung und spricht von höchst unangenehmen Hindernissen, die sich hauptsächlich dem Verleger entgegenstellten. Indem er ferner um Nachsicht bittet, daß der bei der ersten Entstehung des Werkes zu Grunde gelegte Plan in mancher Beziehung erweitert worden ist, fährt er wörtlich fort:
„Es würde überflüssig sein, hier viele Erläuterungen aufzuführen, nur Eine mag statt aller dienen. In dem Buchstaben B konnte damals, als der erste Theil unsers Lexikons erschien, noch keine Ahnung von dem Helden des Tages (Bonaparte) sein, der seitdem die ganze Welt in Erstaunen und – in banges Erwarten der Dinge, die noch kommen sollen, gesetzt hat. Und welche Veränderungen der Reiche und Staaten, welche neuen Verhältnisse in Rücksicht der Regenten und Regierungsverfassungen sind seitdem eingetreten! Alles das bedarf in den künftig zu liefernden Nachträgen Zusätze, Abänderungen etc.“
Das sind für die Verzögerung in der Herausgabe und für die Ausdehnung des Werkes gewiß Gründe, die stichhaltig sind und denen man seine Anerkennung wohl kaum versagen konnte. Obgleich nun Franke in seinem Vorworte die schleunige Fortsetzung und Beendigung des Conversationslexikons versprach, so stellten sich ihm doch neue Hindernisse entgegen. Dasselbe war nämlich abermals in andern Besitz übergegangen, und zwar hatte es Werther an J. G. Herzog in Leipzig verkauft, welcher nun den sechsten und letzten Band zum Druck beförderte. Derselbe erschien endlich im October 1808, und in einem kurze Vorworte, in welchem er seinem gedrückten Herzen Luft macht, nimmt der Herausgeber Franke von seinen „gütigen Lesern und Leserinnen, wenn auch nicht für immer,“ Abschied.
So sehen wir denn endlich, nach Verlauf von zwölf Jahren, das mühsame Werk vollendet. Mit welchen unendlichen Mühseligkeiten, Sorgen und Widerwärtigkeiten namentlich der letzte Herausgeber Franke zu kämpfen und welchen wahrhaft jämmerlichen Lohn er für die angestrengteste Arbeit, für allen Kummer und für so viele schlaflose Nächte hatte, geht aus der bisherigen Darstellung wohl zur Genüge hervor. Der öftere Wechsel der Verleger, dem das Conversationslexikon fast vom Anfange an unterworfen war und der der Verbreitung desselben unendlich schadete, blieb ihm aber bis zum Ende treu. Der auf dem sechsten Bande als Verleger genannte Herzog hatte denselben nämlich bei Friedrich Richter, dem Besitzer des „Leipziger Tageblatts“, drucken lassen. Wahrscheinlich war der Erstere mit der Zahlung in Rückstand geblieben und hatte dafür dem letzteren die sämmtlichen Vorräthe des Conversationslexikons als Pfand übergeben.
[708] Da kam im October 1808 Friedrich Arnold Brockhaus, welcher in Amsterdam eine Buchhandlung unter der Firma „Kunst- und Industrie-Comptoir“ besaß, zur Leipziger Messe. Seine Aufmerksamkeit wurde auf das Conversationslexikon gelenkt und mit richtigem Blicke erkannte derselbe sehr bald, daß dem ganzen Werke eine vortreffliche Idee zu Grunde lag und daß dasselbe bei richtiger Bearbeitung und bei einer umsichtigen geschäftlichen Ausbeutung der weitesten Verbreitung fähig sei. Nachdem es aus einer Hand in die andere übergegangen, war Richter, bei dem es zuletzt verblieb, wahrscheinlich froh, dasselbe los zu werden und sich dadurch für seine Forderung an Herzog zu decken; Brockhaus dagegen war zum Ankaufe schnell entschlossen, und so gingen denn, noch bevor der sechste Band ausgegeben und im Drucke vollständig beendet war, die gesammten, freilich wohl nicht bedeutenden Vorräthe des Werkes für die Summe von achtzehnhundert Thalern an denselben über.
Mit diesem Augenblicke beginnt nun für das Werk eine ganz neue ungeahnte Aera. Brockhaus läßt es schnell im Druck vollenden und veranstaltet sofort unter dem Titel „Conversationslexikon, oder kurzgefaßtes Handbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissenschaften und Künsten vorkommenden Gegenstände mit beständiger Rücksicht für die Ereignisse der älteren und neueren Zeit“ eine neue Ausgabe davon. Er bringt sehr bald (1809–1811) die im Vorworte zum fünften Bande versprochenen Nachträge, welche unser Franke bearbeitet und redigirt und wofür er für sich und seine Mitarbeiter ein Honorar von acht Thalern für den Bogen erhält; er geht überhaupt mit einer den bisherigen Verlegern ganz unbekannten Energie, mit Thatkraft und großem Verständniß an die Bekanntmachung und Verbreitung des Werkes, und – sein Wirken hat einen nicht vorausgesehenen Erfolg. So unvollkommen auch das Conversationslexikon in seiner ersten Auflage erschien, so bewies der Anklang, den es jetzt im Publicum fand, daß das Bedürfniß eines solchen Buches wirklich vorhanden war, denn schon im Jahre 1812 stellte sich die Nothwendigkeit einer zweiten Auflage heraus, und an die Spitze der Redaction trat Brockhaus selbst.
Ueber den weiteren großartigen Erfolg des Unternehmens zu berichten, geht über die Grenzen dieses Aufsatzes hinaus. Wer sich specieller dafür interessirt, der findet Ausführliches darüber in einem unlängst erschienenen, vom Verfasser dieses Aufsatzes auch mehrfach benutzten Werke über Friedrich Arnold Brockhaus. Dasselbe wurde zur Feier des hundertjährigen Geburtstages des Letzteren ausgegeben und in ihm setzt der Enkel (Heinrich Eduard Brockhaus) dem würdigen und allgemein geschätzten Großvater ein Denkmal der Liebe und Dankbarkeit. In dem vorstehenden kleinen Aufsatze versucht es der Sohn, seinem theuren Vater, dem Advocaten Christian Wilhelm Franke, ein Gleiches, wenn auch im bescheidensten Maße, zu thun. Franke war ein Ehrenmann im vollsten Sinne des Wortes; voll der liebenswürdigsten Eigenschaften, geistig befähigt und vielseitig gebildet, besaß er trotz einer sehr schwankenden Gesundheit eine unermüdliche Arbeitskraft und eine Ausdauer, wie sie nur Wenigen vergönnt ist. Vielfach von Mißgeschick und Unglücksschlägen verfolgt, war sein ganzes Leben der aufreibendsten Thätigkeit und Arbeit und der sorgsamsten Erziehung seiner Kinder gewidmet, bis ihn der Tod am 7. April 1831 den Seinen entriß.
Aus der bisherigen Schilderung geht wohl hinreichend hervor, daß Franke mit Recht zu den Gründern des Conversationslexikons zu rechnen ist, und wenn es, wie in der oben erwähnten Brockhaus’schen Schrift gesagt wird, bei buchhändlerischen Unternehmungen viel weniger auf die erste Idee, als auf die geschickte und praktische Ausführung derselben ankommt, so gilt dies wohl vorzugsweise von der geschäftlichen, von der pecuniären Seite der Sache und in dieser Auffassung trifft jenes Wort wohl nirgends so zu, wie in dem vorliegenden Falle. Das Conversationslexikon wurde, wie Brockhaus wörtlich fortfährt, zum Grundstein seines endlich fest begründeten Hauses und zum Mittelpunkt der umfassendsten Thätigkeit desselben; für unsern Franke war es ein Quell der unendlichsten Sorgen, die frühzeitig seine Gesundheit untergruben, ein Quell, der allein nicht hinreichte, um ihm und den Seinen den nothwendigen Lebensunterhalt zu gewähren. Wie sehr er übrigens mit der dem Conversationslexikon zu Grunde liegenden Idee verwachsen war, geht daraus hervor, daß er später, wahrscheinlich nach Abbruch seiner Verbindung mit Brockhaus, im Jahre 1813 ein neues „kleines Conversationslexikon oder Hülfswörterbuch für Diejenigen, welche über die beim Lesen sowohl, als in mündlicher Unterhaltung vorkommenden mannigfachen Gegenstände vorher unterrichtet sein wollen“, herausgab, welches in vier Bänden bei Gerhard Fleischer dem Jüngeren erschien. In der Vorrede dazu sagt er, daß er zu dessen Herausgabe wohl nicht unberufen erscheine, da er vom Anfange an von dem Herausgeber jenes (des Löbel’schen) Lexikons zur thätigsten Theilnahme gezogen wurde und später nach dem Tode Löbel’s die Herausgabe der letzten Theile, sowie der Supplementbände, allein übernahm. Eine zweite Auflage dieses kleineren Conversationslexikons erschien im Jahre 1829, eine dritte nach dem Tode des Verfassers 1834, eine vierte 1844 bis 1846. –
Ist es dem Verfasser gelungen, vor dem Auge seiner Leser ein treues Bild von dem Entstehen eines so bedeutenden Buches, wie es das Brockhaus’sche Conversationslexikon ist, zu entrollen, so bittet er sie, sich im Geiste noch einmal in die oben geschilderte Zeit zurückzuversetzen und dann einen Blick in die Gegenwart zu werfen. Vielleicht steht, lieber Leser, auf Deinem Schreibtisch die neueste oder eine neuere Auflage jenes Buches, welches seinen Weg durch die Welt fand, vor Dir. Dann denke beim Anblick derselben an die bescheidene Ausstattung der oben beschriebenen ersten Ausgabe, denke der unsäglichen Mühen derer, die sie schufen, versetze Dich mit mir in die erbärmliche, in einem engen und finsteren Gäßchen Leipzigs gelegene Geschäftsstube Leupold’s und begieb Dich dann in die großartigen Werkstätten und Räume des Hauses Brockhaus, in denen die vor Dir stehende Auflage geschaffen wurde, – in jene Räume, die wenigstens nicht zum kleinsten Theil ihre Entstehung und Erweiterung der mit Umsicht und Geschick ausgeführten Ausbeutung einer glücklichen Idee verdanken.
„Das Virtuosenthum schadet der wahren Kunst!“ ist eines der modernen Schlagworte. In gewissem Sinne ist das richtig. Die Einheit der Darstellung geht unter Mitwirkung berühmter Virtuosen fast immer in die Brüche. Solche gastirende Koryphäen legen sich den Dichter und sein Stück je nach Bedarf zurecht. Die Bedeutung der übrigen Rollen aber wird sehr gern, wenn irgend möglich, auf ein Minimum reducirt, damit nichts die Wirksamkeit der Leistung des betreffenden Souverains im Reiche der Kunst schwäche. Der Schauspieler, dem eine so zusammengestrichene und der besten Pointen beraubte Rolle zu Theil wird, geht mit Unlust an dieselbe, was man ihm nicht verargen kann. Wir können natürlich nicht Alle Matadore sein, aber es giebt, Gott sei Dank, außer den landläufigen Grüßen noch eine recht respectable Zahl wahrer Künstler im lieben Vaterlande, die jedenfalls bessere Repertoireschauspieler sind und nicht nur auf zehn bis zwölf Paradepferden reiten, wie unsere Ehrenpassagiere. Wer verrichtet aber gern Handlangerdienste, wenn er das Zeug in sich fühlt, einen Bau selbstständig leiten zu können?
In diesem Sinne, in dem Zerstückeln des Werkes und der Wirkung ist das obige Schlagwort richtig. Das Virtuosenthum ist aber in Etwas – und darin liegt seine Stärke – dennoch berechtigt, denn es wurzelt im Geiste der Zeit. Unsere ganze materielle und realistische Richtung begünstigt es und macht es lebensfähig. Hätte der große Ludwig Devrient zum Beispiel zur Zeit der Eisenbahnen und Dampferlinien gelebt, ich bin überzeugt, auch er würde einen ausgiebigen Gebrauch dieser großartigen Verkehrserleichterungen zu Gastspielzwecken gemacht haben. Das Publicum findet sich am zahlreichsten beim Auftreten berühmter Größen ein, und die Theorien der Leute vom Fach lassen dem Unternehmer die Casse leer. Grund genug, das Virtuosenthum fortwährend [709] neu erstarken zu lassen. Und dann, wenn man das Eine nicht will, muß man das Andere lassen!
Zu einem Nationaltheater im Sinne der Griechen bringen wir’s, trotz Richard Wagner, sicher nicht mehr; alle Grundbedingungen dazu fehlen. Man klagt über den Verfall des deutschen Theaters, man fühlt den Mangel einer Nationalbühne, und es war ein seltsames, ungeheuerliches Mittel, dem deutschen Theater dadurch aufhelfen zu wollen, daß man es als Gewerbe der freien Speculation preisgab. Ich will nicht gern den Satz unterschreiben: „Die Zukunft des deutschen Theaters, namentlich in Mittelstädten, ist das Café chantant!“ Aber es sieht schon jetzt beinahe so aus. Man kann für Alles, was Fortschritt heißt, sehr eingenommen sein, ohne doch die Weisheit der gesetzgeberischen Maßregel, welche das Theater ohne jeden Schutz der freien Speculation preisgab, fassen zu können. Wenn ihr das Theater systematisch ruinirt, so klagt nicht mehr über seinen Verfall und unterwerft die Auswüchse des kranken Stammes, zu denen auch das Virtuosenthum gehört, in aller Gemüthsruhe einer culturhistorischen Ocularinspection! Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über. Man verzeihe mir die kleine Abschweifung.
„Dawison kommt gastiren!“ Mit diesen Worten stürzte eines Tages der Theaterdiener in mein Zimmer. Dieser Theaterdiener, allgemein Fritze genannt, war ein Original. Ein wahres Perpetuum mobile, sah man ihn früh und spät auf den Straßen und auf der Bühne „umherflitzen“. Seine krummen Beine machten seine stete Eilfertigkeit nur noch komischer, und seine höchst liebenswürdige Unverschämtheit ward allseitig gern gelitten. Eine berechtigte Eigenthümlichkeit seiner werthen Person war es, Direction, Regie, Mitglieder und sich selbst in das stolze „Wir“ zusammenzufassen.
„Dawison kommt gastiren!“ rief also Fritze. Aber nicht so bald hatte er es gerufen, als er auch schon eine meiner guten Cigarren erblickt und a tempo annectirt hatte. Dieselbe mit Wohlbehagen in Brand setzend, fügte er hinzu:
„Wir sind sehr neugierig, was er ist und was er machen wird!“
„Gastirt er hier zum ersten Male?“ fragte ich.
„Oui. Wir sind, wie gesagt, sehr neugierig. Wir werden wieder ’ne Masse Scheererei haben. Kennen das, mit die Gäste. Uns können sie eigentlich gestohlen werden. Aerger und Arbeit – und wenn’s daran geht, das Abschiedsdouceur zu zahlen, sind sie fast alle die höheren Knicker. Voriges Jahr, die Seebach, denken Sie sich, sechsmal hat sie gespielt und dann einen Thaler Abschiedshonorar! Fauler Zauber mit die Gäste!“ Damit war Fritze schon wieder zur Thür hinaus.
Also „Dawison kommt gastiren!“ Ich war gespannt darauf. Ich hatte ihn vor drei Jahren gesehen, als ich noch nicht zu Thaliens Jüngern zählte, und war in jeder Weise begierig, mein Urtheil über ihn zu erweitern und festzustellen. Das Gastspiel so berühmter Großen ist für das Publicum und die Schauspieler immerhin ein gewisses Ereigniß. Ich fand mich eine Viertelstunde vor Beginn der Probe auf der Bühne ein. Es überraschte mich nicht, das ganze Personal mit einer gewissen Feierlichkeit in der Haltung bereits versammelt zu finden. Namentlich die Damen schienen den letzten „Bazar“ und die Toiletten-Chemie des Dr. Ruß zu ihrem Vortheile ganz besonders ernst studirt zu haben.
Der Erwartete kam pünktlich und die sauersüße Amtspflicht des Regisseurs, das „Vorstellen“ begann. Es ist wirklich lohnend einer solchen Ceremonie beizuwohnen, unwillkürlich wird man heiter gestimmt. Zwanzig, dreißig Menschen stehen im feierlichen Halbkreise. An der Seite des Regisseurs tritt der zu Folternde in die Oeffnung dieses Halbkreises.
„Herr Dawison!“ begann der Regisseur mit allem ihm zu Gebote stehenden heiligen Ernste.
Allgemeine Verbeugung – die Damen nach unten, die Herren vornüber.
„Herr Schulze!“
Verbeugung des Genannten und des Gastes.
Und so ging es zwanzig- bis dreißigmal, von Schulze zu Meier etc., fort. Man kann aber regelmäßig die Bemerkung machen, daß beim sechsten bis zehnten Namen schon die Verbeugungen des berühmten Opfers weniger kunstgerecht ausfallen. Ein allgemeines „Ah“ der Befriedigung ertönt, wenn die der Göttin Convenienz dargebrachte Huldigung vorüber ist. Gewöhnlich war sie von so gutem Erfolge, daß der Gast in der nächsten Minute schon um den Namen dessen bitten muß, der mit ihm die erste Scene spielt.
In rein äußerlicher Beziehung hatte die Persönlichkeit Dawison’s wohl nichts eigentlich Bedeutendes. Die mittelgroße Figur hatte an und für sich nichts Imponirendes, nichts den großen Tragöden Kennzeichnendes, und auch die Haltung des Körpers verhalf dazu nicht. Fremdartig berührte der eigenthümliche, nasale Ton der Sprechweise. Bei einer ersten Probe mit ihm zum großen Theile unbekannten Collegen hielt Dawison an sich und seine sonst so oft über die Stränge schlagende nervöse Reizbarkeit hatte noch kein Terrain. Der aufmerksame Beobachter aber sah es in seinem nur anscheinend ruhigen Auge zucken und blitzen und fühlte, daß er einen Organismus vor sich habe, dem es Bedürfniß war, sich ziemlich oft in elektrisch-magnetischen Gewittern zu entladen.
Dawison sollte zuerst als Franz von Moor in den Schiller’schen Räubern spielen. Mir war darin die Rolle des Hermann zugetheilt. Die Probe begann. Dawison konnte, wenn er wollte, hinreißend liebenswürdig sein und schien heute seinen guten Tag zu haben. Bekanntlich hat Hermann eine längere Scene mit Franz von Moor, die mit des Ersteren Worten schließt: „Das Geheimniß liegt im Papier und meine Erben brechen es auf.“
Eine auf Tradition beruhende Nüance ist es nun, daß Hermann, dem hinterlistigen Franz mißtrauend, langsam und rückwärts nach der mittlern Eingangsthür schreitet, seinen Gegner fest im Auge behaltend. Im Moment, wo er die Thür zu öffnen sucht, ergreift Franz blitzschnell ein Pistol und schlägt auf Hermann an. Dieser aber, der seinen Spiegelberg kennt, hat ebenfalls blitzschnell ein Pistol aus dem Wamms gerissen, und Beide stehen sich einen Augenblick im Anschlage gegenüber. Franz, der sich erkannt sieht, läßt nun sein Pistol sinken und winkt Hermann mit abgewandtem Gesicht, ihn zu verlassen. Wie gesagt, es ist das eine Traditionsnüance. Sie ist dankbar für beide Darsteller und giebt der Scene einen charakteristischen Abschluß. Aus diesem Grunde markirte ich sie auch in der Probe.
„Nein, nein!“ fuhr Dawison plötzlich los, „das geht nicht, das müssen Sie unterlassen!“
„Was muß ich unterlassen?“ fragte ich ruhig.
Sehen Sie, ich will Ihren Abgang so haben: Sie gehen langsam, aber nicht rückwärts zur Thür und gehen ruhig durch dieselbe ab. Sie bekümmern sich dabei gar nicht um mich, das Spiel mit dem Pistol habe ich allein.“
„Erlauben Sie mir darauf nur eine Bemerkung. Ein Charakter wie Hermann wird sicher nicht durch diesen sorglos ruhigen Abgang seinem Gegner die Gelegenheit bieten, ihn durch einen wohlgezielten Schuß hinterrücks wegzuputzen.“
Dawison’s Auge blitzte, sein Mund zuckte nervös.
„Sie haben wohl Lust, mir eine dramaturgische Vorlesung zu halten?“ höhnte er.
„Nichts weniger als das, aber –“
„Genug! Ich ersuche Sie, diese Nüance zu unterlassen. Sie stört mich. Ich wünsche es,“ fügte er etwas ruhiger hinzu.
„Ihrem Wunsche füge ich mich!“
Dieser kleine Wortwechsel hatte natürlich ringsum die größte Aufregung erzeugt. Der hohen Regie schien ihr wohlgepolsterter Stuhl zu einem Rost à la Peter Arbues geworden zu sein, so unruhige Actionen ließ sie auf demselben stattfinden. Aus jeder Coulissengasse beleuchteten staunende, hämische und neugierige Augen dies kurze Intermezzo.
Die Probe war zu Ende. Eine Anzahl Collegen vereinigte sich allmittäglich um die Table d’hôte unseres Theaterrestaurants. Mein Rencontre mit „Bogumil“ bildete hauptsächlich den Unterhaltungsstoff. Die Sache wurde in der verschiedensten Art erläutert. Mir war das unangenehm.
„Ich glaube, ich war im Recht,“ sagte ich.
„Gewiß,“ meinte unser Charakterspieler. „Aber wozu sich einer Demüthigung aussetzen, wenn man vorher wissen muß, daß Einem nur ein pater peccavi übrig bleibt.“
„Im Unrecht war Dawison jedenfalls,“ mischte sich ein anderer College in’s Gespräch; „er wünscht diesen saft- und kraftlosen Abgang des Hermann nur, damit Jener nicht Gelegenheit habe, besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder gar Beifall zu erringen.“
[710] „Das ist richtig. So machen’s alle großen Künstler.“
„Und wie ist in seinem Buch der Karl von Moor zusammengestrichen! Es ist schändlich,“ machte sich ferner unser erster Held mit seinem geliebten falschen Pathos in die Unterhaltung.
„Mir hätte es nicht passiren sollen. Ich würde die Nüance heute Abend doch bringen.“
„Dazu hat er ja die Courage nicht.“
Meine ohnehin nicht brillante Laune wurde durch diese Hetzerei noch verschlimmert, und ein Ausfluß dieser üblen Laune war es, als ich plötzlich rief: „Oho! Der Muth fehlt mir nicht. Ich bringe die Nüance heute Abend!“
Ein allgemeines „Bravo“ beglückwünschte meinen heroischen Entschluß.
Der Abend kam. Die Aufführung schritt vor, und bald fiel das Stichwort zur fragwürdigen Scene. Hinter den Coulissen herrschte eine gespannte Erwartung.
„– – – und meine Erben brechen es auf.“
Langsam und rückwärts schreite ich nach der Thür. Fest halte ich Franz im Auge. An der Thür angelangt, wende ich einen Moment das Auge ab, des Oeffnens wegen. Blitzschnell schlägt Dawison-Franz auf mich an – aber ebenso blitzschnell ist mein Pistol heraus, und Dawison, unvorbereitet nach der Uebereinkunft vom Morgen, zuckt um so überraschter in sich zusammen!
Die Nüance war brillant gelungen. Er winkt zum Abgehen. Kaum habe ich die Thür hinter mir, so erschallt donnernder Applaus. Derselbe ist so anhaltender Natur, daß ich zur Thür zurückkehre und – richtig, Dawison öffnet sie, herrscht mir zu: „Kommen Sie!“ und wir verbeugen uns vor dem hochgeehrten Publicum.
Als Dawison abgegangen war, kam er sofort funkelnden Auges auf mich zu. Alles fürchtete eine Scene. Ich blieb ruhig und ließ ihn dicht heran. Er sah mich an. Es arbeitete in ihm. Alles drängte sich um uns.
„Die Scene ging gut,“ sagte er plötzlich und wandte mir den Rücken.
Während des Abends sprach er kein Wort mehr mit mir. Am folgenden Morgen war er wieder bei bestem Humor und es wurde mit unserem Regisseur, der ihm von früherer Zeit bekannt war, ein Spaziergang nach einem eine Viertelstunde von der Stadt entfernten Vergnügungsorte verabredet. Herrliches Wetter begünstigte das Vorhaben, und Dawison würzte unser Flaniren durch seinen sprudelnden Witz.
„Sehen Sie,“ sprach er plötzlich zu mir, den er schon mehrmals wieder des Wortes gewürdigt hatte, „sehen Sie dort vor uns das reizende Kindermädchen und das Kind im Wagen?“
„Gewiß.“
„Bemerken Sie auch das Elternpaar, anscheinend der haute volée angehörig, welches dem Wagen folgt?“
„Ebenfalls.“
„Geben Sie Acht, meine Herren! jetzt werde ich Ihnen zeigen, wie man sich populär macht.“
Wir[WS 1] waren ziemlich in der Nähe des Wagens und der muthmaßlichen Eltern des darin befindlichen Kindes.
„Ach, meine Herren,“ begann Dawison uns voraneilend, „sehen Sie doch dieses reizende Kind! Welch bildschöner Knabe! Haben Sie je ein so liebes Kind gesehen?“
Und schnell hatte er, ehe das erstaunte Mädchen es hindern konnte, den kleinen Staatsbürger aus dem Wagen genommen und präsentirte ihn uns unter fortgesetzten enthusiastischen Exclamationen von allen Seiten.
Indessen waren die Eltern in ziemlicher Verwunderung nahe herangekommen.
„Ich täusche mich sicher nicht, Sie sind die Eltern dieses lieben Engels! Gewiß, ich täusche mich nicht! Von Ihnen“ – zum selbstgefällig lächelnden Vater – „hat der Knabe das Auge, von Ihnen, Madame, den Mund und das Kinn – o wie glücklich müssen Sie sein im Besitze eines so schönen Kindes!“ Da der Junge zu schreien begann, so übergab ihn Dawison mit wahrer Ammensorgfalt seiner Wärterin und wir trennten uns von der Familie nach einigen landläufigen Formeln.
„Sehen Sie, meine Herren,“ sagte Dawison, als wir eine Strecke entfernt waren, „so wird man populär! Morgen spricht die ganze Stadt vom Kinderfreunde Dawison!“
Dawison war ohne Frage ein großartig angelegtes Talent. Ein besonderer Reiz seiner Rollen lag in der nervösen Energie, mit welcher er dieselben verkörperte. Besonders ist mir aber eins an ihm aufgefallen. Ich habe ihn verschiedene Male gesehen, natürlich fast immer in denselben Rollen. Ich erstaunte darüber, wie wenig eigentlich Feststehendes Dawison brachte. Nicht blos in Kleinigkeiten, auch in großen Zügen änderte er fortwährend an seinen Repertoirepartieen. Gewiß ist sein Riesenfleiß, der ihn zwang, sich auch in dem beschränkten Rollenkreise, den ihm das Virtuosenthum aufgenöthigt hatte, noch schaffend und bessernd zu zeigen, der maßgebende Factor gewesen. – Daneben scheint es mir aber ziemlich gewiß zu sein, daß der Virtuose doch mehr und mehr den eigentlichen Künstler in ihm lahm legte. Die größeren Städte Deutschlands besuchte er sehr regelmäßig aller zwei, drei Jahre und führte – mit sehr wenigen Ausnahmen – fast immer dieselben Rollen vor. Um in diesen Gestalten nun wieder neu zu sein, mußte er ihnen neue Seiten abgewinnen. –
Ein eigentlicher Verstandesschauspieler à la Seydelmann war Dawison nicht, und trotz seines großen Fleißes möchte ich ihn, seiner ganzen Art nach, zu den sogenannten Inspirationsschauspielern zählen. Für die Inspiration war er das passendste Medium; der Reflexion hat er jedenfalls nie einen durchaus dominirenden Einfluß gestattet, denn wenn man ihm überhaupt einen Vorwurf zu machen hatte, so war es der: nicht überall Maß halten zu können! Ein Beispiel mag dies illustriren.
Im zweiten Acte des Gutzkow’schen „Königslieutenant“ tritt bekanntlich der junge Wolfgang Goethe in das Zimmer Thorane’s, macht seine ehrerbietige Verbeugung, nimmt ein Gemälde von der Wand und will sich nach einer abermaligen Verbeugung ruhig entfernen. Thorane, der dem Vorgange bis dahin ruhig zugesehen, ruft dem Sergeantmajor Mack zu: „Au voleur!“ was dieser mit „Halt den Dieb!“ übersetzt und Wolfgang am Hinausgehen verhindert. Hieraus und hierauf entspinnt sich die große Scene zwischen Thorane und Wolfgang.
Nimmt man nun an, daß Thorane ein hoher Vierziger ist, Wolfgang ein halbschüriger Junge von fünfzehn Jahren, der außerdem stets von einer Dame gespielt wird; nimmt man ferner an, daß Thorane nur im Quartier bei Rath Goethe liegt und daß er Cavalier und Aristokrat ist, dessen erste cavaliere und aristokratische Sorge es sein muß, sich seiner ruhigen Würde nur im Affect der höchsten Leidenschaft zu begeben; nimmt man ferner an, daß Thorane durch Mack weiß, er hat es mit dem Sohne seines Quartiergebers zu thun: so kann man logischer Weise die Worte „au voleur!“ nicht sehr schwer nehmen. Eine gewisse Verwunderung mag sich in ihnen aussprechen, in Flammen aber wird sich Thorane durch den geschilderten Vorgang sicher nicht setzen lassen.
Nun wird mir aber der Ausdruck der Wuth, mit dem Dawison dieses „au voleur!“ herausstieß, unvergeßlich bleiben. Die Wirkung war um so eclatanter, als die vorhergehende Scene sehr ruhig gehalten ist, und die nachfolgende, gefühlsselige mit Wolfgang ist es erst recht. Dieser einzelne Wuthausbruch steht also ganz unvermittelt da und ich habe vergebens nach Gründen dafür gesucht, wenn ich nicht den etwas pessimistischen gelten lassen will: dieser Wuthausbruch frappirt ungeheuer und das Publicum fühlt sich als Folge des Gegensatzes um so angenehmer von den weichen Gefühlsergießungen der folgenden Scene berührt.
Ich nenne den Grund pessimistisch, denn ich verehre Dawison zu hoch, als daß ich glauben könnte, er habe auf so wenig künstlerische Weise Effect gesucht. Oder waren so unvermittelte und widersinnige Nüancen schon Vorboten seiner entsetzlichen Krankheit?
Die letzte Rolle Dawison’s bei seinem diesmaligen Gastspiel war „Hamlet“. Das Stück beansprucht ein sehr starkes Personal, und die Herren der Oper wurden zu einzelnen Rollen herangezogen. Gewöhnlich ist das nun gar nicht nach dem Geschmack unserer Opernsänger, und nur ein gutes Spielhonorar versüßt die bittere Pille. So ging es auch unserem serieusen Baß. Dem war – Organ und Gestalt waren factisch hünenhaft – der Geist von Hamlet’s Vater aufgenöthigt worden, und unser Bassist hatte ihn mit einer gewissen Bärengemüthlichkeit entgegengenommen. Während der Probe entwickelte sich zwischen Dawison und dem ehrenwerthen Grundsänger folgender Dialog:
[711] „Ich bitte Herr Sch., nicht so, sondern so an mir vorüberzuschreiten, wobei ich diese Stellung nehme.“
Es versteht sich von selbst, daß erklärende Bewegungen seitens Dawison’s diese Rede unterstützten.
„Schön, Herr Dawison,“ dröhnte ehrerbietig der Vertreter des Contra-C.
„Also ich verlasse mich darauf.“
Der Vorhang hob sich, und unser tiefes „Doch“ hatte bei einigen Seideln Bier das gegebene Versprechen vollständig vergessen. Oder hatte er aus dem Lethe getrunken? Genug, er schreitet zu Dawison’s Entsetzen „ganz anders“ vorüber.
Nach dem ersten Act stürzt Dawison auf den Unglücklichen zu.
„Herr, schämen sollten Sie sich –“
„Wie so?“ haucht der Geist von Hamlet’s Vater.
„Sie – Sie – haben mir gar nicht gefallen!“
Drauf antwortetest Du, ehrwürdiger Sänger der Tiefen, mit trockener Ruhe, wie sie nur Eigenthum eines serieusen Basses sein kann:
„Ja, glauben Sie denn, Herr Dawison, Sie haben mir gefallen?“
Sprach’s und kehrte sich ab.
Wir aber weinten nicht dazu, sondern lachten unbändig über die trockene Ruhe des Schuldigen. Dawison selbst lachte herzlich mit uns.
Am andern Morgen reiste er ab. Er hatte dem obenerwähnten Fritze ein sehr anständiges Honorar überreichen lassen. Fritze versicherte daher:
„Er war ein sehr excentrischer Mensch, der Dawison, aber nobel war er auch gegen uns!“
Die Leser der Gartenlaube haben neulich die Spuren unserer großen Kaisergeschlechter des Mittelalters im Herzen des Vaterlandes selbst verfolgt, im freundlichen Thale der Unstrut wie auf dem bewaldeten Hügelrücken des Kyffhäusers; heute mögen sie uns über die Alpen begleiten in’s sonnige Welschland hinein, um auch dort einmal auf den historischen Spuren derselben gewaltigen Fürsten zu wandeln, ob es gleich vornehmlich wehmüthige Erinnerungen sind, die sich daran knüpfen; liegt doch auch für ein ganzes Volk so gut wie für den einzelnen Menschen ein eigener Reiz in der Betrachtung vergangener Leiden und überstandener Gefahren. Unsere Historiker und Politiker haben in der jüngsten Zeit lebhaft darüber gestritten, ob unsere Ottonen, Salier und Staufer weise oder unweise gehandelt, als sie sich so tief in die italienischen Verhältnisse einließen, als sie in immer wiederholten Römerzügen die tüchtigsten und streitbarsten Männer aus dem deutschen Adel und Volk erbitterten Kämpfen und einem aufreibenden Klima entgegenführten. Von nationaldeutschem Standpunkte aus wird man eine solche nach fernen, stets weiter hinauslockenden Zielen trachtende Politik ohne Zweifel beklagen müssen: wie manches dringendere Werk in der Heimath ward darüber versäumt, und wie bald war, was jenseits der Berge gewonnen schien, auch wieder zerronnen! Allein jenes alte Kaiserthum war nun einmal – im völligen Gegensatze gegen unser Kaiserthum von heute – eine wesentlich internationale Würde. Als der deutsche König Otto der Große sich in Rom die Krone des großen Karl vom Papste wieder aufsetzen ließ, da übernahm er zugleich die an dieser Krone haftende Pflicht, ein Schirmherr der abendländischen Christenheit überhaupt zu sein und überall mit der unverdorbenen Kraft seiner heimischen Nation Recht und Ordnung aufzurichten, zumeist, wo es dessen so sehr bedurfte, in dem tief zerrütteten Italien. Wie in modernen Tagen unsere deutschen Auswanderer nur scheinbar dem mütterlichen Boden verloren gehen, wie sie vielmehr weit über’m Ocean durch den Fleiß ihrer Hände und das Beispiel ihrer Gesittung dem deutschen Namen Ansehen und Ehre bereiten, deren Widerschein reichlich auf das Vaterland zurückstrahlt, so haben auch die Fürsten und Reisigen deutscher Nation, die im Mittelalter so oft ihre gefürchteten Waffen in das treulose Welschland getragen, eine Culturarbeit verrichtet, aller Welt zu Nutz und dem eigenen Volke zum Ruhme; es schändet sie wahrlich nicht, wenn sie selbst darüber zu Grunde gingen.
So liegen denn die Stätten der Erinnerung an deutsche Thaten und Leiden weithin zerstreut über das herrliche Land im Süden der völkerscheidenden Alpen. Schon wo sich die Pässe des Hochgebirges hinabsenken, muß man der lauernden Lombarden gedenken, die dem verhaßten Barbarossa umsonst den Weg zu versperren suchten; in der Poebene sodann, von wieviel Schlachten und Belagerungen aus der staufischen Zeit wissen nicht diese Felder, diese Städtemauern zu erzählen! Und so geht’s fort über die ewige Stadt hinweg bis in die schmale calabrische Halbinsel, wo Otto der Zweite von den Saracenen geschlagen ward, ja bis jenseits des sicilischen Sundes, wo im Dome zu Palermo die Sarkophage Heinrich’s des Sechsten und Friedrich’s des Zweiten an die höchste Macht und den tragischen Ausgang des schwäbischen Kaiserhauses gemahnen. Es war die Kirche, wie Jedermann weiß, welche diesen Ausgang verschuldet hat; ja beinahe alle Niederlagen der deutschen Waffen in Italien bedeuteten ebenso viele Siege desselben Papstthums, das unsere Kaiser erst aus der Verkommenheit emporgerissen hatten und das bald in unersättlicher Herrschsucht diese seine Retter selbst unter die eigene Botmäßigkeit zu bringen unternahm. Die entscheidendsten aber unter diesen Siegen des Papstthums wurden nicht auf dem Schlachtfelde draußen errungen, sondern auf der unblutigen, dafür jedoch oft desto thränenreicheren Wahlstatt des Geistes. Ich spreche in einem einzigen Namen den ganzen Leidensinhalt dieser weltgeschichtlichen Kämpfe aus, wenn ich den Leser bitte, sich heute mit mir auf die romantische Wanderung nach Canossa zu begeben.
Castell Canossa stellt gegenwärtig eine Burgruine dar, wie wir deren in Deutschland, besonders in den Rheinlanden, so überaus viele besitzen. Früher ein mächtiger Adelssitz, erging es dieser Feste seit dem zwölften Jahrhundert ganz, wie so vielen anderen damals. Unfähig, in den unaufhörlichen wilden Fehden sich durch sich selbst zu behaupten, trat das Vasallengeschlecht Canossa, das die Burg mit anderen Schlössern am Abhange des Apennin an sich gebracht, in die Bürgerschaft der damals bedeutenderen Stadt Reggio in der Emilia ein, und diese Bürgerschaft war’s, die im Jahre 1255, um den Besitzern das Räuberhandwerk gründlich zu legen, mit Heeresmacht vor die alte Bergfeste zog und sie mittelst ihrer Steinwurfmaschinen, der Artillerie jener Tage, so zertrümmerte, wie wir sie nunmehr erblicken. Hätte die Burg keine größere Vorgeschichte, so würde sich’s höchstens um der Schönheit ihrer landschaftlichen Lage willen lohnen, sie heute zu besuchen. Aber auch so wäre es kein vergeblicher Gang; in aller Kürze will ich die äußeren Eindrücke schildern, die ich davon an einem Julisonntage dieses Jahres empfing; hernach wenden wir uns zu den ernsten historischen Erinnerungen zurück.
In Reggio, zwischen Parma und Modena, verläßt man die Eisenbahn, welche fast ohne Abweichung die alte ämilische Römerstraße vom Po zum Adriameer entlang läuft, und fährt im leichten Wagen auf guter, aber staubiger Chaussee gerade auf das Gebirge zu. Zur Seite hat man den Telegraphen, denn es ist die alte, nun fast unbenutzte modenesische Poststraße, die über den Apennin nach Massa und Carrara führt. Rechts und links der herrliche Anbau der Poebene, zwischen Weizen- und Maisfeldern in unabsehbaren Reihen rebentragende Ulmen und Maulbeerbäume. Von Zeit zu Zeit ein freundliches Dorf mit stattlich prangender Kirche, dann, sobald der Boden hügelig ansteigt, Villen auf der Höhe, lustig hell zwischen den Weingärten oder den Gruppen düsterer Cypressen hervorschimmernd. Traurig nimmt sich nur der Crostolofluß aus, durch dessen Thal man in’s Gebirge eintritt; es geht ihm wie allen italienischen Bächen im Sommer: wo im Frühjahr das Bergwasser sich mächtig und bedrohlich hervorwälzte, bezeichnen jetzt nur hier und da gelbliche Lachen zwischen wüstem Kalkgeröll, daß man diese festen grauen Brücken nicht ganz ohne Zweck über das breite Steinbett hingewölbt hat. Und außer dem munteren Element des Wassers vermißt der deutsche Wanderer auch das erquickende Grün der Wälder an diesen schroffen Felswänden; höchstens niedriges Buschwerk klettert [712] daran umher, auch das aber eintönig überstäubt und von greller Sonne beschienen. Was sich im Thale selbst an einzelnen schönen Bäumen zeigt, verdankt der menschlichen Hand seine Entstehung, es sind vorzugsweise Fruchtbäume, Wallnuß und Kastanie.
Hat man sich im Dörfchen Pecorile, dessen Bewohner fast sämmtlich droben in der Kirche die Messe hören, in der einsamen Schenke mit Brod, Ziegenkäse und herbem Wein ein wenig gestärkt, so beginnt die heiße Fußwanderung abseiten der Straße. Bald öffnet sich hinter der Bergecke der Einblick in’s öde Thal des gänzlich verdunsteten Campolabaches, den Hintergrund schließt ein isolirter Felskegel ab, auf dessen Haupte man schon von fern die Ruinen der trotzigen Feste erkennt. Erst nach einstündiger Wanderung hat man den Fuß erreicht, zwanzig Minuten später auf Dreiviertel der Höhe eine Capelle, San Paolo geweiht, zwischen dürftigen Feldern, dann geht man auf ebenem Pfade rings um den Berg herum zwischen wildem Gebüsch, aus dem der kahle, zum Theil überhangende Kalkfels noch ein paar hundert Fuß kühn in die Luft ragt. An der südlichen Rückwand – es ist die Seite, welche der Künstler[WS 2] Friedrich Preller, der talentvolle Sohn des großen Landschafters, zu unserem Bilde gewählt hat – an dieser Rückwand führt im Zickzack der steinige Fußsteig bis zu dem alten Bogenthore links hinauf, das wahrscheinlich der innersten der drei Mauern angehörte, von denen die Ueberlieferung meldet. Daneben liegt ein uralter kreisrunder Schloßbrunnen, der noch heute aus seinem tiefen Felsenschachte die Labung eines kühlenden Trunkes zu schöpfen erlaubt. Man ersieht aus unserer Zeichnung, daß nach Süden, das heißt im Bilde nach vorn zu, der Schloßberg nicht gar so isolirt dasteht, wie nach allen übrigen Seiten; hier schließt sich ihm vielmehr ein schmaler Erdrücken an, der, auf beiden Flanken von jähen, nackten Felsschründen begrenzt, die Verbindung mit dem Hauptkörper des Gebirges vermittelt; wo dieser Erdrücken an den Burgfelsen anstößt, verdeckt er mit seiner Wölbung ein paar ländliche, baumumgebene Hütten, welche das sogenannte Dorf Canossa bilden. Sonst aber ist die Lage des Burgberges nach allen Richtungen hin frei und kühn; ernst und stolz zeichnet sich sein Profil in die Luft; dieser kecke Umriß der Form wie die Natur des Gesteins erinnern am meisten an die schroffen Kalkkegelberge unserer Rauhen Alp, an Hohenzollern, Achalm, Hohenstaufen.
Die Ruinen sind an sich unbedeutend: altes Gemäuer, an Festigkeit und verwitterter Farbe kaum vom natürlichen Felsen zu unterscheiden, Thurmwände mit kleinen Fensterscharten, schutterfüllte Keller, Alles jedoch in’s Freundliche übersetzt durch eine reiche Vegetation. Eine bunte Blumenwelt, namentlich Thymian von energischem Duft, hat sich am Boden angesiedelt, üppiger Epheu, wie am Heidelberger Schlosse, überkleidet weich und dicht die Pfosten und Mauern; sogar ein wilder Feigenbaum erhebt sich inmitten eines verwüsteten Gelasses, wie ein lebendiger Deckpfeiler steht er da, ausgreifend nach dem verschwundenen Gewölbe. Ueber Alles prächtig aber ist die weite Aussicht.
Nach Norden dehnt sich hinter den abfallenden Rändern des Gebirges unermeßlich die herrliche Tiefebene aus, in bläulichen Duft gehüllt, aus dem doch der Silberstreif des Po wie die Kuppeln und Thürme der geräumigen Stadt Parma deutlich hervorschimmern. Nach Süden die Hochwelt des innern Apennin, Ketten über Ketten, alle so scharf umrandet, wie es nur in dieser klaren Luft möglich ist; über bewachsenen Lehnen, aus tiefschattigen Steilgründen ragen die nackten Gipfel schroff und feierlich empor; von dem leichtgeballten Sommergewölk sticht noch deutlich hier und da ein blitzender Schneefleck ab, den selbst die Julisonne bisher nicht ganz hinwegzuthauen vermocht hat. So der Horizont, während die nähere Umgebung allenthalben die regelloseste Verwirrung eines meist öden, von steinigen Schluchten durchkreuzten Mittelgebirges zeigt; nur ein einziges breites Thal, das der Leser links im Mittel- und Hintergrunde unserer Zeichnung erblickt, führt in großem, stetigem Zuge in die Ebene hinaus, es ist das Thal der nun auch traurig versiechten Enza, in dessen Grunde ein paar graugelbe Steinhaufen die Stätte ansehnlicher Marktflecken und Dörfer bezeichnen.
Canossa kommt gleich, wo es zuerst genannt wird, mit der deutschen Geschichte in Berührung. Hier barg im Jahre 951 Atto, ein Lehnsmann des Bischofs von Reggio, die schöne Adelheid, Wittwe König Lothar’s von Italien, vor den begehrlichen Nachstellungen der Machthaber Berengar und Adalbert. Und eben die Hand Adelheid’s war es, durch welche Otto der Große die lombardische Krone empfing; es war der erste Schritt auf der weitführenden Bahn der italienischen Politik, den das mühsam geeinigte Deutschland that. Es ist ungewiß, ob jener Atto selbst Erbauer des Castells von Canossa gewesen; seine Nachkommen aber, die als Markgrafen von Tuscien zu immer höherer Bedeutung in Oberitalien emporstiegen, schmückten und pflegten gerade diese Burg mit Vorliebe. Ein ganzes Kloster ward in ihren Mauern gestiftet und mancherlei kirchlicher Schatz, nach der Sitte der Zeit, darin aufgehäuft. So überkam es die Erbin des Hauses, Mathilde, den Zeitgenossen bekannt als die „große Gräfin“, der Nachwelt als die treue Freundin Papst Gregor’s des Siebenten, des Gründers der päpstlichen Weltherrschaft. So ausgedehnt auch das Gebiet Mathilde’s war – es reichte von Corsica und Elba bis zu den Po-Mündungen[WS 3] quer über die Halbinsel –, in der Emilia scheint sie doch vorzugsweise gern geweilt zu haben; manche Stiftung, wie der einfach edle Dom zu Modena, erinnert dort noch heute an sie. Sie war eine gute Landesmutter; aber der Richtung des Zeitalters und dem frommen Zuge ihres Herzens gehorsam, gab sie sich mit all’ ihrem Dichten und Trachten begeistert der Förderung der hierarchischen Zwecke des kühnen Greises hin, der in reiner Absicht, aber mit leidenschaftlichem Eifer die Welt vom höchsten kaiserlichen Gebieter bis zum letzten Priester hinab unter das Gebot des römischen Bisthums zu beugen suchte, in dem schon er den göttlichen Willen auf Erden verkörpert sah.
Die tragische Scene nun, die sich vom 25. bis 27. Januar 1077 auf der Burg von Canossa zwischen Gregor und König Heinrich dem Vierten abgespielt, ist zu bekannt, als daß wir unseren Lesern noch einmal den unerhörten Vorgang in seinen Einzelnheiten schildern dürften. Nur wenige Worte über seine sittliche und politische Tragweite wird man uns gestatten. Als durch Italien die Kunde erscholl, daß der gebannte und abgesetzte deutsche Herrscher dennoch trotz aller Nachstellungen und des rauhen Winterwetters über die Alpen herbeikomme, meinte Niemand anders, als er käme zum letzten entscheidenden Kampfe. Eben deshalb öffnete Mathilde ihrem geistlichen Freunde die Zuflucht ihrer festesten Burg: in Canossa glaubten sie den ersten Ansturm der feindlichen Macht getrost überdauern zu können. Aber Heinrich kam als ein Büßender und Flehender; an jenem Thore, das noch heute zum schmerzlichen Andenken aufrecht steht, im beschneiten Hofraume unter freiem Winterhimmel stand der höchste Fürst der Christenheit drei Tage lang im härenen Hemde und betheuerte unter Thränen und Seufzen die Reue über seine Sünden und Vergehen. Eine äußere Demüthigung, wie sie irdische Macht und Herrlichkeit niemals so herb erlebt hat; und dennoch blieb in dem Kampfe, in dem man gerade begriffen war, der scheinbar so schmählich Unterliegende Sieger eben dadurch, daß er seine Würde für den Augenblick wegwarf. Denn Gregor hatte keinen Frieden gewollt und ward nun dennoch dazu gezwungen; darin zeigte sich die weltliche Schwäche seiner geistlichen Herrschaft: gegen die Buße hatte er keine Macht, dem reuigen Sünder mußte der Beichtiger vergeben.
So haben sie sich versöhnt; Mathilde, die Verwandte des Königs, vermittelte selbst den Frieden, der freilich nicht lange gehalten ward, denn kein Theil hatte ihn anders als aus Zwang geschlossen. In dem Kampfe zwischen Gregor und Heinrich blieben die Tage von Canossa eine flüchtige Episode, in’s Andenken der Menschen aber grub sich ihr Bild unvertilgbar ein. Man hatte sie einmal kennen gelernt, die Hierarchie in ihrer schrankenlosen Anmaßung; alle Jahrhunderte haben seitdem ihre Arbeit daran gesetzt, die Wiederkehr solcher Schauspiele zu verhüten, und der Staatsmann an der Spitze unseres neuen deutschen Reiches, das, auf anderen Grundlagen ruhend als das alte der Ottonen und Heinriche, ein nationales sein und bleiben will, aber eben darum auch ein völlig selbständiges und unabhängiges, konnte zur Bekräftigung dieses Willens kein besseres Schlagwort wählen, als indem er ausrief: „Nach Canossa gehen wir nicht!“
In Zürich wurde 1839 von der Priester- und Aristokratenpartei ein Putsch gemacht, der viele andere in demselben Sinne nach sich zog, wovon der schlimmste der in Luzern war. Denn dadurch wurden die Jesuiten Herren in diesem wichtigen Canton, dem dritten Vorort. Der Züricher Putsch ging angeblich gegen die Berufung des Doctor David Strauß zum Professor der Theologie nach Zürich; in Wahrheit aber gegen alle Reformen der liberalen Regierung und vornehmlich ihre Verbesserungen im Schulwesen. Damit hatten sie die Gläubigen und die Aristokraten erschreckt. Es war auch wirklich zu arg, die alten braven Lehrer, die aber nichts wußten, noch einmal zu examiniren und zu pensioniren. Man berief statt dieser Unterprediger aus der guten alten Zeit Zöglinge deutscher Lehrerseminare, die damals noch nicht semitisch angesteckt waren und weniger Bibelweisheit als wirkliche Wissenschaft lehrten.
Dies fanden die Prediger und die alten Stadtherren höchst gefährlich und machten ihren Putsch mit einer bethörten Masse, die nicht unterrichtet und aufgeklärt sein wollte. Die Putscher setzten darauf die Reactionärs oder Umkehrer in die Regierung und diese wollten nun zum Beispiel die Cantonschule, die halb fertig war, liegen lassen; das hintertrieb aber ein alter Millionär, der auch Regierungsrath geworden war, mit der Drohung: „Dann bu I sie allei!“ Natürlich hätten diese Regierungsräthe gern auch die alten Schullehrer in ihre altgewohnten Aemter wieder eingesetzt, aber die neuen Schulmeister setzten sich auf die Hinterbeine und drohten mit sammt ihren Gemeinden nach Zürich zu marschiren, wenn die Schulreform gestört würde. Das half. Umsonst stimmte die fromme Regierung vier Jahre lang auf der Tagsatzung mit den Jesuitencantonen. Bei der nächsten Wahl siegte die Schulpartei über die Kirchenpartei, und Zürich war wieder frei.
Und wieder folgten dem Züricher Vorgange kleine und diesmal liberale Aufstände, wie Raketen, die das große Feuerwerk von 1847, den Sonderbundskrieg, vorbereiteten. Die Genfer Revolution der kleinen Stadt gegen die große war die, welche den liberalen Cantonen die Mehrheit auf der Tagsatzung gab, und diese konnte nun beschließen, was die Mehrheit des Schweizervolkes längst gewollt hatte, die Auflösung des Sonderbundes, durch den die Jesuitencantone Luzern, Zug, Schwyz, Uri, Unterwalden, Wallis und Freiburg sich gegenseitig Schutz zusagten. Sie fürchteten nämlich ganz natürlich das Aufhören der künstlichen Herrschaft der kleinen Cantone über die großen, der Minderheit über die Mehrheit des Volks.
Die Auflösung des Sonderbundes hinderte das Zerreißen der Schweiz durch Oesterreich, Preußen und Frankreich und brachte die neue Verfassung und Vereinigung hervor. Dazu war aber erst der Sonderbundskrieg von 1847 nöthig, und noch am 22. Januar 1848 protestirten Oesterreich, Preußen und Frankreich gegen jede Aenderung der Schweizer Bundesverfassung. Sie wußten im Januar noch nicht, was im Februar und März ihnen selber begegnen und den Schweizern den freien Genuß ihres Sieges sichern sollte.
Ehe diese aufregenden Ereignisse eintraten, zur Zeit der liberalen Wahl, wohnte ich in Zürich dicht unter der nun fertigen Cantonschule, die mein ältester Sohn besuchte. In Genf im Ecu de Genève trafen ich und meine Frau zwei Freunde aus Paris, Victor Schölcher und den Herrn von Ribbentropp, mit denen wir eine Schweizerfahrt verabredet hatten.
Die Jesuiten waren damals natürlich der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit, sie hatten sich interessant gemacht, nachdem sie so viel Anläufen der Tagsatzung und sogar den Freischaarenzügen widerstanden. Schölcher fand sie daher eben so sehenswerth, als die Berge, und es wurde beschlossen, in Freiburg eigens zu verweilen, um ihnen einen Besuch abzustatten. „Das ganze reactionäre Europa nimmt für sie Partei,“ sagte er, „sie sind ein bedrohtes Außenwerk der großen Festung, die wir zu stürmen haben, es ist daher höchst wünschenswerth, so harmlos als Reisende ihr wichtigstes Rüsthaus zu besehen.“
„Ich weiß nicht,“ bemerkte der Herr von Ribbentropp, „ob es da nicht in der Ordnung ist, daß wir uns gleich als Protestanten zu erkennen geben, damit sie wissen, wie sie mit uns daran sind.“
„Wenn sie darnach fragen, sind wir allerdings gehalten, es zu sagen; wenn sie uns aber nicht fragen, so haben sie einfach Fremde vor sich, die sie schon zu behandeln wissen werden,“ erwiderte Schölcher.
„Auch muß ich gestehen,“ fuhr Ribbentropp fort, „daß ich die Freischaarenzüge gegen Luzern ganz ungerechtfertigt finde.“
„Und ich,“ erwiderte Schölcher, „finde die Gewaltherrschaft in Luzern, die eine größere Menge Bürger vertrieben hat, als verhältnißmäßig je eine andere ähnliche Regierung, ganz ungerechtfertigt.“
„Ich bin ein Gegner der Jesuiten,“ bemerkte der Herr von Ribbentropp, „aber was dem Einen recht ist, das ist dem Andern billig; die Freiheit und das Recht, welches wir für uns in Anspruch nehmen, müssen wir ihnen ebenfalls zugestehen.“
„Aber wollen denn die Jesuiten dieselbe Freiheit wie wir?“
„Ohne Zweifel! Sie wollen Preßfreiheit und Rechtsschutz.“
„So? also wollen sie wohl Gewissensfreiheit und machen sich nichts aus der Autorität der Kirche?“
„Gewissensfreiheit können sie freilich nicht wollen, da sie die Autorität der Kirche wieder herstellen wollen.“
„Die Autorität der Kirche über uns und alle Welt. Müssen sie also nicht die Inquisition und die Vertilgung der Ketzer wollen?“
„Allerdings!“
„Also nicht blos Gewissensfreiheit, auch die Verbreitung ihrer Ansichten durch Rede und Presse werden sie den Ketzern nicht zugestehen?“
„Den Ketzern – nein!“
„Gestehen sie also den Ketzern gleiches Recht mit sich zu, nämlich das Recht, ihre Meinung durch Gründe geltend zu machen?“
„Allerdings nicht!“
„Wozu verlangen also jetzt die Jesuiten gleiches Recht und gleiche Freiheit mit uns?“
„Um ihre Ansicht geltend zu machen.“
„Und die war, wie Sie selbst zugestanden haben, daß unsre Ansicht verbrecherisch sei und ausgerottet werden müsse durch die Inquisition; sie wollen also nur die Freiheit und das Recht, um alle Freiheit und sogar das Recht der Gewissensfreiheit zu unterdrücken; sie wollen die Preßfreiheit nur, um sie abzuschaffen.“
„Das scheint so.“
„Und dazu wollen Sie ihnen jetzt die Mittel gewähren, und eine Verbindung, welche den Zweck hat, alle Freiheit, das heißt den ganzen gegenwärtigen gesetzlichen Zustand aufzuheben, wollen Sie bestehen lassen?“
„Ich habe schon gesagt, daß ich ein Gegner der Jesuiten bin, aber auf gesetzlichem Wege.“
„Der gesetzliche Weg wird sein, daß man die Auflösung einer solchen ungesetzlichen Verbindung beschließt und ihre Mitglieder zur Rechenschaft zieht.“
„Mag doch die Tagsatzung das beschließen.“
„Die Zeit wird allerdings kommen,“ sagte Schölcher, „denn ich habe schon ein Vögelchen singen hören, das protestantische Genf werde nicht immer mit den Jesuiten stimmen können. Man wird im Nothfall Gewalt brauchen, um solchem Verrath ein Ziel zu setzen.“
Ich habe dieser Unterredung mit Vergnügen zugehört und mich ihrer oft wieder erinnert, denn grade jetzt ist ja dieselbe Frage an uns und das Reich herangetreten. –
Mit einiger Besorgniß verließen wir Genf, von dem so viel, ja Alles abhing, diese älteste freie Stadt Europas, die von der prächtigen blauen Rhône in zwei ungleiche Theile getheilt wird, von denen, wie gesagt, der kleinere Theil der freigesinnte, der größere, auf dem linken Ufer, der aristokratische war, der auf der Tagsatzung seinen Vertreter immer mit den Jesuiten hatte stimmen lassen. Wir konnten es uns nicht verhehlen, daß es hier noch eine harte Nuß zu knacken gab, ehe noch irgend [715] etwas von der Tagsatzung zu hoffen war. Die Millionärs und die Pfaffen der großen Stadt hatten die Söldner und ihre Kanonen immer in Bereitschaft; „wenn das Volk es wagen sollte, sich zu rühren, so wollte man Klein-Genf eher mit glühenden Kugeln in Brand schießen, als nachgeben.“ Nun, glücklicher Weise steht die herrliche Stadt noch unverletzt und die glühenden Kugeln sind nur in der Phantasie geheizt worden.
Wir fuhren mit dem Dampfer nach Lausanne, das seine Revolution schon gemacht hatte, und hatten uns mit einer Empfehlung von Galère versehen, einem Freunde Fazy’s, an den Tagsatzungsgesandten des Waadtlandes, der an der Spitze der seit 1845 siegreichen freien Partei stand. Als wir ankamen, war er schon nach Zürich abgereist, wo wir ihn dann trafen, und wo ich mich mit ihm und Schölcher über den Staatszweck, den sie mir zu antik, zu ungünstig für den einzelnen Bürger auffaßten, nicht vereinigen konnte.
Schölcher und er nahmen ganz kühl mein Beispiel an, „der Einzelne werde also nach ihnen wie ein Schuh von seinem Träger aufgebraucht, und es sei Patriotismus, sich darein zu ergeben.“
„Allerdings! das freie Gemeinwesen ist der Zweck, und seiner Verwirklichung hat sich der einzelne Staatsbürger zu opfern,“ erwiderten sie; „dies drückt die Grabschrift der dreihundert Spartaner, die nach Herodot bei den Thermopylen zu lesen war, vortrefflich aus:
‚Wand’rer, bringe dem Volk der Spartaner die Botschaft, wir liegen
Hier begraben, getreu seinem Gesetz und Gebot.‘“
„Der Krieg,“ erwiderte ich, „ist ein Nothstand. Er kann ein solches Opfer fordern; aber der freie Staat ist kein Nothstand und der Bürger kein todter Schuh, den er aufträgt; des Einzelnen Freiheit und sein Wohl ist ebenso gut Zweck des Gemeinwesens, als das Gemeinwesen und dessen Freiheit und ehrenvolle Existenz Zweck des einzelnen Bürgers ist.“
Der Lausanner Gesandte und Victor Schölcher gaben das nicht zu. Kriegszustand sei immer.
„So haben wir in Lausanne eben erst gesiegt,“ sagte der Lausanner, „und warum? nur um den Krieg gegen die Jesuiten mit Nachdruck führen zu können. Und wohin würden wir wohl kommen, wenn nicht jeder Einzelne sich diesem großen Zwecke ganz hingeben und, wo es sein muß, sich dafür opfern wollte?“
„Sie wollen den Krieg abschaffen,“ fiel Schölcher gegen mich gewendet ein, „darauf kenn’ ich Sie. Der Krieg ist ja aber gerade die Probe auf den Frieden, wie sich denn auch die gefallenen Spartaner auf das Gesetz und Gebot der Republik berufen. An ihnen sah man, daß es mit dem Staate Sparta Ernst war, so wurde seine Idee realisirt.“
Und es half mir nichts, daß ich ihnen zeigte, dies käme auf Eins heraus mit dem Grundsatze der Jesuiten, der Einzelne sei willenlos in der Hand seiner Oberen; so werde der Staat zu einer Armee und die Disciplin trete an die Stelle der Freiheit. Sie behaupteten, es käme auf den Inhalt des Ganzen an, und wenn die Jesuiten die Freiheit zum Zwecke hätten, so hätten sie ebenso gut Recht als eine republikanische Armee.
Die Freiheit hat doch sicherlich der Staat nicht zum Zwecke, der alle Bürger unter militärischen Befehl stellt. Das kann nur im Nothstande des Krieges, nicht im normalen Zustande des Friedens erlaubt sein. Aber ich galt meinen beiden politischen Berühmtheiten damit für einen unpraktischen Traumwandler, der die wahre Republik und ihre Tugend, den aufopfernden Patriotismus, nicht wolle.
Da wir in Lausanne unsern geselligen Zweck verfehlt hatten, so hielten wir uns an die Natur und stiegen so hoch am Ufer des Sees hinauf, bis wir das ehrwürdige runde Schneehaupt des Montblanc über die gegenüberliegenden Vorberge auftauchen sahen.
Es war der einzige Tag, wo unser Freund Schölcher die leuchtenden Hochalpen erblicken sollte; all’ die übrige Zeit der Reise lagen sie im Regen und Nebelschleier. Er bemerkte aber auf mein Bedauern ganz vergnügt, diese grünen Berge gefielen ihm ebenso gut als die weißen, wenn nicht gar besser, die grünen seien das Lebendige, die weißen das Todte.
Diese Todten sind die Lebensspender.
Bis Freiburg, wo wir uns an den vielbesprochenen mysteriösen Jesuiten erholen wollten, verloren wir freilich nicht viel durch den Regen.
Die berühmte Jesuitenschule ist ein wahrer Palast und hat eine dominirende Lage. Welche Mittel mußten der Gesellschaft zu Gebote stehen, um diese prächtige Anstalt gegründet zu haben, und wie entschieden bezeichnen sie mit einer solchen großartigen Leistung den Hauptzielpunkt ihres Systems, die Erziehung!
Bei dem Pförtner gaben wir uns als Reisende zu erkennen, die um die Erlaubniß bäten, die berühmte Anstalt besehen zu dürfen. Dies hatte nicht das geringste Bedenken, man fragte nicht einmal nach unseren Namen oder Karten; ein Blick auf unsere Haltung genügte.
Wir traten in ein Empfangszimmer, das einen Balcon auf den Hof hatte. Während wir hier warteten, sahen wir eine Gruppe von schwarzen Männern in lebhafter Unterhaltung vor uns, auf die der Pförtner zuging, um unser Gesuch vorzubringen.
Wir interessirten uns für einen hervorstechenden Kopf in der Gruppe mit Adlernase und schwarzen Haaren; denn gerade so hatten wir uns die Herren immer gedacht und wünschten, daß Dieser sich herbeilassen würde, uns herumzuführen. Das that er aber nicht, sondern sandte uns einen Andern aus der Gruppe der Väter, der einen leichten „Verdruß“ hatte, aber darum nicht minder schlau dreinschaute und den man leicht für einen Juden hätte ansehen können.
Wir kamen überein, daß wir uns der Opposition möglichst zu enthalten und vielmehr Belehrung entgegenzunehmen hätten. Denn eine Discussion sei ja nur auf gleichem Boden möglich.
Zu unserer nicht geringen Ueberraschung begann der ehrwürdige Herr nach einer freundlichen Begrüßung sogleich mit der Unterbreitung dieses gemeinschaftlichen Bodens. Er freute sich, daß er uns mit der Einrichtung und den Vorzügen der Anstalt bekannt machen könne; vielleicht hätten wir Gelegenheit, in Paris und Zürich empfehlend von ihr zu reden – wir hatten ihm sagen lassen, daß wir daher kämen – die Anstalt sei zur Verbreitung des Christenthumes gegründet worden, eine innere Mission, und wolle den Vorurtheilen, die seit Jahrhunderten gegen das Christenthum aufgetaucht wären, durch systematische Erziehung im wahren Glauben begegnen. „Sie sehen diese reiche Büchersammlung. Wir haben sie sorgfältig der Aufgabe unserer Anstalt angepaßt, und es schien uns weniger wünschenswerth, die Irrthümer hervorzuheben, als sie bei Seite zu lassen, damit die Wahrheit zu allererst das ganze Gemüth erfülle und Jedem selbst die Waffe gegen den Irrthum in die Hand gebe. Der Schüler findet daher in dieser Büchersammlung überall die reine ungetrübte Quelle.“
„Sie lassen doch nicht Jeden sich hier selbst unterrichten?“
„O nein, nur die, welche die Classen durchgemacht haben und sich dann noch weiter entweder für die Welt oder für den Orden vorbereiten wollen. Hier ist das Cabinet eines solchen jungen Mannes.“
Er öffnete uns die Thür, und wir sahen einen Hoffnungsvollen an seinem Arbeitstische. Er nahm nicht die geringste Notiz von uns und gab uns nicht einmal Gelegenheit, ihm unsere Verbeugung zu machen. Es war ein hübscher, schlanker, schwarzäugiger junger Mann.
Der Pater erzählte uns von ihm, von seinen Studien, seiner Familie, seinen Aussichten, als nähmen wir das entschiedenste Interesse daran; denn was in der Welt konnten wir Besseres wünschen, als die Ausbreitung des wahren Christenthums in dieser gottlosen Welt?
Darauf schloß er die Thür des Cabinets, die seinen Eleven wieder ganz seiner ungestörten Andacht übergab; denn allerdings war er uns mehr als ein Betender erschienen.
„Hat jeder Eleve sein eigenes Studirzimmer?“
„Nur die Vorgerücktesten, die eigene Studien unternehmen,“ erwiderte er; „die Uebrigen arbeiten unter Aufsicht und Anleitung.“
Er führte uns durch die Schlafsäle, die eigenthümlich eingerichtet waren. Jeder war mit seinem Bette durch ein hohes Drahtgeflecht von dem Bette des Nachbarn abgesperrt, so daß er zugleich in Gesellschaft und doch für sich war. Den eigentlichen Zweck dieser Einrichtung erfuhren wir nicht. Unser Führer setzte voraus, wir wüßten ihn, und wir getrauten uns nicht, unsere Unwissenheit zu bekennen. Nur die Geräumigkeit und Luftigkeit der Schlafsäle ließ er uns anerkennen.
Da die ganze Gesellschaft, unter die sich diese Schlafsäle vertheilten, auf einer Ausflucht in die Umgegend begriffen war, so entging uns der Anblick des ganzen Erziehungsmaterials der Schüler und wir hatten noch von Glück zu sagen, daß der Eine
[716] Löwe in seinem Käfig und die Hauptaufseher der Anstalt auf dem Hofe uns zu Gesicht gekommen waren.
Ich ließ mich mit unserm Führer über griechische und lateinische Schulbücher der damaligen Zeit in ein Gespräch ein und fand, daß ihm unsere deutschen auch dem Namen nach unbekannt waren. Als ich die Lexika und Grammatiken zu sehen wünschte, die sie brauchten – denn dies hielt ich natürlich für neutralen Boden – wich er aus, und ich erfuhr nicht einmal die Titel und die Namen der Verfasser. Das lebhafte Gespräch mit meinen Begleitern, in welchem er ihnen erzählte, welche vornehme Leute aus allen katholischen Ländern ihnen ihre Kinder anvertraut, war es, worin meine Fragen untergingen.
So erreichten wir mehr erbaut, als unterrichtet unser Empfangszimmer wieder; und hier lag das große Buch aufgeschlagen, in das er uns bat, unsere Namen einzutragen. Glücklicher Weise waren sie ihm ebenso unbekannt, als die deutschen Lexikographen und Grammatiker. Als wir wieder unter uns waren, sagte Schölcher: „Nun wahrlich, die haben uns gerade so weit in die Karten sehen lassen, als es ihnen bequem war, weiter aber auch nicht. Schade, daß die Zöglinge nicht zu Hause waren!“
„Wenn man ihnen einmal zugiebt, daß sie das wahre Christenthum haben, so haben sie gewonnenes Spiel,“ bemerkte der Herr von Ribbentropp, „man müßte denn das wahre Christenthum angreifen wollen.“
Auf dieser Reise kam ich kurz vor Luzern im Coupé der Post neben einen vierschrötigen Zuger zu sitzen. „Es wird bald Krieg geben,“ sagte er, „aber wir haben diese elenden Ketzer noch immer geschlagen, wir Urcantönler, wir werden sie auch diesmal zusammenhauen.“
Der alte General Dufour hat sie freilich eines Besseren belehrt, und als Guizot’s Gesandter in’s Wallis kam, um dem Sonderbunde das Herz zu stärken, konnte er die Regierung nicht finden. Wie Siegward Müller von Luzern und die dortigen Jesuiten, so hatte sich auch die Walliser Regierung vor der eidgenössischen gleich einem Nebelstreif verzogen.
Die glänzende Erziehungsanstalt von Freiburg wurde geschlossen; die Jesuiten wurden vertrieben. Die freie Erziehung hatte über die Jesuitenerziehung gesiegt, und der Sonderbundskrieg bildete den Schluß all der kleinen Putsche für und wider die Freiheit, die ihm voraufgegangen waren.
Jugenderinnerungen eines deutschen Schriftstellers. Ein fremder und doch wohlthuender Hauch weht uns aus einem Büchlein an, das unser beliebter Mitarbeiter, der geistreiche Humorist und Sittenschilderer Ludwig Kalisch in Paris, soeben unter dem Titel „Aus meiner Knabenzeit“ veröffentlicht hat. Das Büchlein erzählt uns nichts aus dem Treiben und Ringen der Gegenwart, nichts von den strahlenden und brausenden Mittelpunkten des modernen Lebens, auf welche Kalisch sonst die Aufmerksamkeit seiner Leser so fesselnd zu lenken weiß. Fernab von den großen Cultur- und Touristenstraßen und über die letzten fünf Jahrzehnte unserer bewegungs- und veränderungsreichen Epoche hinweg, führt es uns in die glanzlose Abgeschiedenheit eines entlegenen preußisch-polnischen Städtchens und mitten unter die eigenthümlich fremdartigen Gestalten und Verhältnisse seiner eben so zahlreichen als orthodoxen – Judengemeinde. In dieser Gemeinde ist der Verfasser geboren worden, hier hat er seine ersten Seeleneindrücke empfangen und bis zu einer gewissen Reife seine Knabenzeit verlebt.
Polnische Judengemeinden vor beinahe sechszig Jahren! Noch heute, wo das verjüngende Culturlicht durch tausend Risse und Lücken in die sprödesten Winkel dringt, mögen diese Gemeinden in der Provinz Posen nicht Stätten der eleganten Sitte und eines feineren Geschmackes sein. Wo aber ist der moderne Weltmann und Civilisationsmensch, den nicht ein unheimliches Grauen überrieselt, wenn seine Phantasie sich vormalt, was er hier und da einmal von den früheren Gewohnheiten und Zuständen jener geknechteten Paria-Genossenschaften gehört oder gelesen hat? Und doch zeigt sich uns hier eine merkwürdige und nicht genug beachtete Thatsache. Die Geschichte unseres Jahrhunderts hat nämlich eine ganze Reihe von geistig und sittlich hervorragenden Männern aufzuweisen, die gerade aus der abgeschlossenen Welt solcher Judengemeinden hervorgegangen sind.
Wir nennen hier beispielsweise aus dem Orte Polnisch-Lissa, dem auch Kalisch entsprossen ist, und zwar ungefähr aus dem Zeitraum, welchen er uns schildert, den erst kürzlich dahingeschiedenen Königsberger Arzt Dr. Kosch, den langjährigen und so allseitig verehrten demokratischen Landtagsabgeordneten. Wir nennen ferner den gleichfalls in Lissa geborenen und leider schon vor Jahren verstorbenen Berliner Arzt Dr. Abarbanell, den Wiederhersteller und Führer des großen Berliner Handwerkervereins, welchem von diesem Verein noch alljährlich an seinem Todestage eine besondere Erinnerungsfeier gewidmet wird. Solche Persönlichkeiten, wie arbeitsvoll sie auch später an sich gebildet haben mögen, machen und schaffen sich doch nicht allein aus sich selber. Mag der geistige und sittliche Boden, auf dem sie gewachsen sind, uns als ein öder und dürftiger erscheinen, er muß dennoch erwärmende Einflüsse geübt und fruchtbare Stellen besessen haben, die edlen Charakterkeime zu pflegen und den Sinn über das Gemeine zu richten.
Und so war es auch, man muß nur die Binde des Vorurtheils und der anerzogenen Abneigung von den Augen nehmen, um gegen solche gesellschaftlich uns doch naheliegende Erscheinungen nicht ungerecht zu sein. Auch in der Christenheit hatte ja bekanntlich das Mittelalter sammt den darauffolgenden Zeiten nicht lauter reine und liebliche Früchte gezeitigt. Zerzaust aber und athemlos, in verwilderter und verknöcherter Aeußerlichkeit war das zerstreute jüdische Element aus den wüsten Verfolgungen und Mißhandlungen finsterer Jahrhunderte hervorgegangen. So stand es herabgedrückt, betroffen und verschüchtert da, als es vor kaum sechszig Jahren endlich sein Joch erleichtert und sich von dem hellen Lichte eines milderen Tages beleuchtet sah. Dennoch ist es Thatsache, daß sich hier unter einer fast undurchsichtigen Kruste bizarrer, barocker und ästhetisch mannigfach abstoßender Lebensformen ein weicher und warmer Kern zarter Gemüthsinnerlichkeit, edler Gesinnung und ehrenhafter Gesinnung, zugleich aber eine scharfe und schwungkräftige Empfänglichkeit für geistiges Streben erhalten hatte.
Leopold Kompert hat uns dieses Judenthum auf der Grenzscheide zweier Zeiten mit allem Farbenschmelz ergreifender Poesie geschildert, A. Bernstein hat es uns in seinen Novellen „Vögele der Maggid“ und „Mendel Giborr“ mit humor- und seelenvoller Drastik vorgeführt. Von Ludwig Kalisch aber ist es in dem oben bezeichneten Buche nunmehr auch ohne dichterischen Schmuck so scharf und treu gezeichnet worden, wie es aus der Knabenzeit des Verfassers noch fest in seiner Erinnerung lebt. Der besondere Werth seines Buches liegt in dem Umstande, daß es keine Dichtung, sondern eine durchaus ungezwungene memoirenartige Mittheilung ist. Es verschweigt das Häßliche und Verkehrte, das Unverständige und Abenteuerliche in den Einrichtungen und Anschauungen nicht, aber es zeigt uns unter der seltsamen Hülle auch das kernhaft Tüchtige, Gute und Schöne im vollen Glanze seiner immer charakteristischen Eigenart. So führt es die Kirche und die Schule, das Familien- und Straßenleben, die Männer-, Frauen- und Kinderwelt der polnischen Judengemeinde, ihre Sitten und Gebräuche, die Originalität ihrer Charaktertypen, ihrer Heiligen und Humoristen in treuester Schilderung und wechselnder Bilderfülle an uns vorüber.
Und erwärmend wirkt dabei vor Allem die ernste und innige Pietät, mit welcher der weltmännische, auf den Höhen moderner Bildung stehende Schriftsteller von dem glänzenden Paris aus auf die scheinbar so dürftigen Wurzeln zurückblickt, aus denen sein geistiges und sittliches Dasein sich entfaltet hat. Gewiß, es ist eines der liebenswürdigsten, unterhaltendsten und belehrendsten Bücher, die wir seit längerer Zeit gesehen haben, anziehend auch durch stylvolle Eleganz der Darstellung und Sprache. Die jüdischen Leser wird es an Dinge erinnern, die zum Theil in derartigen Formen nicht mehr vorhanden sind, viele christliche aber werden sich gern durch diese culturgeschichtlich so interessanten Genrebilder aus dem inneren Leben einer verfolgten Confession zur Ablegung herber und absprechend inhumaner Urtheile ermuntert sehen.
Die Lazarethcameraden. (Mit Abbildung, S. 705.) Wiederum ein Bild, das keiner Erklärung bedarf. Der Achtundsiebenziger hat wahrscheinlich in den Kämpfen bei und um Metz sich seine Armwunde geholt, denn sein Regiment gehört zur neunzehnten Infanterie-Division des zehnten Armeecorps und dieses zur zweiten Armee, also der des Prinzen Friedrich Karl. Den Franzosen fehlte es dort nicht an Gelegenheit, als Verwundete in Gefangenschaft zu gerathen, und so ist es eben gar nichts Besonderes, zwei solche Lazarethcameraden beieinander zu sehen. Aber das zeichnet dieses Bild dennoch aus, daß Jeder von Beiden ein echter Vertreter seines Volksthums ist. Auch das eben überstandene Schicksal beider Nationen konnte in ihren Vertretern nicht sprechender sich in Antlitz und Haltung abspiegeln. Wenn sie sich in Reimen unterhalten hätten, würde ohne Zweifel unter Anderm Folgendes an den Tag gekommen sein:
„Und nix caput sein uns’re gloire!
Revanche! Das heißen uns Victoire!
Revanche! Da zeig’ Prüssiens sein’ Courage!“
„„Männeken, det jiebt eene neue Blamage!““
„La France in neue Glanz partout!“
„„Ja Glanz, und wir liefern die Wichse dazu.““
Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist soeben erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben: