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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[861]

No. 52.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Schluß.)


32.

„Meine liebe, kleine Lenore, das Allergescheidteste wäre, mit Herrn Claudius selbst zu verhandeln,“ unterbrach mich die alte Dame lächelnd, als ich mit meiner Mission kaum zur Hälfte herausgerückt war.

„Ist er denn zu sprechen?“ fragte ich beklommen.

„Ei freilich, für Alle. … Gehen Sie nur hinauf in den ersten Salon, wo Lothar’s Bild hängt – es sind heute schon Viele droben gewesen – der Salon ist vorläufig Geschäftszimmer.“

Ich stieg hinauf. Vor der Thür aber verharrte ich einen Augenblick und preßte die Hände auf das Herz – ich meinte, ich müsse an dem stürmischen Klopfen ersticken. Dann trat ich leisen Schrittes ein. Das Zimmer war nicht so dunkel verhangen, als ich geglaubt hatte. Die Fenster waren mit grünen Stoffen umhüllt, die einen sanften wohlthuenden Schein verbreiteten. Herr Claudius saß mit dem Rücken nach mir zu in einem Fauteuil und hatte den Kopf an die Lehne zurückgelegt – ein grüner Schirm bedeckte seine Augen. … Er schien nicht zu bemerken, daß Jemand eingetreten war, oder meinte vielleicht, es sei Fräulein Fliedner, denn er veränderte seine Stellung nicht im Geringsten.

Ach, nun war ja mein tiefster, heißester Wunsch erfüllt – ich sah ihn wieder!

Sprechen konnte ich nicht – ich fürchtete mich unsäglich vor dem ersten Laut meiner Stimme in dem stillen Zimmer. Fast unhörhar trat ich näher und ergriff zaghaft seine linke Hand, die über die Armlehne des Stuhles herabhing. … Noch verharrte der blonde Kopf in seiner vollkommen ruhigen Lage, aber blitzschnell kam auch die Rechte herüber, und ich fühlte mich plötzlich gefangen.

„Ach, ich weiß, wem die kleine, braune Hand gehört, die da so furchtsam zwischen meinen Fingern aufzuckt, wie ein ängstlich schlagendes Vogelherz,“ rief er, ohne sich zu bewegen. „Habe ich doch gehört, wie es die Treppe heraufgehüpft kam, und aus den verschiedenen Tempi der Schritte klang es deutlich: ‚Gehst Du hinein, oder nicht? Soll das Mitleid mit dem armen Gefangenen siegen, oder der alte Trotz, der wartet, bis er seinen Kerker verläßt und zu mir kömmt?‘ –“

„O Herr Claudius,“ unterbrach ich ihn, „trotzig bin ich nicht gewesen!“

Jetzt wandte er mir rasch das Gesicht zu, ohne meine Hand loszulassen.

„Nein, nein, Sie waren es auch nicht, Lenore,“ sagte er in verschleierten Tönen, „ich weiß es. … Meine Umgebung ahnt nicht, weshalb ich gerade in der Dämmerstunde stets so unduldsam gegen jegliches Geräusch war und die allertiefste Stille gebieterisch forderte. Um diese Stunde hörte ich mit Geisterohren, oder auch nur mit dem sehnsüchtigen Herzen – denn ich wußte genau, wann die leichten Mädchenfüße die Karolinenlust verließen, ich verfolgte jeden Schritt durch die Gärten und die Treppe herauf und wartete mit Inbrunst auf das halbgeflüsterte: ‚Wie geht es ihm? Hat er viele Schmerzen?‘ – Das klang nichts weniger als trotzig. … Und dann sah ich, wie die wilden Locken mit der wohlbekannten Bewegung von der Stirn zurückgeschüttelt wurden, und die großen, lieben, bösen Augen weit aufgeschlagen an Fräulein Fliedner’s berichtenden Lippen hingen.“ …

Ich vergaß Alles, was zwischen uns lag, und gab mich der Macht des Augenblickes widerstandlos hin.

„Ach, sie verstand mich nicht so gut,“ sagte ich rasch und unbedenklich. „Ich habe sehnlich gewünscht, sie möchte mich einmal, nur ein einziges Mal zu Ihnen führen. Ich wäre ruhiger geworden, hätte ich in Ihre armen Augen sehen dürfen, und Sie hätten mir gesagt: ‚Ich sehe Sie!‘ … Bitte, nur einmal heben Sie den Schirm!“

Er sprang auf, nahm den Schirm ab und warf ihn auf den Tisch. Seine schlanke Figur stand so hoch, elastisch und ungebeugt vor mir, wie immer.

„Nun denn, ich sehe Sie!“ versetzte er lächelnd. „Ich sehe, wie die kleine Lenore in den fünf langen Wochen nicht um eine Linie gewachsen ist und mir noch immer mit dem lockigen Scheitel genau bis an das Herz reicht. Ich sehe eben, daß der Kopf noch immer so trotzig und empört zurückgeworfen wird, wie ehedem – freilich, was können Sie dazu, daß die Natur auch einmal ein wunderkleines Feenkind unter ihren Erschaffenen sehen wollte! Ich sehe ferner, daß das braune Gesichtchen blaß geworden ist, blaß von Schrecken, Kummer und Nachtwachen. … Arme Lenore, wir haben viel gut zu machen – Ihr Vater und ich!“

Er ergriff meine Hand und wollte mich sanft an sich ziehen; das brachte mich plötzlich zur Besinnung und überfluthete mein Herz mit der ganzen Qual des bösen Bewußtseins.

[862] Ich riß mich los. „Nein,“ rief ich, „seien Sie nicht gut gegen mich – ich habe es nicht um Sie verdient! … Wenn Sie wüßten, was für ein abscheuliches Geschöpf ich bin, wie hinterlistig, falsch und grausam ich sein kann, Sie stießen mich aus Ihrem Hause –“

„Lenore –“

Ich floh vor ihm nach der Thür. „Nennen Sie mich nicht Lenore. … Ich will tausendmal lieber hören, daß Sie mich wild, trotzig und ungeberdig schelten, daß Sie mich als unweiblich streng verurteilen – nur sagen Sie nicht so weich und gut meinen Namen! Ich habe Ihnen unsäglich wehe gethan, Ihnen Böses zugefügt, wo ich immer konnte. Ich habe Ihre Ehre angegriffen und mit Ihren Gegnern Gemeinschaft gemacht – Sie werden mir nie verzeihen, nie! Ich weiß das so genau, daß ich nicht einmal zu bitten wage!“ –

Tastend erfaßte ich das Thürschloß. Er stand sofort neben mir.

„Meinen Sie wirklich, ich ließe Sie in diesem Zustand der heftigsten Aufregung von mir gehen? Mit diesen bleichen, bebenden Lippen, die mir Angst machen?“ sagte er und schob sanft meine Hand vom Schloß nieder. „Bemühen Sie sich, ruhiger zu werden, und hören Sie mich an. … Sie kamen als völlig unberührte und ungeschulte Natur hierher und sahen mit den unschuldigsten Kinderaugen in die Welt. Ich klage mich schwer an, daß ich damals nicht sofort mein Haus von den bösen Elementen säuberte, obwohl ich in der ersten Stunde wußte, daß ein Wendepunkt in meinem Leben eintrete und Alles anders werden müsse. … Es ist wahr, Ihr so deutlich ausgesprochener Widerwille gegen mich ließ mich resigniren; ich war zu stolz, um immer wieder zu vergessen, und beschränkte mich auf die warnende Stimme – ich zögerte zu lange, das zu thun, was unbarmherzig aussah und doch das Richtige war – für Sie und Charlotte zusammen war kein Raum in meinem Hause – sie mußte weichen! … Was nun auch geschehen sein mag, was Sie mir auch angethan haben mögen in blöder Verkennung der Verhältnisse, es bedarf nicht einmal des verzeihenden Wortes – ich trage so viel Schuld wie Sie. … Sie können mir überhaupt nur in einem Sinn wirklichen Schmerz zufügen, das ist, wenn Sie sich – wie schon so oft geschehen – kalt und abweisend von mir wenden – nein, nein, das kann ich nicht sehen!“ unterbrach er sich selbst tief erregt, als ich in ein heftiges Weinen ausbrach. – „Wenn Sie denn durchaus weinen müssen, dann darf es fortan nur hier geschehen.“ Er zog mich an sich heran und legte meinen Kopf an seine Brust. „So – und nun beichten Sie getrost – ich hefte meine Augen dort auf den Vorhang und höre mit halbabgewendetem Ohr.“

„Ich darf ja nicht sprechen,“ sagte ich leise. „Wie froh wäre ich, wenn ich Ihnen Alles sagen dürfte! Aber die Zeit muß ja einmal kommen, und dann … Eines aber sollen Sie jetzt schon wissen, denn das habe ich ganz allein verübt – ich habe Sie bei Hofe verlästert, ich habe gesagt, Sie seien ein eiskalter Zahlenmensch, ein Besserwisser –“

Ich bemerkte, wie er in sich hineinlachte. „Ach, solch eine bitterböse Zunge ist die kleine Lenore?“ sagte er.

Aengstlich hob ich den Kopf und schob den Arm zurück, der mich umfaßt hielt. „Denken Sie ja nicht, daß Alles, was ich Ihnen angethan auf kindisches Geschwätz hinausläuft!“ rief ich.

„Das denke ich ja auch gar nicht,“ beschwichtigte er, während noch immer ein köstliches Lächeln um seine Lippen huschte. „Ich will alle die schlimmen Entdeckungen an mich herankommen lassen und geduldig abwarten – dann werde ich Ihr Richter sein; beruhigt Sie das?“

Ich bejahte.

„Dann aber müssen Sie sich auch bedingungslos dem Spruch unterwerfen, den ich fälle.“

Tief aufathmend sagte ich: „Das will ich gern.“

Und nun trocknete ich meine Thränen und begann von meiner Tante zu sprechen.

„Ich habe schon durch Fräulein Fliedner von dem seltsamen Gast gehört, der sich unter die Flügel der unbesonnenen kleinen Haidelerche geflüchtet hat,“ fiel er mir nach einer Weile in das Wort. „Ist sie die Frau, der Sie das Geld geschickt haben?“

„Ja.“

„Hm – das ist mir nicht lieb. Ich vertraue Frau Ilse unbedingt, und sie war sehr schlimm auf diese Tante zu sprechen. Wie kömmt die Dame auf die seltsame Idee, gerade mich sehen zu wollen – was will sie von mir?“

„Ihren Rath. O bitte, Herr Claudius, seien Sie gütig! Mein Vater hat sie verstoßen –“

„Und trotzdem will sie mit ihm an einem und demselben Orte leben und sich der steten Gefahr aussetzen, ihm zu begegnen, der sie verleugnet? – Das gefällt mir nicht! … Aber ich muß sie wohl oder übel empfangen, da ich durchaus nicht mehr gestatte, daß Haideprinzeßchen Beziehungen hat, um die ich nicht genau weiß, und welche nicht vor meinem prüfenden Auge bestehen können. … Frau – wie heißt sie?“

„Christine Paccini.“

„Also Frau Christine Paccini mag heute Abend den Thee im Vorderhause trinken. … Gehen Sie jetzt, sie holen! … Nun, verdient meine Bereitwilligkeit nicht einmal einen Händedruck?“

Ich kehrte zu ihm zurück und legte meine Hand willig in die seine. Dann flog ich zur Thür hinaus.

Ich glaube, selbst über die Haide, wo ich doch noch so unbeschwert von Leid und Kummer war, wie die Vogelseele in der Luft, bin ich nie so beschwingt dahin geflogen, wie in diesem Moment über die Kieswege der Gärten. … Ich wußte ja nun, daß ich mich nicht mehr verirren konnte in der weiten Welt, weil er seine Hand über mich hielt, wohin ich auch gehen wollte. Kein Schreckniß durfte mir mehr nahe kommen, denn ich flüchtete an seine Brust und war geborgen. Wie war ich scheu zurückgebebt, als er mich umfing, und welche selige Ruhe war dann über mich gekommen – so war es gewesen, wenn ich mich als Kind bis zum entsetzten Aufschreien gefürchtet, und Ilse’s Arme sich geöffnet hatten, um mich beschwichtigend an das Herz zu nehmen.

Als ich wieder bei Tante Christine eintrat, war sie gerade beschäftigt, auf einer kleinen Maschine Chocolade zu kochen. Blanche lief auf dem großen runden Tisch herum, beleckte die geriebene Chocolade und fraß vom Kuchenteller. … Himmel, wie flogen Blanche, Chocolade und Kuchen unter den schönen Händen meiner Tante durcheinander, als ich ihr sagte, daß Herr Claudius sie bitten ließe, den Thee im Vorderhause zu trinken! Jetzt sah ich erst, wie sie auf diesen Moment gehofft und geharrt haben mußte. Mit einem halb triumphirenden, halb zerstreuten Lächeln zog sie unschlüssig Kasten und Fächer der Möbel nach einander auf – ich erhielt einen Einblick in das entsetzliche Chaos von verblichenen Blumen, Bändern und Flitterstickereien.

„Herzchen, ich muß selbstverständlich erst Toilette machen, und da kann ich Dich nicht brauchen – das Zimmer ist so eng – kannst ja einstweilen droben bei Helldorf’s bleiben,“ sagte sie hastig. „Aber einen Gefallen mußt Du mir thun, gehe zu Schäfer – ich mag mit dem ungeschliffenen Menschen nicht mehr reden – er hat prachtvolle gelbe Rosen am Stocke – lasse sie abschneiden und gieb ihm dafür, soviel er verlangt, und wenn es zwei Thaler wären – Du bekömmst das wieder, vielleicht morgen schon. … So gehe doch!“ rief sie heftig und schob mich nach der Thür, als ich sie erstaunt fragend ansah. „Ich bin nun einmal gewohnt, Blumen in der Hand zu haben, wenn ich als Gast eintrete.“

Schäfer schenkte mir die Rosen, und ich trug sie ihr hinüber. Dann ging ich zu meinem Vater und holte mir die Erlaubniß, den Thee im Vorderhause trinken zu dürfen.

Eine Stunde später schritt ich mit Tante Christine durch die Gärten. Bei meiner Zurückkunft hatte ich sie bereits in Mantel und Kapuze, mit dem Schleier vor dem Gesicht, gefunden. Es dämmerte schon stark, und ein feiner Regen begann niederzustäuben, als wir den Weg nach der Brücke einschlugen.

„Wohin gehen denn die Damen?“ fragte eine Stimme hinter uns. Es war Charlotte, die jetzt erst vom Berge zurückkehrte.

„Ich will meine Tante im Vorderhause vorstellen,“ versetzte ich.

Die junge Dame sagte kein Wort, und Tante Christine schwieg auch, und so gingen wir still nebeneinander her – mir war auf einmal entsetzlich beklommen zu Muthe. … Da schritten sie vor mir über die Brücke hin, die beiden Frauen – seltsam, es sah fast gespenstig aus, so groß war die Aehnlichkeit zwischen den beiden Gestalten – beide hatten die gleiche stolze, weltverachtende [863] Wendung des Kopfes, dieselbe breite Wölbung der Schultern, denselben Gang, und ich glaube, in der Größe wich Keine der Anderen auch nur um eine Linie – sie waren zum Verwechseln ähnlich, und doch stießen sie sich innerlich ab, Charlotte wenigstens verhielt sich unnahbar.

„Bitte, legen Sie droben in meinem Zimmer ab,“ sagte sie droben im Corridor kalt zu mir.

Wir traten in das Zimmer, das bereits behaglich erwärmt und beleuchtet war. Fräulein Fliedner arrangirte den Theetisch und begrüßte uns sehr zurückhaltend.

„Wo ist Herr Claudius?“ fragte mich meine Tante leise – das erste Wort, das von ihren Lippen fiel, seit wir das Schweizerhäuschen verlassen.

Ich zeigte schweigend nach der Salonthür.

„Ach Gott, ein Flügel!“ rief sie glückselig und stürzte auf das Instrument zu, dessen Deckel aufgeschlagen war. „Wie schmerzlich lange habe ich diesen Anblick entbehren müssen! O, erlauben Sie mir nur für einen Augenblick, daß ich meine Hände auf die Tasten lege! Bitte, bitte – ich werde glücklich sein wie ein Kind, wenn ich, und seien es auch nur zwei Accorde, greifen darf!“

Im Nu flogen Mantel und Kapuze auf den nächsten Stuhl, und zu meinem unsäglichen Erstaunen stand Tante Christine in vollständiger Concerttoilette da. Ein schwerer milchweißer Atlas fiel in langer Schleppe auf den Teppich, und aus dem Spitzengekräusel des tiefausgeschnittenen Kleides hob sich eine Büste, so blendend, so marmorartig in Fleisch und Linien, wie das Antikencabinet mit seinen griechischen Göttergestalten kaum aufzuweisen hatte. Wie wogten die langen Locken über Busen und Nacken herab, und wie träumerisch lagen die hingestreuten, thaufrischen, bleichen Rosen in dem tiefen Blauschwarz der Haarmassen!

„Na, das ist doch stark!“ sagte Charlotte trocken und ungenirt. Meine Tante aber sank auf den Claviersessel, das Instrument erbrauste unter ihren Händen, und gleich darauf schlug es mit nicht klangvoller, aber mächtiger Stimme und dämonischem Ausdruck gegen die Wände: „Gia la luna in mezzo al mare –“

Da wurde die Salonthür aufgestoßen, und Herr Claudius stand bleich wie ein Geist auf der Schwelle – hinter ihm erschien Dagobert’s erstauntes Gesicht.

„Diana!“ rief Herr Claudius im Ton eines unbeschreiblichen Entsetzens.

Tante Christine flog auf ihn zu und sank in die Kniee.

„Verzeihung, Claudius, Verzeihung!“ flehte sie und berührte mit der Stirn fast den Teppich. „Dagobert, Charlotte, ihr, meine so lange und so schmerzlich entbehrten Kinder, helft mir, ihn bitten, daß er mich wieder aufnimmt in alter Liebe!“

Charlotte stieß einen Schrei der Entrüstung aus. „Komödie!“ stammelte sie. „Wer bezahlt Sie für diese köstlich gespielte Rolle, Madame?“ fragte sie schneidend. Dann fuhr sie auf mich hinein und schüttelte mich grimmig am Arme. „Lenore, Sie haben uns verrathen!“ schrie sie gellend auf.

Herr Claudius stand sofort zwischen uns und stieß sie zurück. „Führen Sie Fräulein von Sassen hinaus,“ gebot er Fräulein Fliedner – wie tonlos und bebend klang seine Stimme, wie bemühte er sich, Herr der furchtbarsten inneren Aufregung zu werden!

Fräulein Fliedner legte den Arm um mich und führte mich in den Salon, wo Lothar’s Bild hing – hinter uns wurde die Thür zugeschlagen. … Die alte Dame zitterte wie Espenlaub am ganzen Körper, und eine Art Nervenfrost machte ihr die Zähne zusammenschlagen.

„Sie haben uns da einen schlimmen Gast in’s Haus gebracht, Lenore,“ hauchte sie und horchte angstvoll hinüber, von wo Tante Christinens Stimme in wohllautenden Tönen fast ununterbrochen scholl. „Sie konnten freilich nicht wissen, daß sie es ist, jene Falsche, Treulose, jene Diana, um die er so schwer gelitten hat. … Gott mag verhüten, daß sie wieder Gewalt über ihn gewinnt! Sie ist noch immer von hinreißender Schönheit!“

Ich preßte meinen Kopf zwischen die Hände – mußte nicht die ganze Welt über mir zusammenstürzen? …

„Wie sie das schlau eingefädelt hat!“ fuhr Fräulein Fliedner tief erbittert fort. „Wie sie alle Betheiligten überrumpelt mit der ersten, wie ein Blitz hereinfahrenden Ueberraschung! … Auf einmal erinnert sie sich zärtlich ihrer ‚schmerzlich entbehrten Kinder‘, die sie so schändlich verlassen hat –“

„Ist sie wirklich Dagobert’s und Charlottens Mutter?“ stieß ich heraus.

„Kind, zweifeln Sie noch nach Allem, was Sie gehört und gesehen haben?“

„Ich habe geglaubt, sie seien seine“ – ich deutete nach Lothar’s Bild – „und der Prinzessin Kinder,“ stöhnte ich.

Sie fuhr zurück und starrte mich an. „Ach, jetzt fange ich an, klar zu sehen!“ rief sie. „Das ist der Schlüssel zu Charlottens unbegreiflichem Wesen und Gebahren! Sie denkt ebenso wie Sie? Sie meint, sie sei in der Karolinenlust geboren? Ist’s nicht so? … Nun, ich werde ja erfahren, wer das streng gehütete Geheimniß gelüftet und in so hirnverbrannter Weise ausgelegt hat. Einstweilen sage ich Ihnen, daß allerdings zwei Kinder in der Karolinenlust das Licht der Welt erblickt haben – das eine starb nach wenigen Stunden, und das andere halbjährig an Zahnkrämpfen – zudem waren es zwei Knaben. Dagobert und Charlotte aber sind die Kinder des Capitain Mericourt, mit welchem Ihre Tante in Paris verheirathet war, und der in Marocco gefallen ist. … Armes Kind, Ihr guter Engel hatte Sie verlassen, als Sie dieses Weib unter Ihren Schutz nahmen – sie bringt Unglück über uns, über uns Alle!“

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen.

„Als Erich Zutritt in ihrem Hause fand, war sie bereits Wittwe und Primadonna an der Pariser großen Oper,“ fuhr die alte Dame fort. „Ihre Kinder sind bei einer Madame Godin erzogen worden – Erich hat sie lieb gehabt, als seien sie die seinen, und obgleich durch die Mutter tödtlich beleidigt und verwundet, ist er doch so großmüthig gewesen, sich der Kleinen anzunehmen, als die ehr- und pflichtvergessene Frau sie ohne alle Subsistenzmittel in der Pension zurückgelassen hat. … Madame Godin ist bald darauf gestorben, und mir, der er allein die Herkunft der Kinder anvertraut, hat er das strengste Stillschweigen auferlegt – er wollte den Geschwistern den demüthigenden Schmerz, eine entartete Mutter zu haben, zeitlebens ersparen – sie danken ihm schlecht genug dafür!“

Sie rang leise die Hände ineinander und ging auf und ab. „Nur das nicht!“ murmelte sie. „Die Stimme da drüben bestrickt mit einer wahrhaft dämonischen Gewalt – ich höre es! Wie das schmeichelt und klagt und weich fleht – sie wirft ihm neue Schlingen über –“

„Onkel, Onkel – ich leide furchtbar! … O, ich elendes, ich undankbares Geschöpf!“ schrie Charlotte drüben markerschütternd auf.

Ich stürzte zur Thür hinaus, die Treppe hinunter, durch die Gärten. … Ich war verstoßen aus dem Paradiese durch eigene Schuld, durch eigene Schuld. … Trotz Ilse’s energischer Abwehr und Warnung, gegen den entschiedenen Willen meines Vaters hatte ich heimlich und versteckt den Verkehr mit dieser verfehmten Tante unterhalten. Ich hatte dem Manne, den ich mit allen Kräften meiner Seele liebte, den bösen Dämon seiner Jugend wieder zugeführt, dem er auf’s Neue verfiel, und der ihm voraussichtlich das Leben vergiftete! …

In der Halle, wo das helle Lampenlicht auf mich fiel, hielt ich in meinem rasenden Laufe inne – nein, in diesem Zustande durfte ich nicht vor meinen Vater treten – Haar und Gesicht und Kleider troffen von Nässe, von dem Märzregen, der draußen warm und lautlos niedersank; jeder Nerv bebte an mir, und die Wangen brannten im Fieber. Ich ging in meine Schlafstube, kleidete mich um und trank ein Glas kaltes Wasser. Ruhig, vollkommen ruhig mußte ich sein, wenn ich erlangen wollte, was ich für meine einzige Rettung hielt.

Mein Vater saß in seiner Stube, im bequemen Lehnstuhl, und las und schrieb abwechselnd, und neben ihm stand die dampfende Theetasse. Er sah so munter und wohlgemuth aus, wie ich ihn selten vor seiner Krankheit gesehen, und das liebe, alte zerstreute Lächeln war auch wieder da. Im Wohnzimmer strich Frau Silber, die Wärterin, Butterbrödchen für ihn, regulirte nach dem Thermometer die Zimmerwärme, und winkte mir freundlich, nicht zu hastig einzutreten – sie war die verkörperte Fürsorge selbst, in besseren Händen konnte ich meinen Vater nicht wissen.

Ich setzte mich neben ihn auf ein Fußbänkchen, doch so, daß [864] mein Gesicht völlig im Dunkeln blieb. Er erzählte mir freudig, der Leibarzt sei bei ihm gewesen und habe ihm die Mittheilung gemacht, daß er morgen zum ersten Mal ausfahren dürfe, der Herzog werde ihn selbst im Wagen abholen – dann strich er mir schmeichelnd über den Scheitel und meinte, er freue sich, daß der Thee im Claudiushause nicht gar so lange gedauert habe und ich wieder bei ihm sei.

„Wie wird das aber werden, Vater, wenn ich auf vier Wochen in die Haide gehe?“ fragte ich und bog mich noch tiefer in den Schatten zurück.

„Ich werde mich hineinfinden müssen, Lorchen,“ sagte er. „Du mußt für eine Zeit in Deine eigentliche Heimathluft zurück, um Dich zu stärken – beide Aerzte haben es mir zur Pflicht gemacht. Sobald es warm wird –“

„Es ist warm draußen, köstlich mild,“ unterbrach ich ihn rasch. „Denke Dir, mich jagt es förmlich in die Haide – mir ist, als würde ich krank und könnte den bösen Feind nur durch den frischen Haidewind abwehren. … Vater, wenn Du mir einmal die Erlaubniß giebst, warum denn nicht heute Abend noch?“

Er sah mich erstaunt an.

„Das kommt Dir tollköpfig vor, nicht wahr?“ sagte ich mit dem schwachen Versuch zu lächeln. „Aber es ist vernünftiger, als Du denkst. Die weichste Luft weht draußen; ich fahre mit dem Nachtzug, bin morgen Abend auf meinem lieben, lieben Dierkhof, trinke vier Wochen lang Milch und athme Haideluft, und bin gesund wieder da, wenn es hier – schön wird, wenn die Bäume blühen, und dann – ist Alles, Alles gut – gelt, Vater? … Ich kann ja auch vollkommen ruhig gehen – Frau Silber bleibt bei Dir, besser könntest Du gar nicht aufgehoben sein – bitte, Vater, gieb mir die Erlaubniß!“

„Was meinen Sie denn dazu, Frau Silber?“ rief er unschlüssig hinüber.

„I lassen Sie Fräulein Lorchen nur gehen, Herr Doctor!“ sagte die gute Alte, breitspurig in die Thür tretend. „Der Mensch soll nicht gegen seine Natur sein, und wenn dem Fräulein zu Muthe ist, als würde sie krank und könnte nur in der Haide gesund werden, da sagen Sie um Gotteswillen nichts dagegen. … In einer Stunde geht der Nachtzug, packen Sie ein, Fräulein, ich helfe Ihnen und bringe Sie auf den Bahnhof.“

Auf flüchtenden Füßen verließ ich die Karolinenlust. Es war stockfinster, und meine Begleiterin konnte nicht sehen, wie mir die Thränen über das Gesicht strömten, wie ich hinüberwinkte nach dem Glashause, in welchem ich einen köstlichen Augenblick voll Glück erlebt hatte. Ich wollte nicht hinaufsehen nach den Fenstern des Vorderhauses, als wir durch den Hof gingen – ach, was vermochte mein Wille gegen den Trennungsschmerz, der in mir tobte? Meine Augen hingen verzehrend an der Lichtfluth in Charlottens Zimmer – man hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Noch waren Alle versammelt, man sah es an den lebhaft über die Zimmerdecke hinlaufenden wechselnden Schatten. Er verzieh ihr, der Treulosen, um deren willen er einst Nachts wie gehetzt die Gärten durchmessen hatte – er versöhnte sich mit ihr – es war ja heute ein Tag der Versöhnung – während „die unbesonnene kleine Haidelerche“, von seinem Herzen weggescheucht, davonflog, hinaus in die lichtlose Nacht.




33.

Das war ein Wiedersehen! … Zu Fuße wanderte ich vom letzten Dorfe nach dem Dierkhofe – durch den todtenstillen, laublosen Wald. Es dunkelte im Dickicht, und rasselnde Blätter hingen sich an meinen Rocksaum – die hatten frisch droben im Morgenwind geplappert, als ich in die Welt hinausgepilgert war, und jetzt begleiteten sie mich als gefallene Gespenster mit eintönigem Flüstern und Rauschen ganze Strecken lang. … Und als ich hinaustrat in die unermeßliche Ebene, als in der Abenddämmerung seitwärts die Hünengräber auftauchten und fern vom Dierkhof her ein Lichtlein brannte und Spitzens wohlbekanntes Gekläff halb verloren herüberscholl, da warf ich mich vor Schmerz aufweinend in das winterdürre Haidegestrüpp – ich kam unglücklich, gebrochen in die Haide zurück.

Und nun wuchsen die vier Eichen immer höher vor mir auf – ich sah deutlich den dunklen Punkt inmitten des einen Wipfels, das alte wohlbekannte Elsternnest – die jungen Vögel, die damals lustig in meinen Abschiedsjammer hineingeschrieen hatten, sie waren längst auf- und davongeflogen, und wohl nur das alte angestammte Paar hockte als Thurmwart des Dierkhofs droben und richtete die scharfen, klugen Augen auf das einsame Menschenkind, das über die Haide dahergewandert kam. Tief in der dunklen Wölbung des Hausthors glühte schwach ein Feuerkern, im Herde brannte der Torf, und das traute Dach, aus welchem der Rauch in kerzengeraden gelblichen Streifen zum Abendhimmel aufstieg, sah aus, als wüchse es direct aus dem Haideboden, so eingesunken, so klein geworden kam mir der Dierkhof vor. Da sah ich Spitz wie toll über den Hof rennen – in der Thür der Umzäunung blieb er wie athemlos, mit steifgespitzten Ohren, einst Augenblick stehen, aber nun raste er auf mich zu – er sprang mir freudewinselnd bis hinauf an das Gesicht, um mir die Wangen zu lecken – ich hatte Mühe, mich auf den Füßen zu halten.

„Was hat denn das Thier? Es ist ja wie närrisch!“ rief Ilse und trat unter das Hausthor. … Ach, diese Stimme! Ich lief über den Hof und warf mich an die Brust der großen Frau – da meinte ich ja endlich den Qualen entronnen zu sein, die mich wie die Furien bis in die stillste, tiefste Haide hinein verfolgten. … Sie schrie nicht aus und sagte auch kein Wort, aber die Arme umschlossen mich fest – ich wurde gehätschelt und geliebkost wie nie in meiner Kindheit und wußte sofort, daß sie sich unbeschreiblich gesehnt haben müsse, und als wir auf den Fleet traten, wo bereits Licht brannte, da sah ich auch, daß sie blässer geworden war.

Aber völlig ließ sich Ilse nie von ihrem Gefühl überrumpeln. Sie schob mich plötzlich mit steif ausgestreckten Armen von sich. „Lenore, Du bist durchgebrannt!“ sagte sie in jenem gefürchteten Tone, mit welchem sie mir einst auch meine Kindersünden auf den Kopf schuld gegeben hatte.

Bei allem innern Weh mußte ich lächelm. Ich setzte mich auf Heinzens Holzstuhl und erzählte ihr von dem Feuerunglück und der Krankheit meines Vaters, wobei sie ein Mal über das andere die Hände über dem Kopfe zusammenschlug. Das hinderte sie jedoch nicht, das Feuer im Herd neu zu schüren, den Wasserkessel aufzusetzen und mich mit einem Butterbrod sehr gegen meinen Willen, Bissen um Bissen zu füttern.

„Ja, ja, das war freilich das Gescheiteste,“ meinte sie, als ich ihr schließlich mittheilte, daß die Aerzte mich auf den Dierkhof geschickt hätten. Dann verschwand sie im Innern des Hauses, um mich bald darauf vor ein himmelhoch aufgethürmtes Bett zu führen.

„So, Kind – nun gehst Du zu Bett, und den Fliederthee bringe ich auch gleich. Auf zwanzig Schritte sieht man Dir’s an, daß Du Dich auf der Reise erkältet hast – das ist ja das reine Fiebergesicht. … Und gesprochen wird nun gar nichts mehr – morgen erzählst Du weiter.“

Auf mein entsetzliches Sträuben hin wurde mir der Fliederthee erlassen – ins Bett aber wurde ich ohne Gnade gesteckt. … Da sah nun wieder das verräucherte Bild Karl des Großen unverwandt auf mich nieder. Ich sprang auf, nahm es vom Nagel und kehrte es gegen die Wand. … Wie haßte ich dieses Gesicht! Wie viel Leichtfertigkeit, Lug und Trug deckte die weiße Stirn, die mich am Hünengrabe förmlich geblendet! … Sie hatte mir wie ein Licht in die dunkle Welt hineingeleuchtet – diesem trügerischen Schein war ich damals halb unbewußt gefolgt, um seinetwillen hatte ich mich von der alten Heimath losgerissen, jetzt sah ich klar in meine damaligen Empfindungen und verabscheute sie – sie hatten mich blind gemacht und einen Weg voll Irrthümer geführt.

Ich setzte mich wieder, wie in der Sterbenacht meiner Großmutter, auf das Fußende des Bettes und sah hinaus in die unermeßliche Weite. Nein – auch auf dem Dierkhof fand ich keine Ruhe, und je tiefer und lautloser die Stille um mich webte, desto furchtbarer schrie mein einsames Herz auf. … Jetzt begriff ich, wie meine Großmutter stundenlang dort in der Baumhofecke hatte stehen und unverwandt in die weite Welt hinausstarren können – die umschleierten Augen hatten ein Wesen in der Nebelferne gesucht, die Verlorene, Entartete, die das schwergekränkte Mutterherz dennoch nicht vergessen konnte. Und für mich breitete sich der weite, von Millionen Goldflittern betupfte Nachthimmel auch nur über einen einzigen Punkt, über das ferne alte Kaufmannshaus.

[865]

„Und das soll nun unser Herr Vetter sein!“
Originalzeichnung von E. Stammel.

[866] Draußen fuhr der Wind auf und machte die dürren Zweige des Ebereschenbaumes leise an die Scheiben klopfen; ich wich zurück und legte die Hand über die Augen – unter dem Fenster stand ja die Bank, auf welcher ich Tante Christinens Brief zum ersten Male gelesen. Nun hatte ich sie in der That auf den Knieen liegen sehen, die märchenhafte Gestalt, schöner als die schönsten Blumenleiber, die in meinem schönsten Kinderbuche aus Lilien- und Rosenkelchen emporwuchsen. Und aus den weißen Atlaswogen hatten sich zwei zarte Arme ausgestreckt, um den einst tief beleidigten Mann schmeichelnd wieder an das treulose Herz zu ziehen. … Ich schlug mich unwillkürlich mit den geballten Händen gegen die Brust – ich war schwach und feig gewesen in jenem verhängnißvollen Augenblicke, ich durfte nicht hinausgehen, meinen Kopf mußte ich, wie wenige Stunden zuvor, fest an seine Brust legen – er selbst hatte mir diesen Platz angewiesen, und ich wußte, daß es in Zärtlichkeit geschehen war; ich hatte es an dem Klopfen seines Herzens, an der leise zitternden Hand gefühlt, die, während ich gebeichtet, immer wieder behutsam, aber zartschmeichelnd über meine Locken hingeglitten war. Ich durfte nicht dulden, daß diese rosig weißen Hände ihn berührten, dann wäre vielleicht der böse Zauber nicht über ihn gekommen. …

Jetzt war es wohl hell im Vorderhause, so hell, wie an jenem Theeabend, wo die Prinzessin dagewesen. … Und er saß am Flügel – vergessen war die Zeit, wo er um ihretwillen keine Taste mehr berührt hatte; sie sang ihm ja jetzt die berauschende dämonische Tarantella. … Und binnen wenigen Wochen schritt eine neue Hausfrau durch die hallenden Gänge des Claudiushauses – nicht im klaren Stirnschleier, wohl aber mit langer seidenrauschender Schleppe, Blumen in das Haar gestreut und ein Trällern auf den Lippen – und es wurde lebendig in den stillen Gesellschaftszimmern, Gäste flogen ein und aus, und Champagnerpfropfen knallten, und Niemand verdachte dem Manne seine Wahl, die Frau war ja noch „von hinreißender Schönheit“. … Nun wurde er mein Onkel – ich sprang auf und rannte außer mir auf und ab … nein, ich war kein sanftes Engelsgemüth, ich konnte nicht mit heißen Thränen in den Augen lächeln, ich wehrte mich aufschreiend gegen das Messer, das mir erbarmungslos immer wieder in der Brust umgewendet wurde! … Nach K. kehrte ich nicht wieder zurück; ich wollte meinen Vater beschwören, einen andern Aufenthaltsort zu wählen – wie konnte ich je das Wort „Onkel“ über meine Lippen bringen? Nie, nie!

Das sanfte Klopfen draußen an den Scheiben verwandelte sich in ein heftiges Peitschen und Schlagen – der Frühlingssturm brauste über die Haide hin. … Nun hörte ich’s wieder, das Knistern und Knacken der alten Balken, das Schnauben und Pfauchen um die Ecken, und in den Eschenwipfeln das Gerassel der verdorrten Blätter, die, längst todt und modernd, sich doch noch unter gespensterhaftem Rauschen an die lebendigen Aeste angstvoll anklammerten. Der alte Dierkhof zitterte unter den wuchtigen Stößen, droben in den Dachluken ächzten die morschen Holzläden, und die Fensterscheiben klirrten leise, als ließe der Sturm feine, klingende Silberketten durch seine Finger laufen.

Ilse trat mit dem Hauslämpchen ein, um nach mir zu sehen.

„Hab’ mir’s gedacht, daß Du nicht schlafen kannst,“ sagte sie, als sie mich angekleidet auf dem Bett sitzen sah. „Kind, Du bist das alte Haidelied nicht mehr gewohnt – freilich, dort in den Bergen, da duckt sich der Sturm zahm nieder, er gefällt mir aber auch nicht halb so gut. … Gehe Du nur wieder in Dein warmes Bett – er thut Dir nichts!“

Freilich, der that mir nichts – vor ihm schützte mich der traute Dierkhof mit seinem Mantel! …

Nun war ich seit drei Tagen in der Haide, und die Stürme pfiffen und johlten Tag und Nacht in einem Athem über die weite Fläche hin. Mieke, Spitz und das Federvieh, Alles tummelte sich in der Tenne und sah vom geborgenen Platz aus durch das offene Hausthor den Unhold draußen vorbeijagen. Aber es wehte warm herein, und ich meinte, dann und wann fliege schon ein feiner Blumenathem auf seinen Schwingen mit. Heinz blieb auch auf dem Dierkhof, Ilse litt es nicht, daß er Abends bei „dem Gebrause“ in seine Hütte zurückkehrte. … Ach, wie war Alles anders geworden! Ich las nicht mehr vor, wenn wir auf dem Fleet saßen – die Märchen hatten keinen Reiz mehr für mich – und mit dem Erzählen aus der Stadt wollte es auch nicht gehen. So oft Ilse den Namen Claudius aussprach – und das geschah zu meiner Verzweiflung nur zu oft – da fühlte ich meine Kehle zugeschnürt; ich wußte es, sprach ich nur einmal den Namen selbst aus, da stürzte der mühsam aufrecht erhaltene Damm der Selbstbeherrschung unrettbar zusammen, und ich schrie, zum Entsetzen der beiden treuen Seelen an meiner Seite, meinen Schmerz in alle vier Winde hinaus. Heinz sah mich ohnehin stets scheu von der Seite an, er verstand mich und meine Ausdrucksweise nicht mehr recht, und Ilse erzählte mir lachend, er habe gesagt, ich sei nun ein wirkliches Prinzeßchen geworden, so ganz absonderlich, und er begriffe nicht, daß Ilse nicht auch die Vorhänge an die Fenster hänge und das vornehme Sopha in die Stube schöbe, wie es doch bei Fräulein Streit gewesen sei.

Am dritten Tag gegen Abend ließ der Sturm nach, er blies zwar noch immer gewaltig über die Ebene hin; aber länger litt es mich nicht mehr im Hause – ich sprang hinaus in das Wogen und Tönen und ließ mich hinüber nach dem Hügel tragen. … Ach ja, da stand sie noch mit festem Fuß, die liebe, alte Föhre, und als ich sie mit beiden Armen umschlang, da streute sie rieselnd einen Nadelregen über mich her. Und die Ginsterbüsche hakten sich an meine Kleider; aber die Stelle, wo man im vorigen Jahr das Hünengrab aufgebrochen, lag kahl zu meinen Füßen, und kleine Sandbäche rieselten von Zeit zu Zeit da hinab, wo auch die Menschenasche verschüttet worden war. … Ueber den Waldstreifen zuckten die flammenden Spieße der Abendröthe empor – morgen gab es abermals Sturm; war es doch, als wolle selbst das Toben in den Lüften eine Schranke zwischen mich und die Welt draußen ziehen. … Und dort wand sich der Fluß hin, neben welchem die drei Herren damals eilig gestrebt hatten, die öde Haide zu verlassen – da war die hohe, schlankmächtige Gestalt des „alten Herrn“ fest durch das Gestrüpp geschritten, während die verwöhnten Füße des schönen Tancred fast ängstlich den sammetweichen Rasenweg innegehalten hatten.

Jetzt war es todeseinsam da drüben – nein – ich hielt die Hand über die Augen, um das Wunder in der menschenleeren Haide besser anstarren zu können. Dort bewegte sich ein dunkles Etwas auf dem schmalen Sandweg, den Heinz mit dem Namen „Fahrstraße“ beehrte. Himmel, Ilse hatte ihre Drohung wahr gemacht und den Doctor kommen lassen! Mein bleiches Gesicht, mein niedergeschlagenes Wesen ängstigten sie ja unbeschreiblich. Der dunkle Punkt schwankte näher und näher; das rothe Abendlicht überfloß ihn grell – es war richtig die alte Kutsche, in welcher man den Arzt an das Sterbebett meiner Großmutter geholt hatte. Sie machte eine Schwenkung – wie eine Silhouette hoben sich das kräftig anziehende Pferd und die Kalesche vom Himmel ab; ich sah die Wagenfenster aufblinken, und den stämmigen Bauernkutscher auf dem Bock sitzen. … Plötzlich hielt der Wagen still, und ein Herr sprang heraus – und wenn die Gestalt dort vom blonden Scheitel bis zur Zehe herab streng verhüllt gewesen wäre, an dieser einen Bewegung hätte ich sie unter Tausenden heraus erkannt! … Meine Pulse stockten, ich biß die Zähne zusammen und starrte angstvoll auf die Wagenthür – jetzt mußte auch sie aussteigen, die schöne Frau im schwarzen Sammetmantel, den weißen Hermelin um die Schultern geschlagen – Onkel und Tante kamen, die Entflohene zurückzuholen – allein die Thür fiel zu, und der Wagen schwenkte um, nach dem Walde zurück. Herr Claudius aber schritt über die Haide her, direct auf den Hügel zu; ein weiter Mantel flatterte von seinen Schultern, und die blauen Brillengläser funkelten in der Abendsonne. … Ich ließ die Föhre los, breitete die Arme weit aus und wollte den Hügel hinabstürmen; aber ich ließ sie sofort wieder sinken – einen Onkel begrüßt man nicht leidenschaftlich – taumelnd im Sturme umfing ich die Föhre wieder und drückte meine Stirn an die harte Rinde.

Jetzt kamen die Schritte näher und näher – ich bewegte mich nicht, mir war es, als sei ich an einen Marterpfahl gebunden und müsse ausharren im lautlosen Schmerz.

Am Fuß des Hügels blieb er stehen.

„Auch nicht um einen Schritt kommen Sie mir entgegen, Lenore?“ rief er hinauf.

[867] „Onkel!“ rang es sich von meinen Lippen.

Mit wenigen Schritten stand er droben neben mir – ein Lächeln zuckte um seinen Mund.

„Seltsames Mädchen, in welche ungeheuerliche Vorstellung haben Sie sich verrannt! Glauben Sie wirklich, daß ein gesetzter Onkel so sehnsüchtig und angstvoll einer entflohenen kleinen Nichte nacheilen würde?“

Er ergriff sanft meine beiden Hände und zog mich den Hügel hinab. „So, hier fegt der Sturm über uns weg. … Ich bin Ihr Onkel nicht – aber bei Ihrem Vater bin ich gewesen und habe um andere Rechte gebeten; er hat mir freudig die Erlaubniß gegeben, Sie heimzuholen – aber nicht in die Karolinenlust, Lenore, wenn Sie sich entschließen, mit mir zu gehen, dann giebt es für uns Beide nur einen Weg. … Lenore, zwischen Ihnen und mir steht nur noch Ihr eigener Wille – haben Sie noch keinen andern Namen für mich?“

„Erich!“ jauchzte ich auf und schlang die Arme um seinen Hals.

„Böses Kind,“ sagte er mich fest umschließend. „Was Alles hast Du mir angethan! Nie werde ich die Stunde vergessen, in welcher Fräulein Fliedner erschrocken aus der Karolinenlust zurückkam und mir sagte, Du seiest fort, fort mit dem Nachtzug – mein verscheuchtes Haidevögelchen einsam draußen in Nacht und Fremde. Und wie trauerte ich, daß Du Dir nicht einmal bewußt warst, welchen Schmerz Du mir zufügtest! … Lenore, wie war es Dir möglich, zu denken, ich könne eben mein heilig geliebtes Mädchen an das Herz ziehen, um es gleich darauf um der häßlich geschminkten Sünde willen zu verstoßen?“

Ich wand mich los.

„Sehen Sie mich doch nur an!“ rief ich und unterwarf mich halb lachend, halb weinend einer Musterung seines Blickes. „Neben Tante Christine bin ich doch das armseligste Nichtschen, wie Charlotte mich immer nennt! … Ich habe die Tante zu Ihren Füßen gesehen, sie hat um Verzeihung gebeten – ach, und in welchen Tönen! Und ich wußte, daß Sie diese wunderschöne Frau sehr lieb gehabt haben, so lieb –“

Ein flammendes Roth stieg in sein Gesicht – ich hatte ihn noch nie so tief erröthen sehen.

„Ich weiß, daß Fräulein Fliedner geplaudert hat,“ sagte er. „Sie klagt sich auch an, Deine Flucht veranlaßt zu haben, indem sie, wunderlich genug, der Furcht Ausdruck gegeben hat, ich könne dem Zauber erliegen. … Meine Kleine, ich gestatte Dir absichtlich keinen Blick in jene Zeit, auf die jahrelange Reue gefolgt ist – Du sollst Deine keuschen Kinderaugen behalten, sie sind meine Erquickung, mein Stolz. … Ich habe mich schwer geirrt damals, am meisten in mir selbst, ich habe das Aufflammen häßlicher Leidenschaft für jenes Sternenlicht gehalten, das erst mit Deinem Erscheinen über meinem Leben aufgehen sollte. … Bis zur äußersten Consequenz hat sich die Verirrung meiner Jugend gerächt – bis zu dieser Stunde habe ich leiden müssen, aber nun sei es auch genug der Sühne – ich verlange mein Recht!“

Er küßte mich – dann schlug er schützend seinen Mantel um mich. „Du wirst Manches verändert finden, wenn wir heimkommen, mein Kind,“ sagte er nach einer Pause mit gedämpfter Stimme. „Die Miethwohnung im Erdgeschoß des Schweizerhäuschens ist leer – der Zugvogel ist wieder nach dem Süden geflogen –“

„Aber sie war arm – was wird sie anfangen?“ fiel ich beklommen ein.

„Dafür ist gesorgt – sie ist ja Deine Tante, Lenore.“

„Und Charlotte?“

„Sie hat eine furchtbare Lehre empfangen, aber ich habe mich nicht in ihr geirrt – es ist trotzalledem ein tüchtiger Kern in diesem Mädchen. Anfänglich war sie tief erschüttert an Leib und Seele – sie hat sich jedoch aufgerafft, und jetzt bricht der wahre Stolz, die wirkliche Seelenwürde durch. Sie schämt sich ihres Thuns und Treibens im Institut; sie hat wenig gelernt, trotz ihrer Begabung und der ihr gebotenen reichen Ausbildungsmittel, weil sie stets vorausgesetzt hat, sie sei zu Höherem geboren und brauche nicht zu arbeiten. Nun geht sie abermals in ein Institut, um sich zur Gouvernante heranzubilden. Ich bin diesem Entschluß durchaus nicht entgegen – durch geistige Thätigkeit wird sie vollends genesen – übrigens bleibt das Claudiushaus ihre Heimath … Dagobert aber will den Dienst quittiren und als Farmer nach Amerika gehen. … Die Verblendung der Geschwister bezüglich ihrer Abkunft und die schließliche Enthüllung sind in der Stadt ruchbar geworden – wer geplaudert haben mag, man weiß es nicht – Dagobert’s Stellung wird voraussichtlich eine unerquickliche werden, deshalb geht er freiwillig. … Wenige Stunden vor meiner Abreise hierher war ich bei der Prinzessin –“

Ich verbarg mein Gesicht an seiner Brust. „Nun kommt das Strafgericht auch über mich!“ flüsterte ich.

„Ja, ja, nun weiß ich Alles!“ bestätigte er mit scheinbarer Strenge. „Das Haideprinzeßchen hat seine kleine, vorwitzige Nase schon am ersten Tag in das Geheimniß der Karolinenlust gesteckt und dann wacker mitgeholfen bei der Intrigue gegen den unglücklichen Mann im Vorderhause –“

„Und er verzeiht mir nicht –“

Er lächelte auf mich nieder. „Hätte er dann wohl den kleinen, rothen Mund geküßt, der so heroisch schweigen kann?“

Wir traten hinter dem schützenden Hügel hervor – der Sturm fiel uns an. „O säh’ ich auf der Haide dort im Sturme Dich!“ sang ich jauchzend aus voller Brust in das Klingen und Sausen hinein. Es war ja wahr geworden, ich schritt, von starkem Arm gehalten, an seiner Seite dahin, und seine Linke hielt sorgsam den Mantel zusammen, den er mir um Haupt und Schultern geschlagen. … Und der Sturm schoß mit seinem Frühlingsathem an mir vorüber und höhnte. „Gefangen, gefangen!“ Und ich lachte auf und schmiegte mich glückselig an den Mann, der mich führte – mochten Sturm und Bienen und Schmetterlinge frei über die Haide hinfliegen – ich flog nicht mehr mit! …

Ilse saß auf dem Fleet und schälte Kartoffeln, und Heinz kam eben mit der qualmenden Pfeife aus dem Baumhof, als wir in die Tenne traten. … Nie hatte ich meine treue Pflegerin so consternirt gesehen, als in dem Augenblick, wo Herr Claudius mir den Mantelzipfel vom Haupt schob, und ich sie anlachte. Das Messer und die halbgeschälte Kartoffel fielen ihr aus den Händen auf den Schooß. „Herr Claudius!“ rief sie erstarrt. Bei dem Namen riß Heinz erschrocken die Pfeife aus dem Mund und hielt sie auf den Rücken.

„Grüß Gott, Frau Ilse!“ sagte Herr Claudius. „Sie haben einen kleinen Deserteur beherbergt; ich bin gekommen, ihn heimzuholen – mein ist er!“

Jetzt ging der ‚Frau Ilse‘ ein Licht auf. Sie sprang empor, Messer, Schalen und Kartoffeln, Alles rollte von der Schürze auf die Steinplatten. „O herrje, das war also die Krankheit?“ – Sie schlug die Hände zusammen. – „Da war freilich Fliederthee das conträre Mittel! … Schön angeführt hast Du mich, Lenore, o herrje! … Und heirathen wollen Sie das Kind da, Herr Claudius?“ schalt sie förmlich, während ihr die Thränen der Rührung über die Wangen liefen. „Sehen Sie sich doch nur die kleinwinzigen Hände an und das Gesichtchen, und die jungen, jungen Augen –“

Herr Claudius erröthete fein wie ein Mädchengesicht. „Ich bin ihr recht, meiner jungen Lenore,“ sagte er leise und ein wenig zögernd. „Sie behauptet, den alten, uralten Mann lieb zu haben.“

Ich schmiegte mich fester an ihn.

„I bewahre, Herr Claudius, so ist ja das gar nicht gemeint,“ protestirte Ilse eifrig. „Die möchte ich sehen, die da nicht auf der Stelle, mit Freuden, Ja und Amen sagte! Aber, aber – die vielen Leute, die Sie commandiren, wie sollen denn die Respect kriegen vor solch einem Weibchen, das Sie wie ein Kind auf dem Arm im Hause herumtragen können!“

Er lachte leise auf. „Respect werden sie schon bekommen, wenn sie sehen, wie ‚das Weibchen‘ den Chef des Hauses commandirt. … Und nun, Frau Ilse, rüsten Sie sich – morgen reisen wir heim – die Braut darf nur in Ihrer Begleitung zurückkehren.“

Ilse fuhr sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen. „Aber der Dierkhof unterdessen, Herr Claudius? Wenn Sie nur wüßten, wie ich den dazumal wiedergefunden habe!“ sagte sie ein wenig scharf und anzüglich.

Heinz kratzte sich verlegen hinter dem Ohr und sah scheu nach der gestrengen Schwester. Aber ich sprang auf ihn zu und schlang meinen Arm in den seinen. „Heinz, böser Heinz, gratulirst Du mir nicht?“

„Ach ja, Prinzeßchen – aber es dauert mich auch; da draußen ist’s doch lange – keine Haide!“ …



[868] Diese Niederschrift habe ich zwei Jahre nach meinem Hochzeitstage begonnen. Die Korbwanne stand neben meinem Schreibtisch, und zwischen den Kissen athmete ein junges Wesen – mein schöner, blonder Erstgeborener. Für dieses kleine Wunder, das ich immer wieder anstaunen mußte, wollte ich meine Erlebnisse niederschreiben. … Seitdem hat auch ein prächtiger, braungelockter Bursche mit der kräftigsten Jungenstimme in dem grünumschleierten Korb gelegen, und jetzt schläft Lenore, das einzige Töchterchen des Claudiushauses, auf derselben Stelle – seit sieben Jahren bin ich verheirathet. Ich sitze in Charlottens ehemaligem Zimmer. Die dunklen Vorhänge sind verschwunden – es ist sonnig um mich her, Rosenbouquets, gestickt und gemalt, liegen hingestreut auf Teppich, Möbeln und Wänden, und in den Fensternischen duften förmliche Blumenhecken. Lenore schlummert, die Fäustchen an die Wangen gedrückt – es ist so still, daß ich die Fliegen summen höre – nun endlich zum Schluß!

Da wird die Thür aufgestoßen, und sie kommen hereingestürmt, die zwei Stammhalter des Claudiushauses.

„Aber Mama, Du schreibst auch zu lange!“ ruft der Blonde vorwurfsvoll. „Wir wollen doch Sauermilch im Garten essen – Tante Fliedner ist schon in der Laube, und den Großpapa haben wir auch geholt.“

Ich sehe ihm mit zitternder Lust in das Gesicht – er schießt piniengleich in die Höhe; aber, o weh – wie wird es um die Autorität stehen, wenn er der kleinen Mutter über den Kopf gewachsen ist? … Der kleine Braune aber hebt sich auf die Zehen, legt mir einen fingerdicken Strick und ein schwankes Weidengertchen quer über das Manuscript und bittet mit seiner tiefen, treuherzigen Stimme: „Mama, eine Peitsche machen!“

„Geht nur einstweilen in den Garten,“ sage ich, während meine Finger sich abmühen, die fast unmögliche Peitsche herzustellen. „Ich muß erst noch Etwas von Tante Charlotte schreiben.“

„Von Paulchen auch?“ – Auf meine Bejahung laufen sie wieder hinaus, die Treppe hinab. –

Am Tag nach meiner Rückkehr aus der Haide verließ Charlotte das Claudiushaus, um in ein Institut einzutreten, und kurze Zeit darauf ging der junge Helldorf nach England – er hatte um Charlottens Hand gebeten und war zurückgewiesen worden. Mir gestand sie schriftlich ein, sie habe ihn in ihrem Hochmuth zu schlecht behandelt, und nun sie von ihrer vermeintlichen Höhe herabgestürzt sei, werde sie ihrer Neigung noch weniger Raum geben. Wir litten nicht, daß sie nach vollendeten Studien in fremde Abhängigkeit trat – sie kehrte auf unsere Bitten in das Claudiushaus zurück – eine leidenschaftlich liebende Tante für unsere Kinder. Helldorf’s Name kam nie über ihre Lippen, obgleich sie, wie wir auch, viel im Hause des Oberlehrers verkehrte. Da kam der Krieg im Jahre 66. Max Helldorf wurde einberufen und bei Königgrätz schwer verwundet. … Eine Stunde nachher, als der Oberlehrer schreckensbleich die Nachricht in unser Haus gebracht hatte, trat Charlotte im Reiseanzug in mein Zimmer. „Ich gehe als Diaconissin, Lenore,“ sagte sie fest. „Vertritt meine Handlungsweise beim Onkel – ich kann nicht anders.“

Claudius war verreist – ich ließ sie mit tausend Freuden gehen. Nach vier Wochen unterschrieb sie einen langen, glückathmenden Bericht als „Charlotte Helldorf“. Der Feldgeistliche hatte den Genesenden und seine treue Pflegerin eingesegnet. … Jetzt wohnt das junge Paar in Dorotheenthal – Helldorf ist Procurist der Firma Claudius geworden – und seit „Paulchen“ seine großen Augen aufgeschlagen hat, begreift Charlotte nicht mehr, wie sich die Menschen, die alle mit gleichem Recht in die Welt treten, in Hochmüthige und Mißachtete zerspalten können. …

Ach, jetzt höre ich feste Schritte die Treppe heraufkommen – die Schreibstube ist geschlossen. … Ich schreibe weiter und thue, als hörte ich ihn nicht kommen, den Mann, der mich mehr verzieht, als er verantworten kann. Ich lache ihn stets aus, wenn er mich dann in seine Arme nimmt und über meinen Kopf hinweg wie entschuldigend zu meinem Vater sagt: „Sie ist ja das älteste und unbesonnenste von meinen Kindern.“ Und mein Vater nickt mit seinem zerstreuten Lächeln dazu – er ist noch immer sehr zerstreut, mein guter Papa, aber er wird von uns auf den Händen getragen, und sein neuestes Werk macht Furore in der Gelehrtenwelt. Vielleicht sind seine Enkel daran schuld – sie dürfen in der restaurirten Bibliothek rumoren, so viel sie Lust haben, und klettern auf seinen Schooß, während er schreibt. Seine Stellung bei Hofe ist angenehmer denn je, und die Prinzessin kommt oft in das Claudiushaus; aber über dem Lotharbild hängt ein dunkler Vorhang, und die Tapetenthür in der Karolinenlust ist zugemauert worden. …

Jetzt ist der hohe, noch immer schlanke Mann leise eingetreten, er biegt sich über die Korbwanne und betrachtet sein schlafendes Töchterchen. …

„Es ist erstaunlich, wie das Kind Dir ähnlich sieht, Lenore.“

Ich springe stolz auf, denn er sagt das mit einem entzückten Blick. … Fort mit der Feder und dem Manuscript! Sie haben keine Farben für den Sonnenglanz des Glückes über der Stirn des „Haideprinzeßchens“!




Pariser Bilder und Geschichten.

Curiose Leute.
Von Ludwig Kalisch.

Es giebt in Paris eine ganz eigenthümliche Menschenclasse, in welcher sich die geistvollsten und verrücktesten Köpfe finden und die verschiedensten Nationalitäten vertreten sind. Sie hat ihre eigene Physiognomie, und bietet dem Psychologen das interessanteste Studium dar. Ich meine die Classe der Erfinder. Es werden in Frankreich jährlich über viertausend Erfindungspatente vertheilt, und Jeder, der ein solches Patent besitzt, wiegt sich in den herrlichsten Hoffnungen und baut sich die prachtvollsten Luftschlösser. Ja, nicht Wenige von ihnen glauben bereits ihre Unsterblichkeit verbrieft und sehen schon im Geiste die ihnen von der dankbaren Nachwelt errichteten Statuen in Marmor und Erz prangen. Sie unterscheiden sich von den Poeten darin, daß sie nicht nur von dem ewigen Nachruhm, sondern auch von den irdischen Glücksgütern träumen, daß sie schon diesseits des Grabes ein Paradies vor sich sehen.

Es giebt wirkliche, es giebt eingebildete Erfinder. Zu diesen gehören diejenigen, die entweder längst erfundene Dinge erfinden, oder deren Erfindung unpraktisch oder unausführbar. Doch gerade diese machen sich die meisten Illusionen. Leider werden aber häufig die genialen Erfinder, welche berufen sind, der Industrie neue Bahnen zu brechen, mit den hirnverbrannten Menschen verwechselt, die ihre fixe Idee für eine epochemachende Erfindung halten. Palissy wurde für wahnsinnig gehalten, ebenso de Caux, und Napoleon hat erst, als er, ein Gefangener, das erste Dampfschiff sah, zu seiner Demüthigung gesehen, daß der von ihm für verrückt erklärte Fulton ein schöneres Blatt in der Geschichte haben werde, als er, der größte Niedersäbler seiner Zeit.

Doch sprechen wir nicht von der Vergangenheit und nicht von jenen großen Geistern, die für ihre großartigen Erfindungen mit einem Märtyrerthum belohnt wurden, und sprechen wir zuerst von den bescheidenen Erfindern in der Hauptstadt Frankreichs.

Die zahlreichsten und zugleich anspruchslosesten Erfinder leben in den Pariser Vorstädten, besonders in Ménilmontant und in Belleville. Es sind Arbeiter, die das ganze Jahr hindurch sich den Kopf zerbrechen, um ein neues Kinderspielzeug für die Weihnachtszeit zu Stande zu bringen. Diese Leute wohnen im sechsten Stocke, in der nächstes Nähe der Schornsteine, und ringen mit Hunger und Kummer in der Aussicht auf eine schöne heitre Zukunft. Ist endlich der neue Gegenstand, der als Christbescheerung die Kinderwelt entzücken soll, glücklich vollendet, so fangen erst recht die Leiden an. Zuvörderst müssen nämlich die hundert Franken zur Lösung des Patentes herbeigeschafft werden, und die Herbeischaffung dieser Summe erfordert vielleicht noch mehr Scharfsinn als die Erfindung selbst. Nachdem der Erfinder das Geld durch Entbehrungen aller Art aufgetrieben und das Patent in der Tasche hat, begiebt er sich zu einem der großen Spielwaarenhändler [869] und zeigt demselben das Modell des von ihm erfundenen Gegenstandes. Der Boutiquier betrachtet dieses lange hin und her, schüttelt schweigend den Kopf und hat allerlei Einwendungen zu machen. Versteht er sich endlich dazu, den Verschleiß zu übernehmen, so schöpft er den Rahm ab und der Erfinder ist am Ende froh, wenn er nur eine Kleinigkeit über seine Auslagen verdient.

Der Boutiquier ist ein geriebener Mann und hütet sich, die neue Erfindung vor Anfang December auszustellen; denn er fürchtet nicht ohne Grund, daß der Gegenstand, besonders wenn er sich durch Originalität auszeichnet, von Anderen nachgeahmt werde. Die Ausstellung beginnt erst vierzehn Tage vor Weihnachten und dauert bis vierzehn Tage nach Neujahr. Innerhalb dieser fünf Wochen muß er sein Geschäft machen. Der Arbeiter aber denkt bald wieder an eine neue Erfindung, da die alte mit einigen geringen Abänderungen von Anderen in den Handel gebracht wird. Außerdem mag und kann er auch nicht wieder die hundert Franken auftreiben, um das alte Patent nach Jahresfrist erneuern zu lassen. Tausend und aber Tausend dieser Arbeiter kämpfen auf diese Weise mit Noth und Elend, während sich die Krämer mit deren sauerm Schweiß bereichern.

Unter diesen Arbeitern giebt es viel Deutsche. Es giebt aber auch viel Deutsche unter den Erfindern, die nach Paris kommen in der festen Ueberzeugung, durch ihre Erfindung die Welt aus den Angeln zu heben. Sie verfallen oft in die furchtbarsten Drangsale, ohne jedoch dadurch ihre Illusionen zu verlieren. Nicht selten werden sie sogar die Opfer ihrer Erfindung. So erinnere ich mich eines Mannes, der vor einer Reihe von Jahren sich bei mir mit einem Empfehlungsbrief einführte. Er hatte eine neue Schießwaffe erfunden, die, wie er behauptete, schneller und entschiedener umbringe als die bisherigen. Der Mann war mir viel sympathischer als seine Erfindung. Er war ein äußerst sanftes Naturell, und ich konnte gar nicht begreifen, was ihn auf den Gedanken gebracht, der Menschheit die Mordgelüste zu erleichtern. Eines Tages stellt er sich bei mir im Sonntagsfrack und weißer Weste strahlenden Angesichts ein und theilt mir mit, daß es ihm gelungen, die Bekanntschaft eines sehr einflußreichen Generals zu machen. Derselbe wünsche die Waffe zu sehen, um diese, wenn sie seinen Erwartungen entspräche, dem Kriegsminister zu empfehlen. Der General wohnte in den Tuilerien, und der Erfinder, der kein Französisch verstand, bat mich, ihn dahin zu begleiten und dort den Dolmetsch zu machen. Ich konnte ihm die Bitte nicht abschlagen und wir machten uns auf den Weg. Schier hätten wir aber das Rendezvous versäumt. Der Erfinder hatte nämlich keine Handschuhe; seine Hände waren aber so riesig, daß, wenn er sie den Verkäuferinnen zeigte, dieselben lächelnd den Kopf schüttelten. Für eine solche Hand war die höchste Nummer noch um viele Nummern zu niedrig. Ich rieth ihm endlich, auf die Glacéhandschuhe zu verzichten und zu weißen hirschledernen seine Zuflucht zu nehmen. Er befolgte meinen Rath und versah sich mit Gendarmenhandschuhen, die indessen trotz ihrer Solidität sich anstrengen mußten, nicht zu platzen. Der Luxus des schwarzen Fracks, der weißen Piquéweste und der weißen Gendarmenhandschuhe war leider umsonst. Der General, der in einer wichtigen Angelegenheit beschäftigt war, konnte den Erfinder nicht anhören und vertröstete ihn auf einen andern, noch zu bestimmenden Tag. Der arme Mann zog verdrießlich die gewaltigen Handschuhe aus, heiterte sich jedoch bald wieder auf und versicherte mich auf dem Rückwege zu wiederholten Malen, daß man ihn binnen Kurzem zu den Millionären zählen würde. Es gelang ihm endlich, mehrere angesehene Personen zu gewinnen, die sich durch eigene Anschauung von der Wirkung der Schußwaffe überzeugen wollten. Die Zusammenkunft fand wirklich statt; aber sie hatte keine günstige Folge für den Erfinder. Nach dem zweiten Schusse sprang die Waffe in kurze Stücke und ein Splitter hätte beinahe einem der Anwesenden, einem bedeutenden Capitalisten, die Nase weggerissen. Der unglückliche Erfinder wurde natürlich mit den entsetzlichsten Vorwürfen überhäuft. Er verließ bald darauf Paris, um in London sein Glück zu versuchen. Ich habe gehört, daß ihm dort bei einem seiner Versuche die rechte Hand zerschmettert wurde.

Ein anderer Landsmann glaubte einen Dünger erfunden zu haben, vermittelst dessen das Getreide und die Knollenfrüchte sich einer außerordentlichen Entwickelung erfreuen sollten. Nachdem er sich in Deutschland vergebens bemüht hatte, sein Geheimniß zu verkaufen, kam er nach Paris und eröffnete hier eine Ausstellung der durch seine Erfindung erzielten Producte. Da sah man neben ellenhohen Korngarben riesige Kartoffeln, gelbe, weiße und rothe Rüben von kolossalem Umfang, und Rettige, die wie geschwänzte Vierundzwanzigpfünder aussahen und mit denen man eine Festung hätte beschießen können. Das Publicum, und ganz besonders das weibliche, betrachtete mit Verwunderung das ungeheuerliche Gemüse und sagte dem Erfinder, einem schönen ehrwürdigen Greise, die süßesten Schmeicheleien. Auch viele Blätter sprachen einige Zeit von dieser Ausstellung. Nach und nach aber verstummte die Presse, und der Erfinder verschwand für immer mit seinen ellenhohen Cerealien und seinen gigantischen Rüben und Rettigen. Was aus ihm geworden, wüßte ich nicht zu sagen, ebenso wenig, warum seine Erfindung nicht mehr Glück gemacht.

Eines Tages stellt sich bei mir ein verschrumpftes, verhutzeltes, kahlköpfiges Männchen ein. Niemals ist mir eine putzigere Gestalt vorgekommen. Alles war klein an ihm, bis auf die Nase, die aus dem faltenreichen Gesichtchen spitz und keck hervorsprang. Der Kleine trug unter dem Arme eine Mappe, die er, sobald er in’s Zimmer getreten war, ohne Weiteres auf meinen Schreibtisch warf. Er begann eine lange und ziemlich verworrene Rede, die gegen die Niederträchtigkeit der Menschheit gerichtet war. Ich benutzte den Augenblick, in welchem er seinen verlorenen Athem suchte, um ihn zu fragen, warum er die Menschheit hasse und was ihn bewege, mich von dieser seiner unedlen Leidenschaft in Kenntniß zu setzen. Er erwiderte nichts, sondern öffnete die Mappe und zeigte mir eine Reihe langer Tabellen, auf denen Ziffern, Buchstaben und Sylben in den verschiedensten Farben zu sehen waren. Ich konnte nicht daraus klug werden und richtete einen fragenden Blick auf den Kleinen.

„Das sind die Grundzüge meiner Erfindung,“ antwortete er.

„Und Ihre Erfindung?“ fragte ich.

„Wenn Sie die Tabellen genau betrachten,“ sagte er, „werden Sie finden, daß ich das große Problem einer Universalsprache auf’s Glücklichste gelöst habe. Was Niemandem vor mir gelungen, habe ich durch dreißigjährige Anstrengung zu Stande gebracht. Hier,“ rief er, auf die Tabellen deutend, „ruht die Zukunft der Menschheit. Aber sie ist meiner Anstrengung nicht werth!“

„Und warum nicht?“ fragte ich.

„Seit fünf Jahren,“ erwiderte er, „habe ich bei allen Buchhändlern, bei allen Buchdruckern angeklopft; aber Keiner will mein Werk verlegen; Keiner will es drucken.“

Ich gab ihm zu verstehen, daß ich weder Drucker, noch Verleger sei und daher sein unsterbliches Werk nicht der Oeffentlichkeit übergeben könne.

Er sprach nun wieder eine Weile laut und heftig, und der langen Rede kurzer Sinn war, daß ich mich an die großen Capitalisten wenden solle, um die zum Druck nöthige Summe aufzutreiben.

„Mein Herr,“ sagte ich, „den großen Capitalisten ist Ihre Erfindung höchst gleichgültig, da dieselben längst eine Universalsprache besitzen. Ein Goldstück ist ein wohlklingendes Wort, das man in allen Ländern versteht; ein Hundertfranken-Billet ist dem Deutschen wie dem Spanier, dem Russen wie dem Türken gleich verständlich; eine Banknote von tausend Franken ist eine prachtvolle Phrase, mit der man in aller Herren Ländern seine Wünsche leicht ausdrücken und befriedigen kann, und tausend solcher Tausend-Franken-Banknoten bilden ein kostbares Wörterbuch, durch welches dem Besitzer alle philologischen Studien höchst überflüssig werden.“

„Sie spotten meiner!“ rief der Kleine mit einen stechenden Blick.

„Durchaus nicht! Aber ich bin überzeugt, daß Sie von dieser Seite nichts zu hoffen haben.“

Der Erfinder klappte zornig seine Mappe zu, schob dieselbe heftig unter den Arm, und als er an der Thür war, rief er: „Ich habe mich auch in Ihnen getäuscht. Sie sind nicht besser als die Anderen. Aber wenn sich auch Neid und Mißgunst gegen mich verschwören, ich werde doch endlich durchdringen.“

Mit diesen Worten eilte er davon.

Das Sonderbarste an diesem Erfinder einer Universalsprache war, daß er in seiner Muttersprache die abscheulichsten grammatikalischen Schnitzer machte.

Ein anderer Landsmann, der seit Jahren in Paris keuchend dem Glücke nachjagte, ohne es zu erhaschen, besucht mich eines [870] Tages mit der Versicherung, daß er endlich auf dem Wege sei, steinreich zu werden. Er hatte von dem Manne gehört, der durch die Erfindung der bekannten, mit Wasserstoff gefüllten Kinderballons in wenigen Monaten ein bedeutendes Vermögen gewonnen; der schnell erworbene Reichthum desselben ließ meinen Landsmann nicht mehr ruhig schlafen, und er behauptete, endlich ein Kinderspielzeug erfunden zu haben, das sich eines noch viel glänzenderen Erfolges erfreuen werde. Dasselbe bestehe aus einer Blase mit einer eigenthümlichen Vorrichtung, die, selbst von den schwächsten Kinderfingern berührt, eine angenehme Musik hören lasse.

„An dieser Erfindung sind Millionen zu verdienen,“ versicherte er wie alle Erfinder. „Es handelt sich nur darum, dieselbe zu empfehlen und die Capitalien für den Betrieb herbeizuschaffen.“

Ich mußte ihm das Versprechen geben, ihn am folgenden Tage zu besuchen und mir die Vorrichtung zu besehen. Der Mann wohnte in einer entfernten Straße im Faubourg St. Antoine. Als ich die Thür seines Zimmers öffnete, prallte ich halb ohnmächtig zurück. Er hatte nämlich in diesem Zimmer unzählige Hunde-, Katzen-, Kälber- und Schweineblasen aufgehängt, die eine wahrhaft pestilentialische Ausdünstung verbreiteten.

„Treten Sie nur näher,“ bat er mich.

„Zeigen Sie mir die Vorrichtung!“ rief ich ärgerlich. „Zeigen Sie mir die Musik!“

Er holte nun, während ich mich auf dem dunkeln Hausflur hielt, seinen musikalischen Apparat herbei und ließ ihn vor meinen Ohren laut werden. Der Apparat schnarrte ein paar Secunden wie eine reißende Kette in einem Uhrgehäuse.

„Aber warum haben Sie denn so dringend meinen Besuch verlangt?“ fragte ich unwillig.

„Damit Sie meine Arbeiten in Augenschein nehmen und mir für meine Erfindung einen wohlklingenden griechischen Namen suchen.“

Wüthend stürzte ich von dannen und wünschte den Erfinder zu allen Teufeln. Aber noch heute bereue ich meinen Zorn. Der Unglückliche starb nämlich einige Monate darauf in Folge namenloser Entbehrungen und der ekelhaften erstickenden Dünste der bereits erwähnten diversen Blasen.

Indessen giebt es doch Manche, die einen glücklichen Einfall praktisch auszuführen wissen und zu Vermögen kommen, wie folgendes Beispiel beweist.

Vor einer Reihe von Jahren machte ich in einem Pariser Kaffeehause die Bekanntschaft eines Deutschen, eines Rheinländers, wenn ich mich recht erinnere. Er war ein großgewachsener, stattlicher, sorgfältig gekleideter Mann mit heiteren, einnehmenden Zügen. Unsere Unterhaltung drehte sich fast ausschließlich um die in Paris lebenden Deutschen und das traurige Schicksal, dem so Viele derselben unterliegen.

„Davon weiß ich auch was zu erzählen,“ begann er. „Ich hatte es hier durch unsägliche Anstrengungen zu etwas gebracht, verlor aber durch widerwärtige Umstände nach und nach Alles, was ich besessen. Ich kämpfte die härtesten Kämpfe, ich ertrug die unbeschreiblichsten Drangsale, um wieder empor zu kommen. Vergebens! Alles verschwor sich gegen meine Bemühungen, und ich gerieth endlich in solch bittere Noth, daß ich derselben durch Selbstmord ein Ende machen wollte. In dieser entsetzlichen Stimmung ging ich durch die Galerieen des Palais-Royal, wo ich als geübter Kenner die verschiedenen ausgestellten Luxusgegenstände betrachtete. Vor einem Bijouterieladen fesselten mich besonders die geschmackvollen Goldarbeiten und unter diesen einige Armbänder. Da blitzt mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Bis jetzt, sagte ich mir, macht man Bracelets, die entweder zu weit oder zu eng sind, die entweder zu sehr oder zu wenig schließen, so daß der Käufer, der einer Dame eine Ueberraschung mit einem solchen Schmuck machen will, nicht weiß, ob derselbe auch passen wird. Ich sann einige Tage nach und erfand die elastischen Armbänder, die sich den Gelenken leicht anschmiegen, bald allgemeine Aufnahme fanden und mich zum wohlhäbigen Manne machten.“

„Die Erfindung ist ziemlich einfach,“ bemerkte ich.

„Und dieser Einfachheit verdanke ich den Erfolg,“ sagte Jener. „Nichts ist thörichter als jene Erfinder, die sich mit einer fixen Idee herumtragen und in den Besitz von Millionen zu kommen hoffen. Diese Leute sind wahrlich kaum vernünftiger als ein Mensch, der sich fest vornähme, das große Loos zu gewinnen. Aber sie lassen sich durch keine Vernunftgründe von ihrer fixen Idee abbringen. Sie werden vielmehr von derselben immer stärker beherrscht und nicht Wenige von ihnen enden in der Irrenanstalt ihr jämmerliches Dasein.“

Wie oft dachte ich an die Worte des wackern Mannes! Jeder Erfinder glaubt an seine Erfindung wie an ein Evangelium und hegt die unerschütterlichste Ueberzeugung, daß sich Derjenige gegen ihn verschwört, der ihn auf die Schwächen und Mängel derselben aufmerksam macht. Und bei dieser Gelegenheit sei auch eines Erfinders gedacht, der an Tüchtigkeit alle seine Collegen übertrifft, die ich kennen gelernt. Ich werde den ersten Besuch, mit dem er mich beehrte, niemals vergessen. Es war an einem Decembertage, der sich nicht viel von einer Decembernacht unterschied, so dicht lag der Nebel auf der Erde. Ich war in meine Arbeit vertieft, als ich plötzlich durch einen heftigen Ruck an der Schelle aufgeschreckt werde. Ich öffne die Thür und sehe einen Mann vor mir, der auf der Schulter eine in Zitzkattun gewickelte Last trägt und in der rechten Hand das abgerissene Band meines Schellenzuges hält.

„Sie entschuldigen,“ sagte er, indem er mir das Schellenband überreichte, „ich habe etwas zu stark angezogen. Der Schaden läßt sich indessen leicht ausbessern.“

Ich glaubte, er hätte sich in der Thür geirrt; er nannte jedoch meinen Namen, und um mir nicht den Schnupfen zu holen, ließ ich ihn eintreten.

Er hob nun die Last von den Schultern, stellte dieselbe höchst vorsichtig auf einen Stuhl, zog die zitzkattunene Umhüllung hinweg, und was sah ich? – Das Modell einer Windmühle!

„Das ist ja eine Windmühle!“ rief ich äußerst verwundert und verdrießlich zugleich.

„Sie haben sich nicht getäuscht,“ erwiderte er lebhaft. „Da sind Millionen zu verdienen.“

Und nun entwickelte er ein seltenes oratorisches Talent und suchte mir zu beweisen, daß seine Erfindung die wunderbarste aller Erfindungen sei, daß die nach seinem System erbauten Windmühlen in einer gegebenen Zeit wenigstens sechsmal so viel mahlen würden, als die nach dem bisherigen System erbauten; und damit ich an seiner Behauptung nicht zweifelte, zog er mit einem Schlüssel die Mühle auf, und die Flügel setzten sich allsogleich in Bewegung. Mir ward es ganz schwindelig im Kopfe. Umsonst machte ich ihm zu wiederholten Malen die Bemerkung, daß ich weder Ingenieur, noch Müller sei, daß ich also nichts vom Mühlenbau verstehe und mir folglich über seine Erfindung kein Urtheil erlauben dürfe. Er setzte meiner wiederholten Bemerkung immer die Behauptung entgegen, sein System sei so einfach, daß ein Kind es begreifen könne, und ließ dabei die Flügel immer stärker sausen.

Erst nach einer langen qualvollen Stunde zog er seiner Windmühle den zitzkattunenen Mantel wieder an und ließ mich in dumpfer Betäubung zurück.

Jetzt brach der deutsch-französische Krieg aus, der mich zehn Monate von Paris entfernt hielt. Als ich Anfangs Juni, unmittelbar nach der Besiegung der Commune, wieder nach der Hauptstadt Frankreichs zurückkehrte, sah ich, über den Bastillenplatz fahrend, den Windmühlenmann nach der Rue St. Antoine einbiegen. Ach, schon am folgenden Tage erhielt ich seinen Besuch! Er hatte mich ankommen sehen und sich vorgenommen, mich mit seiner Gegenwart zu erfreuen. Ich hörte nun von ihm, daß er während der Belagerung sowohl, als auch unter der Herrschaft der Commune unangefochten in Paris zugebracht. Wie man sich leicht denken kann, frug ich ihn sogleich, wie es ihm während dieser furchtbaren Zeit ergangen; allein er beantwortete meine Fragen nicht, sondern sprach nur von seiner Erfindung, und seine Ueberzeugung, bald in den Millionärstand zu treten, war unerschütterlicher als jemals. Die Ereignisse, die ganz Europa mit Angst und Grauen erfüllt, deren Augenzeuge er gewesen und unter denen er, wie ich an seinem abgemagerten Körper sah, nicht wenig gelitten, beschäftigten weder seinen Geist, noch seine Einbildungskraft.

Ich könnte ein Buch füllen, wollte ich alle die Lächerlichkeiten und Thorheiten aufzählen, mit denen mich die in Paris sich herumtreibenden Erfinder heimsuchten. Ehe ich indessen diese [871] Skizze schließe, muß ich noch eines andern Deutschen, eines gutmüthigen Oesterreichers, erwähnen, der, sonst ein vernünftiger, liebenswürdiger Mann, von der Erfindungsmanie besessen ist. Seit ich ihn kenne, hat er wenigstens zwei Dutzend verschiedener Erfindungen gemacht, von denen ihm jede durchschnittlich eine halbe Million einbringen sollte. So oft er mich besucht, zeigt er mir an, daß er mit einer vortrefflichen Erfindung niedergekommen, welche, wenn sie ausgewachsen, die Welt in Erstaunen setzen würde. So will er eine Feuerspritze erfunden haben, der, wie er versichert, auch die gewaltigste Feuersbrunst nicht widerstehen könne. Er sprach mir auch schon von einer vervollkommneten Rechenmaschine, von einem vervollkommneten Kochapparat und einer vervollkommneten Schnellpresse, und eines Morgens brachte er mir freudestrahlenden Angesichts die Nachricht, daß ihm nach vielem Nachdenken eine Erfindung gelungen sei, die von den unberechenbarsten günstigen Folgen für Handel und Gewerbe sein würde.

„Schon wieder eine Erfindung?“ rief ich.

„Ja, die Erfindung der Luftannoncen!“ rief er vergnügt und suchte mir zu erklären, daß er es durch allerlei optische Pfiffe und Kniffe fertig bringe, nach eingetretener Abenddämmerung alle beliebigen Anzeigen in der Luft wiederzuspiegeln. „Das Publicum,“ fuhr er fort, „wird dieselben den ganzen Abend bis Mitternacht in der Luft sehen und sie fest dem Gedächtniß einprägen.“

„Ihre Erfindung ist vortrefflich,“ sagte ich; „sie hat indessen doch einen Haken. Denken Sie sich das Publicum auf den Boulevards spazierend und die Anzeigen zwischen Himmel und Erde betrachtend, würde die Menge nicht aneinander rennen, die Füße sich gegenseitig zertreten und die Nasen sich einschlagen?“

„Die Sache ist sehr ernst und Sie spaßen,“ sagte er.

„Durchaus nicht!“ versicherte ich. „Erwägen Sie auch, daß, während das Publicum Ihre Luftreclamen liest, das unzählige Diebsgesindel, das sich in den Straßen herumtreibt, die Gelegenheit benutzen wird, die langen Finger auf Entdeckungsreisen in fremde Taschen zu schicken und dort ungestört erkleckliche Beute zu machen.“

„Aber man wird auch unter den Annoncen die Warnung vor Taschendieben in der Luft lesen,“ entgegnete er mit triumphirender Miene.

Diesen sonst so gutmüthigen und sanften Mann sah ich vor Kurzem in glühendem Zorn. „Alle Hauseigenthümer sind Spitzbuben!“ rief er, als er mir auf der Straße begegnete.

„Das behaupten fast alle Leute, die nicht Hauseigenthümer sind,“ bemerkte ich.

„Hören Sie, was mir widerfährt,“ eiferte er, indem er mir in’s Palais-Royal folgte. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon mitgetheilt, daß ich die Lenkbarkeit der Luftballons erfunden habe. Um mich nun auf’s Unwiderlegbarste zu überzeugen, daß meine Ballons selbst gegen den heftigsten Wind fahren können, habe ich in die Wand, die mein Schlafzimmer von meinem Wohnzimmer trennt, ein Loch prakticirt, in dasselbe einen Blasbalg gethan und einen Burschen gemiethet, der diesen in Bewegung setzt. Ich habe auch die Freude zu sehen, daß mein Ballon, Dank meinem System, gegen den Wind fährt, der dem Blasbalg entströmt. Heute Morgen nun erhalte ich den Besuch des Hauseigenthümers, der mir sagt, meine Nachbarn beschweren sich, daß ich den ganzen Tag im Zimmer herum trampele; und als er den Ballon am Plafond und die Oeffnung in der Wand sieht, behauptet er, ich vertreibe ihm seine Miethsleute und durchlöchere sein Haus. Er hat mir sodann die Wohnung aufgekündigt und verlangt noch obendrein eine Entschädigung. Welch ein Schuft!“

Nur mit der größten Mühe gelang es mir, mich von ihm loszureißen.

Woher kommt es aber, daß just ich von den Erfindern geplagt werde? – Ganz einfach daher, weil sie wissen, daß ich die Ehre habe, an weitverbreiteten Zeitschriften, besonders an der Gartenlaube mitzuarbeiten, und die Hoffnung hegen, durch meine schwache Feder, die mich selbst nicht unsterblich macht, die Unsterblichkeit zu erlangen. Dies gehört ebenfalls zu den Täuschungen der. Erfinder, und sie ist gewiß nicht eine der geringsten.




Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf Gottschall.
IX.


Kennen Sie das Wupperthal, geehrte Frau?

Die Wupper ist ein sehr umständlicher Fluß, der sechs Meilen vom Rhein entspringt und vierzehn Meilen braucht, um sich in ihn zu ergießen; aber sie ist auch ein sehr nützlicher Fluß, denn sie treibt unzählige Mühlen, Schleif- und Hammerwerke; es ist ein fortwährender Lärm an ihren Ufern und des Nachts spiegeln die Hochöfen der Eisenhütten die rothe Gluth in ihren Wellen! Da rauschen die Mühlen, da pochen die Hämmer, da wird gebleicht und gefärbt und aus den Lumpen wird Papier bereitet für die unermeßliche Maculatur des tintenklecksenden Säculums – es giebt kaum einen deutschen Fluß, der sich mit dieser fleißigen Wupper vergleichen kann.

Im reichbevölkerten Wupperthal geht’s indeß nicht so friedlich zu, wie man von der Arbeitsamkeit seiner Bewohner erwarten dürfte. Die Gegensätze platzen hier oft aufeinander. Hier singen die Pietisten fromme Lieder, dort prügeln sich die Socialisten mit Gensd’armen und Andersgläubigen herum; hier werden Missionstractätlein studirt, dort Lassalle’sche Broschüren, und der Agitator selbst hat hier in stürmischen Volksversammlungen seine schrill-durchgreifende Stimme voll innerlich vibrirender Energie ertönen lassen; denn nur in diesen Arbeiterdistricten kann der Socialismus seine Armeen aus der Erde stampfen. Wir wissen nicht, ob gegenwärtig hier die männliche oder weibliche Linie Lassalle’s das Scepter führt, ob die Internationale hier ihre blutrothen Pariser Heiligenbilder feilbietet oder ob hier das Verdammungsurtheil des eleganten Herrn Mende gilt, das er auf die Pariser Vandalen geschleudert hat; denn die weibliche Linie Lassalle hat einen gewissen aristokratischen Parfum. Doch das ist zweifellos – es gährt in diesen Köpfen von Zukunftsidealen und den Träumen eines irdischen Glücks, und Manchem „geht das Mühlrad im Kopf herum“, das die Wasser der socialistischen Beredsamkeit treiben! Und daneben die Ueberfrommen, die selig im Herrn sind und vom Lämmlein singen, die Weltflüchtigen neben den Weltverbesserern!

Doch im Wuppertal gedeihen auch, neben den Frommen und Revolutionären, die Poeten – und obgleich diese Species gegenwärtig zu den verbreitetsten Wald- und Wiesenblumen gehört, welche durchaus nicht sehr beachtet, sondern bei der literarischen Grummeternte mitheruntergesichelt und auf den Heufuhren der Buchhändlermessen gelegentlich mit in die Scheuern gefahren werden, so verschwinden doch die Poeten des Wupperthals nicht in der Masse; ihre Gedichte gehören nicht zum lyrischen Unkraut; es lohnt sich schon, ihre Kelchblätter und Staubfäden zu zählen.

Zwei von diesen Sängern gehören bereits zu den Todten: Adolf Schultes, ein Dichter des häuslichen Herdes, glücklicher in kleinen sauberen Genrebildern als in den weltgeschichtlichen Gemälden, die er selbst bevorzugte, und Carl Siebel, eine Don-Juan-Faustnatur, voll kühner Anläufe, der Sänger eines „Tanhäuser“, ein kranker Poet, der in der Sonne von Madeira vergeblich Genesung von seinem Leiden suchte. Noch dichtet Friedrich Röber seine großskizzirten Dramen, die zu wenig theatralisches Lebensblut für die Bühne haben; vor Allem aber ist Emil Rittershaus ein frischer und unermüdlicher Sänger, dessen Gedichte den Fluß und Guß einer frei strömenden Improvisation besitzen, der sich sein Nest baut an die Dampfschornsteine des industriellen Wupperthals und fröhliche Lieder daraus ertönen läßt.

Alle diese Dichter sind Kaufleute; aber was das Wunderbarste ist, sie singen nicht von „Soll und Haben“, noch verherrlichen sie die fremden Länder, aus denen die seltnen Waaren kommen, sondern sie erheben sich eben von dieser Arbeit durch Lieder, welche die Seele befreien und das Gemüth kräftigen.

Emil Rittershaus hat vor Kurzem „Neue Gedichte“ erscheinen lassen (Leipzig, 1871), von denen bereits eine neue Auflage nöthig [872] geworden ist. Hier begrüßen wir auch die Kriegsgedichte wieder, die durch ihre Frische einen so wohlthuenden Eindruck machen. Rittershaus war einer der Ersten, welche die lyrische Reveille trommelten und gegen Frankreich und Bonaparte auch die deutschen Verse mobil machten.

Auf, nach Paris! Den Degen in die Hand!
Komm, Corse, komm! – Zum Siegen oder Sterben!

Diese Kriegsgedichte sind theils schwunghafte Ergüsse, theils singbare Lieder, wie der „Marschgesang“, mit soldatisch kernhafter Haltung. Zu jenen Ergüssen gehören die „Worte der Weihe“, eine lyrische Festrede, zur Feier des Friedens im Gürzenich in Köln gehalten, eine Dichtung, die wie eine Symphonie gemahnt. Gerade das festlich Pomphafte mit einer heitern und großen Architektonik des Versbaues gelingt unserm Dichter vortrefflich; es ist in diesen Versen ein mächtig wogender Vollklang:

Der Friede herrscht, die Waffen ruhn. Nun öffne du des Edens Thor,
O deutscher Weltenfrühling, nun in Glanz und Schönheit steig’ empor!
O spende, wo die Wunde klafft, den linden Balsam, der sie schließt!
Entfalten laß sich jede Kraft, daß sie zum Heil des Ganzen sprießt!
Die gold’nen Strahlen gieße aus auf Rebenhang und Saatengrün
Und laß der Wonne Rosenstrauß in nie geahnter Fülle blühn!
Laß sprudeln frisch des Wissens Quell und laß ihn rieseln schlammesfrei,
Daß seine Woge silberhell den Völkern rings zur Labung sei!
Und laß uns nicht im engen Kreis vergöttern unsern eig’nen Werth!
Erhalt’ uns jenen Bienenfleiß, der überall uns suchen lehrt,
Das Gute in der Näh’ und Fern’, die Blüthen all’ am Menschheitsbaum!
Sind wir im eignen Haus die Herr’n, reizt uns kein Weltenherrschaftstraum.
Aus des Gedankens Pfeilern steig’ ein Riesentempel himmelwärts;
Drin hab’ sein irdisch Himmelreich, sein Allerheiligstes das Herz;
Drin mög’ als Hohepriesterin die Kunst an dem Altare stehn!
Nur nach dem Höchsten soll sie hin als ew’gem Ziel des Strebens sehn,
Nie nach dem Spielzeug und dem Tand als Dienerin des falschen Scheins!
Gottlob, nun hat ein Vaterland die deutsche Kunst so stolz wie keins!

Das ist ungezwungener, warmer Erguß aus voller Dichterbrust! Auch gehört Rittershaus zu den Dichtern, welche nicht blos die großen Thaten der jüngsten Zeit preisen, sondern stets auch prophetisch das Auge nach der Zukunft hin gerichtet haben. Die Formel des einigen Vaterlandes genügt ihm nicht; er sucht auch nach einem reichen Inhalt für dieselbe; Deutschland soll ein Reich der Freiheit, der Kunst und Wissenschaft sein. Im Volke soll das Licht verbreitet, gegen jeden Trug gepredigt werden, der die Welt umspannen will, der freien Völker Brüderschaft soll die Losung einer schönern Zukunft sein! Rittershaus gehört nicht zu den soldatischen Poeten, denen der Krieg Selbstzweck ist und die gleichsam ganz und ohne Rast im Schlachtenlärm und Blutvergießen aufgehen; trotz seiner feurigen Kriegslieder ist ihm der Krieg nur ein Act der Nothwehr, und er preist die höheren Ziele, welche der Menschheit winken.

Unsere praktischen Staatsmänner werden über diesen unverwüstlichen Glauben der Poeten lächeln in einem Zeitalter, in welchem die Kriegsfurie sich wieder in Permanenz erklärt und die Träume des ewigen Friedens zur philosophischen Maculatur gehören; doch die Dichter haben ja einmal das Vorrecht des göttlichen Wahnsinns, und so mögen sie nach wie vor im eisernen Zeitalter von der Wiederkehr des goldenen träumen!

Mit den festlichen Versguirlanden, welche Rittershaus so stilvoll zu winden versteht, umkränzt er noch zwei Büsten aus der deutschen Walhalla, die Büsten Alexander’s v. Humboldt und Beethoven’s. Das erste Gedicht war für das Humboldt-Fest in New-York bestimmt. Der Dichter mahnt die alte Welt, sich zu erneuern, die neue aber, im Geiste frei zu werden. Am pomphaftesten ertönt das „Lied zur Beethoven-Feier“, schon in der Introduction hochfeierlich, hymnenartig, wie mit Posaunenklang eröffnet:

Das große, mächt’ge, ew’ge Weltenlied – wer hat es rein und ganz und klar vernommen?
Wer hat die ganze Harmonie gehört und ist in Einklang mit dem Lied gekommen,
Und hat sich selber als ein Ton gefühlt, vom höchsten Meister weise eingereiht,
Die Riesenmelodie der Ewigkeit empfunden in dem flücht’gen Lauf der Zeit?

Auch Moritz Arndt wird von dem Dichter gefeiert, und dem Sängerfest in dem unglücklichen Chicago, dessen Riesenbrand vor Kurzem die Wogen des Michigansees spiegelten, widmet seine an transatlantische Wanderungen gewöhnte und jenseits des Oceans beliebte Muse einen volltönenden Brudergruß.

Doch so würdig sich Rittershaus mit dem faltenreichen Talar eines lyrischen Festredners zu drapiren weiß, so steht ihm gleichwohl das patriarchalische Gewand doch noch besser zu Gesicht und wenn er schlicht einfach vom häuslichen Herde singt, wenn er seine Gattin, das Doppelkleeblatt seiner Kinder feiert, an der Wiege des Kindleins, am Sarge seiner Adele, dort im Glück, hier im tiefen Weh verweilt, so gewinnt man den Dichter lieb, der sein inniges Empfinden in so anmuthender Weise auszudrücken weiß. In dem Gedicht „Bei Nacht am Herde“ sind die zerstreuten Klänge dieser Empfindung in Einen Accord von verstärkter Wirkung gesammelt. Der einsam wachende Dichter schleicht sich an die Betten und Bettchen seiner Lieben und ruft im Vollgefühl seines Glückes aus:

Grüß’ dich Gott, mein Blumengarten! Schütz’ dich Gott, mein Liebeleben!
Dich zu pflegen, dein zu warten sei mir immer Kraft gegeben.
Glüht, ihr Lippen, rothe, kleine! Blüht, ihr meine Rosenstöcklein,
Und ein Englein breite seine Hände über eure Löcklein.

Doch neben dem Herzen verlangt auch die Phantasie ihre Rechte: es ist in Deutschland seit Rückert’s Vorgang Mode geworden, einem Liebesfrühling „östliche Rosen“ folgen zu lassen. So tritt uns auch in der Sammlung von Rittershaus plötzlich eine „Zuleika“ entgegen – und schon der Name erinnert uns an den „westöstlichen Divan“, an die Rosen von Schiras, an den Märchenduft der Scheherezade und an die leidenschaftliche Liebesgluth des Orients.

„Wer ist dies Mädchen aus der Fremde?“ fragen die Frauen; denn fast in jeder Frau – es giebt Ausnahmen – steckt ein geheimer Polizist, der alle Erscheinungen nach ihrer Legitimation fragt. „Wer ist Zuleika?“ fragen die Kritiker und Literarhistoriker, die sich gewöhnt haben, in den Lebensläufen der Dichter nach den Veranlassungen ihrer Gedichte zu forschen, und nicht eher ruhen, bis sie das vollständige Register aller wirklichen oder vermeintlichen Liebschaften eines berühmten Dichters in der Hand haben. Jede neue Entdeckung auf diesem Gebiete wird als eine literargeschichtliche Großthat gepriesen und bringt den Entdeckern großen Ruhm ein; denn der Ruhm wird heutigen Tags mehr solchen Leistungen aus zweiter Hand zuertheilt und man wird ein großer Mann, wenn man den großen Männern gehörig auf die Finger sieht.

Diese unermüdlichen Forscher beweisen indeß durch alle ihre scharfsinnigen Schlüsse nur, daß sie in dem Atelier der lyrischen Muse wenig zu Hause sind. Wohl kann ein Dichter seine Liebesergüsse an eine bestimmte Schöne richten, deren Name im städtischen Adreßbuch zu finden ist, und wenn seine Muse indiscret genug ist, so wird sie auch die schöne Freundin bei Namen rufen; aber ebensogut kann ein Poet das Ideal seines Herzens aus der Verschmelzung irdischer Gestalten hervorzaubern; ebensogut kann er seinen Träumen Gestalt leihen – das Alles ist sein gutes Recht, und in den letztern Fällen werden die feinspürigsten Forscher sich nur auf falscher Fährte bewegen. Ob die schöne Römerin der Goethe’schen Elegien wirklich unter den Trümmern der ewigen Roma am Tiberstand gelebt hat oder ob der Dichter lediglich sein Fräulein Vulpius, die nur an den Ufern der vielbesungenen Ilm verweilte, als Modell benutzt hat, soweit sie sich für die Antike eignete – das wird stets eine offene Frage bleiben, deren Lösung aber für den Genuß jener schönen Elegien ganz gleichgültig ist. Die Dichter sind eben discreter als ihre Ausleger.

Wir wollen deshalb nicht in schlummerlosen Nächten darüber nachdenken, wer Zuleika war. Keinesfalls hat der Dichter aus dem Wupperthal eine Reise in den Orient gemacht, weder in der östlichen Siebenhügelstadt, noch an der tönenden Memnonssäule, noch im Schatten von Zions Burg kann ihm eine Zuleika begegnet sein. Er hat irgend ein abendländisches Mädchen lyrisch verkleidet, wie dies in unserer westöstlichen Dichtung der Brauch ist. Vielleicht ist diese Zuleika aber auch nur ein Phantasiegeschöpf – und der Dichter widmet ihm die leidenschaftliche Liebesgluth, für die er nicht minder seine Saiten zu stimmen ein Recht hat, als für das Glück des häuslichen Herdes. In der That sind die Zuleikagedichte Perlen der Sammlung zu nennen. Mit reicher Bilderpracht wird die Geliebte gefeiert, welche nicht Perlen, nicht

[873]

Streifzüge eines Feldmalers.0 Nr. 5. Adjutantenritt in den Ardennen.
Von Chr. Sell.

[874] Geschmeide besitzt, für die aber Perle, Gold und Seide nur „Wolke vor dem Sonnenlicht“ wäre.

Füll’ den Pokal mit Schiraswein,
Entfess’le deiner Locken Pracht!

ruft der Dichter der Geliebten und zugleich seiner Muse zu, welche die Schönheit seiner Zuleika mit freudigen Liedern verherrlichen soll. Das glühendste darunter ist das Lied von der wilden Rose, in welchem sich die folgenden schönen Strophen befinden:

Du wendest seitwärts Mund und Wange?
Horch, was im Wogenlispeln spricht!
Es küssen sacht am Uferhange
Die Wellen die Vergißmeinnicht.
Und lausche, wie es rauscht verstohlen
Dort in des Waldes laub’gem Dach –
Das ist des Zephyr’s Athemholen!
Er küßt die wilden Rosen wach.

Still! Hörst du’s nicht vom Busche schallen?
Die Brust durchzuckt’s wie Flammenguß.
Das sind des Frühlings Nachtigallen,
Das ist des Mai’s gesung’ner Kuß!
Fühlst du nicht Wonne unermessen
Aus dieses Liedes Klängen sprüh’n?
Komm, lass’ uns Lipp’ auf Lippe pressen,
Mein Lieb’! Die wilden Rosen blüh’n!“

Auch Gedichte „aus dunkeln Stunden“ hat Emil Rittershaus verfaßt; doch er ist kein Poet der Zerrissenheit, der mit dem Kainsstempel umherläuft; auch würde ihm der Weltschmerz älteren und neuesten Datums nicht gut zu Gesicht stehen. Er findet sich daher mit dem dunkeln Geist so rasch wie möglich ab, indem er ihm nur drei Gedichte weiht, und wenn er in dem einen der Göttin nachrühmt, daß sie manches Blüthenblatt in ein verfehltes Leben gestreut habe, so corrigirt er sich augenblicklich:

Nein, nicht verfehlt! Durch Sorg’ und Noth
Stählt sich ein rechter Mann zur ernsten That

Offenbar hat der Dichter kein Talent dafür, sich in die Nachtseiten des menschlichen Lebens zu vertiefen; was aber die dunkeln Stunden betrifft, so kommen sie über Jeden; denn das ist einmal Menschenloos. Unheimlich düster ist in der ganzen Sammlung nur die erste Ballade, „der Henker“, die an den grellen Ton Victor Hugo’scher Romane erinnert.

Wenn Sie einen frischen Sänger von gesunder Empfindung unter die Lieblinge Ihres Toilettentisches aufnehmen wollen, neben den geistreichen und tiefsinnigen Weltweisen der Dichtung, in deren Schriften Sie in Ihren „dunkeln Stunden“ blättern, so empfehlen wir Ihnen den Sänger aus dem Wupperthale, welcher nie in unerquicklicher Weise der Menschheit Schnitzel kräuselt, sich nie in die Fistel versteigt und hohe Töne erkünstelt, sondern mit vollem Brustton vom Herzen zum Herzen singt.




Eine verlorene Flotte im Eismeer.

Von M. E. Plankenau.

Vor einigen Wochen brachten die Zeitungen die kurze Notiz, daß im Eismeere nördlich der Beringstraße der größte Theil der amerikanischen Walfängerflotte vom Eise eingeschlossen worden und verunglückt sei. Von befreundeter Hand und von Männern, welche die Katastrophe mit durchlebten, sind mir nun genügende Mittheilungen über dieses Ereigniß zugegangen, so daß ich es unternehmen kann, dasselbe ausführlich zu schildern. Von den nach dem Polarmeer gegangenen Schiffen sind dreiunddreißig theils total zu Grunde gegangen, theils im Eise steckend des herannahenden Winters wegen von ihrer Bemannung verlassen worden. Mein in Nr. 5 und 6 dieses Jahrgangs der Gartenlaube erschienener Aufsatz „Eine Fahrt in das Eismeer“, in welchem ich über Witterungs- und Eisverhältnisse, über die Küstenländer, und deren Bewohner und über das Leben und Treiben der Walfänger in jenen Gewässern eingehend berichtete, kann jetzt für das Nachstehende als belehrende Einleitung benutzt werden.

Die für die Sommerkreuze im arktischen Ocean bestimmten Schiffe verließen, wie gewöhnlich, im Frühling dieses Jahres die verschiedenen Erfrischungshäfen im Stillen Ocean und eilten auf verschiedenen Wegen ihrem Ziele zu. Anfang Mai hatten sie die langgestreckte Inselkette der Alëuten passirt und trafen schon nach wenigen Tagen im Bering-Meer, westlich von der Insel St. Paul, in ungefähr achtundfünfzig Grad nördlicher Breite, auf so mächtiges und so dicht zusammengeschobenes Treibeis, daß die Fahrzeuge sich nur langsam vorwärts arbeiten konnten, zumal der Wind fast während des ganzen Monats Mai scharf von Nordosten und Norden blies.

An der Ostküste von Sibirien, vom sechzigsten Breitengrad an nordwärts, lag das Eis so dicht, daß es den Schiffen jeden Durchgang verwehrte; endlich aber lockerte es sich und erlaubte diesen Anfang Juni bis zum Cap Navarin vorzudringen. Hier gab es zwar Wale genug, doch hielten dieselben sich zwischen dem Pack, so daß es den Booten nicht möglich war, sie zu erreichen. Den nach Norden ziehenden Walen folgend, versuchten nun die Fahrzeuge quer über den Golf von Anadyr segelnd, die Beringstraße und durch diese das Eismeer so schnell als möglich zu erreichen, hatten aber fortwährend schwer mit großen Massen von Treibeis zu kämpfen.

Während des Juni waren die Winde leicht und unbeständig, das Wetter sehr neblig, und die Flotte hatte erst bis zu Ende dieses Monats die Beringstraße passirt. Ende Juli begannen endlich starke Winde von Südosten und Nordosten zu blasen und trieben das Eis von der amerikanischen Küste ab; die Hauptmasse desselben lag zwischen Cap Lisburne und dem Eiscap, jedoch öffnete sich nun zwischen diesem und dem Lande ein verschieden breiter Streifen freien Wassers. Auf diesem drangen nun die meisten Schiffe, die Gelegenheit sofort benutzend, nach Nordosten vor, doch wurden sie am Eiscap aufgehalten und ankerten dort, weil auf der unmittelbar nördlich von diesem liegenden Blossombank die Eisfelder auf den Grund gerathen waren und von der sehr starken Nordostbrise dort festgehalten wurden. Am 6. August ging der Wind nieder, das Eis trieb seewärts und die Mehrzahl der Schiffe arbeitete sich zwischen Land und Eis nach Norden hinauf bis zu Wainwright Inlet. Hier fanden sich viele Wale und viele derselben wurden gefangen, obgleich auch eine große Anzahl im Eise verloren ging; immerhin berechtigte der endliche Erfolg zu den schönsten Hoffnungen auf eine gute „Saison“.

Die meisten Fahrzeuge gingen vor Anker oder machten zu den großen, noch auf dem Grunde liegenden Eisblöcken fest, während die Boote in allen Richtungen kreuzten. Die scheuen Wale hielten sich meistens an ihren Lieblingsplätzen auf, den mehr oder weniger großen freien Wasserflächen zwischen den Feldern, und überall sah man ihre Dunststrahlen emporsteigen. Dies verlockte viele Boote, in dem vielverzweigten Netz von Canälen, welche das Eis durchzogen, meilenweit seewärts vorzudringen, um dort auf Beute auszugehen. Diese Streifzüge waren mehrmals erfolgreich und bald wetteiferten die Bemannungen der verschiedenen Fahrzeuge darin, möglichst in die Ferne gerichtete Expeditionen zu unternehmen und sich aus dem Packeis einen Wal zu holen. Mit derartigen Fahrten werden ja die Walfänger in ihrem wechselvollen Leben hinreichend vertraut, und das Dahingleiten auf den stillen dunkeln Wasseradern zwischen den seltsam geformten und stellenweis ziemlich hoch aufgethürmten, in prächtigen Farben strahlenden Schollen und Blöcken übt immer wieder einen eigenen Reiz aus, welcher die in dieses Zauberreich Eingedrungenen tiefer und tiefer in das Labyrinth der Canäle hineinlockt.

So befanden sich auch am 11. August viele Boote wieder meilenweit zwischen dem Eise verstreut, als die leichte Brise plötzlich umschlug und von Westen kommend dasselbe dichter und dichter zusammenschob. Nun ist die Bewegung des sich bei mäßigem Winde schließenden Eises allerdings eine sehr langsame, jedoch zugleich auch eine sehr verschiedenartige, da die kleinen und die namentlich viel Körper über Wasser zeigenden Blöcke sich schneller bewegen, als die sehr großen und tiefgehenden, und so können denn schon, je nach der Kraft des Windes und der Beschaffenheit des Eises, nach kaum einer Viertelstunde die meisten Wasserwege zwischen den Feldern unpassirbar geworden sein.

Diese Erfahrung mußten auch eine große Anzahl Boote machen, welche zu weit seewärts vorgedrungen waren und trotz [875] eiliger Flucht beim Auffrischen des Windes ihren Rückweg versperrt fanden. Es blieb den abgeschnittenen Bemannungen endlich nichts anderes übrig, als ihre Boote auf das Eis zu ziehen und sie wiederholt unter großen Anstrengungen über dasselbe hinweg nach noch befahrbaren Canälen zu schaffen, auf welchen sie endlich ihre Schiffe erreichten. Aber auch diese mußten sehr bald unter Segel und dem Lande näher gehen, um sich vor dem anrückenden Eise zu retten. Glücklicher Weise war dies aber so dick, daß es bald auf den Grund gerieth und am dreizehnten August immer noch genügendes Fahrwasser nach Norden zu offen ließ. Bei der eiligen Flucht nach dem Lande hin waren viele Schiffe in dem hier sehr flachen Wasser festgefahren, wurden aber bald wieder flott und drangen theilweise bis zum Cap Belcher vor.

Dort fand man einen Trupp Eskimos, welche den Officieren riethen, so schnell wie möglich südwärts und in freies Wasser zu gehen, wenn sie nicht ihre Schiffe verlieren wollten. Man schenkte jedoch ihren Warnungen kein Gehör, obgleich sie wiederholt vorhersagten, das Eis würde an die Küste kommen, und sich dort unbeweglich festsetzen. Ihre Prophezeiungen sollten sich nur zu bald erfüllen.

Der Fang war während dieser Zeit auf der ganzen Strecke ein ausgezeichneter und die Leute voll froher Hoffnungen; diese wuchsen, als am fünfundzwanzigsten August ein Nordoststurm das Eis wieder seewärts trieb. Am Siebenundzwanzigsten und Achtundzwanzigsten war schönes Wetter und eine große Anzahl Wale wurden erlegt. Am Neunundzwanzigsten aber sprang ein leichter Südwestwind auf, welcher sich allmählich verstärkte und die Felder schnell gegen das Land hin in Bewegung setzte. Leider hatten verschiedene Schiffe es gewagt, im Vertrauen auf die Beständigkeit der so günstigen Witterung ziemlich weit seewärts in die an vielen Stellen segelbar gewordenen Felder einzudringen, um die dort erlegten Wale gleich an Ort und Stelle abzuspecken und so den Zeitverlust zu vermeiden, welchen das Herausschleppen der Riesenleichen bedingt hätte. Sobald der Wind anfing, aus der gefürchteten Richtung bald schärfer und schärfer zu blasen, versuchten sie natürlich eiligst das freie Wasser am Lande zu erreichen. Einige, die letzterem am nächsten waren, entschlüpften mit Mühe und Noth; die anderen hatten das gleiche Schicksal wie früher die Boote, nur konnte man sie nicht auch wie jene über die Hindernisse hinweg transportiren. Vorläufig waren sie allerdings nur locker vom Pack umschlossen und konnten bei einigermaßen günstiger Witterung auf baldige Befreiung rechnen – wenn diese sich aber verschlimmerte, so wurde ihre Lage eine sehr bedenkliche. Jedenfalls waren sie gefangen und mußten abwarten, was die Zukunft ihnen bringen werde.

So lag denn die ganze Flotte, außer den Schiffen, welche schon vom Eise eingeschlossen waren, abermals nahe am Lande und zwar vom Cap Belcher bis südlich von Wainwright Inlet in einem Fahrwasser, dessen größte Breite vielleicht zweitausend Fuß, die geringste nur eben so viele hundert betrug: Die an jener Stelle vorhandene ziemlich starke Nordostströmung des Wassers schob das Eis, trotzdem letzteres bald auf dem Grunde festsaß, stündlich dem Lande näher. Ein schwerer Nordweststurm mit dichtem Schneegestöber konnte diese Bewegung nur unterstützen.

Die Situation begann nun sehr gefährlich zu werden. Die Eisfelder erstreckten sich seewärts, so weit das Auge reichte, und kamen stetig und mit ungeheurer Gewalt gegen die Küste heran. Die leichteren Schollen und Blöcke drangen bald in das flache Wasser dicht am Lande vor, welches allein noch den dorthin geflüchteten Schiffen eine Art Schutzhafen bot, und engten die letzteren immer mehr ein und hinderten ihre Bewegungen so, daß sie öfters schon mit einander in Collision geriethen. Die größeren Eisblöcke aber setzten sich weiter seewärts bald auf dem Grunde fest und hatten nun zunächst den vereinten Druck der mit wenn auch langsamer doch unwiderstehlicher Bewegung heranrückenden Eismassen auszuhalten. Sie waren diesem Drucke, welcher sich vielleicht nur nach Millionen von Centnern berechnen ließe, nicht im Entferntesten gewachsen und wurden, tief den Boden aufwühlend und Schlamm und Geröll vor sich herschiebend, unaufhaltsam vorwärts gedrängt. An einzelnen Stellen stauten sich die Massen, wo sie einen zu großen Widerstand fanden, schoben sich knirschend und dröhnend übereinander, zermalmten sich gegenseitig und thürmten sich in mächtigen Wällen empor, welche wieder krachend zusammenstürzten, um von neuem emporzusteigen.

Die bis zum fernsten Horizont sich dehnenden Eisfelder bildeten ein unabsehbares Chaos von wildbewegten Schollen und Blöcken, welche Sturm gegen die Küste liefen und Zoll für Zoll, Fuß für Fuß in geschlossener Phalanx heranrückten.

Schlimm erging es dabei den armen, im Pack gefangenen Schiffen. „Concordia“, „George“ und „Gayhead“, welche dicht bei einander lagen, wurden in wenigen Minuten von dem sich unter ihnen stauenden Schollen aus dem Wasser gehoben und lagen bald hoch und trocken auf und zwischen dem Eise. Die Bark „Roman“ wurde am ersten September mit dem Pack unaufhaltsam am Cap Belcher, vorüber bis nach den Seahorse-Inseln getrieben, wo gewaltige Eismassen sich festgesetzt hatten, und wurde bei dem erfolgenden furchtbaren Zusammenstoß vollständig zerdrückt. Ihre Bemannung konnte nichts als das nackte Leben retten und floh mit Lebensgefahr über das Eis hinweg nach den andern Schiffen. Am zweiten September traf die Brig „Comet“ ein gleiches Schicksal, und sechs Tage später folgte ihr die Bark „Awashonks“, während die Mannschaften sich ebenfalls glücklich retteten und von den anderen Fahrzeugen aufgenommen wurden.

Die Gefahr für die in dem schmalen noch etwas eisfreien Wasserstreifen dicht an der Küste befindlichen Schiffe wuchs von Stunde zu Stunde, und sie wären sicherlich von den stetig vorrückenden Eismassen erfaßt und zerdrückt oder hülflos auf das Land geschoben worden, wenn nicht in der höchsten Noth die Witterung sich geändert hätte und das Eis endlich zum Stehen gekommen wäre. Nun war es immer noch möglich, sie zu retten, da sie ja noch frei und seetüchtig waren und sich doch irgendwo ein Ausweg öffnen konnte.

Als nun Tag für Tag verging, ohne daß das Eis sich von der Küste zurückzog und die Schiffe freiließ, wie man bisher ganz sicher und nach früheren Erfahrungen mit Recht erwartet hatte, fing man an ernstlich beunruhigt zu werden, denn die „Saison“ ging zu Ende und der Winter nahte mit Riesenschritten. Doch hegten die Officiere immer noch die Hoffnung, wenigstens die meisten Fahrzeuge zu retten, obgleich die Eskimos wieder auf das Bestimmteste behaupteten, jede Rettung sei unmöglich. Die Capitaine hielten nun verschiedene Berathungen und beschlossen endlich, für alle Fälle die nothwendigsten Vorsichtsmaßregeln zu treffen, um im letzten Momente wenigstens das Leben der Mannschaften retten zu können. Bei den Schiffen zu überwintern war unmöglich, denn es waren nur noch für ungefähr drei Monate Nahrungsmittel vorhanden; einen Theil der Seeleute als Besatzung zurückzulassen, war ebensowenig thunlich, da man hierdurch die Fahrzeuge auch nicht hätte retten können, denn wenn das Eis von neuem in Bewegung kam und vorrückte, so hätte nichts ihre Zerstörung verhindern können. Ueberstanden sie aber dennoch diese Gefahr, wie auch den langen Winter, das Aufbrechen des Eises und die Angriffe der Stürme – was sehr unwahrscheinlich sein dürfte –, so würde man das, was von ihnen noch vorhanden, eben so gut im Sommer des nächsten Jahres aufsuchen können.

Unter den obwaltenden Umständen war keine Zeit mehr zu verlieren, und Alles mußte aufgeboten werden, um wenigstens den Schiffbrüchigen den Abzug nach Süden möglich zu machen. Zunächst wurde die kleine Brig „Kohola“ von ihrer Ladung befreit, um sie zu erleichtern, und man versuchte sie über die Barre an Wainwright Inlet zu bringen, welche nur ungefähr sechs Fuß Wasser über sich hatte und als unterseeischer Damm das noch offene schmale Fahrwasser versperrte. Der Versuch mißglückte, da der Tiefgang des Fahrzeugs immer noch zu bedeutend war. Gleichzeitig sandte man aber drei Boote nach Süden, welche um jeden Preis sich nach dem offenen Meere durcharbeiten und die, wie man wußte, dort kreuzenden sieben Schiffe aufsuchen sollten, um sie vom der traurigen Lage der Flotte in Kenntniß zu setzen, ehe sie das Eismeer verließen.

Glücklicher Weise hatten die Capitaine der letzteren eine Ahnung von dem Unglück gehabt und waren darum mit ihren Fahrzeugen südlich vom Eiscap vor Anker gegangen. Natürlich versprachen sie den ausgeschickten Booten, so lange als nur irgend möglich auf die Schiffbrüchigen zu warten. Diese hatten unterdessen wieder versucht, die Bark „Victoria“ über die schon genannte die Durchfahrt versperrende Barre zu bringen, mußten sich aber überzeugen, daß ein Ausweg an dieser Stelle nicht zu erzwingen war. Am neunten September war das Wetter klar [876] und kalt, und der glatte Wasserspiegel rings um die Schiffe bedeckte sich mit Eis. Nun durfte keine Zeit mehr verloren werden. Schleunigst wurde eine Anzahl Boote mit Proviant nach Süden gesendet, um am Lande ein Depôt anzulegen, damit man auf der Flucht gegen den Hunger geschützt sei, wenn es nöthig werden sollte, dieselbe über Land zu bewerkstelligen. Das junge Eis war schon so stark, daß die leichten Fahrzeuge sich nur mit Mühe einen Weg hindurchbrechen konnten, und sie mußten in aller Eile am Buge mit Kupfer beschlagen werden, um sie wenigstens etwas gegen Beschädigungen zu schützen.

Die Aussichten, auch nur eines der gefangenen Schiffe zu retten, wurden immer geringer und man mußte sich in das Unvermeidliche fügen und sie verlassen. Jedes längere Verweilen vergrößerte nur die Gefahr für das Leben der Mannschaften. Am dreizehnten September hielten die Capitaine eine letzte Berathung und beschlossen einstimmig, da eine Rettung der Flotte unmöglich sei und die Wohlfahrt Aller in höchster Gefahr schwebe, am nächsten Tage nach Süden aufzubrechen.

Alle eingeschlossenen und noch unversehrten Schiffe lagen in Gruppen umher und in Sicht voneinander, und manchem alten Seebär wurden die Augen feucht, als am vierzehnten September Nachmittags sämmtliche Flaggen zum letzten Male aufgezogen wurden und die Mannschaften in die bereitgehaltenen schwer beladenen Boote stiegen. Hundertundachtzig dieser kleinen Fahrzeuge trugen zwölfhundert Männer hinweg von jenen stolzen Gebäuden, in welchen sie die Erde umkreist und Sturm und Wetter getrotzt hatten und welche sie nun in dieser Einöde zurücklassen mußten.

Kaum hatten die Mannschaften ihre Schiffe verlassen, als auch schon die Eskimos vom Lande herbeieilten, dieselben bestiegen, und geschäftig auszuräumen begannen. Das werthvolle Fischbein namentlich schleppten sie hinweg, um von den im nächsten Sommer wiederkehrenden Walfängern dagegen allerlei für sie kostbare Güter einzutauschen.

Ohne jeden Unfall und nach einer beschwerlichen Fahrt über eine Strecke von ungefähr siebenzig Meilen erreichten sämmtliche Boote am fünfzehnten und sechszehnten September die südlich vom Eiscap ankernden und sie erwartenden Fahrzeuge: „Arctic“, „Progreß“, „Midas“, „Lagoda“, „Chance“, „Daniel Webster“ und „Europa“. Ein heftiger Nordweststurm erschwerte die Einschiffung der Mannschaften und nur wenige Boote konnten an Bord genommen werden, die meisten mußte man Wind und Wellen überlassen. Die mit Menschen überfüllten Schiffe segelten dann gemeinschaftlich nach der Beringstraße, und nachdem fünf derselben in Plover Bai am vierundzwanzigsten und fünfundzwanzigsten September noch Holz und Wasser eingenommen hatten, erreichten sie Anfang November ohne Unglücksfall die Sandwich-Inseln.

Die dreiunddreißig verunglückten Fahrzeuge hatten über sechszehntausend Faß Thran und vierzigtausend Pfund Fischbein an Bord; der Gesammtwerth von Schiffen und Ladungen wird auf weit über eine und eine halbe Million Dollars geschätzt. Beim Verlassen waren neunzehn derselben noch nicht vom schweren Packeise umschlossen und lagen so vertheilt, daß bei einem günstigen Abtreiben der Eismassen ihre Rettung mit Aussicht auf Erfolg hätte unternommen werden können. Es ist nun möglich, daß dieselben von den Eismassen auf das Land hinaufgeschoben worden und dort liegen geblieben sind, dann könnte im nächsten Sommer noch Vieles von ihnen gerettet werden; wahrscheinlich aber sind sie vom Eise zerdrückt oder auch seewärts geführt worden und werden dort beim nächsten Sturm zu Grunde gehen. Immerhin aber dürfen im nächsten Jahre interessante Aufschlüsse über ihren Verbleib erwartet werden. –

Bis jetzt hat sich nur eine dieser ähnliche Katastrophe ereignet und zwar im Jahre 1830 in der Bassins-Bai (Melville Bai, am Cap York). Unter ganz ähnlichen Verhältnissen wie die geschilderten wurden dort zwanzig Schiffe, neunzehn englische und ein französisches, vom Eise umschlossen und zerstört; merkwürdiger Weise sind auch damals keine Menschenleben verloren gegangen, obgleich nahe an tausend Schiffbrüchige auf dem Eise campiren mußten. Sie waren in zwei, durch rauhe Eismassen getrennte Abtheilungen gesondert, welche bald eine regelmäßige Postverbindung unter einander einrichteten und sich endlich gelangweilt den tollsten Lustbarkeiten ergaben und im Eismeer allerhand Festlichkeiten arrangirten. Ihr seltsames, mit ihrer Lage so wenig harmonirendes Treiben ist als die „Bassin-Fair“ (Bassins-Messe) bei den Walfängern sprüchwörtlich geworden.




Blätter und Blüthen.


Ein weiblicher Moltke. Es ist eine bekannte Thatsache, daß nach der Beendigung des amerikanischen Bruderkrieges zwischen den Nord- und Südstaaten zahllose Gesuche um Entschädigung für erlittene Verluste beim Congreß zu Washington eingereicht, so wie bedeutende Ansprüche auf den Dank des Vaterlandes für patriotische Handlungen von den verschiedensten Personen erhoben wurden. Der merkwürdigste Fall der letzteren Art ist aber ohne Zweifel der, dessen Heldin sich Miß Anna Carroll nennt.

Auch sie macht Anspruch auf den Dank des Vaterlandes, und zwar für nichts Geringeres, als für einen von ihr entworfenen Feldzugsplan, den sie dem Cabinet des Präsidenten Lincoln mitgetheilt hat, und durch dessen Ausführung die Rebellion im Süden auf’s Haupt geschlagen wurde.

Eine Dame und ein Feldzugsplan! so höre ich meine Leser lächelnd ausrufen. Ja wohl, eine Dame, aber eine Amerikanerin! Eine solche, wenn sie sich irgend einem Studium widmet, thut es an ernstem Fleiß und Ausdauer den Männern gleich. Die Dame, von welcher hier die Rede ist, gehört den ersten und vornehmsten Kreisen an. Sie stammt ab von dem berühmten Charles Carroll of Carrollton, Maryland, einem der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, und ist eine geistreiche politische Schriftstellerin von anerkanntem Ruf. Sie ist bekannt durch ihre Menschenfreundlichkeit, welche sie veranlaßte, ihre eigenen Sclaven – denn sie war Sclavenbesitzerin – freizugeben, lange bevor der Krieg ausbrach.

Meine Landsmänninnen würden es vermuthlich viel begreiflicher gefunden haben, wenn besagte Amerikanerin zu den Waffen gegriffen hätte, und als echte Amazone mit in den Krieg gezogen wäre; sie aber griff zur Feder, denn diese geistige Waffe versteht sie besser als jede andere zu führen. Ihr höchstes Streben war seit Ausbruch der Rebellion darauf gerichtet, durch ihre Schriften den Patriotismus ihrer Landsleute zu noch höheren Flammen anzufachen, und schwankende Gemüther für die Sache der Union zu gewinnen. Sie ließ diese Schriften auf eigne Kosten drucken und verbreiten. Und nicht ohne Erfolg! Einer der Senatoren von Washington sagt von ihnen: „sie gehören zu den besten, die überhaupt geschrieben wurden, und übten einen mächtigen Einfluß auf die Gemüther des Volks.“

Dies Alles aber genügte der heißen Vaterlandsliebe unserer Amerikanerin nicht; sie that mehr. Sie bereiste selbst den Südwesten, um sodann mit ihren an Ort und Stelle gesammelten Kenntnissen ihrem Vaterlande zu nützen.

Doch um die Verdienste der Miß Anna Carroll vollkommen würdigen zu können, ist es nöthig, meinen Lesern in wenigen Worten die Lage zu vergegenwärtigen, in welcher sich damals die Nordstaaten Amerika’s befanden.

Im Leben der Völker wie in dem von Individuen kommt eine Krisis, welche ihr Schicksal entscheidet. Solch eine Krisis führten die Jahre 1861 und 1862 für die Vereinigten Staaten herbei. Nach der Schlacht von Bullrun war die Welt darüber im Klaren, daß diese einem zweiten ähnlichen Stoß nicht gewachsen wären. Der ganze Süden war vollständig gerüstet, in Wahrheit ein einziges Kriegslager, während der Norden, gänzlich unvorbereitet, nur fünfundsiebenzigtausend Mann in’s Feld gestellt hatte, um einen Aufruhr von acht Millionen Weißen, die vier Millionen Sclaven in Unterwürfigkeit hielten, zu unterdrücken. Zu diesem Umstand gesellte sich noch die Thatsache, daß der Kriegsschauplatz nicht nur für die meisten der Kämpfer ein völlig neuer unbetretener Boden war, sondern daß auch nur wenige Männer des Nordens überhaupt irgend eine praktische Kenntniß von dem Innern des Südens und seinen Hülfsquellen hatten. Nur in der Theorie stimmten sie überein, daß ihre Armeen auf Kanonenböten den Mississippi hinunter geschifft werden müßten, um sich mit der Blokadeflotte zu vereinigen und auf diese Weise die Rebellion zu erdrücken. Heutzutage ist es Jedem, der jene Feldzüge studirt, klar, daß, wenn man diesen Plan ausgeführt hätte, die Vereinigten Staaten weder der That noch dem Namen nach mehr bestehen würden. Die beiden Ufer des Mississippi waren von fast uneinnehmbaren feindlichen Batterien vertheidigt, und diese würden die Kanonenboote sammt ihrer Mannschaft, wo nicht gänzlich vernichtet, doch jämmerlich zugerichtet haben. Dies neue Mißgeschick aber wäre ausreichend gewesen für England und Frankreich, sofort die conföderirten Staaten anzuerkennen. Dies große nationale Unglück wurde verhindert, nicht durch irgend einen General, sondern durch die Vermittelung einer Frau; und diese Frau war Miß Carroll.

Während sie die Südstaaten bereiste, war sie durch gründliche Forschungen zu der Ueberzeugung gelangt, daß nicht der Mississippi, sondern der Tenesseefluß der eigentliche strategische Schlüssel zum Südwesten sei, und als echte Patriotin behielt sie diese Ueberzeugung nicht für sich, sondern verfaßte eine Denkschrift, worin sie mit gewohntem Scharfsinn alle Nachtheile entwickelte, welche eine Expedition auf dem Mississippi zur Folge haben würde; zugleich aber schlägt sie den Tenesseefluß als Operationslinie vor, und setzt die Vortheile derselben ebenso klar und bündig auseinander. Ja, sie geht sogar so weit, in ihrer Denkschrift mit dürren Worten auszusprechen, daß, wenn die Befehlshaber den Tenessee übersähen und statt seiner den Mississippi wählten, sie ihr Fach nicht verständen. Mit dieser Denkschrift in der Hand [877] und einem angehängten Feldzugsplan begiebt sich die muthige Amerikanerin zu dem damaligen Hülfs-Kriegssecretär der Vereinigten Staaten, Herrn Thomas Scott, und fügt noch mündliche Erläuterungen hinzu. Daß dieser Plan vom Cabinet des Präsidenten Lincoln angenommen und ausgeführt wurde, unterliegt keinem Zweifel. Die Expedition auf dem Mississippi, zu der man sich ernstlich vorbereitete, unterblieb und der Tenesseefluß wurde gewählt. Officiell freilich hat man Miß Carroll dies Zugeständniß nicht gemacht. Der, dessen Zeugniß in dieser Angelegenheit am schwersten wiegen würde, der Präsident Lincoln, ist todt; doch Miß Carroll’s Charakter steht in der öffentlichen Meinung so hoch, daß ihre eigenen Aussagen genügen würden, um ihren Worten Glauben zu schenken. Indessen fehlt es auch an anderen Zeugen nicht; derselbe Thomas A. Scott, dem sie ihre Denkschrift am 30. November 1861 übergeben hatte, bestätigt in einem an den Senator Howard in Washington gerichteten Schreiben vom 24. Juni 1870 nicht allein, daß Miß Carroll ihm in seiner damaligen Eigenschaft als Kriegssecretär jene Denkschrift nebst beigefügtem Feldzugsplan übergeben, sondern auch, daß die Regierung sich denselben angeeignet und seinen Grundgedanken nach ausgeführt habe, wodurch dem Staate Millionen erspart worden seien.

Die ausgezeichneten Dienste, welche die hochherzige Amerikanerin den Vereinigten Staaten geleistet, sind bereits von dem Senat in Washington während der letzten Congreßsitzung anerkannt. Der bevorstehenden bleibt es vorbehalten, dem Dank des Vaterlandes Ausdruck zu geben, worüber auch wir seiner Zeit Bericht erstatten werden.G. F.     


Deutsche Weihnachten in Grönland. Die Gartenlaube brachte zu vorjährigen Weihnachten eine prächtige Schilderung, wie wir Hansamänner im Jahre 1869 auf unsrer schrecklichen Schollenfahrt mitten im Eis des Polarmeeres, verlassen von aller menschlichen Hülfe, das liebe Fest gefeiert haben. Heute sind wir Schicksalsgenossen von damals alle wohl und munter auf sicherem Grund und Boden an unsrer altgewohnten Beschäftigung, am heiligen Abend aber kommen wir gewiß Alle auf einen Augenblick an unserem schaurigen Aufenthalt im Geiste wieder zusammen, und im Glanze des Lichterbaumes wird mancher von uns wieder und wieder theilnehmenden Zuhörern die schauerlich wunderbare Mähre von der Eisfahrt der Hansamänner erzählen, und damit enden, wie sie in Westgrönland nach so mancher schweren Stunde endlich zu Menschen kamen, und das erste Wort, das ihnen vom glücklich erreichten Gestade entgegenflog, der lieben deutschen Muttersprache angehörte, Ja, ja, da drüben sind auch Deutsche, Missionäre, und mitten unter dem verlassenen, armseligen Volke Grönlands, unbekümmert um die Widerwärtigkeiten des rauhen, nordischen Klimas, um die Gefahren, die ihnen das ewige Eis der Küste bringt, unter Mühsal und Beschwerden aller Art leben dieselben ihrem Beruf. Und wenn die Gartenlaube auch mit Recht selten genug auf die Missionäre und ihr Treiben gut zu sprechen ist, diese hier haben auf das öde Felseneiland ein Stück Deutschland mitgenommen, deutsche Sprache, deutsche Sitte, deutsche Herzen – so kam es, daß wir Ankömmlinge aus Ostgrönland, von den gastfreien Männern warm wie im Heimathlande empfangen, uns bei ihnen rasch heimisch fühlten; bald genug sollten wir den Unterschied zwischen deutscher und dänischer Gastlichkeit recht deutlich erfahren; denn in den dänischen Niederlassungen ward es uns wieder recht begreiflich vor die Augen geführt, daß wir fremd im Lande und hülflose, von Anderer Gnade abhängige Schiffbrüchige seien.

Die kurze Zeit, die wir unter den Landsleuten in Grönland verbrachten, reichte hin, uns mit diesen biederen, schlichten Männern innig zu befreunden, und die dänischen Schiffe, welche alljährlich die Niederlassungen in Grönland besegeln, nahmen dies Jahr unsere Grüße aus der Heimath an die fernen Freunde jenseits des Eises mit, die von dort aus pünktlich und herzlich erwidert wurden.

Ich kann mir das einsame Lichtenau recht lebhaft am Weihnachtsabend vorstellen. Der Fjord ist fest zugefroren und mit Eis verlegt, auch die wanderlustigen Eisberge liegen festgebannt bis zum Frühjahr. Tiefer Schnee hüllt Alles ein, kaum kann man die Hütten der Eingeborenen erkennen. Da liegt über das Ganze der stille nordische Abendhimmel gebreitet, ein Nordlicht wirft seinen matten Lichtschein auf die Erde nieder, und läßt die Umrisse des Missionshauses und des Kirchensaales deutlicher erkennen. Zwischen den dicht verschlossenen Läden dringt wohl auch ein Lichtstrahl neugierig ins Freie heraus, uns aber, die wir aus Kälte und Dunkel, aus der Ferne kommen, umfängt, sobald wir nur die Hausthür hinter uns haben, freundliche Helle und wohlthuende Wärme, und aus der großen Schulstube tönt uns ein Choral entgegen, den wir aus unsrer Kinderzeit gar wohl kennen, da sie ihn vom Thurme bliesen oder in der Kirche sangen, wenn das kleine Herz voll zum Springen war vom Weihnachtsjubel. Ja, auch in Lichtenau, fern vom Heimathlande giebt es deutsche Weihnachten, die Missionen haben das herrliche Kinderfest mit hinüber gebracht, sie feiern es mit den Eingeborenen gemeinsam und über Jung und Alt breitet sich auch dort die Freudigkeit desselben aus, und wie bei uns lang vorher das Kind alltäglich fragt: Mütterchen ist noch nicht bald Christabend? und sich auf all die schönen Sachen freut, die ihm das Christkind bringen wird: gerade so erwartungsvoll schlagen auch drüben in Grönland die Kinderherzen dem Weihnachtsfest entgegen. In Lichtenau stand auf dem Fensterbrett der freundlichen Wohnung des Missionars Herrn Warmow ein Apfelbäumchen, das seine Blätter recht breit und vergnüglich den Strahlen der Sonne zuwandte, die wärmend durch die Scheiben fielen. Alle im Hause pflegten den jungen Baum sorgfältig, und ich war einmal dabei, wie Frau Warmow mit einem zärtlichen Blick und indem sie die Hand wie liebkosend über das Bäumchen führte, davon bemerkte: „Nun wird es aber recht kräftig und gedeiht sichtlich.“

„Das Bäumchen,“ frug ich, „haben Sie wohl recht lieb? ich kann mir denken, daß es, selbst erzogen, Ihnen besonders ans Herz gewachsen sein muß.“

„Ei freilich,“ erwiderte Frau Warmow, „wir Alle haben an dem Bäumchen unsere Freude, und seit es stärker geworden ist, spielt es in unserm stillen Familienkreis sogar eine Rolle, es ist unser Christbaum, wir putzen es jährlich am Weihnachtsabend. Wir hatten immer recht vergnügte Weihnachten, und die Grönländer mit uns. Dann giebt es auch noch einen großen Weihnachtsbaum für Alle, den Bruder Spindler und mein Mann aus Wachholder anfertigen, indem sie seine Zweige an eine Stange stecken, daß es aussieht wie eine Tanne. Mein Mann hat einmal hinten im Fjord Fichten gesät, da meinten wir es würden Bäumchen daraus werden, aber es wurde nur Krummholz. Nun bleiben wir bei unsrer alten Art, und seit wir den da haben“ – da fiel wieder ein wohlgefälliger Blick auf den Schößling – „haben wir ja einen heimischen Baum wenigstens für unsern kleinen Kreis.“

Seitdem war mir das Christbäumchen auch viel werther geworden, und blieb mir mit seinen zwei lustig sprossenden Gabelästen eine traute Erinnerung. Ich kann mir die lieben Freunde in Lichtenau recht lebhaft denken, wie sie am heiligen Abend ihr Christfest in deutscher Weise, versammelt um den Apfelbaum feiern. Still mag’s wohl zugehen und die Gedanken werden um so mehr in die Ferne, in die liebe deutsche Heimath, schweifen, als keine Kinder ihren Jubel erheben.

Aber unten in der großen Schulstube, aus der uns, wie wir vorhin das Haus betraten, der Choral entgegentönte, ist es lebhafter. Da ist Jung und Alt aus dem Dorfe zur Weihnachtsfeier versammelt, auf den Bänken sitzen sie herum, die straffhaarigen Männer im Festanzug, die hochgeschopften Weiber in buntbesetztem Natzek, und die hoffnungsvollen Sprößlinge, zur Feier des Festes frisch gewaschen und gekämmt, der Dinge wartend, die da kommen sollen.

Jetzt treten die Missionäre herein, der Weihnachtsbaum wird angeputzt, ein Lied abgesungen, einer der Brüder hält eine kurze Erbauungsrede, und nun theilt das Christkind seine Gaben an die Kleinen aus. Für jedes hat es etwas gebracht; die Freude der beschenkten Kinder theilt sich den Eltern und Erwachsenen mit. Zum Schlusse aber kommt eine Vorstellung, welche die Aufmerksamkeit der Anwesenden lebhaft erregt und viele Ergötzlichkeit bereitet. Einem freundlichen Spender verdankt die Mission eine Laterna magica, und Herr Spindler zaubert im dunklen Saale mit dieser bunte Bilder an die Wand. Da tönt es vor Verwunderung bald ah, bald ih, und andere unarticulirte Laute des Staunens lassen sich hören. So viel des Schönen gab’s schon lange nicht zu schauen! Und so verfließt in Heiterkeit der heilige Abend unter den Grönländern im Lichtenauer Missionshause.

Zur Feier des vorjährigen Weihnachtsfestes in Lichtenau hatte auch ich, ohne es zu wissen, mein Scherflein beigetragen. Ich hatte nämlich beim Scheiden von Westgrönland eine meiner Spieldosen zurückgelassen, die schon auf unserer ganzen Reise eine große Rolle gespielt hatten. Sie halfen mit ihrem Geklimper über manche trübe Stunde weg, und waren nebst Fritzens Ziehharmonika die einzigen Instrumente, welche uns Erleichterung verschaffen konnten. Letztere litt durch die Feuchtigkeit der Luft, aber die Spieldosen hielten sich trotz aller Strapazen wacker, und wanderten mit uns bis nach Westgrönland, wo wir von ihnen Abschied nahmen, und sie, wie gesagt, unsern deutschen Gastfreunden zum Andenken zurückließen. Beim Weihnachtsfest 1870 aber diente die an Freund Spindler abgetretene Spieldose als Orchester und hat, wie mir der wackere Freund aus Lichtenau schrieb, nicht verfehlt, unter den Kindern Grönlands mit ihren Weisen ihr erheblich Theil zur Freude des Abends beizutragen.

So sind die Weihnachten der Deutschen in Grönland, ähnlich wie in Lichtenau, überall, wo sie sich dort niedergelassen haben. Das deutsche Christkind mit dem Weihnachtsbaum ist ihnen auch zu den Eskimos gefolgt, und wirft auch auf diese seinen freudigen Glanz am heiligen Abend nieder, wie auf uns, die wir in der Heimath bei seinem Lichterscheine in trautem Kreise zusammensitzen.Dr. Gustav Laube.     



Im Exil gestorben. Man schreibt uns von Jefferson City, Missouri, Ende November 1871:

„Wiederum ist einer unserer Achtundvierziger dahingegangen; wir haben heute hier unsern Freund Hermann A. v. Lindemann begraben. Er starb gestern Sonntag Nachmittag nach blos etwa viertägiger Krankheit, die aber schnell einen tödtlichen Charakter annahm. Wie Sie wissen, war er, mit Wittig, Redacteur der ‚Dresdener Zeitung‘, floh 1850 zuerst nach Frankreich, wanderte aber dann nach den Vereinigten Staaten aus, wo er im Anfange der Fünfziger Jahre in New-York theils als Lehrer, theils als Schriftsteller thätig war. Er redigirte z. B. die ‚Meyer’s Monatshefte‘, und als diese eingingen, die vom jüngern Westermann herausgegebene ‚Neue Zeit‘.

Sein Augenübel wurde um diese Zeit so schlimm, daß er nach Deutschland gehen mußte, von wo er wenigstens auf dem einen Auge geheilt zurückkam und auch seine langjährige Braut als Frau mitbrachte. (Sie ist eine Tochter des Hofpredigers an der Kreuzkirche in Dresden, wenn ich nicht irre.) Er ging jetzt nach dem Westen, nach Wisconsin, wo er eine angenehmere Stellung unter den Deutschen wie Amerikanern einnahm; jedoch schon 1863 finden wir ihn in St. Louis, an der Redaction des größten deutschen Tageblattes im Westen, der ‚Westlichen Post‘. Später redigirte er selbstständig die deutschen Wochenblätter in St. Charles und St. Joseph; erlangte zeitweise Anstellung in den Bureaux der Staatsregierung und Legislatur und gründete 1870 die ‚Gasconade-Zeitung‘ in dem freundlichen deutschen Winzerstädtchen Hermann, nebenbei aber doch noch hier am Regierungssitze fast stetig beschäftigt. Jedermann achtete und schätzte seinen liebenswürdigen Charakter, und seine zahlreichen Freunde werden, wie wir hier, seinen Tod schmerzlich betrauern. Die obersten Staatsbeamten und die Mehrzahl der hiesigen Deutschen gaben ihm das letzte Geleit.
F. A. Nitzsche, 
aus dem Voigtlande.“     


[878] Friedrich Schiller als Rathsherr und Heirathscandidat in Schweinfurt. In dem trefflichen und bisher vom deutschen Publicum noch nicht nach Verdienst gewürdigten Briefwechsel Schiller’s mit Körner ist eines Heirathsantrags an Schiller gedacht, von dem bisher in keiner Biographie Erwähnung geschehen. Schiller selbst berichtet in einem Briefe an seinen Freund Körner (Bd. I.. S. 288, d. d. Weimar 25. April 1788) darüber Folgendes:

„Einen Spaß muß ich Dir doch erzählen, wenn es noch nicht geschehen ist. Vor einigen Wochen ist durch die vierte Hand die Anfrage aus der fränkischen Reichsstadt Schweinfurt an mich ergangen, ob ich dort nicht eine Rathsherrnstelle mit leidlichem Gehalte, verbunden mit einer Frau von einigen tausend Thalern, die, setzt man hinzu, an Geistes- und äußerlichen Vorzügen meiner nicht unwerth sei, annehmen wolle. Die Stelle soll mich wöchentlich nur zwei oder drei Stunden kosten und dergleichen Vortheile mehr. Wie ich mich dabei benommen, magst Du Dir leicht denken; doch möchte ich eigentlich wissen, wie man auf mich gefallen ist.

Da die ganze Sache mehr der Gedanke einiger Privatleute ist, und man eigentlich nur sagt, daß, wenn ich mich melden würde, sie mir nicht schwer fallen sollte, so erkläre ich es mir so, daß das Ganze eine Idee der Person sein mag, die ich heirathen sollte. Diese hat vielleicht einige Lectüre, die ihr der Menschencirkel um sie herum verleiden mochte, und da mag sie nun denken, daß sie mit ihrem bischen Geld und der Lockspeise einer Stelle einen Menschen fischen könnte, der auch andere Forderungen befriedigt. Der Zufall hat ihr von meinen Schriften einige vielleicht in die Hände gespielt, an denen sie Geschmack gefunden hat, und für einen Juristen hält sie mich ohne Zweifel. So muß ich mir das Räthsel erklären, und der Meinung ist auch Wieland“ etc.

Durch die thätige Unterstützung des mir befreundeten Herrn Jens Sattler (Fabrikbesitzers in Schweinfurt und Mitglied der k. k. Leop.-Carol. deutschen Akademie der Naturforscher) bin ich in den Stand gesetzt (ohne Verletzung der üblichen Discretion, da die Betheiligten nebst näheren Verwandten längst todt sind), folgendes Authentische mittheilen zu können.

Die Liebende, welche Deutschlands Lieblingsdichter angetragen wurde, war die Tochter eines in Schweinfurt lebenden Bürgermeisters. Der damalige Consulent Elias Stepf machte bei Schiller den „Freiersmann“. Er nahm die Sache sehr ernst, und war keinen Augenblick über das Gelingen seines „vortheilhaften Geschäfts“ in Zweifel. Um so größer war später seine Enttäuschung. Er konnte sich nicht genug wundern, daß Schiller „eine so gute Partie“ ausschlug, ja, er wurde geradezu verstimmt durch Schiller’s lakonische Antwort, aus der nicht zu entnehmen war, ob der Dichter für oder gegen die Sache sei, oder ob er nur Zweifel am Gelingen derselben hege. „Was er (Stepf) dem Dichter versprochen, das würde er ohne Zweifel durchgesetzt haben.“

Interessant ist dieser Elias Stepf, der später als Regierungsrath nach Bamberg versetzt wurde, für die Literatur noch insofern geworden, als ein Sohn von ihm, Heinrich Stepf, nach der Hand durch verschiedene schriftstellerische Arbeiten eine wirkliche und nicht gewöhnliche Begabung für die Poesie bethätigte. Heinrich Stepf war mit Rückert, den er 1811 in Jena kennen lernte, auf das Innigste befreundet und stand mit seinem berühmteren Zeitgenossen in unausgesetztem Briefwechsel bis zu seinem Tode, der leider allzu früh erfolgte.
Dr. C. Bayer.

Streifzüge eines Feldmalers. Nr. 5. (Mit Abbildung.) Unser fleißiger Mitarbeiter, Herr Christian Sell, hat heute abermals in seine Kriegsmappe gegriffen und aus derselben die Darstellung eines „Adjutantenrittes in den Ardennen“ hervorgeholt, den ihm der befreundete Officier, der ihn bestanden, mit folgenden Worten geschildert hat:

Bekanntlich hatte die Beschießung und der Fall von Mezières in den letzten Decembertagen des vorigen Jahres darum besondere Wichtigkeit, weil die genannte Festung einen nicht zu unterschätzenden Stützpunkt für die Franctireurs bot, die sich in hellen Haufen in den Ardennen herumtrieben und von hier aus die deutschen Truppen beunruhigten. Ich selbst gerieth auf eine nicht ungefährliche Weise mit ihnen zusammen, und zwar war dies der Fall, als die Landwehrdivision Senden nach der Einnahme von Mezières gegen die nördlich davon gelegene Festung Rocroy vorging. Um nämlich dieses Unternehmen zu decken, wurde ein kleines Detachement, wozu auch mein Bataillon gehörte, gegen die noch weiter nach Norden gelegene Grenzfestung Givet vorgeschoben. Dieser Marsch bot aber, da er ununterbrochen durch gebirgiges und schluchtenreiches Terrain führte, der Mühseligkeiten gerade genug und war auch sonst nicht ohne Gefahr, da sich die Franctireursbanden ziemlich nahe heranwagten, uns neckend, nie Stich haltend und doch stets beunruhigend. Wir hatten endlich unsern Bestimmungsort erreicht und mit den Anderen freute ich mich eben, mich einer relativen Ruhe hingeben zu können, als mir der Auftrag wurde, nach dem etwa drei Meilen entfernten Stabsquartier zu reiten und weitere Befehle einzuholen. Als Bedeckung wurden mir drei Husaren mitgegeben.

Der Weg führte uns durch schneebedeckte Schluchten und Wälder, an steilen, felsigen Abhängen vorbei, über eisglatte Wege, an rauschenden oder halb im Frost erstarrten Wasserfällen vorüber, und selbst Verhaue und andere Hindernisse blieben uns nicht erspart, die der Feind mit gefälliger Hand aufgethürmt hatte, uns wenn nicht ab-, doch wenigstens aufzuhalten. Aber vermöge meiner vorzüglichen Karte erreichte ich dennoch glücklich das Hauptquartier, wo ich leider ziemlich lange auf die zu empfangenden Befehle warten mußte. Was mich aber noch peinlicher berührte, war, daß man mir, als ich meinen Rückweg durch die inzwischen hereingebrochene stockfinstere Nacht antrat, auf höheren Befehl zwei Husaren abnahm, so daß ich meinen Weg in Begleitung nur eines Husaren fortsetzen mußte, obwohl, wie schon gesagt, die ganze Gegend voll Franctireurs steckte. Es war schneidend kalt geworden. Um mein Detachement möglichst bald zu erreichen, ritt ich, wo es nur irgend ging, Carrière, selbst über Gatter und Verhaue hinweg, meinen wackern Husaren immer treu zur Seite. Ich verfolgte meinen Weg auf gut Glück, denn von meiner Karte konnte ich der vollständigen Finsterniß wegen keinen Gebrauch machen. Eben hatten wir einen ziemlich großen Wald passirt, vor uns eine weite glatte Schneefläche, jenseits wieder von Wald begrenzt; da, indem ich den Weg zu erspähen suchte, gewahrte ich an der gegenüberliegenden Waldlisière dunkle Gestalten sich hin- und herbewegen. Das konnten nur Franctireurs sein! Der Mond, inzwischen aufgegangen, beschien uns hell, unsere Gestalten hoben sich nur allzu deutlich von der lichten Schneedecke ab, wir durften nicht säumen.

Mein Entschluß war im Nu gefaßt. Schnell riß ich den dictirten Befehl aus meinem Notizbuch und wickelte ihn in der Hand zusammen, um ihn, sollte ich verwundet oder gefangen werden, sofort verschlucken zu können; denn in die Hände des Feindes durfte der Befehl in keinem Falle gerathen. Nun aber, den Säbel los und die Schußwaffe hoch, die Köpfe hinter die Pferdehälse geduckt, ging es fort in sausendem Carrière und der Richtung zu, wo ich ungefähr den Waldweg vermuthete. Paff! Paff! knallte es sofort die ganze Linie der Waldlisière hin und vom Echo gegenüber hundertfach wiederholt; ich vernahm das Pfeifen einer Kugel über meinem Kopfe hin; aber wir Alle, Roß und Reiter, blieben unverwundet und wie wir den Franctireurs näher kamen, kniffen die feigen Kerle sogar aus. Zu unserem Glück erreichten wir denn auch den richtigen Waldweg und auf ihm ging es nun über Steine, Baumstämme und selbst bergan in gestrecktem Galopp vorwärts, bis unsere Pferde vor Erschöpfung zusammenzubrechen drohten. Ich gönnte ihnen eine kurze Weile Rast, deren auch wir dringend bedurften. Denn trotz der strengen Kälte lief uns der Schweiß stromweise herunter. Dafür waren wir einer fast sichern Todesgefahr oder doch der Gefangennehmung entgangen, erreichten spät Abends glücklich unser Detachement und erfuhren zwei Tage später zu unserer Befriedigung die geglückte Einnahme von Rocroy.



Bock’s Briefkasten.

An die Eltern schwachsinniger Kinder. Solche Kinder müssen sobald als nur möglich Anstalten übergeben werden, wo sie fortwährend, bei Tag und ebenso auch bei Nacht, unter der Aufsicht sachverständiger Lehrer stehen und einer passenden pädagogischen Erziehung unterworfen sind. Im elterlichen Hause und in der Schule können solche Kinder niemals, auch bei dem besten Unterrichte nicht, für’s praktische Leben richtig erzogen werden. – In Leipzig, wo eine nicht unbedeutende Anzahl schwachsinniger Kinder den Lehrern mancher Schulen das Lehren sehr erschwert und ihren Mitschülern im Lernen sehr hinderlich ist, existirt eine Anstalt für derartige Kinder nicht, da die Herren Stadtverordneten, trotz zweimaliger Aufforderung von Seiten des Stadtrathes, die Gründung einer solchen Humanitäts-Anstalt für ganz überflüssig, wohl aber die Gründung einer höheren Bürgerschule für die Kinder gebildeter Bürger für sehr nothwendig erklärten. – Mit bestem Gewissen kann der Unterzeichnete eine Anstalt kleineren Umfanges empfehlen, die von einem erfahrenen, sachverständigen Lehrer unter Beihülfe zweier tüchtiger Frauen geleitet wird und dem Unterzeichneten durch Augenschein bekannt ist. Sie befindet sich in der Nähe von Leipzig, in Dahlen, an der Leipzig-Dresdener Eisenbahn, und der Director heißt Epstein.

Bock.



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal und der neunzehnte Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen (zwanzigsten) Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.


Mit der ersten Nummer des neuen Jahrgangs beginnen wir den Abdruck der Erzählung

Am Altar von E. Werner,
dem Verfasser der mit so vielem Beifall aufgenommenen Novelle „Ein Held der Feder“, woran sich weitere Beiträge von L. Schücking, H. Schmid, F. Spielhagen u. A. reihen werden. Obgleich die Versicherung kaum nothwendig sein dürfte, daß wir auch den übrigen Theilen unseres Blattes die gewohnte Aufmerksamkeit zuwenden werden, wollen wir doch hier namentlich hervorheben, daß wir auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete von Bock Beiträge über „Glaube und Wissenschaft, oder die Grundzüge des Darwinismus“, und von Carl Vogt über den „Fischförmigen Riesenfuß, ein Seegeheimniß“, bringen werden. Von den zur Veröffentlichung bereitliegenden culturwissenschaftlichen Artikeln nennen wir hier nur: „Die Fahrten der Geschwister Rainer“, von Ludwig Steub. Brehm wird uns schon in einer der nächsten Nummern mit „Bärenjagden in Kroatien“ erfreuen.
Leipzig, im Dezember 1871.
Die Redaction und Verlagshandlung.


Geschmackvolle Decken zum Einbinden der Gartenlaube sind durch alle Buchhandlungen auch zum Jahrgang 1871 zu dem billigen Preise von 13 Ngr. zu beziehen.

Die Verlagshandlung.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.