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Autor: Friedrich Spielhagen
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Titel: Was die Schwalbe sang
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31–52
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[495]
Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


1.


„Ich will Sie nicht weiter bemühen, ich finde schon, was ich suche.“

Die Küsterfrau blickte den Herrn ein wenig verwundert an und dann auf das Bund großer Schlüssel, welches in der Thür hing, die sie soeben für den Fremden aufgeschlossen.

„Ja so,“ sagte der Fremde; „nun, das braucht Sie nicht zu beunruhigen; ich werde nicht lange bleiben, und hier ist etwas für Ihre Mühe.“

Er drückte der Frau ein Geldstück in die Hand und wandte sich nach der Thür.

„Der Herr Pastor hat streng verboten,“ sagte die Frau.

„Er wird nichts einzuwenden haben,“ erwiderte der Fremde. „Ich werde ihm ein paar Worte zurücklassen.“

Er nahm sein Portefeuille und schrieb einige Zeilen. Als er das Blatt loslöste, gewahrte er, daß auf der andern Seite eine kleine Skizze stand, die er heute Nachmittag, während sein Fuhrwerk vor einer Dorfschenke hielt, mit ein paar Strichen hingeworfen.

Ein flüchtiges Lächeln zog über sein ernstes Gesicht.

„Das geht doch nicht,“ murmelte er, „und statt eines Pferdefußes sogar acht. Und hier wieder – Alles vollgekritzelt. Nun, es thut nichts,“ sagte er laut, indem er das Portefeuille wieder in die Tasche steckte, „ich schreibe dann von P. aus. Bitte, sagen Sie ihm das; adieu, liebe Frau.“

Die Küsterfrau wagte nichts zu erwidern und wandte sich zu gehen. Der Fremde schaute ihr ein paar Augenblicke nach. „Sonderbar,“ murmelte er, „als ob ich ein Sacrileg beginge, wenn ich an diesem Ort meinen Namen laut nennte! War es mir doch schon eine Erleichterung, daß diese Frau mich nicht kannte. Wie wir doch Alle in dem Bann dunkler Gefühle sind, die wir vor Anderen einzugestehen uns schämen würden! Freilich, es ist kein Wunder, wenn diese Empfindungen mich hier schier allmächtig überkommen; hier, wo meine Heimath sein sollte; hier, wo meine Wiege stand, und wohin ich doch nicht wiederkehren durfte, als bis sich das Grab geschlossen über dem, der mir zum Leben verhalf.“

Er hatte ein paar leise Schritte in die Kirche hineingethan und schaute sich jetzt, stehen bleibend, in dem kleinen Raume um. Durch die runden, bleigefaßten Scheiben der hohen, schmalen Fenster sandte die bereits tiefstehende Sonne ein seltsames Licht herein, das bald stärker, bald schwächer wurde, je nachdem der laue Wind die Zweige der uralten Linde draußen an der Kirchenmauer hob oder senkte. Und so, bald heller, bald dunkler, aber immer trübe, zogen die Erinnerungen seiner Jugendjahre durch die Seele des Fremden, während er regungslos dastand und sein Auge über die dicken weißgetünchten Mauern und die paar braunen Bilder schweifte, die in allzugroßer Höhe hier und da herumhingen, und über die kleine Empore aus Eichenholz, das die Zeit schwarz gemacht hatte, und den Altar mit den beiden großen messingenen Armleuchtern, und die Kanzel, deren Pult mit einer zerrissenen Decke behängt war. – Es war Alles so wie damals; selbst der Löcher in der Decke erinnerte er sich noch, nur Alles so viel kleiner, dürftiger, geschmackloser, als es in der Erinnerung gestanden. Und doch war es jetzt noch die günstigste Beleuchtung – was war es im hellen Tageslicht! Und seine dürftige, traurige Kindheit, was war sie, wenn er das Zauberlicht der Erinnerung auslöschte, wenn er sie sah, wie sie wirklich war, wie sie ihm, dem so früh der Mutterliebe Beraubten, ein kalter, fanatischer Vater gemacht hatte!

Der Wanderer fuhr aus seinen Träumen empor, als jetzt ein scharfer Ton durch den satten Raum hallte, wie wenn etwas entzweibräche. Es war das Werk, das zum Schlagen aushob. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, zählte mechanisch die Schläge und horchte noch auf den dröhnenden Nachklang, bis das leiseste Summen verklungen war. – „Sieben Uhr,“ sagte er; „es ist Zeit, daß ich wieder aufbreche.“

Er schritt hinter den Bänken herum, nach einer Beiseite, rechts neben der Kanzel, bis er an die große eiserne Thür der Krypta gelangte. Die Thür war jetzt verschlossen. Aber rechts und links neben derselben waren an der Wand die Grabsteine der Prediger von Rammin, die dort oben auf der Kanzel das Evangelium verkündet hatten über den Särgen ihrer Vorgänger, zu denen auch sie eines Tages sich gesellen sollten. Er trat an den letzten Stein und las die Aufschrift, daß hier in Gott ruhe der Dr. theol. Gotthold Ephraim Weber, seit 1805 Prediger an der St. Marienkirche zu Rammin, geboren am 3. August 1780, gestorben am 15. Juni 1833.

„Gotthold Ephraim Weber,“ murmelte der Wanderer, „so heiße auch ich, und bin ja auch Doctor der Theologie. Und daß ich nicht bleiben wollte, wozu mich der Vater bestimmt, daß ich sein und werden wollte, wozu mich nach meinem besten Wissen und Gewissen die Mutter geboren, das hat ihn, der dort unten ruht, und mich auseinandergebracht. Nein, nein, nicht das, oder [496] wenigstens nicht der Moment; ich habe nie in Deinem Sinne verstanden, was hier geschrieben ist: ‚Selig sind, die in dem Herrn sterben.‘ Wir waren nie Eines, waren längst geschieden, bevor wir uns trennten. Nun denn, Vater, laß uns nun wenigstens Frieden haben. Ich gönnte Dir ja von ganzem Herzen die Seligkeit, an die Du geglaubt; und sage ich: ‚selig sind die – Todten‘, so hast Du ganz gewiß die Seligkeit, an die ich glaube.“

Gotthold machte eine Bewegung, wie Jemand, der einem Andern die Hand reicht. „Laß uns nun Frieden haben,“ sagte er noch einmal.

Ein Vögelchen, das sich für einen Moment in eines der Luftlöcher oben in dem Fenster gesetzt, zwitscherte so laut, daß der liebliche frische Ton den ganzen stillen Raum erfüllte.

„Ich will es als Antwort nehmen,“ sagte Gotthold.

Er verließ leisen Schritts, wie er eingetreten war, die Kirche und ging den breiteren Pfad des Friedhofes hinab, bis wo sich an dem großen eisernen Kreuz, welches abermals die Inschrift trug: „Selig sind, die in dem Herrn sterben“, ein Pfad abzweigte, der bis an die Mauer führte. Es hatte sich in diesem älteren Theil des Kirchhofs kaum etwas verändert; er kannte noch jeden einzelnen Grabhügel und jedes Kreuz und jeden Stein und jede Inschrift; und da war es ja, welches er suchte – das Grab mit dem niedrigen Holzgitter, der verkrüppelten kleinen Trauerweide, dem schiefstehenden kleinen Kreuz – vernachlässigt wie immer, oder noch ein wenig vernachlässigter – das Grab seiner Mutter.

Er hatte sie so früh verloren, als er vier oder fünf Jahre alt war. Es war ihm kaum der flüchtigste Schatten einer persönlichen Erinnerung an sie geblieben; er hatte nie ein Bild von ihr gesehen; sein Vater hatte nur einmal ihrer erwähnt, als er im Zorn zu ihm sagte: „Du bist wie Deine Mutter.“ Dennoch, und vielleicht gerade deshalb, hatte sich seine Phantasie viel mit der todten Mutter beschäftigt, die so gewesen sein sollte wie er und die ihn gewiß geliebt haben würde, wie er ihren theuren Schatten liebte, bis dieser Schatten beinahe eine Gestalt annahm. Eine liebe, traumhafte Gestalt, die da kam, ungerufen und unrufbar, und schwand, wo er sie so gern länger gehalten hätte.

Er hatte ein paar Blätter von der Weide gepflückt; aber er streute sie alsbald wieder auf das Grab.

„Dessen bedarf es nicht zwischen mir und Dir,“ sagte er; „wir verstehen uns ohne Zeichen, und es soll auch so bleiben, wie es ist, soll verfallen, still, allmählich, wie die Herrscherin Zeit es will. Wem käme auch der prächtigste Marmor, den ich Dir von Thorwalden’s Meisterhand herrichten ließe, zu gute! Nicht Dir – was frägt man in Nirwana nach solchem Erdentand! – nicht mir. Ich werde nie wieder an diesem Platze stehen, und für die Anderen würde der Stein eben nur ein Stein sein. Nein, es ist besser so; das stimmt auch zu dem Orte.“

Er blickte auf, und sein Künstlerauge schweifte von den Grabstätten, über deren langes im lauen Abendwinde nickendes Gras die scheidende Sonne hier und da röthliche Lichter streute, zu dem alten Kirchlein, dessen plumper viereckiger Thurm noch im Purpurlicht glühte, während die Hauptmasse schon in tiefem Schatten lag.

„Zu dem Orte und zu der Stunde,“ sagte Gotthold; „es gäbe ein schönes Bild; aber ich werde mich hüten, es zu malen. Ich malte es dann aus meiner Seele heraus, und da will ich es ja eben festhalten.“

Er schloß für einen Moment die Augen und schaute, als er sie öffnete, nicht wieder empor, während er langsam, die Hände auf dem Rücken, durch die engen Pfade nach dem Ausgange schritt. Plötzlich blieb er stehen; die Hände streckten sich unwillkürlich aus und hinab zu ein paar kleinen Gräbern, die hart am Pfade lagen und deren Inschriften im Vorübergehen sein Blick gestreift hatte: „Cäcilie Brandow“, „Karoline Brandow“. Es standen auch die Tage der Geburt und des Todes der Kinder da – winzig gemessene Fristen beide Male, so winzig wie die Gräberchen.

Es durchschauerte ihn seltsam. Er hatte gedacht, daß dies vorüber sei und ausgelöscht aus seinem Leben und daß er die Reise zu seinem sterbenden Vater, aus welcher jetzt eine Wallfahrt zu den Gräbern seiner Eltern geworden war, machen könne, ohne durch die Nähe der Geliebten seiner Jugend gestört zu werden. Ja, er hatte vorhin, als er aus der Kirchenthür trat, von dem erhöhten Platze aus über die Landschaft weg nach dem Park von Dahlitz geblickt, aus dessen dunklen Baumgruppen ein Stück von dem Giebel des Herrenhauses weiß herüberschimmerte, und die Vergangenheit war stumm geblieben. Jetzt fluthete sie über ihn herein wie ein Strom, dessen Schleußen plötzlich geöffnet sind. Ihre Kinder – und sie selbst war ja damals noch ein halbes Kind! ihre Kinder! und das eine, das älteste, hatte ihren Namen gehabt – den Namen, der ihm von jenen Tagen her für immer einen eigenen, geheimnißvollen heiligen Klang behalten, so daß er ihn niemals ohne einen frommen Schauder hören, ja auch nur lesen konnte: Cäcilie! – Ihre Kinder! seltsam! unbegreiflich seltsam! so unbegreiflich wie der Tod, dem sie so früh verfallen waren! Und sie hatte an diesen Gräbern geweint und gekniet, und neben ihr hatte der Mann gestanden, dessen Name ja auch hier in Goldschrift auf die Tafeln geschrieben und dessen Vorname selbst in dem Namen des jüngern Kindes zu seinem Vaterrecht gekommen war: Karl Brandow! Ob auch er wohl Thränen für seine Kinder gehabt? Es war eine unmögliche Aufgabe, sich Karl Brandow’s scharfes hartes Gesicht in Thränen zu denken.

Und wie jetzt vor Gotthold’s Phantasie das Gesicht seines Feindes – des einzigen, den er je gehabt – in fast greifbarer Deutlichkeit auftauchte, zuckte es heiß hinauf und hinab an der tiefen Narbe, die, noch unter dem Haar beginnend, über die rechte Schläfe am Ohr vorbei über die ganze Wange bis in den dunklen Vollbart schnitt und um deren willen die Küsterfrau, eingedenk des Wortes, daß man sich vor dem Gezeichneten hüten müsse, den stattlichen Fremden so ungern allein in die Kirche gelassen hatte. Wollte die Wunde wieder anfangen zu bluten? die Wunde, die ihm jenes Mannes Hand geschlagen, als sie Beide noch auf der Schulbank saßen? Wäre es ein Wunder gewesen in diesem Augenblicke, wo sein Herz so krampfhaft zuckte, als wollte es sagen: die Wunde, die man mir geschlagen, ist ein paar Jahre jünger und sehr viel frischer und tiefer, und Du siehst jetzt, daß sie nicht geheilt ist, wie Du geglaubt hast, und daß sie nimmer heilen wird.

„Nimmer!“ sagte Gotthold, „nimmer! nun dann! so will ich wenigstens nicht daran rühren. Und – die holden Kinder, sie wenigstens tragen keine Schuld, wenn überall hier von Schuld die Rede sein kann. Ich wollte, ich könnte sie Dir wieder zum Leben erwecken, arme Cäcilie! und möge Dir der Himmel die behüten, die er Dir hoffentlich nach diesen geschenkt hat!“

Eine schwarzgekleidete Gestalt mit niedrigem breitkrempigen Hute und weißem Halstuche näherte sich von der Seite des Pfarrhauses dem Friedhofe. Ohne Zweifel war es seines Vaters Nachfolger, der neue Pastor, der früher, als die Küsterfrau angegeben, von seiner Schulinspection zurückgekehrt war und den Fremden, welcher nach ihm gefragt und sich dann die Kirche hatte aufschließen lassen, zu suchen kam. Gotthold wäre jetzt in seiner tief erregten Stimmung gern dieser Begegnung ausgewichen; aber der geistliche Herr schien ihn bereits gesehen zu haben, denn er beschleunigte seine Schritte und streckte, als nun auch Gotthold ihm entgegenging, noch in größerer Entfernung beide Hände aus, rufend: „Müssen wir uns unter so traurigen Verhältnissen wiedersehen?“

Gotthold blickte dem Manne, der jetzt vor ihm stand, und ihm die Hände drückte und preßte, verwundert in das bartlose, aufgedunsene, weiße Gesicht und in die wasserblauen Augen, die – Gotthold wußte nicht, ob vor Rührung oder weil die Abendsonne gerade hinein schien – krampfhaft zwinkerten.

„Aber kennst Du mich denn nicht mehr, lieber Bruder?“ fragte der geistliche Herr, „hat man Dir denn meinen Namen nicht genannt? August Semmel –“

„Genannt Kloß,“ sagte Gotthold, unwillkürlich lächelnd. „Ich bitte um Verzeihung; ich hatte wirklich vorhin auf den Namen nicht gehört, und dann, ich habe Dich zuletzt nie anders als in Koller und Kanonen, die Cereviskappe schief auf dem Kopf und das Gesicht bis an die Augen in struppigem Bart gesehen; das ist eine gar vortreffliche Maske.“

Pastor Semmel ließ Gotthold’s Hand fahren und machte eine schnelle Wendung, die ihm den Vortheil des Schattens gewährte.

„Eine Maske,“ sagte er mit frommem Augenaufschlag; „ja wohl! und wie ich jetzt darüber denke, eine recht eitle, um nicht [497] zu sagen sündhafte. Ich schalt Dich damals oft, daß Du nicht in unser Corps treten wolltest, wenn Du auch je zuweilen mit uns zu kneip– Dich mit uns zu erlustigen nicht verschmähtest; jetzt beneide ich Dich, daß Du so früh die Kraft der Entsagung gehabt hast, an der es mir gebrach.“

„Dafür ist denn nun aus dem Saulus ein Paulus geworden,“ erwiderte Gotthold lächelnd, „während mein Tag von Damaskus noch immer auf sich warten läßt.“

„Ja, ja,“ sagte der Pastor. „Wer hätte das denken können! Der Fleißigste von uns Allen schon auf der Schule, der Fleißigste auf der Universität; von den Lehrern, von den Professoren stets als Muster aufgestellt; bereits im vierten Semester uns alte Häupter zum Examen einpauk– zum Examen vorbereitend; selbst seine Examina mit Glanz absolvirend, und Alles das –“

„Um Hekuba! Nein, lieber Semmel, meine Kunst sollst Du mir nicht schelten, wenn ich selbst auch, was ich gern zugebe, bis heute nur ein schlechter Künstler bin. Aber ich kann Dich versichern: ein theologisches Examen ist leichter zu machen, als ein gutes Bild – ich spreche aus eigner Erfahrung; und dann, wäre ich Theolog geblieben, wer weiß, ob nicht, anstatt Deiner, der Sohn in seines Vaters Stelle gekommen wäre. Das ist doch auch zu bedenken.“

„Es würde eine furchtbare Concurrenz gewesen sein,“ sagte Herr Semmel, „trotzdem allerdings auf der andern Seite der Prophet in seinem Vaterlande weniger gilt, und ich, offen gestanden, als ich hier candidirte – ich war, nachdem ich Halle verlassen, erst vier Jahre in Hinterpommern beim Grafen Zerneckow Hauslehrer gewesen, und hernach hier in Neuenkirchen Substitut meines Alten, der sehr klapperig geworden war, so daß ich ganz bestimmt glaubte – aber er hat sich wieder ganz herausgerappelt, und da kam es mir denn ganz gelegen – was wollte ich doch sagen? ja – als ich mich vor vier Wochen um die Stelle bewarb, und es gut zu machen glaubte, wenn ich mich als einen intimen Schul- und Universitäts-Freund des Sohnes meines Vorgängers präsentirte, habe ich nicht überall mit dieser Empfehlung reussirt. So beim Herrn Otto von Plüppen auf Plüppenhof –“

Gotthold mußte lächeln. „Das glaube ich,“ sagte er, „ich habe ihm, als wir auf dem Pädagogium in P. waren, oft genug seinen dummen Kopf gewaschen.“

„Du weißt, ich war bereits in Prima, als Ihr noch in Secunda wart,“ fuhr der Pastor im Tone der Entschuldigung fort, „und hatte ganz vergessen, daß Ihr Euch gekannt haben mußtet; aber auch bei einigen Andern, als ich, jetzt natürlich durch meine Plüppen’sche Erfahrung gewitzigt, Deiner vorsichtiger Erwähnung that, stieß ich auf eine gewisse, wie soll ich sagen? Feindseligkeit wäre unchristlich, aber –

„Lassen wir das Thema fallen,“ sagte Gotthold mit einiger Ungeduld.

„Gewiß, gewiß,“ erwiderte der Pastor, „obgleich es Dich freuen wird, zu hören, daß ich gerade diese Gelegenheiten benutzen konnte, um Deiner großmüthigen Schenkung an die Armen unsers Kirchspiels mit derjenigen Dankbarkeit zu erwähnen, welche –“

„Aber wozu das, nachdem ich ausdrücklich gebeten, daß mein Name nicht genannt werden sollte?“

„Weil geschrieben steht: Du sollst das Licht nicht unter den Scheffel stellen; und weil ich nur so im Stande war, den bösen Leumund zum Schweigen zu bringen, der sich an Deine Person geheftet hatte.“

„Bösen Leumund? fragte Gotthold.

„Nun ja, weil man wußte, daß Du bereits vor sieben Jahren durch den Tod Deines Onkels in den Besitz eines großen Vermögens gekommen und trotzdem Dein Vater –“

„Großer Gott, was kann denn ich dafür,“ rief Gotthold, „wenn mein Vater hartnäckig jedes Anerbieten meinerseits – ich bin wirklich nicht im Stande, über diese Angelegenheiten mich weiter auszulassen. Ueberdies, es ist die höchste Zeit, daß ich aufbreche, wenn ich noch bei guter Zeit in P. sein will. Herr Wollnow hat doch Alles, was die Hinterlassenschaft meines Vaters betraf nach Wunsch geregelt? Ich konnte das leider selbst nicht thun, da ich, wie Du von ihm erfahren haben wirst, auf der übereilten Reise erkrankt war, und ein paar Wochen in Mailand liegen bleiben mußte. Aber ich schrieb ihm von dort aus, daß er den Wünschen von meines Vaters Nachfolger in jeder Weise nachkommen möge.“

„Ohne noch zu wissen, wer dieser Nachfolger war!“ rief Herr Semmel, „ja, so seid Ihr Künstler! nun, ich bin nicht unbescheiden gewesen. In der Bibliothek Deines Vaters war in der That manches werthvolle Theologische, das ich gern gehabt hätte, und da Du dem Käufer erlaubt hattest, seinen eigenen Preis zu machen –“

„So sind wir ja im Reinen, lieber Semmel, und nun keinen Schritt weiter.“

„Nur bis zu Deinem Wagen, den ich vorhin an der Schenke angespannt halten sah.“

„Keinen Schritt, wenn ich bitten darf.“

Sie standen an der Kirchhofsthür, die nach der Dorfstraße führte; der Pastor schien Gotthold’s Hand nicht loslassen zu können.

„Und was ich zu Deiner Beruhigung und zur Ehre unserer alten Schulcameraden dem vorherigen Gespräch hinzufügen zu müssen glaube: es haben keineswegs Alle sich solcher Lieblosigkeit – so darf ich es ja wohl, ohne selbst lieblos zu sein, nennen – schuldig gemacht. Es sind auch etliche unter ihnen, die warm zu Deinem Lobe gesprochen haben; Niemand unter ihnen wärmer, als Karl Brandow.“

„Brandow! Karl Brandow!“ rief Gotthold; „das ist freilich –“

„Gewiß nur seine Schuldigkeit, wenn er wieder gut zu machen sucht, was er in jugendlicher Unbesonnenheit an Dir gefrevelt, indem er nun der Wahrheit die Ehre giebt, und vor Allem bekennt, daß der Teufel der Habgier sicherlich der letzte sei, der Gewalt über Dich gewinnen könnte, und daß, wenn Dein Vater so arm gestorben sei, wie er gelebt habe, es ohne Zweifel –“

„Leb’ wohl!“ sagte Gotthold, dem Pastor über die niedrige Thür die Hand reichend.

„Gott segne und behüte Dich!“ sagte der Pastor, „und solltest Du – während Deines hiesigen Aufenthaltes für einen alten Freund noch eine Stunde erübrigen –“

Gotthold sagte nichts weiter. Er hatte dem Pastor die Hand mit einer schier unhöflichen Hast entzogen und schritt jetzt, den Hut tief in das Gesicht ziehend, schnell die Dorfstraße hinab. Herr Semmel blickte ihm nach, und ein höhnisches Lächeln zog über sein aufgedunsenes Gesicht.

„Der Phantast!“ sagte er; „es scheint, daß ihm das heillose Glück, das er gehabt, vollends den Kopf verdreht hat. Aber schadet nichts. Reiche Leute muß man sich warm halten. Karl Brandow ist ein Schlaukopf. Er wird wohl wissen, weshalb er von dem Augenblicke, als er hörte, daß er zurückkommen würde, ein anderes Register aufgezogen, und ihn nicht genug rühmen und preisen kann, auf den er vorher wie ein Rohrsperling geschimpft hat. Vielleicht will er einen Pump riskiren – nun, nöthig hat er es gewiß; Plüppen sagt ja, er pfeife aus dem letzten Loche. Er ist morgen Mittag auch in Plüppenhof, da kann ich mit meiner Neuigkeit Furore machen.“




2.


Die lange Dorfstraße war leer. Kaum, daß hier und da in der Thür eines der niedrigen, strohgedeckten Häuser sich ein altes Mütterchen zeigte, oder ein paar halbnackte Kinder hinter den verwilderten Dornhecken in den schlechtgehaltenen Gärtchen ihr Wesen trieben; sonst war alle Welt draußen auf dem Felde, wo heute die Roggenernte begonnen hatte.

Die Dorfstraße war leer, und die Schwalben hatten freie Bahn. Hinauf, hinab, zogen sie pfeilschnellen Fluges, jetzt am Boden hin, jetzt sich hebend in anmuthigen Bogen, geradeaus, im Zickzack, zirpend, zwitschernd, unermüdlich die langen Schwingen regend.

Gotthold blieb stehen, rückte den Hut, den er vorhin tief hinabgezogen, aus der Stirn und schaute, in Gedanken versunken, den zierlichen Vögeln zu, die er von Kindheit auf immer so geliebt hatte. Und wie er so stand und schaute, wich der zornige Unmuth, welchen das Gespräch mit dem Pastor in seiner Seele wachgerufen, allmählich einer seltsamen Wehmuth.

„Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang,“ murmelte er. „Ja, ja, noch klingt es im Dorf wie einst:

[498]

Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
Waren Kisten und Kasten schwer;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War Alles leer –

Ich glaubte es zu verstehen, – ich hatte es doch nur mit den Augen gelesen, nicht mit dem Herzen, mit dem Herzen des einsamen Mannes, der nach zehn Jahren zurückkehrt zu dem heiligen Raum seiner Jugendzeit, um zu finden, was ich hier gefunden: die schmerzlichste Erinnerung an das, ‚was mein einst war.‘“

Hinauf und hinab zogen die Schwalben dicht an der Erde hier, in hohen Bogen dort über einen beladenen Erntewagen, der aus einem Nebengäßchen auf die Hauptgasse lenkte, und in der Thür einer Scheune verschwand.

„Wie heißt es doch,“ sagte Gotthold:

„Wohl die Schwalbe kehrt, wohl die Schwalbe kehrt,
Und der leere Kasten schwoll,
Ist das Herz geleert, ist das Herz geleert,
Wird’s nie mehr voll.“

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, die Thränen abzutrocknen, die ihm unaufhaltsam aus den Wimpern drangen, während ein wehmüthiges Lächeln um seine Lippen zuckte.

„Das wäre ein Schauspiel für meine römischen Freunde, mich hier stehen und weinen zu sehen wie einen Schulknaben; und was würdest Du sagen, Julia? Dasselbe, was Du sagtest, als ich Dir das Lied übersetzte: ‚das ist ja Unsinn, lieber Freund! Wie kann ein Herz leer sein? mein Herz ist niemals leer gewesen, seitdem ich weiß, daß ich eines habe; und jetzt ist es voll von Liebe zu Dir, wie Deines von Liebe zu mir, Du deutscher Träumer!‘ – Und Du strichest mir das Haar aus der Stirn und küßtest mich, wie nur Du küssen kannst. Und doch, und doch! Wenn ich Dich liebte, Julia, so war es nur ein schwacher Abglanz der Liebe, die ich einst gefühlt, wie vorhin der bleiche Ost noch einmal in rosigen Lichtern aufflackerte von dem Wiederschein des Abendroths, das im Westen verglühte. Ich habe mich von Dir trennen können, und mein Herz hat nicht gezuckt, wie vorhin, als ich auf dem Grabsteine des Kindes ihren Namen las, die selbst für mich todt ist.“

Er streckte segnend die Hand aus.

„So singt denn weiter, holde Schwalben, den süßen traurigen Gesang! Und ziehet fort und kehret wieder, und bringt den Frühling in die leeren Felder und die vollen Menschenherzen! Und schütze euch der Himmel, traute Heimathflur und liebes Heimathdorf! Ihr sollt mir heilig sein, wie die Erinnerungen meiner Jugendzeit trotzalledem!“

An der Dorfschenke hielt der Wagen angespannt. Der Kutscher hatte den Pferden nur die Zäume über die Köpfe gestreift, damit sie bequemer das in Würfel geschnittene Brod fressen konnten. Jetzt rückte er die fliegende Krippe weg, ließ sie noch schnell einen Zug aus dem halbgeleerten Eimer thun, und stand, als Gotthold herankam, bereits die Zügel in der Hand, am Schlage, den er mit einem freundlichen Grinsen öffnete.

Es war das erste Mal, daß er seinem Fahrgast eine solche Aufmerksamkeit erwiesen. Sie hatten den langen Weg quer über die Insel weg zurückgelegt – Gotthold, in trübe Gedanken versunken, gegen seine Gewohnheit schweigsam und keineswegs unzufrieden mit der Schweigsamkeit des Mannes, der stunden- und stundenlang regungslos da vor ihm saß, die breiten, in einen blau linnenen, an den Nähten weißen Rock gehüllten Schultern lässig vornübergebeugt und aus seiner kurzen Pfeife dampfend, die Gotthold ihm nicht verwehren mochte, so unbequem ihm auch manchmal der süßliche Duft des heimischen Krautes war.

Er durfte deshalb einigermaßen verwundert sein, als der Breitschultrige, nachdem sie eben aus dem Dorfe waren und langsam zwischen den Kornfeldern auf dem schmaleren Vicinalweg nach der Landstraße fuhren, sich plötzlich umwandte und, abermals seine großen weißen Zähne zeigend, in seinem breiten Platt sagte:

„Kennen Sie mich wirklich nicht mehr, Herr Gotthold?“

„Nein,“ sagte Gotthold, lächelnd in das lächelnde Gesicht des Kutschers schauend, „aber Sie scheinen mich desto besser zu kennen.“

„Ich habe mich schon den ganzen Weg darauf besonnen, ob Sie es wären oder nicht,“ sagte der Mann, „manchmal glaubte ich’s, und manchmal wieder nicht.“

„Da konnten Sie doch fragen.“

„Ja, das sagen Sie wohl, da bin ich gar nicht darauf verfallen; das wäre freilich das Einfachste gewesen. Na, nun ist es ja nicht mehr nöthig; nun kenn’ ich Sie ja – daran!“ sagte der Mann, indem er mit dem Peitschenstiel auf seinem Gesicht die Linie von Gotthold’s Narbe zog. „Und hätte Sie wohl schon heute Morgen daran kennen müssen, denn so was sieht man nicht alle Tage; aber es ist doch schon ein bischen lange her, und im Krieg kommt ja so was wohl oft vor, und Sie sehen mit Ihrem langen Bart und dem braunen Gesicht g’rad’ aus, als ob Sie aus Spanien kämen, wo es ja wohl wieder Krieg geben soll, aber als Sie vorhin in Rammin halten ließen, und auf das Pastorhaus zugingen, ohne mal zu fragen, da sagte ich gleich: ‚sieh, er ist es doch.‘“

„Und Sie sind – Du bist Jochen – Jochen Prebrow!“ rief Gotthold, mit Herzlichkeit seine Hand ausstreckend, in die Jochen, der sich halb auf seinem Sitze umgewandt hatte, mit seiner breiten Hand nicht minder herzlich einschlug.

„Na, freilich!“ sagte Jochen, „und Sie haben mich wirklich nicht gekannt?“

„Wie kannst Du das nur glauben?“ sagte Gotthold, „Du bist so groß und stark geworden, trotzdem Du allerdings in dieser Beziehung nur gehalten hast, was Du als Knabe versprachst.“

„Ja, das liegt so im Menschen,“ erwiderte Jochen, „aber mein Feldwebel in Berlin sagte immer, das wäre kein Naturfehler.“

Jochen Prebrow wandte sich wieder zu den Pferden. Er hatte die Identität seines stattlichen Passagiers mit dem schlanken Gespielen seiner Jugendjahre, über die er den ganzen Weg gegrübelt, festgestellt, und war mit dem gewonnenen Resultat vorläufig vollkommen zufrieden. Auch Gotthold schwieg; es hatte ihn eigen berührt, daß er mit dem guten Jochen beinahe einen Tag lang hatte reisen können, wie mit einem fremden Menschen.

Jochen Prebrow, der Schmiedsjunge von Dollan! Da waren sie wieder, die schönen Tage, wenn er von P. aus mit Curt Wenhof in die Ferien ging, die selbstverständlich in Dollan verlebt werden mußten, und oben auf der Haide, wo der Weg nach Dollan sich von der Landstraße abzweigte, Jochen Prebrow, ihrer harrend, stand und die Mütze schwenkte; Jochen, der wohl wußte, daß mit den Beiden auch seine gute Zeit kam, die Zeit des Fischefangens und Vogelstellens, unter Aufsicht des alten Vetter Boslaf, und tausend toller unbeaufsichtigter Streiche zu Wasser und zu Lande, für die Curt dem gutmüthigen Vater gegenüber allezeit die nicht schwere Verantwortung übernahm.

„Und der junge Herr ist nun auch todt,“ sagte Jochen Prebrow, sich auf seinem Sitz wieder halb umwendend, zum Zeichen, daß er seinerseits mit der Hauptsache fertig und bereit sei, nun zu den Einzelheiten überzugehen.

Gotthold nickte.

„Umgesegelt auf der Spree!“ fuhr Jochen fort, „und ertrunken, und konnte segeln wie ein Vollmatrose, und schwimmen wie ein Hecht, das ist zu curios; aber er hat mir’s wohl gesagt, daß es mit ihm mal so ein Ende nehmen würde.“ Und Jochen stopfte sich eine frische Pfeife.

„Wann hat er Dir das gesagt?“

„Er war ja zu seiner Schwester ihrer Hochzeit hier von Gr., und hernach sollte er ja wohl nach Berlin und sich ausweisen, ob er seinen Lex gelernt hätte, und das wird ja denn wohl man schwach damit bestellt gewesen sein, denn für das Lernen ist unser Herr sein Tage nicht gewesen. Und so sagte er auch zu mir, als wir von P., wo die Trauung gewesen war, zurückkamen, und ich hatte die Hochzeitskutsche gefahren, denn ich mußte fahren, weil der alte Christian krank war; und dann ging’s wieder pleine-chasse nach Dollan, und es war ein großes Frühstück, und unser junger Herr hatte wohl ein bischen reichlich getrunken, als er zu mir in den Stall kam und sich auf das Stroh warf und anfing zu weinen, daß es ein Jammer und Elend war.

‚Was haben Sie denn, jung’ Herr?‘ sagte ich.

‚Ach, Jochen,‘ sagte er, ‚mit mir ist es aus, rein aus. Ich hab’ Vatern gebeten, er soll mich Landmann werden lassen, denn es würde doch seine Tage kein Rechtsverdreher aus mir; aber er sagt ja: ‚wir haben gar nichts, rein gar nichts‘; und die Aussteuer von meiner Schwester kann er nicht einmal bezahlen.‘“

[515] „‚Na, jung’ Herr‘, sagte ich, ‚das ist doch nicht so schlimm; Sie haben ja nun den reichen Schwager, der kann Ihnen ja das Geld geben.‘

Aber da sprang unser junger Herr auf, stellt sich vor mich hin und kriegt mich vor der Brust zu packen, und schüttelt mich, daß mir heilangst wurde, und ruft: ‚Wo Du noch ein Wort sagst von dem –‘, na, es war ein starkes Wort, wenn man es von seinem Schwager sagt, und besonders von unserm jungen Herrn, der ja sonst so ein guter, freundlicher Mensch war; aber ich sagte ja: er hatte zu viel getrunken; denn er wollte, ich sollte sie umwerfen, wenn ich sie hierher nach Dahlitz führe, auf der Haide, wissen Sie, Herr Gotthold, ehe man nach der Schmiede kommt, wenn man oben auf dem Berg ist und man hat das Moor links unter sich. Na, da kann man ja gut umwerfen, daß, wer drin sitzt, das Aufstehen vergißt; aber es ist doch eine eigene Sache, seinem Herrn seine Tochter umzuwerfen an ihrem Hochzeitstage, und wenn ich es auch gewollt hätte, ich fuhr sie ja gar nicht, weil Herr Brandow seinen eigenen Wagen hatte kommen lassen mit Vieren lang, und Hinrich Scheel, der damals schon sein Kutscher war und noch ist, würde sie schon nicht umwerfen, denn fahren kann Hinrich Scheel und reiten, das muß wahr sein.“

Jochen Prebrow klappte mit der Peitsche, und die Pferde, die bisher auf dem schmalen ausgefahrenen Vicinalwege im Schritt gegangen waren, trabten jetzt munter fort auf der breiteren und glatteren Landstraße.

In geringer Entfernung links lag Dahlitz, das prachtvolle Stammgut der alten adeligen Familie, aus welcher Cäcilie mütterlicherseits entsprossen, jetzt schon lange im Besitz der bürgerlichen Brandows, und Karl Brandow’s Erbe.

Die Straße, wie Gotthold sich erinnerte, führte unmittelbar am Hofe vorüber und dann noch eine längere Strecke an der Parkmauer hin. Sein Herz fing heftig an zu schlagen; seine Blicke schweiften scheu voraus zu dem Hause, dessen weiße Fronte zum Theil schon zwischen den Nebengebäuden hervortrat. So nahe an ihrem Wohnsitz vorüberzufahren; die einzige Gelegenheit, die sich sehr wahrscheinlich in alle Zukunft bot, verstreichen zu lassen, sie niemals, niemals wiederzusehen! Und wiederum, sie zu sehen, als Karl Brandow’s Frau – nein, besser so, viel besser!

Und Gotthold lehnte sich in die Ecke, die breite Krämpe seines Hutes tiefer in das Gesicht ziehend; er hätte am liebsten Jochen befohlen, wieder umzukehren. Indessen Jochen fuhr jetzt schlanken Trab, und so mußte es ja bald geschehen sein. Aber in dem Augenblicke, als sie an dem Hofthore vorüber wollten, kam aus demselben ein leerer Erntewagen ebenfalls im Trabe heraus, so daß die Vorderpferde und Jochen’s Pferde beinahe auf einander stießen. Jochen fluchte, und der Knecht fluchte, und Jemand, der auf dem Hofe stand, fluchte ebenfalls, Gotthold konnte nicht verstehen, ob auf den eigenen Knecht, oder den fremden Kutscher – wahrscheinlich auf Beide; aber es war wenigstens nicht Karl Brandow’s helle Stimme, und der große dicke Mann in Stulpenstiefeln, der jetzt mit schweren Schritten auf das Thor zukam, war gewiß nicht der schlanke elastische Karl Brandow.

Und da hatte denn Jochen auch bereits wieder freie Bahn und fuhr, die scheu gewordenen Pferde nur mit Mühe zügelnd, im Galopp an der niedrigen Parkmauer hin, über die man hier und da zwischen den Bäumen und Büschen einen freieren Blick in die Anlagen und einmal über einen schönen breiten Rasenplatz hatte, in dessen Hintergrunde die Seitenfront des Herrenhauses sichtbar wurde. Auf dem Rasenplatze stand noch die große Schaukel, in welcher eben zwei kleinere Mädchen von einer Bonne, wie es schien, vorsichtig gewiegt wurden, während ein halbes Dutzend anderer Kinder von jeder Größe sich umhertummelte. Ihre frischen Stimmen schallten lustig durch den stillen Abend, und eine große stattliche Dame bewegte sich durch die Spielenden, neben ihr ein kleiner schwarzgekleideter Herr, der wohl der Hauslehrer der Buben sein mochte.

Es waren nur wenige Secunden, während welcher sich dieses Bild darbot, aber Gotthold’s scharfes Auge hatte es bis in die Einzelheiten gefaßt und so stand es noch vor seiner Seele, als der Wagen bereits wieder auf der offenen Landstraße langsamer dahin fuhr. Sein Herz hatte sich vorhin ohne Ursache zusammengekrampft; sie wohnte nicht hier, nicht mehr hier. Wo lebte sie jetzt? er hatte so lange Jahre kein Wort aus der Heimath gehört – war auch sie todt? für ihn war sie es ja, und doch, und doch –

„Das ist ein grober Kerl, der Redebas,“ sagte Jochen, die Zügel in die linke Hand nehmend; „aber seine Sache versteht er, der wird schon damit zurechtkommen.“

„So gehört Dahlitz nicht mehr Herrn Brandow?“ fragte Gotthold.

[516] „Je ja!“ erwiderte Jochen, „haben Sie denn da unten“ – und er deutete mit dem Peitschenstiele irgend wohin in den dämmerigen Abend – „gar nichts gehört, was hier in unserer Gegend passirt ist?“

„Nichts, gar nichts, lieber Jochen, von wem sollte ich es auch gehört haben?“

„Freilich,“ sagte Jochen, „das Schreiben ist nicht Jedermanns Sache, meine zum Beispiel nicht; und wo Sie gewesen sind, da haben sie am Ende gar keine Posten und sonstige Gelegenheit. Mein Feldwebel – das war einer von den Alten, Gedienten – der war auch in Spanien gewesen, achtzehnhundertneun, und –“

„Aber ich war gar nicht in Spanien,“ sagte Gotthold, „ich war in Italien!“

Jochen kam dieser Einwand unerwartet und ungelegen; er hatte, während er stundenlang darüber gegrübelt, ob sein Passagier wohl der Pastorssohn aus Rammin sei, oder nicht, bei sich ausgemacht, daß, wenn er es sei, er jedenfalls geraden Weges aus Spanien kommen müsse; denn er hatte gehört, daß Gotthold die „Priesterei“ aufgegeben habe und jetzt in einem fremden Lande lebe, und Spanien war das einzige fremde Land, von dem er jemals hatte reden hören. So versank er denn, mächtige Wolken aus seiner kurzen Pfeife ziehend, in tiefe Nachdenklichkeit, und Gotthold mußte seine Frage, wo denn Herr Brandow nun wohne, so schwer es ihm wurde, ein paar Mal wiederholen.

„Ja, wo soll er wohnen,“ sagte Jochen endlich, „als in Dollan? er ist vom Pferde auf den Esel gekommen; aber das ist nun nicht anders, wenn die Herren immer so hoch zu Pferde sitzen wollen –“

„Und – und – seine Frau?“

Es mußte gefragt sein; aber Gotthold’s Lippen bebten, als er die Frage that.

„Unser armes Fräulein,“ sagte Jochen; „ja, die hat sich auch wohl nicht träumen lassen, als ich sie an dem Morgen mit Vieren lang zur Trauung nach P. fuhr, daß die Herrlichkeit so bald ein Ende haben würde. Ja, die ist nun wieder auf dem alten Fleck, und unser alter Herr und der junge Herr sind todt, und ihre ersten beiden Kleinen sind ja auch wohl todt, und nun hat sie man ja wohl nur noch eins.“

Sie lebte also, lebte wieder in Dollan, dem lieben Dollan, dem waldumgürteten, meerumrauschten, dem Orte, wo er die seligsten und unseligsten Stunden seiner Jugend durchlebt, dem heilig-unheiligen Orte, zu dem ihn seine Träume so oft, so oft zurückgeführt hatten in Trauer und Lust, daß er mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, ach, und so oft in Thränen erwacht war! Einen Augenblick war ihm, als wäre sie ihm wiedergegeben, als wäre noch Alles, wie es war. Er sah die schlanke Gestalt durch die Büsche des abendlichen Gartens schlüpfen, während er mit hochklopfendem Herzen oben am Fenster der kleinen Giebelstube stand und Curt die Verba auf „mi“ repetiren ließ, bis der die Grammatik auf den Tisch warf und erklärte, er werde das Zeug nie begreifen, und sie wollten lieber in den Garten zu Cäcilien gehen.

Gotthold fuhr sich mit der Hand über Stirn und Augen. Hatte er den geliebten Namen laut gerufen? Hatte Jochen, der in seiner eintönigen Weise die abgebrochene Erzählung wieder aufgenommen, ihren Namen genannt? Jochen wußte auch nicht recht, wie Alles zugegangen; denn er war noch in Berlin bei der Garde gewesen, als Herr Wenhof starb und der junge Herr Brandow zu seinem eigenen Gute Dahlitz auch noch das Klostergut Dollan übernahm; und dann, als Jochen von den Soldaten loskam, hatte er sich, da der ältere Bruder mit dem Vater für die Schmiede ausreichte, in Altefähr beim Gastwirth Peters als Knecht vermiethet und war dann nur von Altefähr fortgekommen, wenn er Reisende nach Stubbenkammer und sonst über die Insel zu führen hatte, und das geschah nicht eben oft. Auch hatte es sich nie getroffen, daß ihn sein Weg so nahe an Dollan, oder gar nach Dollan gebracht; denn welcher Fremde sollte wohl so weit abseits vom großen Wege fahren! Und so hatte er selbst die Schmiede noch nicht wiedergesehen, und wenn sein Brüder nicht ein- oder zweimal in Altefähr gewesen wäre, so wüßte er gar nicht, wie es jetzt in Dollan aussehe. Sein Bruder hätte freilich, wenn er es recht bedenke, auch nicht viel mehr zu erzählen gehabt, als was er schon von Anderen erfahren; denn Herr Brandow sei ja dafür bekannt, daß er die schönsten Pferde auf ganz Rügen und in Neuvorpommern habe, und komme ja auch alle Jahre im Herbste zum Wettrennen nach Str., und die adeligen Herren hätten ihre liebe Noth, gegen Herrn Brandow aufzukommen, wenn er auch nur ein Bürgerlicher sei; und beim Herrenreiten in diesem Jahre würde er wohl ganz sicher den Preis gewinnen; denn der Hinrich habe ihm ein Pferd trainirt, so eines sei noch gar nicht dagewesen. Und das sei ja richtig, der Hinrich verstehe mehr vom Pferdefleisch als alle die englischen Traineurs, die sich die anderen Herren so viel Geld kosten ließen, zusammengenommen, während Andere freilich meinten, es gehe dabei nicht mit rechten Dingen zu, und der Hinrich könne es mit seinen Schielaugen den Pferden anthun, so oder so, wie er wolle. Und daß es desgleichen gebe, das wisse er, als Schmiedssohn, auch; aber es sei ein großer Unterschied, ob es ehrliche Künste seien, wie sein Vater zum Exempel verstehe, oder ob ein Anderer dabei sein Spiel habe, den er nicht weiter bezeichnen wolle. Denn mit dem komme man nicht über den Berg; er lasse sich sein Vorspann zu theuer bezahlen. Dem Herrn Brandow habe es schon das schöne Gut gekostet, und welche sagten ja, daß er sich auf Dollan auch nicht würde halten können, und daß ihm die Teufelspferde die Haare vom Kopf fräßen. Ob Herr Gotthold auch an so etwas glaube?

„Nein, nein, nein,“ sagte Gotthold sich heftig aus seiner Ecke aufrichtend.

Jochen mußte sich die Pfeife frisch stopfen, um über diese Antwort, die er keineswegs erwartet hatte, in Ruhe nachzudenken. Gotthold störte ihn nicht in diesen Meditationen; still in sich versunken, saß er da, träumend von dem, was war, und von dem, was hätte sein können und nimmer hätte sein sollen. Nicht sein sollen? ja, aber nicht, weil das Schicksal es nicht gewollt; sondern weil die Menschen dies Schicksal gewollt, weil sie es sich bereitet, weil sie sich selbst in ihren Träumen, die sich zu Wirklichkeiten verdichten, in ihren Wünschen, die zu Handlungen werden, das Schicksal sind! War sie nicht mit dem Wunsche, da wieder Herrin zu werden, wo ihre Ahnen mütterlicherseits so lange als Herren gesessen, an jenem Abend bereits zurückgekommen, als sie von Dollan aus eine Partie nach Dahlitz gemacht, der Vater und sie und Curt und er? Wie war sie still durch die stattlichen Zimmer gewandelt und hatte die großen glänzenden Augen nachdenklich schweifen lassen über die dunklen Bilder an den Wänden mit den verblichenen Seidentapeten und über die mancherlei verschnörkelten Zierrathen auf den Simsen der Kamine, die dem unverwöhnten Auge ein Wunder von Kostbarkeit dünkten! Wie hatte sie in den Schlafgemächern mit der Hand leise über die Damastvorhänge gestrichen! wie hatte sie in den Gewächshäusern das glühende Gesicht wieder und wieder in die vollen Blüthensträuche gedrückt, als wolle sie sich berauschen in köstlichem Duft! Mit welcher Andacht hatte sie dem schielenden Hinrich zugehört, als er die Vorzüge der edlen Pferde schilderte, die ihre leichten Halfterketten an den Marmorkrippen erklirren ließen, und welch ein Jammer es sei, daß der junge Herr auf der landwirthschaftlichen Akademie seine Zeit verlöre, die er hier so viel besser anwenden könne! Und wie unwillig hatte sie den Freund, der ihr so viel zu sein wähnte, angeblickt, als er in eifersüchtigem Spott bemerkte, Karl Brandow könne um so früher zurückkehren, da er auf der Akademie voraussichtlich ebenso fleißig gewesen sein würde, wie vorher auf dem Pädagogium! Hernach hatte sie sich wieder auf dem großen Rasenplatz übermüthig mit den beiden Freunden geneckt, aber als sie dann in der großen hölzernen Schaukel saß – in der vorhin die Kinder gesessen –, den schönen Kopf in die eine Hand gestützt, während die andere lässig mit den rothen Bändern des weißen Kleides spielte, und Gotthold herantrat, die Schaukel in Bewegung zu setzen – da war sie aufgesprungen und hatte lachend gesagt: ein so unwissendes Mädchen dürfe doch wohl einen so hoch gelehrten Herrn nicht bemühen. Er hatte nicht gewußt, wie bitter der Ernst war, der sich hinter dem Lachen versteckte; er hätte schwerlich, als er am folgenden Morgen in aller Frühe mit Curt wieder zurück in die gelehrte Frohnde mußte, durch die Ritze unter ihrer Kammerthür ein Blatt geschoben, auf das er die freie Uebersetzung einer Ode des Anakreon geschrieben:

[517]

Thrakisch Füllen, sag, warum nur,
Scheu aus großem Auge blickend,
Fliehst Du grausam mich, und höhnest:
Gar nichts gilt er mir, der Thor!

Wisse denn! ich werde bald Dir
Um den stolzen Hals die Schlinge
Werfen und mit straffem Zügel
Tummeln auf der Rennbahn Dich.

Jetzt noch auf den Wiesen weilst Du,
Leichten Sprunges fröhlich scherzend;
Doch der rechte Ritter kommt Dir,
Kommt Dir bald, mein thrakisch Füllen!

Der rechte Ritter! ja wohl! noch nicht acht Wochen waren um, da war er angekommen, der rechte Ritter!

Ein dunkler Spätsommerabend, wie dieser. Männer, Weiber, Buben und Mädchen, Alle noch draußen auf dem Felde, denn es war Sonnabend, wie heute, und der große Weizenschlag mußte, wenn irgend möglich, fertig gemäht und die Garben mußten gebunden und in Hocken gestellt werden. Jetzt hatten sich die Leute gelagert, eine halbe Stunde zu ruhen und zu warten, bis der eben aufgehende Vollmond sich aus den trüben Dunstmassen losgelöst haben würde und sie die unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen konnten. Und Curt und er hatten wacker mitgeholfen, ja Cäcilie hatte lachend ein paar Garben gebunden; dann hatten sie den Leuten das Bier zugetragen, das Vetter Boslaf aus dem großen Fasse verzapfte. Und es war ein Johlen und Singen gewesen, und ein Schäkern der Knechte und Mägde; aber jetzt waren sie still geworden, und Herr Wenhof hatte gemeint, wenn sie nicht bald wieder anfingen, schliefe ihm seine ganze Gesellschaft ein, und dann möchte er Den sehen, der sie wieder auf die Beine brächte. Aber Vetter Boslaf hatte gesagt, noch zehn Minuten müßten sie warten, dann sei der Mond klar; und Vetter Boslaf mußte es wissen. Und immer stiller wurde es in der Runde, so still, daß der Rebhahn meinte, es sei nun vorüber, und laut nach seiner überall hin zerstreuten Familie rief; so still, daß Gotthold das Schlagen seines Herzens zu hören glaubte, während seine Blicke an der holden Gestalt hingen, die dicht vor ihm, so daß seine Hand ihr helles Gewand hätte berühren können, auf einer Garbe saß und in den Mond schaute, dessen bleiches Licht ihr Gesicht sonderbar bleich erscheinen ließ. Nur ihre dunklen Augen leuchteten manchmal aus dem bleichen Antlitz auf, und dann durchschauerte es den Jüngling, als ob ihn ein Strahl aus der Geisterwelt getroffen habe. Ja, aus der Geisterwelt, in der er mit der Geliebten schwebte, hoch über dem irdischen Treiben, so hoch, wie die himmelsreine Phantasie eines Jünglings trägt, dessen Herz voll von einer großen heiligen Liebe ist. O Gott, wie grenzenlos er sie liebte! wie sein ganzes Wesen in dieser Liebe aufging! wie all sein Sinnen, Denken, Fühlen in diese Liebe strömte, von dieser Liebe getragen wurde! wie jeder Tropfen Blut, der durch sein klopfendes Herz floß, von dieser Liebe durchglüht war! wie jeder Hauch, der aus der gepreßten Brust über die heißen Lippen strich, nur immer athmete; ich liebe Dich, ich liebe Dich!

Und in diesem Augenblicke, wo die Himmel sich vor seinen verzückten Blicken aufthaten, und er weit hineinschaute in die Gefilde der Seligen – in diesem Augenblicke sollte der Schlag erfolgen, der ihm die Pforten zum Paradiese seiner Jugend für immer zuschmetterte und seinen Glauben an ein Hochheiliges, das in der Menschenbrust sicher wohnt, auf Jahre hinaus zerstörte. – „Es kommt Jemand zu Pferde,“ hatte der alte Boslaf gesagt, indem er an die Gruppe herantrat und nach dem Walde deutete. Es vernahm sonst Niemand etwas; aber das wollte nichts sagen; denn der Alte konnte ja das Gras wachsen hören. Und sie war aufgesprungen und hatte ein paar Schritte gethan und war dann lauschend stehen geblieben, und Gotthold hatte gesehen, wie sie beide Hände auf’s Herz preßte. Sein eigenes Herz stand still.

Er und Curt waren – in diesen Wochen vor dem nun glücklich bestandenen Examen – nicht in Dollan gewesen. Er hatte nichts erfahren von Allem, was während der Zeit hier geschehen, hatte nur eben von Curt flüchtig gehört, daß Karl Brandow zurück sei; aber jetzt wußte er: das Pferd, dessen flüchtigen Hufschlag auch er jetzt vernahm, trug Karl Brandow, trug ihn nicht zum ersten Mal die Meile von Dahlitz im Galopp herüber. Jetzt wußte er, was der veränderte Ausdruck ihrer Züge, der ihm heute so aufgefallen war, bedeutete – die träumerische Weichheit, die plötzlich einer sonderbaren Erregung wich; er wußte Alles, Alles und daß sein Tempel zertrümmert und sein Heiligthum entweiht. Und so stand er, unfähig sich zu regen, abseits da, während die Anderen den Reiter, der sich vom Pferd geschwungen, umringten, den schlanken Reiter, der sich jetzt aus der Gruppe loslöste – nicht allein! Er den Arm um sie geschlungen, sich flüsternd zu ihr hinabbeugend, sie sich an ihn schmiegend, kamen sie, sein nicht achtend, dicht an ihm vorübergestrichen, jede Linie ihrer Gestalten scharf abgezeichnet auf dem hellen Mondenhimmel, und dann sah er nichts mehr, hörte nichts mehr, und konnte sich später nur noch erinnern, daß er weit von der Stätte an dem dunklen Saum des Waldes lange, lange in dumpfer, fürchterlicher Verzweiflung lag, und dann aufsprang und durch den stillen, schwülen Wald schwankte, wie in einem schauderhaften Traum, ein paar Mal laut aufschreiend, wie ein gequältes Thier, bis er aus dem Walde heraus an den Strand des Meeres kam, das majestätisch, grenzenlos sich vor ihm hindehnte in die Mondennacht. Da warf er sich wieder hin in den Sand, aber jetzt hatte er Thränen gefunden, glühendheiße Thränen, die aber milder und milder flossen, als wäre das Plätschern der Wellen Wiegengesang für das arme zuckende Herz. Endlich hatte er sich auf den Knieen erhoben, die Arme weit ausgebreitet und sich mit einem langen brünstigen Gebet, zu dem das rauschende Meer die Worte gab, an die Allmutter gewandt, die ihr Kind nicht verlassen werde, wie er sie denn immerdar mit grenzenloser Liebe lieben wolle. – Dann hatte der alte Boslaf plötzlich an seiner Seite gestanden, er hatte ihn nicht kommen hören, und der Alte sagte auch nichts; – und so gingen sie schweigend nebeneinander rechts am Strande hin, bis sie zu dem einsamen Häuschen des Alten zwischen den Dünen kamen. Und da machte ihm der Alte ein kunstloses Lager zurecht, sorgsam, schweigend und strich ihm schweigend mit der Hand über das feuchte Haar, als er sich niedergelegt hatte, um eine Stunde zu ruhen und in den Mondenschimmer zu blicken, der durch das niedrige Fenster an der Wand über die Gewehre und ausgestopften Vögel und Netze und Angelruthen weiterrückte, bis das Rauschen der Wipfel auf der Uferhöhe und das Rauschen des Meeres ihn in Schlaf lullten.

Gotthold erwachte aus seinem Traum. Der Wagen stand. Die Pferde schoben in den Wald hinein, den der Weg hier auf eine kurze Strecke durchschnitt. Es war fast vollkommen dunkel, nur daß hier und da durch das dichte Gezweig der Buchen ein Strahl des eben aufgegangenen Mondes zitterte.

„Na, was haben denn die verdammten Mähren?“ sagte Jochen.

Rechts vom Wege rauschte und knackte es in dem dichten Unterholz, näher jetzt und lauter, immer näher in gewaltiger Eile, und nun brach es aus den Büschen heraus, wie im Sturmwind, eine dunkle, festgeschlossene und doch in sich bewegliche Masse, und krachte in das Unterholz auf der andern Seite – kaum gesehen, schon verschwunden, während die Pferde in wahnsinniger Angst sich im Geschirr bäumten und dann sich auf die Seite warfen, daß die beiden Männer, die vom Wagen gesprungen waren, ihrer nur mit äußerster Anstrengung Herr werden konnten.

„Das verdammte Rackerzeug!“ sagte Jochen, „und gerade hier ist mir das schon einmal passirt. Da sollte doch der Fürst ein Einsehen haben; aber das wird alle Jahre mehr, und wenn der alte Boslaf nicht noch manchmal ein Bischen dazwischen aufräumte, wäre es ja wohl gar nicht zum Aushalten Da, hören Sie!“

Links im Walde, wohin das Rudel seine Flucht genommen, ertönte, schon in ziemlich weiter Entfernung, der Knall einer Büchse.

„Das war er,“ sagte Jochen leise, „der braucht nur zu pfeifen, dann laufen sie ihm gerade in den Schuß. Ja, ja, Herr Gotthold, Sie meinten vorhin, es gebe nichts von der Art; aber den alten Boslaf werden Sie doch wohl ausnehmen. Der kann mehr als ein Kunststückchen, das ihm kein ehrlicher Christenmensch nachmacht.“

„So lebt der Alte noch?“ fragte Gotthold, während sie jetzt vorsichtig durch den Wald weiterfuhren.

„Ja, was sollte er nicht!“ erwiderte Jochen, „welche sagen ja, er kann so lange leben, wie er will. Na, das glaube ich nun [518] nicht, einmal wird es auch wohl ein Ende nehmen, wenn ich auch nicht dabei sein mag; aber das weiß ich, daß welche Leute, die ihn schon vor fünfzig Jahren gekannt haben, sagen, damals habe er just so ausgesehen wie heute.“

„Und er wohnt noch immer in dem Strandhause?“

„Wo sollte er sonst wohnen?“ sagte Jochen.

Sie waren aus Wald und Haide heraus auf die schöne chaussirte Straße gekommen, welche, mit mächtigen Pappelbäumen bepflanzt, den müden Reisenden die Nähe der fürstlichen Residenz verkündete. Es war noch eine Wegstunde; aber die Straße fiel ein wenig, und die Pferde, wohl wissend, daß ihr langes Tagewerk zu Ende und eine Krippe nahe sei, nahmen die letzte Kraft zusammen und trotteten wacker dahin. An dem schwärzlich-blauen Himmel schwamm jetzt die Sichel des zunehmenden Mondes in reinem Glanz; hier und da in der dunklen Landschaft bezeichnete ein röthlich dämmerndes Licht die Lage eines Gutshofes oder einsamen Bauernhauses. Und nun schimmerte es heller von dem Hügel her, zu welchem der Weg wieder aufstieg. Weißlich hoben sich stattlichere Häuser aus dem dunklen Laub der Büsche und Bäume, der Huf der Pferde schlug auf Steinpflaster, und wenige Minuten später hielt der Wagen vor dem „Fürstenhof“, dessen behäbiger Wirth den späten Gast mit nordischer Herzlichkeit willkommen hieß.




3.


Gotthold hatte noch bei guter Zeit in P. einzutreffen geglaubt; jetzt war es beinahe zehn Uhr, eigentlich zu spät, den brieflich versprochenen Besuch bei Wollnow noch zu machen. Indessen der Herr wartete vielleicht trotz der späten Stunde, und was er mit ihm zu besprechen, konnte in wenigen Minuten abgethan sein. Dann war auch dieser Nebenzweck seiner Reise erreicht; er konnte morgen früh wieder aufbrechen, und er wäre am liebsten noch heute Nacht weitergefahren.

Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Die Erlebnisse der letzten Stunden, die Begegnung vor Allem mit dem Gespielen seiner Jugendjahre, die Mittheilungen desselben – das Alles hatte ihn im tiefsten Innern erregt. Während er die stille Parkstraße nach der Wohnung seines Geschäftsfreundes hinabging, blieb er ein paar Mal tief athmend unter den dunklen Bäumen stehen und machte eine Bewegung, als könne er damit das Geisterheer der Erinnerungen abwehren, das ihn umwitterte.

„Gott sei Dank, daß Du wenigstens jetzt sicher bist, nicht wieder einem alten Bekannten zu begegnen,“ sprach er bei sich, als er an der Thür des stattlichsten der Markthäuser klingelte.

„Herr Wollnow ist zu Hause,“ sagte das junge hübsche Dienstmädchen, „und –“

„Heißt Sie bestens willkommen,“ fiel Herr Wollnow ein, der in demselben Augenblick aus seinem Comptoir trat und dem späten Gast eine breite kräftige Hand entgegenstreckte. „Ich freue mich sehr, endlich Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, wenn es mir auch herzlich leid thut, daß die Veranlassung eine so traurige sein mußte. Haben Sie schon zu Abend gegessen? Nein? Nun, das ist ja schön, ich auch nicht. Sie müssen freilich mit mir allein vorlieb nehmen, vor der Hand wenigstens; meine Frau hat heute ihr großes Kränzchen. Sie wollte nicht hin, denn sie brennt darauf, die Bekanntschaft mit Ihnen zu erneuern oder zu machen, wie ich sage; denn Sie werden sich ihrer schwerlich erinnern. So versprach sie denn, um zehn Uhr wieder hier zu sein; aber ich weiß, wie das ist, wir werden schon noch eine Stunde für uns haben.“

Gotthold bat wegen der späten Störung um Entschuldigung, aber er habe geglaubt, lieber spät als gar nicht kommen zu sollen, umsomehr, als er womöglich morgen in der Frühe weiterzureisen beabsichtige.

„Ich denke, Sie werden sich noch ein wenig bei uns halten lassen,“ erwiderte Herr Wollnow, „indessen Zeit ist Geld, wie der Engländer sagt, und so wollen wir die Zeit, welche Stine braucht, das Abendbrod zurechtzumachen, den Geldangelegenheiten widmen. Ich habe Alles zurecht gelegt.“

Herr Wollnow hatte Gotthold in dem kleinen Privatcomptoir auf das kleine Sopha genöthigt und sich neben ihm in einen mit Leder überzogenen Armstuhl an den runden Tisch gesetzt, auf welchem im Schein der Lampe verschiedene Papiere in sorgfältigster Ordnung nebeneinandergereiht lagen.

„Hier sind die Sachen, die sich auf die Hinterlassenschaft Ihres Herrn Vaters beziehen,“ fuhr er fort. „Ich habe wahrlich herzlich wenig Mühe von der Ausführung des Mandats gehabt, mit welchem Sie mich von Mailand aus zu betrauen die Güte hatten. Baares Geld fand sich nur im Betrage von einigen Thalern vor, und was das Mobiliar und sonstigen Hausrath betrifft, so können die Einsiedler der thebaischen Wüste nicht viel weniger besessen haben, als womit sich Ihr Herr Vater in den letzten Lebensjahren begnügte. Das einzige wirklich Werthvolle seines Nachlasses war die Bibliothek, und hier habe ich mir erlaubt, von Ihrem Auftrage etwas abzuweichen. Sie hatten bestimmt, daß der Gesammtertrag den Armen des Kirchspiels zu Gute kommen solle, zugleich, daß der Nachfolger Ihres Herrn Vaters für Das, was ihm etwa von den Büchern anstünde, seinen eigenen Preis machen dürfe, in der Voraussetzung ohne Zweifel, der Herr werde mit der nöthigen Discretion von dieser Vergünstigung Gebrauch machen. Davon aber war bei Pastor Semmel nicht die Rede. Er glaubte im Rohr zu sitzen; er wollte nicht nur die besten, er wollte alle Pfeifen schneiden und womöglich umsonst. Mit Einem Worte: Ihre beiden Absichten waren nicht zu vereinigen, und da ich wohl richtig annahm, daß Ihnen die Armen näher am Herzen liegen würden als der Herr Pastor, obgleich er viel Wesens von der Intimität machte, die auf der Universität und, ich glaube, schon auf der Schule zwischen Ihnen bestanden haben soll, habe ich mit Ausnahme einiger unbedeutenderen Sachen, die ich ihm lassen mußte, das Uebrige einer respectablen antiquarischen Firma angeboten, mit welcher ich nach einigem Hin- und Herhandeln einig wurde. Wir haben, wie ich Ihnen schrieb, ein tüchtiges Stück Geld herausgeschlagen, und wenn Sie mit mir so zufrieden sind, wie die Ramminer Armen, brauche ich mich der Ausführung meines Mandats nicht zu schämen.“

In Herrn Wollnow’s dunklen Augen blitzte ein Lächeln, als ihm jetzt Gotthold über den Tisch die Hand dankbar drückte.

„Ich wiederhole, es war eine kleine Mühe,“ sagte er, „und ich würde eine hundertfach größere für einen Mann, dem ich so tief verpflichtet bin, mit Vergnügen auf mich genommen haben.“

„Dem Sie so tief verpflichtet sind? mir?“

„Ihnen, gewiß. Hätten Sie mir vor fünf Jahren, als Sie Ihre Erbschaft antraten, die zehntausend Thaler, welche in meinem Geschäfte standen, entzogen, wie ich Ihnen dringend rieth, so wäre ich jetzt vielleicht nicht in der angenehmen Lage, Ihnen das Geld mit bestem Dank zurückerstatten zu können.“

„Um Himmelswillen!“ rief Gotthold, indem er Herrn Wollnow’s Hand zurückhielt, die sich nach einem größeren, mit einem Gummibande zusammengehaltenen Packet ausstreckte.

„Ich hatte das Geld auf alle Fälle zurückgelegt,“ erwiderte Herr Wollnow, „baar und in guten Obligationen nach dem heutigen Course.“

„Aber ich will es heute so wenig, wie ich es damals wollte.“

„Nun,“ sagte Herr Wollnow, „ich kann Ihnen heute nicht mehr so unbedingt zureden, es zu nehmen, als vor fünf Jahren. Heute – ich darf es mit Zuversicht sagen – ist Ihnen dies Geld sehr sicher, und ich kann Ihnen die höchsten Procente geben; damals, als ich hier auf der Basis sehr wunderlich gestalteter Verhältnisse ein neues Geschäft zu gründen hatte und jeden Augenblick in Folge der Unberechenbarkeit meiner Geschäftsfreunde – ich meine der hiesigen Gutsbesitzer – vor einer Krisis stand, that ich nur meine Pflicht, als ich Ihnen rieth, Ihr Geld, wenn nicht reineren, so doch sichereren Händen anzuvertrauen. Nun, Sie wollten davon nichts hören, wollten durchaus, daß ich das Geld behielt, ja ich glaube, ich hätte es ohne Zinsen haben können.“

„Sie werden mir zugeben, Herr Wollnow, daß ich damit ganz im Sinne meines Onkels handelte.“

„Ich weiß nicht,“ erwiderte der Kaufmann. „Ihr Onkel hatte ein reelles Interesse daran, mir das Geld zu lassen. Die großen Vortheile, die durch die neuen Verbindungen, welche ich hier angeknüpft, und ich darf wohl sagen, geschaffen, dem Geschäfte in Stettin zuflossen, waren so erheblich, daß sie das Risico eines immerhin doch nur möglichen Verlustes weit aufwogen. Indem aber der Onkel Ihnen testamentarisch vollkommen freie Verfügung über die Erbschaft ertheilte, erkannte er an, daß [519] ein Künstler andere Interessen hat und haben muß als ein Geschäftsmann.“

„Nun ja, die Interessen seiner Kunst,“ erwiderte Gotthold mit Wärme, „ich habe nie andere gehabt, werde nie andere haben. In diesem Sinne, und nur in diesem, habe ich die reiche Erbschaft, die mir so unerwartet zufiel, nachdem ich mich von dem ersten Erstaunen erholt, mit Freuden begrüßt.“

„Ich weiß es,“ erwiderte Herr Wollnow, „die Unterstützung, die ich auf Ihre Rechnung dem armen verdienstvollen jungen Brüggberg in Str. schon seit drei Jahren auszahle, beweist es; und er wird nicht Ihr einziger Pensionär sein.“

[519] „Ihm ist es nicht so gut geworden, wie mir, daß ihm die Hülfe kam, als es noch Zeit war,“ erwiderte Gotthold.

Er stützte den Kopf in die linke Hand und zeichnete mechanisch Arabesken auf ein Blatt, das vor ihm lag, während er mit leiserer Stimme fortfuhr:

„Und es war auch für mich die höchste Zeit. Zwei Jahre hatte ich bereits in München jede Stunde und jede Minute, die mir die Arbeit für meinen Lebensunterhalt übrig ließ, der Kunst gewidmet, der geliebten Kunst, die gegen den Anfänger – zumal den, welcher mit einundzwanzig Jahren von vorn anfangen muß, – so unendlich spröde ist. Meine Kraft war nahezu gebrochen; ich hatte der Hoffnung letzte Sterne versinken sehen; nichts hielt mich noch im Leben, als eine Art von Trotz gegen ein Schicksal, das ich nicht verdient zu haben glaubte, und die Scham, als ein Thor in den Augen dessen, der mir zum Leben verholfen, aus dem Leben zu gehen. Da – wie deutlich ich mich der Stunde erinnere! Ich war gegen Abend aus dem Atelier eines berühmten Meisters, zu welchem mir ein Bekannter Zutritt verschafft, in mein Dachstübchen zurückgekehrt – die Seele zum Zerspringen voll von dem ungeheuren Eindruck genialster Schöpfungen, und doch tödtlich erschöpft, denn ich hatte ein paar Tage vorher beschlossen, keine Lectionen mehr zu geben, und sollte ich verhungern, und ich war dem Verhungern nahe. Ich hatte mich an meine Staffelei gestellt, aber die Farben schwommen ineinander. Die Palette fiel mir aus der Hand; ich wankte an den Tisch, mir ein Glas Wasser einzuschenken, und – auf dem Tische lag der Brief, der mir ankündigte, daß ich von einem Verwandten, den ich nie, der mich nie gesehen, zum Erben eingesetzt war, und daß ich der Herr eines Vermögens sei, welches sich nach einer vorläufigen Schätzung auf mehr als hunderttausend Thaler belief. Was ist wohl natürlicher, als daß ich mir in diesem wunderbaren Augenblicke den Schwur ablegte: dies soll der Kunst gehören, und Dir selbst nur, soweit Du Künstler bist.“

„Nichts ist natürlicher und einfacher,“ sagte Herr Wollnow, „aber, daß Sie den Schwur gehalten, und ich weiß, daß Sie ihn gehalten, das ist – wie wir Adamskinder nun einmal geartet sind – nicht eben so natürlich und nicht ganz so einfach. Aber nun, da das Geschäftliche abgethan, wollen wir, wenn es Ihnen recht ist, bei einem Glase Wein gemüthlich weiter plaudern.“

[541] Herr Wollnow öffnete die Thür zu einem geräumigen, halb als Speisezimmer, halb als Wohnraum behaglich ausgestatteten Gemache und lud seinen Gast ein, an dem mit schneeweißem Linnen gedeckten und mit allerlei guten Dingen in kostbarem Porcellan und mehreren Flaschen Wein besetzten Tische Platz zu nehmen. Gotthold’s Blicke schweiften, während er sich setzte, nach ein paar größeren und kleineren Oelbildern, die an den Wänden schicklich vertheilt waren.

„Halten Sie dem Künstler seine Neugier zu gut,“ sagte er.

„Ich verstehe wenig oder nichts von Ihrer schönen Kunst,“ erwiderte Herr Wollnow, indem er sich die Serviette unter dem vollen Kinn befestigte, „aber meine Frau ist eine große Liebhaberin und, wie sie in schwachen Stunden sich einredet, Kennerin. Sie müssen ihr die Freude lassen, Ihnen ihre Schätze zu zeigen. Ich fürchte freilich, die kleine Sammlung wird wenig Gnade vor Ihren Augen finden, mit Ausnahme etwa eines Bildes, das auch ich für ein Meisterstück halte und das von Allen, die es sehen, höchlich bewundert wird.“

Gotthold wäre gern näher an die Bilder getreten, von denen ihm eines, das etwas weiter weg hing, sonderbar bekannt vorkam; aber Herr Wollnow hatte bereits die grünen Gläser mit duftendem Rheinweine gefüllt, und eine ältliche robuste Frauengestalt kam geräuschvoll herein, eine dampfende Schüssel frisch gebratener Seefische in den feuerrothen Händen.

„Stine behauptet, Sie hätten die Flundern immer besonders gern gemocht,“ sagte Herr Wollnow, „und da hat sie sich denn nicht nehmen lassen, Ihnen Ihr ehemaliges Lieblingsgericht selbst zu präsentiren.“

Gotthold blickte zu der robusten Person empor und erkannte alsbald die gute Stine Lachmund, welche während seiner Knabenzeit in dem Hause von Dollan an Stelle der kränklichen Frau die innere Wirthschaft beinahe, und nach deren Tode ganz allein geführt, und aller Welt und besonders auch den Knaben gegenüber sich in ihrer manchmal nicht leichten Stellung immer mit gutem Verstand und gutem Humor zu behaupten gewußt hatte.

Er reichte der alten Freundin die Hand, in welche diese kräftig einschlug, nachdem sie die Schüssel auf den Tisch gesetzt und die feuerrothen Hände ganz unnöthiger Weise an der Schürze abgewischt hatte.

„Ich wußte es ja, daß Sie mich wiedererkennen würden,“ sagte sie, und ihr dickes Gesicht strahlte vor Freude bei diesen Worten. „Aber Herr meines Lebens, wie haben Sie sich verändert! was sind Sie für ein hübscher Mensch geworden! Sie hätte ich nicht wieder erkannt!“

„So war ich damals wohl verzweifelt häßlich, Stine?“ fragte Gotthold lächelnd.

„Na, es ging so,“ sagte Stine mit ernsthaftem Forscherblick; „hübsche blaue Augen hatten Sie, das ist wahr, aber die schauten immer so groß und traurig, daß es Einen jammern konnte. Und dann das magere Gesichtchen entzwei geschlagen, von da bis da – es sah schrecklich aus; so einen guten Jungen noch dazu, es war zu schändlich –“

„Das ist Alles längst vergessen,“ sagte Gotthold.

„Und ein großer Bart darüber gewachsen,“ ergänzte Stine.

„Du kannst Line sagen, daß sie uns von dem Rothgesiegelten hereinbringt,“ sagte Herr Wollnow, der zu bemerken glaubte, daß sein Gast diese Erkennungsscene abgebrochen wünschte. „Sie müssen verzeihen,“ fuhr er, nachdem Stine nach nochmaligem Handschütteln hinausgegangen war und das hübsche junge Dienstmädchen, das auf leisen Sohlen kam und ging, die Aufwartung der Herren übernommen hatte, zu Gotthold gewendet fort, „Sie müssen mir verzeihen, daß ich Ihnen diese kleine Scene nicht ersparte. Die gute Person hatte sich so auf Ihr Kommen gefreut, und wer in die Heimath zurückkehrt, muß sich schon darauf gefaßt machen, auf Tritt und Schritt alten bekannten Gesichtern zu begegnen.“

„Ich habe es heute erfahren,“ erwiderte Gotthold; „auch Ihre Frau Gemahlin, sagten Sie –“

„Ist stolz darauf, Sie gekannt zu haben, als Sie noch kein berühmter Maler, sondern ein scheuer Knabe von ungefähr dreizehn Jahren waren, der sich hartnäckig weigerte, an einer Tanzstunde, welche die hiesigen Honoratiorenmütter mühsam zusammengebracht, theilzunehmen, und dann doch theilnahm, als er hörte, es wolle sonst Keiner mit der kleinen Ottilie Blaustein tanzen. Sie hat Ihnen diese Großmuth nicht vergessen.“

„Und sie – Fräulein Ottilie –“

„Ist seit sechs Jahren meine Frau,“ sagte Herr Wollnow. „Sie sehen mich mit discretem Erstaunen an; Sie haben schnell ausgerechnet, daß die kleine Tanzstundendame von damals heute nicht viel über fünfundzwanzig Jahre sein könne, und Sie taxiren [542] mich sehr richtig auf fünfzig und einige – sagen wir sechsundfünfzig. Aber wir Juden –“

„Sie sind Jude?“ fragte Gotthold.

„Reinster Race,“ erwiderte Herr Wollnow; „haben Sie das nicht gesehen, als ich vorhin Ihr Geld so eilig wieder in den Schrank schloß? – Reinster polnischer Race, wenn ich auch meiner Frau zu liebe, die hinreichend unter dem Judenthum gelitten zu haben erklärte, und auch aus geschäftlichen Gründen, den für mich sehr leichten Schritt aus einer positiven Religion, die mir gleichgültig war, in eine andere, die mir nicht minder gleichgültig war, gemacht habe. Aber was ich sagen wollte: wir Juden oder wir jüdisch Erzogenen sind hinsichtlich der Ehe ebenso wenig wie in anderen Dingen Romantiker, sondern halten uns an das Gesetz; ich meine hier das Gesetz der Natur, das freilich gar nicht romantisch, sondern sehr nüchtern, aber desto logischer ist.“

„Und da meinen Sie, daß eine größere Differenz in dem Lebensalter der Gatten eines dieser streng zu beobachtenden Naturgesetze sei?“

„Keineswegs, nur unter Umständen kein Hinderniß.“

„Gewiß nicht, aber –“

„Verstatten Sie mir, meine Meinung durch einige statistische Daten zu erläutern. Ich stamme aus einer langlebigen Familie. Mein Großvater soll – er wußte weder den Ort noch die Zeit seiner Geburt genau anzugeben – über hundert Jahre alt gewesen sein, als er, erblindet freilich und gelähmt, aber noch in fast ungeschmälertem Besitz seiner geistigen Kräfte, starb. Mein Vater wurde neunzig Jahre. Ich, der ich es mir nicht mehr ganz so sauer werden zu lassen brauchte, konnte vor sechs Jahren bereits, in meinem fünfzigsten Jahre, heirathen, und so habe ich die Aussicht, mein kleines Dreigespann, auch wenn uns noch ein Zuwachs dazu geschenkt werden sollte, aufwachsen und erwachsen zu sehen, vorausgesetzt, daß ich die achtziger Jahre etwa erreiche, worauf ich väterlicher Seits, wie Sie mir zugeben werden, die gegründetsten Ansprüche habe.“

Herr Wollnow drückte die starken Schultern behaglich in die Lehne seines Stuhles und strich sich mit beiden Händen über die breite Stirn und das dichte schwarze Haar, in welchem Gotthold noch nicht den leichtesten grauen Streifen bemerken konnte. – „Sie sind also,“ sagte er, „wenn ich Sie recht verstehe, der Ansicht, daß die Ehe in erster Linie den Kindern zu Gute kommen soll, wobei es sich denn nur noch darum handelt, auf die Zeichen der Zeit zu achten, in welcher und für welche die Kinder geboren werden.“

„Durchaus,“ erwiderte Herr Wollnow, „in erster Linie, ich möchte fast sagen: in erster und letzter.“

„Und die Gatten?“

„Sollen und werden in der Liebe zu ihren Kindern, in der Freude an der neuen, jungen Welt, die aus ihnen geboren ist, ihr Genüge finden und eine ausreichende Entschädigung für die verlorenen Illusionen und eine Belohnung für die Sorgen, die Entbehrungen, welche ihnen aus dieser Liebe und Freude nothwendig erwachsen.“

„Und ihre Liebe, ihre eigene Liebe, die Liebe, die sie zusammenführte, aus der unzähligen Menge der Möglichkeiten heraus diese, gerade diese Wahl treffen ließ – die Liebe, die nur immer wachsen und wachsen muß, bis sie zuletzt jeden Gedanken durchleuchtet, jedes Gefühl erhöht, jeden Blutstropfen erwärmt – sie wollten Sie aus der Ehe nehmen? oder als etwas ausgeben, das da sein kann oder auch nicht sein kann? Nimmermehr! Liebe ist allenthalben, außer in der Hölle, sagt Wolfram von Eschenbach. Ich weiß nicht, ob er Recht hat, das aber weiß ich, daß eine Ehe, in der keine Liebe, ja, was sage ich? die Liebe nicht ist, wie ich sie fasse, in meinen Augen die Hölle ist.“

Gotthold hatte mit einer Leidenschaft gesprochen, die, so sehr er dieselbe zu unterdrücken sich bemühte, den scharfen Ohren seines Wirthes nicht entgangen war.

„Lassen Sie uns das Thema abbrechen,“ sagte er mit Freundlichkeit, „und uns ein anderes suchen, über welches wir uns gewiß leichter verständigen werden.“

„Nein, lassen Sie uns dabei bleiben,“ sagte Gotthold; „es liegt mir daran, über einen so wichtigen Punkt die Ansicht eines Mannes zu hören, dessen Urtheil und Charakter ich so hoch schätze, – die ganze Ansicht; denn ich bin überzeugt, daß Sie noch gar Vieles zu sagen haben.“

„Gewiß,“ erwiderte Herr Wollnow zögernd; „gar Vieles, aber ich fürchte: Weniges, was Ihnen, wie Sie jetzt über die Ehe denken, gefallen wird. Ich sage, wie Sie jetzt denken, und bitte, mir das nicht übel zu deuten, denn Sie, der Sie in romantischen Traditionen aufgewachsen sind und, als Künstler, vielleicht noch ganz besonders zu einer idealistischen Auffassungsweise der menschlichen Dinge neigen, können wohl kaum anders als durch die eigene Erfahrung von Ihrer vorgefaßten Meinung zurückkommen. Aber immerhin: ich müßte von der Richtigkeit meiner eigenen Meinung weniger fest überzeugt sein, als ich es bin, oder meinen Gegner minder hochachten, als ich es thue, wollte ich Ihren letzten Satz ohne Erwiderung lassen. Sie sagten, daß ohne die Liebe, wie Sie sie so beredt schilderten, die Ehe eine Hölle sei; ich behaupte, daß gerade diese Liebe, oder vielmehr der nicht verwirklichte Traum dieser Liebe sehr viele, nur zu viele Ehen zu einer Hölle macht.“

„Nicht verwirklicht,“ sagte Gotthold; „o ja, das eben ist das Unglück.“

„Ein unvermeidliches, oder doch wenigstens ein in unzähligen Fällen nicht zu vermeidendes. Sie werden mir zugeben, daß die meisten Ehen schon mit diesem, je nach der Natur und dem Bildungsgrad der Träumer, mehr oder weniger glänzenden Traume beginnen, – beginnen müssen, um überhaupt zu beginnen. Es giebt so wenig Menschen, welche nicht noch besonders dafür belohnt sein wollen, daß sie thun, was sie der Natur und der Gesellschaft schuldig sind. Sehen sie nun hinterher ein, daß es sich in der Ehe um ganz andere Zwecke handelt, als um die Verwirklichung ihrer Träume, und diese Zwecke um so besser erreicht werden, je weniger man träumt, so reiben sich die Meisten allerdings im Anfang ein wenig verwundert die Augen, nehmen die Sache aber nicht weiter tragisch, sondern wie sie ist; und das sind die Ehen, welche ich – mit aller schuldigen Hochachtung vor der Menschheit, die ja aus Durchschnittsmenschen besteht, – Durchschnittsehen nenne und die ich in Deutschland, in England, in Amerika, auch in Frankreich, Italien, so weit ich nur auf der civilisirten Erde herumgekommen bin, einander ähnlich gefunden habe, wie ein Ei dem andern. Es ist, Alles in Allem, sehr trockne, aber sehr gesunde Prosa, die hier zu Hause ist; viel bescheidenes, ruhiges Glück, natürlich auch viel, sehr viel Leid; aber doch keines, was nicht dem Menschen als solchem – ich meine, der gebrechlichen, leicht verletzlichen, endlich dem Tode verfallenen Creatur – zukäme, und sehr wenig, was aus der Ehe resultirte. Das aber findet sich in überreichem Maße da, wo die Menschen den Traum, den sie als Liebende geträumt, durchaus realisiren, ja, in eine noch glänzendere Wirklichkeit verwandeln wollen. Wie viel herzbrechende Kämpfe, wie viel vergebliches Ringen, wie viel vergeudete und, lieber Himmel, zu so viel wichtigeren Zwecken hochnöthige Kraft, wie viel sinn- und nutzlose Grausamkeit gegen sich selbst, gegen den Andern! Sie sehen, ich spreche nur von den Menschen, die es ernst meinen mit dem Leben; ich spreche nicht von der Gemeinheit des Stumpfsinns, der keiner moralischen Ideen fähig ist, noch von der womöglich noch größeren Gemeinheit der Frivolität, die aller Moral ein freches Schnippchen schlägt.“

„Ich weiß es,“ erwiderte Gotthold, „aber weshalb sollten ernste, ehrliche Menschen, wenn sie sich ihres Irrthums bewußt werden, nicht, so lange es noch Zeit ist, den Fehler, der sich in die Rechnung ihres Lebens eingeschlichen hat, wieder herauszubringen suchen?“

„Wodurch?“

„Dadurch, daß sie sich einer dem andern die Freiheit wieder geben.“

„Die Freiheit? Welche Freiheit? Die Freiheit, sich möglichst bald wieder zu fesseln, möglichst bald wieder eine neue Wahl zu treffen, wenn sie eine solche, wie es meistens der Fall ist, nicht bereits zuvor getroffen hatten; eine neue Wahl, die voraussichtlich nicht klüger, umsichtiger ausfallen wird, als die erste. Bedenken Sie, wir sprechen von ernsten, ehrlichen Menschen! Nun, so gingen sie doch wohl auch bei der ersten Wahl ernst und ehrlich zu Werke, und irrten sie sich, trotz alles Ernstes, trotz aller Ehrlichkeit, wo sie doch frei und unbefangen wählen konnten, sollten sie das zweite Mal unter dem Druck selbstgeschaffenen Leides, geblendet von einer verbrecherischen Leidenschaft – sehen Sie, wenn ein neuer Commis die erste Calculation, die ich ihn [544] machen lasse, mit einem total falschen Ansatz beginnt, so schicke ich ihn deshalb vielleicht noch nicht fort, aber ich werde ihm nie wieder eine wichtige Aufgabe ohne Controle anvertrauen. Und dann – so lange es noch Zeit ist – sagten Sie? Wann ist es noch Zeit? Vielleicht nie, wenn Zwei sich angehört haben mit Leib und Seele – denn ernste, ehrliche Menschen werden sich doch ihre Seelen geben – vielleicht nie, und ganz gewiß nicht mehr, sobald – und hier komme ich zurück, wovon ich ausging, zu dem O der Ehe, wie es ihr A ist – sobald der Bund, der eben dadurch ein heiliger wird, mit Kindern gesegnet war. Glauben Sie mir, der ich gar manche Beobachtung nach dieser Seite machen konnte: der Riß, der die Gatten trennt, er geht immer, immer mitten durch das Herz der Kinder; sie werden früher oder später diesen Riß schmerzlich fühlen, ihn nie ganz verwinden, vorausgesetzt, daß sie – was freilich nicht allemal der Fall ist – ein Herz haben.“

„Und wird das Herz eines Kindes nicht zerrissen,“ rief Gotthold in schmerzlicher Erregung, „wird es nicht bluten bei dem Gedanken an seine Eltern, die sich gegenseitig zur Qual gelebt, in dieser Qual sich verzehrt haben?“

„Sie würden sich nicht verzehrt haben,“ erwiderte Herr Wollnow, „wenn sie sich in meinem Sinne beschieden hätten, wenn sie sich immer gesagt und immer im Herzen getragen hätten: um unseres Kindes willen dürfen wir nicht verzagen, müssen wir es tragen, müssen wir leben, müssen wir das Hauptbuch unseres Lebens heilig halten und, hat sich wirklich ein Fehler eingeschlichen, rechnen und rechnen, bis wir ihn gefunden. Wer in aller Welt soll für das Resultat stehen als Derjenige, welcher das Buch angelegt! Und dann! es giebt auch einen Bankerott, aus dem der Unglückliche arm, vielleicht bettelarm hervorgeht, mit nichts, seine Blöße zu bedecken, als dem Bewußtsein: du hast deine Pflicht, hast deine Schuldigkeit gethan. Wehe dem, der das nicht von seinen Eltern denken, wohl dem, der es denken und sagen und an den Gräbern seiner Eltern schmerzliche und doch süße Thränen weinen und in Frieden weiter ziehen kann.“

Gotthold’s Kopf ruhte in der aufgestützten Hand. „Laß uns Frieden haben,“ hatte er zu dem Schatten seines Vaters gesagt, und schmerzliche und doch süße Thränen waren aus seinen Augen auf seiner Mutter Grab gefallen. Würden sie weniger süß gewesen sein, wenn sie den Vater, den sie, der sie nicht glücklich machen konnte, verlassen? wenn sie ihr Glück in den Armen eines Andern gesucht und vielleicht gefunden hätte?

Herrn Wollnow’s dunkle Augen hafteten mit einem Ausdrucke halb des Mitleids, halb der Strenge an den edlen, von Trauer und Zweifel verdüsterten Zügen seines Gastes. Hatte er bereits zu viel, hatte er noch nicht genug gesagt? sollte er schweigen, sollte er weiter sprechen, dem jungen Manne, der seiner Mutter so ähnlich sah und doch auch wieder so viel von seinem Vater hatte, die Geschichte seiner Eltern erzählen?

Doch da ertönte die Hausglocke und in demselben Momente auf dem Flur auch schon die Stimme seiner Gattin. Sie war die Frau dazu, hätte das Gespräch eine zu ernste, vielleicht bedenkliche Wendung genommen, mit ihrer muntern Laune die Männer bald wieder auf andere und heiterere Gedanken zu bringen.


[559]
4.


„Ich bitte tausend und tausendmal um Entschuldigung,“ rief Frau Wollnow noch auf der Thürschwelle.

„Macht zweitausend,“ sagte ihr Gatte, der sich zugleich mit Gotthold erhoben hatte, ihr entgegenzugehen.

„Du sollst mir nicht immer Alles nachrechnen, Du böser Mann.“

„Aber Alles nachsehen –“

„Und mich nicht immer unterbrechen, und mich um meine schönsten Reden bringen, ich hatte mir die allerschönste an unsern lieben Gast ausgedacht.“

„Fing sie vielleicht mit ‚guten Abend‘ an?“

„Nun ja: guten Abend! und willkommen, herzlich willkommen,“ sagte Frau Wollnow, Gotthold die beiden fetten kleinen Hände entgegenstreckend, und mit heller Neugier aus den braunen Augen zu ihm emporblickend. „Gott, wie Sie noch gewachsen sind, und wie Sie sich embellirt haben!“

Gotthold konnte das Compliment nicht zurückgeben. Ottilie Blaustein schien ihm, seitdem er sie nicht gesehen, allerdings sehr viel stärker, aber weder größer noch schöner geworden. Indessen das volle und etwas geröthete Gesicht strahlte von Gutmüthigkeit und Lebenslust; und so wurde es ihm keineswegs schwer, die herzliche Begrüßung der Jugendbekanntin nicht minder herzlich zu erwidern. Sie ersuchte die Herren, wieder Platz zu nehmen; sie würde, mit ihrer Erlaubniß, sich zu ihnen setzen, und bäte auch um ein Glas, denn sie habe heute Abend so viel reden müssen, daß sie ganz verdürstet sei. Dann sprang sie alsbald wieder auf und fragte an dem Ohr ihres Gatten im halben Flüsterton, ob [560] er es ihm schon gezeigt habe? auf welche geheimnißvolle Frage Herr Wollnow lächelnd das stattliche Haupt schüttelte: „Ich wollte Dir die Freude nicht verderben,“ sagte er.

„Du guter Emil!“ rief sie, den Gatten flüchtig auf die Stirn küssend, und dann zu Gotthold gewandt: „Kommen Sie, ich muß Ihnen den Beweis liefern, daß Sie keine Undankbare verpflichteten, als Sie dem kleinen Judenmädchen die Tanzstunde möglich machten. Sehen Sie, dies habe ich zum Andenken an Sie gekauft, und hätte es gekauft, wäre es so werthlos gewesen, wie es unermeßlich werthvoll ist, und so theuer, wie ich meinen Schatz für einen Spottpreis kaufen durfte.“

Sie hatte einen Leuchter ergriffen, und führte Gotthold nun zu jenem Landschaftsbilde, das ihm bereits vorhin über die Breite des Zimmers herüber aufgefallen war. Gotthold zuckte zusammen und konnte nur mit Mühe einen Schrei der Ueberraschung und des Schreckens unterdrücken.

„Es ist Dollan, nicht wahr?“ sagte Ottilie.

Gotthold erwiderte Nichts; er nahm der Dame das Licht aus der Hand und leuchtete über das Bild, das etwas zu hoch hing. – Ja, da war es, das Bild, in das er damals seine Liebe und seinen Schmerz hineingemalt, das Bild, von dem er vorhin Herrn Wollnow erzählt, daß es auf seiner Staffelei stand, an jenem Abend, der in sein Leben eine so wunderbare Wendung brachte. Er hatte, sich selbst zum Beweis, daß er mit der Vergangenheit unwiderruflich gebrochen, und eine neue Phase seines Lebens und Strebens jetzt beginnen müsse, die Skizze verschenkt und das Bild nicht vernichtet, sondern ganz prosaisch auf eine Ausstellung gegeben, von der es auf eine andere, und wieder auf eine dritte und vierte gewandert, und endlich verkauft war, ohne daß er wußte, wohin, an wen? ohne daß er es wissen wollte: es sollte für ihn verschwunden sein. Und doch hatte er in dieser ganzen Zeit die Erinnerung an dies Bild nicht los werden können. Er hätte es aus dem Gedächtniß wieder malen können; aber es wäre immer nicht das durch so viel Schmerzen geheiligte gewesen. Und hier mußte er es wiederfinden, und jetzt, wo seine Seele schon so voll war von dem Zauberduft, den Alles, was er sah, was er hörte, ihm aus jenen Tagen entgegentrug, wie damals jeder Hauch, der um seine Stirn, um seine Wangen strich, den Duft der Tannen und des Meeres und der Liebe.

„Und wie ich dazu gekommen bin,“ sagte Frau Wollnow; „und wie ich nur überhaupt erfuhr, daß es von Ihnen ist; denn Sie wissen, unser Einer sieht nicht nach dem Zeichen, oder ich sah wenigstens damals noch nicht danach. Aber wenn man Glück haben soll! so sagte ich auch zu Cäcilie Brandow, mit der ich – es sind nun sechs Jahre und ich war eben verheirathet – in Sundin auf dem Wollmarkt – hätte ich beinahe gesagt; aber natürlich waren da nur die Herren, und wir Damen waren wegen der Ausstellung mitgefahren; und da traf ich mit ihr zusammen. Wir hatten uns so viel zu erzählen, wie zwei Freundinnen, die sich seit der Pension nicht gesehen; Sie erinnern sich vielleicht nicht, daß ich mit Cäcilie hernach in Sundin in derselben Pension war; – oder wenigstens: ich hatte viel zu erzählen; denn ich fand Cäcilie sehr still – sie hatte damals, glaube ich, ihr zweites Kind noch nicht lange verloren. Dann waren wir in dem Gedränge auseinandergekommen, bis ich sie endlich in einem der abgelegenen Zimmer ganz allein vor diesem Bilde fand, in Thränen, die sie, als ich dazukam, zu verbergen suchte.

‚Mein Gott,‘ sagte ich, ‚ist das nicht –‘

‚Ja,‘ sagte sie, ‚und es ist von ihm.‘

‚Von wem?‘

Mit einem Wort: sie hatte es sofort heraus, und ließ sich auch nicht irre machen, als ich ihr sagte, das ‚G. W.‘ in der Ecke könne ja auch der Himmel weiß wer sein. Sie sehen, ich verstand damals noch nicht viel von der Malerei – heute, wo ich – aber Ihre Hand zittert, Sie können ja den Leuchter nicht mehr halten.“

„Lassen Sie mir das Bild,“ sagte Gotthold; und dann, als er bemerkte, wie die beiden Gatten ihn verwundert anblickten, fügte er in ruhigem Ton hinzu, indem er den Leuchter wieder nach dem Tische trug: „das Bild ist wirklich nicht werth, daß es unter Ihren übrigen, zum Theil vortrefflichen Sachen hängt. Es ist eine Schülerarbeit, überdies nach einer sehr flüchtigen Farbenskizze aus der Erinnerung gemalt. Ich, ich verspreche Ihnen dafür ein anderes, besseres, das ich an Ort und Stelle, von derselben Stelle, wenn Sie wollen –“

„O, das wäre herrlich, das wäre köstlich!“ rief Frau Wollnow. „Ich halte Sie beim Wort: ein anderes, nicht besseres, Sie können es nicht besser machen, es ist unmöglich; aber an Ort und Stelle, eigens für mich von dem berühmtesten Landschafter der Gegenwart, das ist ein Triumph, an dem ich für alle Zukunft zehren kann. Hand darauf!“ Und sie streckte Gotthold die beiden Hände entgegen.

„So,“ sagte Herr Wollnow, „der Vertrag wäre geschlossen, und nun wollen wir ihn nach alter guter Sitte mit einem Trunk besiegeln. Sie sehen, Herr Gotthold Weber, Weiberklugheit geht über Pfaffenlist. Ich hätte lange predigen können, Sie zum Hierbleiben zu bewegen; da kommt die Frau, und der scheue Vogel ist gefangen. Nun, es freut mich, freut mich herzlich.“

„Und wie wird sich Cäcilie freuen!“ rief Frau Wollnow. „Meine arme Cäcilie! ihr thut eine kleine und noch dazu so angenehme Zerstreuung wirklich noth.“

Gotthold verfärbte sich. Er hatte, als er sein übereiltes Versprechen gab, wahrlich an nichts weniger gedacht, als sich auf diese Weise einen bequemen Vorwand zu verschaffen, Cäcilie wiederzusehen.

„Ich glaube, wir können unserem Freunde die Mühe der Reise ersparen,“ sagte Herr Wollnow, „und Du wirst auch mit einer einfachen Copie sehr zufrieden sein.“

„Du hörst ja, es ist gar nicht von einer Copie die Rede,“ rief Ottilie, „sondern von einem neuen, ganz neuen Bilde. Aber davon verstehst Du nichts, guter Emil, oder – er will es nicht verstehen.“

„Ich will nur unsern Freund nicht gleich wieder fortschicken, sondern ihn bei uns und für uns behalten.“

„Aufrichtig, Emil, aufrichtig!“ sagte Frau Wollnow, mit dem Finger drohend. „Die Sache ist nämlich die, Herr Weber, daß er Brandows nicht leiden kann – Gott mag wissen, warum. Das heißt, ich kann ihn ja auch nicht leiden und habe auch keine Ursache dazu, denn er hat mich in der Tanzstunde immer nur in seiner malitiösen Weise geneckt. Aber es handelt sich für mich gar nicht um ihn, sondern um seine himmlische Frau.“

„Und da Mann und Frau Eines sind –“

„Wenn alle so dächten wie Du, lieber Emil – und ich natürlich; aber ohne Ausnahme ist keine Regel, und die Brandow’sche Ehe ist eine so regelrecht schlechte und unglückliche, daß ich wahrhaftig nicht einsehe, weshalb wir –“

„So viel darüber sprechen,“ sagte Herr Wollnow, „was um so unnöthiger ist, als unser Gast wohl kaum ein besonderes Interesse an diesem Thema nehmen dürfte.“

„Kein Interesse,“ rief Ottilie, die Hände zusammenschlagend, „kein Interesse! Ich bitte Sie, Herr Gotthold – wie ich immer wieder in die alte Gewohnheit falle –, verzeihen Sie! – aber sagen Sie doch diesem Manne, der Goethe’s Wahlverwandtschaften abgeschmackt findet –“

„Bitte, unmoralisch habe ich gesagt –“

„Bitte, abgeschmackt – noch vorgestern Abend, als wir bei Conrectors darüber sprachen und Du die unerhörte Behauptung aufstelltest, Goethe habe eine Perfidie – ja, Perfidie sagtest Du – begangen, indem er die einzige Person in dem ganzen Roman, welche etwas Wahres über die Ehe vorbrächte – den Mittler – zu einem Halbnarren machte.“

„Aber was willst Du denn mit Deinen Wahlverwandtschaften?“ rief Wollnow fast ärgerlich.

„Er glaubt nämlich nicht an Wahlverwandtschaft,“ sagte Ottilie triumphirend, „und behauptet, dergleichen spuke, wie die Gespenster, nur im Gehirne von Thoren. Aber die Sache ist, er thut nur so, und heimlich glaubt er doch daran, mehr als mancher Andere, und jetzt ängstigt er sich, wie ein Kind vor Gespenstern, bei dem Gedanken, daß Sie nach Dollan gehen und Ihre Jugendfreundin wiedersehen.“

„Wie Du auch redest!“ sagte Herr Wollnow, seine peinliche Verlegenheit hinter einem gezwungenen Lachen kaum verbergend.

„Gott, wir haben in unserm Kränzchen den ganzen Abend von nichts Anderm geredet!“ rief Ottilie. „Sie müssen nämlich wissen, Herr Gotthold, es sind außer mir noch Drei von unserer Tanzstunde dabei – alle Drei jetzt verheirathet – Pauline Ellis – na, die interessirt Sie nun vielleicht wirklich nicht – Louise Palm – mit den braunen Augen, wir nannten sie immer Zingarella – und Hermine Sandberg – wissen Sie, das [561] hübsche Mädchen, schade, daß sie etwas schielt und mit der Zunge anstößt. Wir wußten factisch noch Alles, Alles bis in die kleinsten Details, vor Allem Ihr Duell mit Karl Brandow –“

„Bei welchem doch, so viel ich mich erinnere, keine von den genannten Damen zugegen war,“ sagte Gotthold.

„Sehr gut!“ rief Herr Wollnow.

„Gar nicht gut,“ sagte Ottilie schmollend, „gar nicht gut und gar nicht hübsch von Herrn Gotthold, die treue Freundschaft, die man ihm so lange Jahre bewahrt hat, zu verspotten.“

„Das sei fern von mir,“ erwiderte Gotthold. „Im Gegentheil, ich fühle mich hoch geehrt und sehr geschmeichelt, daß mein armes Selbst so liebenswürdigen Frauen – und wäre es auch nur für wenige Minuten – den Stoff der Unterhaltung hat abgeben können.“

„Spotten Sie nur weiter –“

„Ich versichere Sie noch einmal, daß ich es ganz ehrlich meine.“

„Wollen Sie mir einen Beweis geben?“

„Ganz gewiß, wenn ich kann.“

„Nun denn,“ sagte Ottilie hocherröthend, „so erzählen Sie mir, wie es sich mit dem Duell verhielt, – denn, daß ich es nur gestehe, die Eine sagte, es sei so gewesen, und die Andere, so, und schließlich fanden wir, daß wir es Alle nicht wußten. Wollen Sie?“

„Sehr gern,“ sagte Gotthold.

Er hatte Herrn Wollnow’s wiederholte Versuche, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, wohl bemerkt und glaubte annehmen zu dürfen, daß das frühere Gespräch von Seiten seines Wirthes keineswegs so absichtslos gewesen sei, als es ihm anfänglich geschienen. Hatte Frau Wollnow ihrem Gatten einen Roman nach ihrem Geschmacke erzählt und dabei ihn selbst, der Himmel weiß, welche alberne Rolle spielen lassen? Er mußte solchem Gerede ein Ende zu machen suchen; er glaubte es am besten dadurch zu können, daß er Frau Wollnow’s Wunsch sofort erfüllte und die Geschichte, als ob sie einem Dritten begegnet wäre, mit möglichster Unbefangenheit erzählte.

Diese Gedanken schossen durch seine Seele, während er das Glas langsam an seine Lippen führte. Er nippte daran und sagte, indem er sich lächelnd zu Frau Wollnow wandte:

„Wie gern, verehrte Frau, hübe ich meine Geschichte mit dem Schillerschen Aeneas an: ‚O Königin, Du weckst der alten Wunde unnennbar schmerzliches Gefühl;‘ aber es geht nicht, verehrte Frau, es geht wahrlich nicht. Ich habe allerdings in der Wunde bei starkem Witterungswechsel eine Empfindung, aber auch dann ist dieselbe keineswegs unnennbar schmerzlich, und jedenfalls empfinde ich in diesem Augenblicke gar nichts, als die tiefe Wahrheit des alten Wortes, daß Jungen eben Jungen sind, die Jungenstreiche ausüben, und manchmal recht dumme. Zur Kategorie dieser letzteren gehört ohne Zweifel mein Streit mit Karl Brandow, der aber nicht, wie Sie glauben, verehrte Frau, in der Tanzstunde entstand, sondern dort nur zum Austrag gebracht wurde, nachdem er schon lange vorher unter der Asche geglüht und einmal sogar schon in lichte Flammen auszuschlagen gedroht hatte. Die erste Veranlassung war aber diese. In unserer Secunda galt es als altes und immer heilig geachtetes Herkommen, daß ein offner Raum zwischen der ersten Bank und dem Katheder für die ‚Alten‘ reservirt war und von einem ‚Neuen‘ vor Ablauf des ersten Semesters bei schwerer Strafe nicht betreten werden durfte. Nun gehörte Karl Brandow zwar zu den Alten, und den sehr Alten, denn er saß bereits im dritten Jahr in der Secunda, aber immer nur da, wo der Bänke letzte sind, trotzdem er, wenn ich mich recht erinnere, bereits sein achtzehntes Jahr zurückgelegt hatte. Ich gehörte zu den ‚Jungen‘ und sehr Jungen; denn ich war eben erst, ein Vierzehnjähriger, zu Michaelis in die Classe eingetreten, zum nicht geringen Verdruß meines Vaters, der mich ganz allein vorbereitet und erwartet hatte, daß man mich sofort in die Prima einreihen würde. Nicht ohne Grund, denn als, der Sitte gemäß, nach den ersten acht Tagen die Reihenfolge der Schüler nach dem Ausfall gewisser Arbeiten, die wir Extemporalia nannten, bestimmt werden sollte, erwiesen sich die meinen ohne Fehl und Tadel, und ich wurde mit einer gewissen Feierlichkeit in meine verdiente Würde als Primus omnium eingesetzt. Und nun dennoch nicht den Platz vor der ersten Bank beschreiten zu dürfen! Ich hatte dieses Verbot vom ersten Augenblick an als eine Schmach empfunden, jetzt erklärte ich dies offen, und daß ich mich nicht länger fügen würde, im Gegentheil die Aufhebung des brutalen Gesetzes verlangte und zwar nicht blos für mich, sondern für alle Neuen, als deren Vorkämpfer ich mich betrachtete.

Ich war, indem ich meine Forderung so formulirte, wirklich nur meinem eingebornen Gerechtigkeitsgefühl ohne alle Nebengedanken gefolgt; aber es erwies sich, daß ich nicht besser hätte operiren können, wenn ich der schlaueste demagogische Agitator gewesen wäre. Alleinstehend hätte ich gar keine Chance gehabt, meine kühne Neuerung durchzuführen, jetzt war meine Sache die Sache Aller, das heißt aller ‚Neuen‘, und der Zufall wollte, daß wir den Alten an Zahl genau gleich waren. Auch hinsichtlich der Körperkraft, die Knaben von dem Alter so gut zu taxiren wissen, hätten wir uns wohl mit ihnen messen können, und das etwa Fehlende hätte die Begeisterung für die gerechte Sachte, die ich unablässig zu schüren bemüht war, wohl ersetzt – wenn nicht Karl Brandow gewesen wäre. Wer sollte diesem achtzehnjährigen, wie eine junge Tanne schlanken und kraftvollen Heros widerstehen! Er würde zwischen uns wüthen, wie Achill zwischen den Troern, und das Blachfeld – einen heimlichen Platz im Tannenwäldchen hinter dem Pädagogium – mit den Leibern seiner zu Boden geworfenen Feinde besäen. Denn es war ausgemacht, daß, wer im Ringen mit dem Rücken den Boden berührte, als besiegt zu erachten sei und vom Kampfe abzustehen habe, der auf diese Weise entschieden werden sollte, vor den Augen von sechs ehrenwerthen Primanern, die mit anerkennenswerther Bereitwilligkeit das Schiedsrichteramt übernommen.

Indessen ein Zurück gab es nicht mehr, wenn wir, was wahrlich nicht der Fall, an ein solches gedacht hätten. Die Stunde kam, – eine Sonnabendnachmittagsstunde, für welche wir uns der Aufsicht der Lehrer zu entziehen gewußt hatten, – und ich glaube, daß Kriegern, die zum Angriff auf eine Tod und Verderben speiende Batterie commandirt werden, nicht ernster und feierlicher zu Muthe sein kann, als uns. Ich darf wohl sagen: mir vor allem. Ich hatte den Streit entfacht, ich hatte alle die braven Jungen darein verwickelt; ich fühlte mich für den Ausgang verantwortlich, und für die Schande im Falle des Unterliegens, einem Fall, der mir mit jedem Moment wahrscheinlicher vorkam. Daß ich entschlossen war, für meinen Theil das Aeußerste zu thun und jeden Nerv anzuspannen, versteht sich von selbst. Ich hoffte und betete zu den Göttern, daß sie mir Karl Brandow zuertheilen möchten, – denn die Gegner sollten ausgeloost werden, und nur wer seinen Gegner besiegt, durfte unter denen, die ihren Gegner besiegt, frei wählen, bis Alles entschieden war. Ich erinnere mich nicht, ob die Primaner, welche diese sinnreichen Gesetze entworfen, ihren Walter Scott copirt hatten; ich weiß nur, daß ich die berühmte Schilderung des Turniers von Asby im Ivanhoe später niemals habe lesen können, ohne an diesen Sommernachmittag und den schattigen Platz im Walde und die von Muth und Kampfeseifer glühenden Knabengesichter erinnert zu werden.

Und wie im Turniere von Asby ein ganz unvorhergesehener Zufall in der Gestalt des schwarzen Ritters, des noir fainéant, die sonst unrettbar verlorene Sache des Helden gewinnen macht, so auch hier.

Unter den Neuen war ein Knabe von sechszehn Jahren, mit einem offenen, ehrlichen Gesicht, das schön gewesen sein würde, wenn es nur etwas mehr Leben gehabt und die großen blauen, treuen Augen etwas weniger träumerisch geblickt hätten. Er war nicht von hohem, aber kräftigem Wuchs, und wir würden auf ihn etwas gerechnet haben, nur daß seine Indolenz uns entschieden sehr viel größer schien als die Kraft, die er etwa besitzen mochte; denn niemals hatte er eine Probe derselben abgelegt, und auf unsere dringende Frage, wie er sich selbst taxire, hatte er schweigend die breiten Schultern gezuckt.“

„Curt Wenhof!“ rief hier Frau Wollnow.

„Ja, Curt Wenhof, mein lieber armer Curt,“ fuhr Gotthold fort, dessen Stimme bei der Erinnerung an den geliebten Jugendfreund zitterte. „Ich sehe ihn, wie er dastand, lässig, als ginge ihn die Sache nun weiter nichts an, nachdem er seinen Gegner mit leichter Mühe zu Boden geschleudert, wie ein Binder die Garbe hinter sich wirft. Auch ich hatte den meinen niedergerungen und richtete mich eben athemlos und keuchend auf, als [562] Karl Brandow, der mittlerweile mit Zweien oder Dreien fertig geworden, grade auf mich zustürmte ‚Jetzt gilt’s,‘ sagte ich, ‚du willst es ihm so schwer wie möglich machen.‘ Ich dachte nicht an Sieg. Aber in demselben Moment war Curt vor mich hingesprungen; im nächsten hatten sich die Beiden gefaßt und Karl Brandow hatte beim ersten Griff gespürt, daß er es mit einem Gegner zu thun hatte, der ihm an Kraft und Muth mindestens ebenbürtig und an Kaltblütigkeit und zäher Ausdauer, wie der Erfolg lehrte, weit überlegen war. Es war ein herrliches Schauspiel, die beiden jungen Athleten ringen zu sehen, ein Schauspiel, das wir Alle genossen, Preisrichter, Sieger, Besiegte, Kämpfer, denn wir Alle hatten nach stillschweigender Uebereinkunft einen weiten Kreis um sie geschlossen und begleiteten jede Phase des Kampfes, je nachdem wir dieser oder jener Seite angehörten, mit Angst und Hoffnung und lauten Zurufen, die sich für meine Partei in ein weithinschallendes Jubelgeschrei verwandelten, als Curt Wenhof den Gegner, dessen Kraft gänzlich erschöpft war, in die Höhe hob und mit einem solchen Schwunge auf den Rasen schleuderte, daß der Aermste dort der Länge lang, unfähig sich zu regen, in einer halben Ohnmacht liegen blieb.

Der Kampf sei entschieden, sagten die sinnreichen Primaner, und er war es in der That; wer hätte es mit dem Besieger Karl Brandow’s aufzunehmen gewagt! Ich für meinen Theil umarmte in dem Jubel meines Herzens den guten Curt, schwur ihm ewige Freundschaft und wandte mich dann zu Karl Brandow, der sich mittlerweile vom Boden erhoben hatte, und bot ihm, als der Führer der einen Partei dem Führer der andern, die Hand, indem ich den Wunsch und die Hoffnung aussprach, daß nun dem ehrlichen Kampf ein ehrlicher Friede folgen werde. Er nahm meine Hand, und ich glaube, er lachte sogar und sagte, er wäre der Narr nicht, sich über etwas zu grämen, was doch nun einmal nicht mehr zu ändern sei.“

„Das ist er, wie er leibt und lebt,“ rief Frau Wollnow eifrig, „freundlich und verbindlich in’s Gesicht und hinter dem Rücken die Tücke und Grausamkeit selbst.“

„Sie sehen, meine Frau hat schon Partei ergriffen,“ sagte Herr Wollnow.

„Schon?!“ rief Frau Wollnow. „Ei, ich habe nie anders gedacht und gefühlt; ich bin immer gegen ihn gewesen, und hatte auch wahrlich Ursache dazu. Ich möchte wohl wissen, was in der Tanzstunde aus mir geworden wäre, wenn Sie sich nicht meiner so freundlich angenommen hätten. Das werde ich Ihnen nie vergessen, und es war um so edler von Ihnen, als Sie sich wahrhaftig aus mir nichts machten, sondern für die schöne Cäcilie schwärmten, was ich Ihnen auch nie verdacht habe.“

„Ich fürchte, es würde vergeblich sein, wenn ich Ihnen widerspräche.“

„Ganz vergeblich! Sehe ich Sie doch noch neben mir vom Stuhle aufspringen, blaß vor Zorn und an allen Gliedern bebend, als Karl Brandow Cäcilie küßte, und Cäcilie in Thränen ausbrach.“

„Und hätte ich nicht zornig sein sollen?“ rief Gotthold. „Es war unter uns jungen Leuten eine Uebereinkunft, daß die Küsse, die in den Pfänderspielen nach der Stunde dictirt wurden, in einem Handkuß zu bestehen hätten. Alle hatten sich dazu verpflichtet, auch Karl Brandow, und der Vertrag war auch bis dahin unverbrüchlich gehalten worden. Ich war in meinem guten Rechte, wenn ich den frechen Vertragsbruch nicht dulden und nicht ungestraft hingehen lassen wollte, doppelt in meinem Rechte, als ich bereits seit einem Jahre so oft mit Curt in Dollan gewesen und mit Bruder und Schwester so befreundet war, überdies Curt, wie Sie sich erinnern, in seiner lässigen Weise an der Tanzstunde nicht hatte theilnehmen wollen, und ich mich also als Beschützer der Freundin vollständig legitimirt erachten durfte. Sodann stand Curt, den ich mit Mühe durch das Examen nach Prima gebracht hatte, bei den Lehrern gar nicht gut angeschrieben; ein flagranter Friedensbruch, wie er jetzt nothwendig wurde, hätte ihm ohne Zweifel eine Relegation zugezogen, und endlich, daß ich’s gestehe: ich glaubte, daß Karl Brandow es auf mich abgesehen, daß er durch seine Frechheit mich hatte beleidigen, provociren wollen, daß ich den Handschuh aufheben und für Curt den Strauß ausfechten mußte, wie er an jenem Nachmittage für mich eingetreten war. Das ist ja Alles jugendliche Tollheit, verehrte Freunde; ich erröthe jetzt noch, wenn ich daran denke, und so will ich denn mit möglichst wenigen Worten sagen, was noch zu sagen bleibt.“

[563] „Die Vorbereitungen zu dem Duell – denn für stolze Primaner mußte es selbstverständlich ein richtiges Duell sein –“ fuhr Gotthold fort, „waren in aller möglichen Heimlichkeit betrieben. Nur die Betheiligten, das heißt die Paukanten und Secundanten, um mich dieser classischen Ausdrücke zu bedienen, wußten um den Ort, um die Stunde. Uns Waffen zu verschaffen, hielt nicht schwer, denn trotz des strengsten Verbots existirten unter uns mindestens ein halbes Dutzend Paar Rappiere. Karl Brandow hatte eines und seine speciellen Freunde erzählten Wunderdinge von seiner Kunstfertigkeit; aber auch Curt war der glückliche Besitzer von zwei guten Klingen, mit deren gräulichem Gerassel wir oft in Dollan den stillen Wald aus seiner Ruhe geschreckt hatten. Ich hatte ein scharfes Auge und trotz meiner fünfzehn Jahre eine feste Hand, und Karl Brandow mochte nicht wenig erstaunt sein, als er in dem entscheidenden Momente den verachteten Gegner so gerüstet fand. Wenigstens wurde er mit jedem Augenblick unruhiger und heftiger und machte es mir so möglich, trotzdem er mir wirklich weit überlegen war, ihm nicht nur Stand zu halten, sondern sogar zum Angriff überzugehen und ihm eine Schulterquart beizubringen, die tief genug war, daß das Blut durch den Aermel drang. Die Secundanten riefen Halt! Ich ließ sofort mein Rappier sinken; aber er hatte in der Raserei des Zornes über seinen Unfall den Ruf nicht gehört, meine Bewegung nicht gesehen, so wenig, wie ich etwas von dem, was in den nächsten vier Wochen mit mir vorging, sah oder hörte.“

„Er soll ja zweimal zugeschlagen haben,“ sagte Frau Wollnow, „das letzte Mal, als Sie schon auf dem Boden lagen.“

„Ich glaube es nicht, werde es niemals glauben,“ erwiderte Gotthold; „auch unsere Secundanten hatten gewiß den Kopf verloren und konnten später nicht mehr mit gutem Gewissen sagen, wie die Sache zugegangen war. Aber jetzt, verehrte Frau, werther Herr Wollnow, muß ich fürchten, Ihre Geduld erschöpft zu haben, und will mich Ihnen empfehlen. Um Himmels willen! schon zwölf Uhr! es ist unverzeihlich!“ –

„Ich hätte die ganze Nacht zuhören können,“ sagte Frau Wollnow mit einem tiefen Seufzer, indem sie sich ebenfalls, aber sehr langsam, aus ihrem Stuhl erhob. „Ach, die Jugend, die Jugend! man ist doch nur einmal jung.“

„Gott sei Dank,“ sagte Gotthold heiter, „man müßte am Ende sonst seine dummen Streiche zweimal machen.“

„Wer ist so alt, daß er vor Thorheit sicher wäre?“ sagte Herr Wollnow mit einem ernsten Lächeln.

„Du!“ rief Frau Wollnow, indem sie ihren Mann umarmte. „Du bist viel zu alt und viel zu schlecht! Denn man muß nicht blos jung, man muß auch gut sein, wie unser Freund hier, um für alle seine Güte so schlecht belohnt zu werden. Ich kann mir denken, wie Ihnen um’s Herz war, als nun doch Cäcilie diesen Brandow heirathete. – Das süße, holde, siebenzehnjährige Geschöpf diesen Menschen! Ach, wenn man so etwas sieht, sollte man eigentlich den Glauben an die Menschen für immer verlieren!“

„Dieser Glaube soll überhaupt nicht so häufig gefunden werden, weder in Israel noch anderswo,“ sagte Herr Wollnow.

„Gehen Sie –“

„Ich gehe schon, verehrte Frau.“

„Gott, nun fangen Sie auch noch an! Ich wollte sagen: werden Sie wirklich nach Dollan gehen?“

„Jetzt muß ich es ja, wenn ich es nicht schon des Bildes wegen müßte.“

„Weshalb?“

„Mir den Glauben an die Menschheit wieder zu holen, zum mindesten an den mir wichtigsten Theil derselben, an mich selbst,“ erwiderte Gotthold mit einem Lächeln, dessen Spott Herrn Wollnow nicht entging.

„Ich bin recht unzufrieden mit Dir,“ sagte dieser, als er wieder in das Zimmer trat, nachdem er Gotthold bis an die Hausthür begleitet.

„Mit mir?“

„Was muß der Mann nur von mir denken! für welch aufdringlichen, täppischen Gesellen muß er mich halten! Ein wahres Glück, daß ich nicht noch weiter gegangen bin!“

„Aber was habe ich denn nur gethan?“

„Warum hast Du mir denn nie diese famose Jugendgeschichte erzählt, aus der doch klar hervorgeht, daß er Deine Freundin Cäcilie, wie Du sie nennst, obgleich ich von der Freundschaft nie etwas zu sehen bekommen habe, geliebt hat, und wahrscheinlich noch liebt?“

„Glaubst Du das wirklich?“ rief Frau Wollnow, indem sie aufsprang und ihren Gatten umarmte; „glaubst Du das wirklich? Hat er es Dir gesagt?“

Herr Wollnow mußte trotz seines Aergers lachen.

[564] „Ich wäre wohl der Letzte, den er sich zu seinem Vertrauten wählte, besonders jetzt, nachdem ich dummer Kerl eine Stunde lang an diesem Mohren herumgewaschen habe.“

„An diesem Mohren? aber ich verstehe Dich wirklich nicht, Emil.“

„Verstehst mich nicht? Gott, du Gerechter! Wie schwer sich diese Frauen in Angelegenheiten zurecht finden, die sie mit Stolz als die ihrigen zu bezeichnen geruhen! Verstehst mich nicht? Nun, das kann ich Dich versichern, dieser Phantast hat Dich vollkommen verstanden, und er wird morgen in aller Frühe auf dem Wege nach Dollan sein.“

„Nun, darin sehe ich denn doch kein besonderes Unglück!“ sagte Frau Wollnow. „Warum sollen sich die Beiden nach so vielen Jahren nicht einmal wiedersehen, auch wenn sie sich wirklich noch lieben? Ich gönne es der armen Cäcilie von ganzem Herzen; sie bedarf so sehr des Trostes.“

„Wie ihr würdiger Gemahl des Geldes! übermorgen ist der letzte Respectstag für fünftausend Thaler seiner Wechsel, die bei mir domicilirt sind. Vielleicht hilft er Beiden, er hat ja die Mittel!“

„Ach, Emil, Du bist unerträglich mit Deiner ewigen Prosa.“

„Ich habe Dir nie versprochen, daß Du einen Poeten an mir haben würdest.“

„Das weiß der Himmel!“

„Es wäre mir lieber, wenn Du es wüßtest.“

„Emil!“

„Ich bitte Dich um Verzeihung! ich bin wirklich zu böse, um nicht boshaft zu sein. Aber das kommt davon, wenn man sich in die Angelegenheiten fremder Leute mischt. Laß doch die Narren gewähren! und vor Allem, laß uns zu Bett gehen!“




5.


Als Gotthold nach einer qualvoll unruhigen Nacht aus schwerem Morgenschlafe jäh erwachte, hatte die Sonne bereits stundenlang durch die weißen Tüllvorhänge in sein Zimmer geschienen. „Gott sei Dank!“ sprach er laut, „der Morgen ist da, und der Morgen hat Alles wohl besser gemacht.“

Bald stand er angekleidet am geöffneten Fenster. Wie vertraut ihm die Scene war! Der runde, von den freundlichen, gärtenumgebenen weißen Häusern eingerahmte Platz mit dem grasüberlaufenen Pflaster und dem kleinen Obelisken in der Mitte; dort das stattliche Gebäude des Pädagogiums, aus dessen offenen Fenstern der Gesang der Knaben durch die Sonntagmorgenstille so deutlich zu ihm herüberklang, daß er die Worte des Chorals zu verstehen glaubte; rechter Hand, zwischen den Häusern durchblickend und die Dächer derselben überragend, das dunkle Grün der Riesenbäume des fürstlichen Parkes; weiter links, zwischen ein paar anderen Häusern, ein Stück der blauen See und des kleinen, in diesem Momente von der Sonne beglänzten Eilandes, das der großen Insel vorgelagert ist. So wie er es hier sah, hatte er es hundert und hundert Mal gesehen, das liebe Bild, wenn er dort drüben im Pädagogium, nachdem die Morgenandacht beendet, mit Curt am Fenster stand und seine Blicke nach der Gegend schweiften, wo das geliebte Dollan lag; so wie jetzt hatte es ihn hinausgelockt aus der Enge der Zimmerwände in die sonnigen Felder, in die schattigen Wälder, an die blaue, See. Diese Lichter, diese Schatten, die Bläue – sie hatten in dem Knaben die holde Leidenschaft entflammt, nachzubilden, wiederzugeben, was verworren klar vor seinen frischen Sinnen lag, was sein Gemüth so ahnungsvoll tief bewegte. Sie waren seine ersten Lehrmeister gewesen in der wunderbaren Sprache der Linien und Farben; und wie geläufig er auch seitdem diese Sprache zu sprechen gelernt – ihnen verdankte er doch, was er war und konnte. Und hatte er nicht gestern bereits, als er durch die heimischen Gefilde kam, so düster es auch in seinem Gemüthe war, die Empfindung gehabt, als sei sein Mühen und Schaffen unten in dem schönen Italien mehr oder weniger ein vergebliches gewesen, als habe er dort eigentlich immer nur mit Auge und Hand und nie mit dem Herzen gemalt, und eine schöne, wohlklingende, aber doch fremde Sprache mühsam gesprochen, nicht seine Mutter-, seine Heimathsprache, und daß er hier, nur hier in seinem Heimathlande, unter seinem Heimathhimmel wahrhaft ein echter, rechter Künstler werden könne, der da nicht sagt, was Andere ebenso gut und besser sagen können, sondern was nur er sagen kann, weil, was er sagt, er selbst ist?

Aber konnte ihm nach Allem, was geschehen, was er hier erlebt, erlitten, die Heimath wirklich noch Heimath sein? Warum nicht, wenn er sie nur sah mit dem Auge, mit dem er doch sonst die ganze Welt zu sehen sich bemühte; wenn er nichts Anderes sein wollte, als was er in seinen guten Stunden zu sein glaubte: ein wahrhafter, nur seinen Idealen lebender Künstler, hinter dem in wesenlosem Scheine liegt, was die Anderen bändigt, und dem im schlimmen Falle ein Gott gab, zu sagen, was er leidet? Ja, seine Kunst, die strenge, holde, sie war sein Leitstern gewesen in dem Irrsal seines jungen Lebens, sein Talisman in dem Trübsal und der Noth seiner Münchener Jahre, seine Zuflucht früher und später; und sie sollte und würde es auch sein, und würde treu zu ihm halten, wenn er treu zu ihr, und sie hoch und heilig hielt immerdar als seine Schirmherrin und angebetete Göttin!

Der Gesang der Knaben drüben war verstummt. Gotthold strich sich mit der Hand über die starren Augen und wandte sich in das Zimmer zurück, als jetzt laut an die Thür gepocht wurde.

„Wie, Du bist es, Jochen?“

„Ja, Herr Gotthold, ich bin es,“ erwiderte Jochen Prebrow, nachdem er das Kaffeebrett, welches er hereingebracht, so vorsichtig auf den Tisch gestellt hatte, als wäre es eine Seifenblase, die bei der geringsten Berührung zerplatzen mußte. „Der Clas Classen aus Neuenkirchen, oder, wie sie ihn hier nennen, Louis, war gerade im Keller, als Sie vorhin klingelten, und ich dachte, der Kaffee würde Ihnen nicht schlechter schmecken, wenn ich ihn brächte.“

„Gewiß nicht; ich danke Dir bestens.“

„Und dann wollte ich auch fragen, wann ich anspannen soll.“

„Ich werde noch ein paar Tage hier bleiben,“ erwiderte Gotthold.

In Jochen’s breitem Gesichte wollte bei diesen Worten ein Lächeln aufsteigen, das aber sofort wieder verschwand, als Gotthold weiter sagte: „So wirst Du denn allein fahren müssen, alter Freund.“

„Ich wäre auch gern ein paar Tage hier geblieben,“ sagte Jochen.

„Und das kannst Du nicht, wenn ich den Wagen nicht behalte? So behalte ich ihn, und was mir mehr werth ist, Dich; und wir gehen sofort nach Dollan, wohin denn doch wohl auch Dein Sinn steht. Oder glaubst Du, die Pferde nicht so lange allein lassen zu dürfen?“

Jochen hatte nach dieser Seite keinerlei Sorge. Sein guter Freund Clas Classen, den sie hier wunderlicher Weise Louis nannten, würde die Oberaufsicht gern übernehmen und schon dafür sorgen, daß die Pferde zu dem Ihrigen kämen; aber weshalb wollte Herr Gotthold gehen, da sie doch einmal Wagen und Pferde da hätten?

„Aber ich möchte nun gern gehen,“ sagte Gotthold.

„Was dem Einen seine Eule ist, ist dem Andern seine Nachtigall,“ sagte Jochen, sich in dem dichten Haar krauend. „Aber die Sache hat doch noch einen Haken: Sie werden das Nest leer finden.“

„Wie meinst Du?“

„Sie sind vor einer Stunde schon hier durchgekommen, der Herr und die Frau,“ erwiderte Jochen. „Ich saß gerade in der Gaststube, und sie blieben vor der Thür halten.“

Gotthold blickte Jochen starr an. Sie war hier gewesen, in seiner unmittelbarsten Nähe, unter dem Fenster, an welchem er eben gestanden, und er hätte das holde Antlitz wiedersehen können, wie Jochen es gesehen, der das so ruhig sagte, als ob das eine Sache sei, die Einem alle Tage begegnen konnte!

„Und Du hast sie gesprochen, Jochen?“ brachte er endlich zögernd heraus.

„Die Frau blieb sitzen,“ sagte Jochen; „aber er kam herein, einen kleinen Rum zu trinken, und da just weiter Niemand in der Stube war und ich mir auch eben einen aus dem Schranke geholt hatte, so verhalf ich ihm dazu; und da frug er, wo ich herkomme, und ich sagte ihm, daß ich mit einem Herrn hier wäre, und ich glaubte, daß wir heute gleich weiterführen, sobald [565] der Herr aufgestanden wäre, und da frug er, ob ich den Herrn kenne; aber natürlich kannte ich ihn nicht; denn, dachte ich, die Freundschaft zwischen den Beiden ist nie groß gewesen, und je weniger Einer mit Herrn Brandow zu thun hat, desto besser ist es. Hab’ ich nicht Recht? Na, und da gab denn ein Wort das andre, und er stellte seine Uhr und sagte, er fahre nach Plüggenhof und werde wohl bis morgen Abend da bleiben, und dann trank er seinen Rum, den er wohl bezahlen wird, wenn er wieder durchkommt, und weg war er, und ein Paar schöne Braune hatte er vor, so ein Paar von den echten, besonders das Sattelpferd. Da hätten Sie auch Ihre Freude dran gehabt, denn auf Pferde verstehen Sie sich, das habe ich gestern wohl gemerkt.“

Gotthold’s starre Blicke suchten noch immer den Boden. Sie würde nicht einmal wissen, daß er hier gewesen!

Mochte es denn sein! Er hatte ja keinen Augenblick die Absicht gehabt, ihren Weg zu kreuzen; und jetzt war der Weg frei, ganz frei; er konnte ungehindert, ohne Herzbeklemmung, den Plan ausführen, den er sich gestern ausgedacht, als er von Wollnows durch den nächtlichen Park in den Gasthof zurückkehrte.

Eine Stunde später wanderten die Beiden den Weg nach Dollan, im Anfange auf der Landstraße, aber bald auf Seiten- und Richtsteigen, von denen Gotthold noch jeden Fußbreit kannte.

In Träumen verloren von den Tagen, die nicht mehr waren und niemals wiederkehren konnten, schritt er dahin, während hoch herab die Lerchen unaufhörlich sangen und auf den sonntäglich stillen Feldern die blauschwarzen Kolkraben spazierten und über den Mooren die bunten Elstern flatterten und dort am fernen Waldesrand ein Adler seine majestätischen Kreise zog. Jochen, der es sich nicht hatte nehmen lassen, außer dem eignen kleinen in sein buntes Baumwollentaschentuch geknüpften Bündel Gotthold’s Reisetasche und Malkasten zu tragen, und die meiste Zeit ein wenig zurückblieb, störte den schweigenden Gefährten keineswegs durch allzu große Redseligkeit. Jochen hatte seine eigenen Gedanken, die allerdings nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft weilten, Gedanken, die er gar zu gern ausgesprochen hätte, nur daß er nicht wußte, wie er das Gespräch einleiten konnte. Aber da kam die Waldecke immer näher und näher, an welcher er sich für heute von Gotthold trennen sollte, und wenn er überall nach Gotthold’s Meinung hören wollte, jetzt war es Zeit. So faßte er sich denn ein Herz, holte den Gefährten mit ein paar langen Schritten ein, ging dann noch ein paar Minuten schweigend an seiner Seite und war selbst nicht wenig erschrocken, als er plötzlich die Frage, die er hundertmal leise probirt hatte, wirklich laut that: „Was halten Sie vom Heirathen, Herr Gotthold?“

Gotthold blieb stehen und schaute verwundert den guten Jochen an, der ebenfalls stehen geblieben war und dessen breites Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen und dem halb geöffneten Munde einen so seltsamen Ausdruck hatte, daß er sich des Lächelns nicht erwehren konnte.

„Wie kommst Du darauf?“

„Weil ich eben heirathen will.“

„Dann mußt Du doch, was davon zu halten ist, besser wissen als ich, der ich nicht heirathen will.“

Jochen schloß den Mund und schluckte ein paar Mal, als ob er einen allzu großen Bissen hinunterzuwürgen hätte; Gotthold mußte jetzt gerade herauslachen.

„Ei, Jochen,“ rief er, „weshalb so geheimnißvoll gegen einen alten Freund! Ich will Dir gern meinen besten Rath ertheilen und, wenn es sein kann und Dir daran gelegen ist, meinen besten Segen dazu, aber vorher muß ich wissen, um was es sich eigentlich handelt. Du willst also heirathen?“

„Ja, Herr Gotthold,“ sagte Jochen, die Mütze abnehmend und sich die hellen Schweißtropfen von der braunen Stirn wischend, „ich will eigentlich gar nicht, aber sie sagt ja, daß sie mich immer gewollt hat.“

„Das ist schon etwas; und wer ist sie?“

„Stine Lachmund.“

„Aber Jochen, die ist ja mindestens fünfzehn Jahre älter als Du!“

„Dafür kann sie nicht.“

„Gewiß nicht.“

„Und dann ist sie ein tüchtiges Frauenzimmer, die höllisch gut im Zeuge ist und gut in den Knochen, nur im Gangwerk ein wenig schwer, von wegen weil sie jetzt ein wenig übercomplet ist; aber sie meint, das würde sich wohl geben, wenn sie wieder mehr zu arbeiten hätte als bei Wollnows, wo das Leben gar zu bequem ist.“

„Nun, wenn sie das selbst meint –“

„Ja, und dann hat sie sich bei Wollnows ein hübsches Stück Geld zurückgelegt, und ihre beiden Alten in Thiessow, wissen Sie, Herr Gotthold – wir sind ja ’mal zusammen hingesegelt mit unserem jungen Herrn, und draußen stand eine grausam hohe See, und kamen naß wie die Katzen hin und der alte Lachmund meinte, wir hätten eigentlich ersaufen müssen.“

„Und, dann machte er uns einen steifen Grog,“ sagte Gotthold.

„Und unser junger Herr trank ein bischen zu viel und trieb einen Teufelspossen in dem Alten seiner langen Jacke und dem Südwester auf dem Kopf – das war doch eine schöne Zeit, Herr Gotthold!“

Jochen hatte den Faden seiner Geschichte verloren, Gotthold half freundlich ein, und Jochen erzählte nun weiter, wie die beiden Alten, in ihrer Art vermögliche Leute, die in dem großen Lootsen- und Fischerdorfe eine Ackerwirthschaft und so etwas wie eine Gastwirthschaft hielten, endlich das so lange eigensinnig festgehaltene Scepter an ihre einzige Tochter abgeben und sich zur Ruhe und auf das Altentheil setzen wollten unter der Bedingung, daß sie sofort einen tüchtigen Mann heirathete.

So hatte Stine Lachmund, welcher Jochen zu derselben Stunde, in der Gotthold vorn bei der Herrschaft saß, in der Küche einen Besuch abstattete, berichtet, und sie hatte Jochen gefragt, ob er der Mann sein wolle.

„Denn sehen Sie, Herr Gotthold,“ fuhr Jochen fort, „sie nimmt nicht Jeden, und mich kennt sie, so zu sagen, von klein auf, und weiß, daß ich ja so weit ein ordentlicher, nüchterner Mensch bin, der mit Pferden gut umgehen kann und auch sonst von der Ackerei genug versteht, und auch ein Boot steuern kann, wenn’s nicht gerade zu arg weht.“

„Dann wäre ja so weit Alles in bester Ordnung,“ sagte Gotthold; „aber nun die Hauptsache: bist Du ihr denn wirklich gut?“

„Ja, das ist es ja man eben,“ erwiderte Jochen nachdenklich; „und sie hat es mich gestern Abend selbst gefragt, und was sollte ich darauf sagen?“

„Die Wahrheit, Jochen, nur die Wahrheit!“

„Hab’ ich auch, Herr Gotthold, habe ich auch gesagt. ‚Bis jetzt noch nicht,‘ habe ich gesagt, und darauf hat sie gelacht und gesagt, das schadete auch weiter nichts, das fände sich Alles, wenn das Frauenzimmer ordentlich und der Kerl ordentlich wäre. Und ich sollte Sie nur fragen, Sie würden mir schon richtigen Bescheid geben.“

„Ich?“

„Ja, Sie wüßten davon Bescheid; Sie wären immer so ein guter Mensch gewesen, und – und –“

„Und?“

„Und wenn Sie unser Fräulein geheirathet hätten, dann wäre sie ein gut Theil besser angekommen, als jetzt; na, und Herr Gotthold, ich habe sie heute Morgen durch das Fenster nur so von der Seite gesehen, als sie da allein im Wagen saß; aber das muß ich sagen: überglücklich sah sie nicht aus; und Stine meint ja, sie hat auch nicht gar so viel Ursach’ dazu. Meinen Sie denn das auch, Herr Gotthold?“

„Ich weiß es nicht, ich hoffe nicht –“ erwiderte Gotthold; „die Leute reden so viel; – aber wir wollten von Deiner Angelegenheit sprechen.“

„Ja, und was sagen Sie nun?“

„Was ist da viel zu sagen? Wenn Du das Herz dazu hast, so heirathe die Stine, die gewiß ein braves, rechtschaffenes Mädchen ist, und behandle sie gut, und seid Beide so glücklich und zufrieden, wie Ihr es zu sein verdient.“

[566] Sie hatten sich, die wichtige Unterredung in Ruhe führen zu können, am Rande des Waldes in den Schatten gesetzt. Jetzt erhob sich Gotthold rasch, ergriff Reisetasche und Malkasten, die Jochen neben sich in das Gras gelegt hatte, schüttelte dem Gefährten kräftig die braune harte Hand und wandte sich in den Wald, ohne sich umzusehen.

Jochen blickte dem Davonschreitenden nach, nahm dann sein eigenes kleines Bündel mit dem Stock auf die Schulter und begann die Haide hinaufzuschreiten, über deren höchstem Rand das Dach der väterlichen Schmiede eben sichtbar wurde.




6.


Schnellen Schrittes, rastlos, als habe er keine Minute zu verlieren, eilte Gotthold durch den Wald. Aber es waren nur die schlimmen, qualvoll traurigen Gedanken, die ihn also jagten, und die nicht von ihm lassen wollten, so wenig wie der Mückenschwarm, der mit ihm in den Wald gezogen war und steigend, sinkend, jetzt zurückbleibend, jetzt wieder vorauseilend, sein Haupt umschwebte.

„Daß ich es immer hören muß, und überall und von allen Zungen,“ murmelte er, „als hätte ich es zu verantworten, als wäre es ein Vorwurf für mich, daß sie nicht glücklich ist! Glücklich! wer ist es denn? Die unfehlbaren Leute vielleicht, die ihr moralisches Einmaleins vorwärts und rückwärts hersagen können, wie dieser Wollnow, der kluge, selbstgerechte Pharisäer; oder wie der gute Jochen, dem fünfzehn Jahre mehr oder weniger bei seiner Stine nichts ausmachen, wenn ihm nur gute Verköstigung garantirt wird? Aber sonst – bin ich glücklich? sind es tausend und tausend Andere, die kaum eine größere Schuld haben, als die, daß sie Menschen sind, Menschen mit einem Herzen, das fühlt und mitfühlt, und leidet und mitleidet? Fluch dem Mitgefühl und Fluch dem Mitleid! Sie machen uns zu den erbärmlichen Geschöpfen, die wir sind. Was rauscht ihr, ehrwürdige Buchen, die ihr Jahrhunderte schon zur Herbsteszeit die dürren Blätter hier auf den Waldboden streut, um im Frühling wieder im vollen Schmuck des grünen Laubes zu glänzen? was murmelst du, kleiner Bach, der du heute so geschäftig dein braunklares Wasser zum Meere trägst, wie damals, als ich, ein munterer Bube, an deinem Rande spielte, und mir ein Sprung hinüber und herüber eine Heldenthat dünkte? Ach! in dem Rauschen, in dem Murmeln, – ich höre dasselbe Lied, das gestern die Schwalbe sang, das Lied von der ewigen Jugend der Natur, der immer sich gleichen und immer gleich kraftvollen, immer gleich herrlichen; und von der Vergänglichkeit, der Hinfälligkeit des Menschen, der von Furcht und Hoffnung das kümmerliche, nimmersatte Dasein fristet, um sich frühen Tod an dieser Schattenspeise zu essen, und doch noch am glücklichsten ist, so lange sein Herz noch fürchten und hoffen kann, das sich nie wieder füllt, wenn es einmal geleert ist, oder, wenn es sich wieder füllt, wenn es wieder schwillt, mit Verachtung sich füllt, von Unmuth schwillt, daß es je so thöricht sein konnte, in Furcht und Hoffnung bang zu schlagen. Nun, ich hoffe nichts mehr, so brauche ich auch nichts mehr zu fürchten, auch nicht den Blick, der mich dort oben erwartet.“

Von dem breiteren, gänzlich vernachlässigten Wege, der dem Lauf des Waldbaches bisher gefolgt war und auch nach rechts in die Tiefe des Waldes weiter zum Meere folgte, zweigte sich links ein Fußpfad ab, welcher anfangs noch zwischen mächtigen Stämmen, bald aber durch niedrigeres und immer niedrigeres Unterholz aufwärts führte. Dann war der Rücken des Hügels nur noch mit Haidekraut und Ginster überlaufen bis zur höchsten Kuppe, auf welcher Menschen der Vorzeit aus gewaltigen, jetzt mit zolldickem Moos bewachsenen, zum Theil tief in den Boden gesunkenen Felsblöcken ihrer Fürsten einem das riesenhafte Grabmal errichtet hatten. Es war der Platz, von dem aus Gotthold damals mit unsicherer Hand die Farbenskizze entworfen, die er hernach zu dem Gemälde benutzte, das in Frau Wollnow’s Stube hing.

Und da stand er nun nach zehn langen Jahren wieder – im Schatten eines der Blöcke, der ihm gegen den heißen Strahl der Sonne Schutz gewährte – und vor ihm dehnte sich die Landschaft, an deren wunderbarer Schönheit sich das Auge des Knaben nie hatte ersättigen können. – Ach, die Zeit hatte keinen der Reize des Bildes verwischt; ja, es war, als ob die Stunde eigens dazu angethan sei, ihm das Paradies seiner Jugend in seinem ganzen Zauber zu zeigen.

Die Stunde des Mittags! In funkelndem Sonnenschein gebadet die Wipfel der Buchen, über die sein Blick in smaragdene Wiesen und goldene Kornfelder sich senkte – die Wiesen und Felder von Dollan, das wie ein stilles, sonniges Eden zwischen den schattenreichen, waldgekrönten Hügeln lag, die es von allen Seiten erschlossen. Und inmitten der Wiesen und Felder, auftauchend aus dem dunkleren Grün der Gartenbäume, die strohgedeckten Dächer der Hofgebäude und das Ziegeldach des langen niedrigen Herrenhauses, in dessen rothem Giebel er deutlich das kleine Fenster des Stübchens erkannte, das er, so oft er in Dollan war, zusammen mit Curt bewohnte. Welche Erinnerungen dieses Fensterchen in ihm wachrief! und wie sein Blick daran gebannt war und sich kaum losmachen konnte, um rechts, wo sich die Hügel öffneten, in das blaue Meer hinauszuschweifen, auf welchem ferne weiße Segel wie Sterne erglänzten; oder links über die weite braune Haide, auf der die einsame Schmiede unter der uralten Eiche, dem einzigen Baum in der schattenlose Oede, lag, deren Rand wiederum von höheren Waldhügeln überragt wurde, die das Bild nach der Landseite abschlossen!

Die Stunde des Mittags, die Stunde des großen Pan! kein leisester Hauch in dem glanzvollen Aether, regungslos die blendend weißen Wolken an dem stahlblauen Himmelsgewölbe, regungslos die Wipfel der Bäume, regungslos selbst die blühenden Sträuche, ja die langen Halme der Gräser. Kein Laut in der unendlichen Stille; selbst die Cicade, die bis jetzt zwischen den Steinen des Hünengrabes geschwirrt hatte, schwieg, erschreckt vielleicht von der braunen Schlange, welche mit erhobenem Halse, die runden glänzenden Augen starr auf Gotthold gerichtet, wenige Schritte von ihm entfernt auf einem der Felsblöcke, den übrigen Theil des schuppigen Leibes in dickstem Haidekraut begraben, regungslos lag. Er hatte sie vorher nicht bemerkt, und betrachtete sie jetzt nicht ohne einen gewissen Schauder. War es doch, als ob die Erstarrung, in welche die Natur versunken war, wesenhaft geworden sei; als ob der Geist der Einsamkeit und Verlassenheit Gestalt angenommen. Wehe, wenn die Einsamkeit dort unten in dem Herrenhause mit dem verwilderten Garten, wenn die Verlassenheit in diesem von allem menschlichen Verkehr so weit entfernten Thale dich anstarren mit diesen grausamen kalten Augen! wenn du hinaushorchst in die Stille nach einer lieben Menschenstimme und nichts hörst als das siedende Blut in den Schlafen und das bange schwere Klopfen deines Herzens!

Fort, Dämon, fort!

Er hatte den Stab erhoben; die Schlange war verschwunden; er konnte, als er an den Felsen trat, wo sie gelegen haben mußte, nur noch eben die nickenden Blumen des Haidekrautes sehen, durch dessen dichtes Wurzelgeflecht sie fortgeschlüpft.

Oder war es nur ein Bild seiner Phantasie gewesen? und was die Blumen nicken machte, der leise Hauch, der jetzt durch die heiße Luft spielte und stärker und stärker wurde, so daß ein Wispern und Flüstern rings um ihn her entstand, und es jetzt aus dem Walde hinter ihm, und jetzt in den Wipfeln unter ihm zu raunen begann, und endlich voll und kühl der Wind vom Meere her über die lechzende Erde rauschte?

Der Zauber war gebrochen, Gotthold sah wieder in die Landschaft; aber jetzt mit dem Auge des Künstlers, der seinem Gegenstande die beste Seite abzugewinnen sucht.

„Ich hatte damals die Morgenbeleuchtung gewählt, wenn man dergleichen Wahl nennen darf; das war falsch und ich mußte mir für das Bild die Lufteffecte künstlich zurecht machen. Aber die Sonne muß dort links in mäßiger Höhe über der Haide stehen, ungefähr über der Schmiede, das wird gegen sechs Uhr sein; bis Acht kann ich haben, was ich brauche. Ich glaube, es wird ein gutes Bild werden, mit dem nicht blos die schwatzhafte Dame zufrieden sein kann.“

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7.


Gotthold raffte seine Sachen zusammen; dann fiel ihm ein, daß er den Malkasten nur gleich hier lassen könne. So lehnte er denselben an den Fels, auf dem die Schlange gelegen, in den dichten Schatten und schritt den Hügel hinab auf den Waldweg in die lange Schlucht, durch welche der Bach zum Meere murmelte und an dessen Ausfluß in der kleinen Bucht zwischen den steilen Uferklippen Vetter Boslaf’s einsames Häuschen lag. Das Strandhaus hatten sie es damals in Dollan genannt, und nicht blos dort; es war unter diesem Namen in Aller Munde, der Schiffer zumeist, denen es ein willkommenes Wahrzeichen an der gefährlichen Küste war, bei Tage und noch mehr bei Nacht, wenn das Licht aus Vetter Boslaf’s Fenster, zu Vorsicht mahnend, über die Wasserwüste durch die gähnende Nacht zu den Rathlosen herüberschimmerte. Der Schein reichte sehr weit, Dank der gewaltigen, tiefgewölbten zinnernen Schüssel, welche der Alte hinter dem Lichte befestigt hatte, und deren fleckenloser Glanz mit dem des polirten Silbers wetteiferte. An die siebenzig Jahre war es nun bereits, daß diese Leuchte brannte zum Frommen der Schiffer und Fischer und zur Ehre des guten Mannes, der sie Nacht für Nacht entzündete auf Niemandes Geheiß, nur dem Triebe des eigenen braven Herzens folgend.

An die siebenzig Jahre, und eher darüber als darunter; es hatte sie Keiner gezählt. Seit die ältesten der jetzt lebenden Menschen denken konnten, hatte Vetter Boslaf in dem Strandhause gelebt – was Wunder, daß er den jüngeren und jungen eine halb mythische Person war? Erschien er doch fast selbst seinen Verwandten in Dollan so, unter welchen er lebte, in deren Gesellschaft er wenigstens so manche Stunde verbrachte, an deren Leiden und Freuden er in seiner stillen Weise Antheil nahm, und von denen wenigstens Curt’s Vater seine Geschichte gekannt und sie einmal erzählt hatte; Gotthold erinnerte sich nicht mehr, bei welcher Veranlassung und ob er sie den Knaben oder – was wohl wahrscheinlicher – einigen Freunden bei der Flasche mitgetheilt und die Knaben nur verstohlen aus der Ecke zugehört.

Gotthold hatte lange an diese Geschichte nicht gedacht, die zu einer Zeit sich ereignete, als manche Buche hier, die jetzt die stattliche Krone hoch über dem Haupte des Wanderers wölbte, noch nicht existirte. Aber jetzt kam sie ihm wieder in die Erinnerung bis in die Einzelheiten, von denen er wirklich nicht mehr wußte, ob er sie damals schon gehört, ob er sie sich später dazu gedichtet, oder ob er sie jetzt erst aus dem Rauschen der grauen Waldriesen erfuhr und aus dem Murmeln des Quells, der seinen Wanderpfad begleitete.

„Zur Schwedenzeit,“ so fingen damals alle alten Geschichten an, lebten auf der Insel zwei Vettern Wenhof, Adolf und Bogislaf, Beide gleich jung, gleich schön und stark und gleich verliebt in ein liebenswürdiges junges Fräulein, welches der Vater Niemand geben wollte, als Einem, der reich war, aus dem einfachen Grunde, weil er außer seinem alten Adel nichts besaß, als das große Rittergut Dahlitz, auf dem mehr Schulden lasteten, als es selbst unter Brüdern werth gewesen wäre. Nun waren die beiden Vettern allerdings nicht von Adel, aber aus einer sehr guten alten Familie, und der Herr von Dahlitz hätte durchaus gegen Keinen von ihnen etwas einzuwenden gehabt, außer was er gegen Beide einwenden mußte und leider einwenden konnte, nämlich, daß sie womöglich noch ärmer waren als er selbst. In der That besaßen sie nichts, als Jeder eine gute Büchsflinte mit dazu gehörigen Jagdgeräthen, und weiter ein Paar gute Jagdstiefel, deren dicke Sohlen sie bald hier, bald da über die Schwelle der Häuser ihrer vielen Freunde auf der Insel setzten, als überall hochwillkommene Jagd-, Spiel- und Tafelgenossen. Denn wie sie von gleich hohem Wuchse und fast gleicher Gesichtsbildung waren, so thaten sie es sich auch in allen diesen Dingen gleich, oder doch so gleich, daß die gastfreundlichen, fröhlichen Gutsbesitzer den Einen nicht minder gern als den andern auf den Hof kommen sahen und am liebsten Beide zugleich, was denn auch in der That fast immer der Fall war. – Die beiden Vettern liebten sich nämlich viel inniger als die meisten Brüder sich lieben, und was ihre Leidenschaft zu der schönen Ulrike von Dahlitz betraf, so waren ihre Aussichten so gering, daß es sich gar nicht der Mühe verlohnte, sich deshalb zu veruneinigen.

Da geschah etwas, was ihre Lage, oder wenigstens die Lage des Einen von ihnen, mit einem Schlage von Grund aus veränderte.

In Schweden starb ein sehr reicher und sehr wunderlicher Onkel, welcher außer seinen schwedischen Gütern auch eines auf der Insel zu vermachen hatte, nämlich das schöne Dollan, zu dem damals noch die Wälder rings in der Runde bis an das Meer, und auf der andern Seite das Land über die große Haide weg [580] bis an die Schanzenberge gehörte. Dies Gut nun hinterließ er den beiden Vettern, oder vielmehr dem Einen von ihnen; denn, wie das Testament wunderlich genug sagte: es sollte von ihnen Demjenigen zufallen, welchen eine Jury von sechs ihrer Genossen ‚für den besten Mann‘ erklären würde. Alle Welt lachte, als diese sonderbare Bedingung bekannt wurde, und die Vettern lachten auch; aber bald wurden sie sehr ernsthaft, als sie bedachten, daß es sich nicht blos um Dollan, sondern auch um Ulrike von Dahlitz handle, welche der Vater dem Besitzer von Dollan mit Freuden zum Manne geben würde.

Da war es denn nun ein seltsames Ding, wie von den beiden Vettern, die bis dahin unzertrennlich gewesen waren, jeder seinen eigenen Weg zu gehen anfing, und beide, wo sie sich nicht ausweichen konnten, sich mit ernsten, prüfenden, fast feindlichen Blicken betrachteten, die zu sagen schienen: ich bin doch der bessere Mann.

Im Grunde seines Herzens mußte Jeder eingestehen, und gestand sich Jeder, daß die Sache mindestens sehr fraglich sei; und so dachten und sagten die sechs Richter, welche sich die beiden Vettern gewählt, und deren Ausspruch sie unweigerlich folgen zu wollen erklärt hatten. Es waren aber auch alle Sechs untadelhafte junge Männer, die ihre schwierige Aufgabe sehr ernst, ja feierlich nahmen, und lange, sehr lange Sitzungen hatten, bei denen ungeheure Quantitäten guten alten Rothweins getrunken und eine unglaubliche Anzahl von Pfeifen geraucht wurden, bis sie denn endlich zu folgendem Resultat kamen, das man allgemein als ein weises und vollkommen sachgemäßes pries.

Derjenige der beiden Vettern sollte der beste Mann sein und als solcher von den Richtern und aller Welt angesehen werden, welcher sechs von ihnen zu stellende Aufgaben am besten löste.

Nun wären die guten Vettern in eine schlimme Lage gekommen, wenn die Richter sich ihre Weisheit aus irgend einem philosophischen oder sonstigen gelehrten Buche geholt hätten; aber Keinem von ihnen war auch nur der Gedanke daran gekommen. Der beste Mann würde nach ihrem Ermessen der sein, welcher erstens ein dreijähriges, noch nie gerittenes Hengstfüllen binnen zweimal vierundzwanzig Stunden den Richtern in den vier Hauptgangarten Schritt, Trab, Galopp und Carrière würde vorreiten können; zweitens die Haide von Dollan von dem Herrenhause bis zu der alten Schmiede mit einem Gespann von vier jungen feurigen Pferden im Galopp und in einer bestimmten Linie durchmessen; drittens von dem Festlande bis zu einem auf der Höhe ankernden Schiff eine deutsche Meile weit schwimmen; viertens von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang – man war im Juni und die Nächte waren kurz – ein Dutzend Flaschen Rothwein ausstechen, und fünftens während eben dieser Zeit mit je drei Preisrichtern würde Boston spielen, ohne einen groben Fehler zu machen. Waren aber, wie man fast erwartete, auch jetzt die Richter immer noch nicht schlüssig geworden, so hatten die Vettern jeder auf zweihundertfünfzig Schritte zwölf Schüsse mit der Büchse nach der Scheibe zu thun, und wer die meisten Ringe schösse, sollte „der beste Mann“ und Herr von Dollan sein.

Diese sechste und letzte Probe war im Grunde ein Nothbehelf, zu dem sich die Richter nur ungern entschlossen. Denn daß Bogislaf nicht nur der beste Schütze von den Beiden, sondern auch der beste auf der ganzen Insel war, wußte jedes Kind; aber die Sache mußte doch einmal zur Entscheidung kommen, und da Adolf, vielleicht hoffend, es werde ihm schon vorher der Preis zufallen, gegen Nummer Sechs nichts einzuwenden hatte, so war Alles in Ordnung, und das Kampfspiel konnte beginnen.

Es begann und verlief, wie man allgemein erwartet hatte. Die beiden jungen Enakssöhne ritten ihre Pferde, lenkten ihre Wagen, schwammen ihre Meile, tranken ihre zwölf Flaschen, spielten ihr Boston so gleich meisterhaft und tadellos, daß die scrupulösesten Augen keine Unterschiede in der Güte der Leistungen machen konnten und die Richter schweren Herzens zur letzten Probe schreiten mußten, deren Ausfall ja nicht weiter zweifelhaft war.

Und schwer, centnerschwer mochte dem armen Adolf das Herz in der tapfern Brust hangen, als er an dem verhängnißvollen Tage auf den Plan trat. Er war sehr niedergeschlagen, und das heimliche Zureden derjenigen unter den Richtern, die ihm noch ganz besonders wohl wollten, verfing nicht. „Es ist ja nun doch Alles vergebens,“ sagte er.

Aber merkwürdiger Weise schien Bogislaf nicht minder bewegt, ja noch bewegter als sein Vetter. Er war bleich, seine großen blauen Augen waren wie erloschen und lagen tief in den Höhlen, und seine speciellen Freunde bemerkten zu ihrem Schrecken, daß, als sich die Vettern diesmal, wie immer vor Beginn des Kampfes, die Hände schüttelten, seine Hand – die sonst so starke braune Hand – zitterte wie die eines furchtsamen Mägdeleins.

Die Vettern, die umschichtig schießen sollten, loosten; Adolf hatte den ersten Schuß. Er zielte lange, setzte ein paar Male ab und traf doch nur den vorletzten Ring.

„Ich wußte es ja vorher,“ sagte er und fuhr sich über die Augen und hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten; aber er horchte hoch auf und athmete tief, als jetzt statt des „Centrums“, welches er erwartet, die Nummer des letzten Ringes von der Scheibe gewinkt wurde und der eine der Richter die Nummer laut ausrief.

War es möglich? nun, dann war auch noch Hoffnung da. Adolf nahm alle Kraft zusammen; er schoß besser und besser, drei, vier, sechs, neun und zehn, und wieder sechs und wieder zehn; und Bogislaf blieb immer einen Ring hinter ihm, nicht mehr und nicht weniger – immer einen Ring.

„Er spielt mit ihm wie die Katze mit der Maus,“ hatten nach den ersten drei Schüssen die Preisrichter unter sich gesagt.

Aber Bogislaf wurde immer bleicher und bleicher, und seine Hand zitterte jedesmal stärker und wurde nur ruhig in dem Momente, wo er den Schuß abgab; aber es war immer ein Ring weniger, als Adolf geschossen, und nun kam der letzte Schuß, für Adolf der schlechteste, den er gethan. In seiner ungeheuren Aufregung hatte er nur eben den Rand der Scheibe angesplittert; wenn Bogislaf jetzt Centrum schoß, hatte er doch gesiegt: der Ausgang des langen Kampfes, das reiche Erbe, die schöne Braut – Alles, Alles hing an dem einen Schuß.

Und bleich wie der Tod trat Bogislaf auf den Stand; aber seine Hand zitterte nicht mehr; fest, als wäre Arm und Büchse Eines, lag er im Anschlage, nicht um eines Haares Breite schwankte das blanke Rohr, und jetzt krachte der Schuß. „Die sitzt,“ sagten die Richter.

Die Zeiger traten vor, suchten und suchten; sie konnten die Kugel nicht finden; die Richter gingen hin und suchten und suchten; sie konnten die Kugel nicht finden. Das Unerhörte, kaum Glaubliche war geschehen – Bogislaf hatte nicht einmal die Scheibe getroffen.

Die Richter sahen sich bestürzt an und wagten um des armen Bogislaf willen kaum auszusprechen, was doch gesagt werden mußte. Da trat Bogislaf auf seinen Vetter zu, der mit niedergeschlagenen Augen, als schämte er sich seines Sieges, dastand, ergriff ihn bei der Hand und wollte offenbar etwas sagen, das nicht über die bleichen zuckenden Lippen kam. Aber ein Fluch konnte es wohl nicht sein, denn er fiel Adolf weinend um den Hals, drückte ihn an seine Brust, riß sich dann los, schritt, ohne weiter ein Wort zu sprechen davon und verschwand.

Er blieb verschwunden. Viele nahmen an, er habe sich das Leben genommen; Andere wollten wissen daß er sich hoch oben in Norwegen in Eis und Schnee vergraben habe, um Bären und Wölfe zu jagen; und sie mochten Recht haben.

Jedenfalls war er nicht todt, sondern erschien nach mehreren Jahren plötzlich wieder auf dem Gute eines der Freunde, der auch zu den Preisrichtern gehört hatte, und hier trafen ihn sein Vetter Adolf und dessen junge Frau Ulrike – ganz zufällig, denn sie hatten nichts von seiner Rückkehr gehört, und die junge Frau war so erschrocken, daß sie in Ohnmacht fiel und nur mit Mühe in’s Leben zurückgebracht wurde. Sie hatte nämlich immer zu Denen gehört, die Bogislaf für todt gehalten, und war darüber schon ein paar Mal mit ihrem Manne in Streit gerathen, welcher stets das Gegentheil behauptet. Man sagte, daß dies keineswegs der einzige Differenzpunkt zwischen den Gatten sei, und es gab da in der That der Ursachen so manche, welche das junge eheliche Glück nicht so recht aufkommen lassen wollten. Zwar war der alte verschwenderische Herr von Dahlitz, der sein Gut an einen [581] Herrn Brandow – Karl Brandow’s Urgroßvater – verkauft und dann noch ein paar Jahre sehr vergnüglich aus seines Schwiegersohns Tasche gelebt hatte, jetzt gestorben; aber die Tochter hatte ihres Vaters kostbare Neigungen zum Theil geerbt, und Adolf selbst war nichts weniger als ein guter Wirth.

Diese letzte Eigenschaft hinderte ihn nun gewiß nicht, zu thun, wozu ihn schon die einfachste Dankbarkeit verpflichtete; und so lud er denn – trotz des Widerspruches seiner Gattin – den armen Bogislaf ein, ihn auf Dollan zu besuchen und möglichst lange bei ihm zu bleiben. Bogislaf hatte sich anfangs sehr gesträubt, und das mit gutem Grunde. War es doch jetzt heraus, wie es zugegangen bei dem Wettschießen! wußte man doch jetzt, daß Ulrike durch ihre Cousine und vertrauteste Freundin Emma von Dahlitz, die als arme Weise bei den reichen Verwandten lebte, am Abend zuvor Botschaft an Bogislaf gesandt: sie werde, und wenn alle Welt ihn für den besten Mann erkläre, ihn nun und nimmer zum Manne nehmen, sondern einzig und allein Adolf, den sie immer geliebt habe und immer lieben werde. Da habe Bogislaf, weil er ja nun doch keine Hoffnung gehabt, die Geliebte zu gewinnen, ein Vermögen, welches für ihn keinen Reiz mehr besaß, großmüthig seinem Vetter überlassen.

Er hatte sich also lange gesträubt, die Einladung seines glücklichen Vetters anzunehmen, war aber dann doch gekommen – auf acht Tage nur. Aus den acht Tagen waren acht Wochen, aus den Wochen Monate, aus den Monaten Jahre geworden, so viele Jahre, daß dies nun schon die vierte Generation war, die den alten Bogislaf Wenhof, oder wie er allgemein genannt, Vetter Boslaf, in dem Strandhause von Dollan kannte. Denn dorthin war er nach den ersten acht Tagen übergesiedelt, nachdem er es von der Regierung, die es ursprünglich als Wachthaus gebaut, nebst ein paar dazu gehörigen Aeckern und Wiesen für ein Geringes gekauft; aber, wenn so das Strandhaus nicht eigentlich zu Dollan gehörte, sondern Vetter Boslaf’s freies Eigenthum war, so gehörte Vetter Boslaf desto mehr zu Dollan, so sehr, daß sich über diese Zusammengehörigkeit in den Köpfen der Leute allerlei abergläubische Vorstellungen gebildet hatten, in denen der Uralte bald als guter, bald als böser Geist von Dollan und speciell der Familie Wenhof figurirte. Ach, er hatte, – wenn er anders der gute Geist war – den Verfall des Hauses nicht verhindern können, und daß bereits Adolf’s und Ulrikens Sohn, der viel von der Dahlitzer Art hatte, zu Ende des vorigen Jahrhunderts Dollan an das Kloster St. Jürgen verkaufen und froh sein mußte, da als Pächter bleiben zu dürfen, wo er bisher als Herr gesessen. Vetter Boslaf hatte das nicht verhindern können, und alles Andere nicht, was seitdem geschehen war bis auf den heutigen Tag!

„Aber was heißt denn das,“ sprach Gotthold bei sich, „wie mag man sich doch so mit Waldesrauschen und Quellenmurmeln und alten Geschichten das gesunde Hirn umnebeln! Ich glaube, die Schlange hat es mir angethan mit ihren kalten Funkelaugen, und ich bin noch in ihrem Zauberbann. Nun, ihr Reich ist zu Ende. Da, durch die Zweige glänzt das Meer, mein geliebtes, herrliches Meer. Sein frischer Athem wird mir die heiße Stirn kühlen. Und er, der Uralte, der dort unten haust, der so jung schon das herbe Wort Entsagung begriffen hatte, der auf Macht und Reichthum und Weibergunst verzichtete, um sich selbst nicht zu verlieren, um er selbst zu bleiben, er war doch wohl der bessere und der weisere Mann.“

Immer am Bache entlang schreitend, der jetzt so nahe an seinem Ausflusse, ungeduldiger und kühner, manchmal in kleinen Cascaden, die von riesigen Farrenkrautstauden und üppigstem Gras überwucherte Schlucht plätschernd und murmelnd hinabeilte, gelangte Gotthold in wenigen Minuten zum Ufer. Rechter Hand, fast auf der Spitze der Landzunge, die, wie das übrige Ufer mit großen und kleinen Steinen bedeckt, ein paar hundert Schritt in’s Meer hinauslief, lag Vetter Boslaf’s Haus. Von der hohen Stange auf dem einen Giebel flatterte die alte Flagge, deren sich Gotthold so gut aus seinen Jugendjahren erinnerte. Es war ursprünglich eine schwedische; aber Wind und Wetter hatten ihr im Laufe der Jahre die Farben so ausgebleicht und so viele Flicken nothwendig gemacht, daß die Behörde keinen Anstoß an dieser Reminiscenz der Fremdherrschaft nehmen konnte, wenn sie sich überhaupt um Vetter Boslaf’s Thun und Treiben bekümmert hätte. Aber das hatte sie nie gethan; und so flatterte und rauschte und knatterte denn die alte Fahne lustig in dem frischen Winde, der sich immer kräftiger aufmachte, als Gotthold jetzt vor dem niedrigen, aus zum Theil unbehauenen Strandsteinen roh aufgeführten Gebäude stand, das seine einzige Thür nach der Landseite hatte. Die Thür war verschlossen; in die beiden kleinen eisenvergitterten Fenster rechts und links, welche der Küche und der Vorrathskammer Licht gaben, konnte er nicht hineinsehen, da sie über Manneshöhe, fast unter dem Dache sich befanden; und an den beiden größeren Fenstern auf der Vorderseite nach dem Meere waren die starken eisernen Läden zugedrückt. Vetter Boslaf war offenbar nicht zu Hause.

„Freilich,“ sagte Gotthold, „wenn man nach zehn Jahren Jemand, den man als Achtzigjährigen verließ, nicht mehr in seinem alten Hause findet, kann man sich nicht eben wundern.“

Und doch wollte es ihm gar nicht zu Sinn, daß der Alte gestorben sei. Er hatte noch eben so lebhaft an ihn gedacht, ihn so deutlich in seines Geistes Aug’ gesehen: dahinwandelnd, langen gleichmäßigen Schrittes, die hohe schlanke Gestalt, wie er sie damals mit seinen leiblichen Augen sah. Nein, nein, der Uralte aus dem Reckengeschlecht – er hatte sicher auch noch diese kurze Spanne Zeit überdauert. Und dann hatte das Haus und die Umgebung – der kleine, von einer Cyklopenmauer umschlossene Vorhof, der winzige, mit Muscheln eingefaßte Garten – nicht das Aussehen, als ob sie sich schon längere Zeit selbst überlassen gewesen wären. Alles war im Stande und peinlich sauber, wie es der Alte zu halten pflegte; die kleine Brücke in der inneren Bucht, an welcher er das Boot befestigte, konnte sogar erst neuerdings ausgebessert sein, wie Gotthold aus frisch und mit großer Sorgfalt eingefügten Holzstücken ersah. Das Boot aber war fort; ohne Zweifel hatte Vetter Boslaf einen Ausflug auf dem Boote gemacht. Es war freilich nicht seine Gewohnheit, indessen die Lebensweise des Alten konnte ja in den letzten Jahren eine andere geworden sein.

Der Nachmittag war bereits weit vorgeschritten; der Weg durch die Schlucht nach dem Strandhause hatte doch mehr Zeit gekostet, als Gotthold angenommen. Eine Stunde wollte er noch auf Vetter Boslaf warten, dann nach dem Hünengrabe zurückkehren, bis Sonnenuntergang malen, für die Nacht die Gastfreundschaft der Schmiede in Anspruch nehmen und morgen in der Frühe, hoffentlich mit glücklicherem Erfolge, den alten Freund abermals aufsuchen. Dann konnte er bis zum Mittag wieder in Prora sein und, nachdem er sich von Wollnows verabschiedet, ohne Verzug mit Jochen weiter fahren. Er hatte gestern daran gedacht, das Bild gleich in Prora fertig zu machen; aber morgen Abend kamen sie, wie Jochen berichtet, von Plüggenhof zurück, wieder durch den Ort, und er wollte den Zufall, der ihn heute Morgen eben noch vor einer Begegnung mit Karl Brandow bewahrt hatte, nicht zum zweiten Male herausfordern.

Der junge Mann hatte sich auf der Uferhöhe in den Schatten der Buchen, die hier bis an den steilen Rand herantraten, gelagert. Gewohnt, wie er es von seinen Studienfahrten war, halbe, ja, wenn es sein mußte, ganze Tage lang mit einem Bissen Brod und einem Trunk aus seiner Feldflasche auszureichen, spürte er auch jetzt keinen Hunger; aber er fühlte sich ermatteter, als wohl sonst nach längeren Märschen. Und wie er nun so dalag, und ihm zu Häupten die Buchen säuselten, und unter ihm die auf dem steinigen Ufer brandenden Wellen ihr monotones Lied rauschten, sanken ihm allgemach die Wimpern über die von dem langen Hinstarren auf die unendliche Wasserwüste ermüdeten Augen.




8.


Ein paar Stunden später ritten Karl Brandow und Hinrich Scheel über die Haide von der Schmiede nach Dollan, denselben Weg, welchen sie vor noch nicht zehn Minuten in entgegengesetzter Richtung gemacht hatten. Sie ritten in scharfem Trabe, der Knecht ein paar Dutzend Schritte hinter dem Herrn, nicht aus Respect, und gewiß nicht, weil er schlechter beritten gewesen wäre. Im Gegentheil, sein Pferd war ein wundervolles braunes Vollblut, sehr viel kostbarer als der Halbblutfuchs des Herrn, so kostbar in der That, daß ein Begegnender sich gewundert haben würde, [582] wie man ein so edles Thier bei einer so gewöhnlichen Gelegenheit reiten könne. Aber Hinrich Scheel war kein gewöhnlicher Reiter; er achtete auf dem rauhen Boden jeder Bewegung des Thieres so sorgsam, als ob er es in glatter Reitbahn trainirte, nicht die leiseste Unart ließ er ihm durchgehen; und eben hatte es sich eine zu Schulden kommen lassen, für die es abgestraft werden mußte; und das war der Grund, weshalb er ein wenig zurückgeblieben war.

Plötzlich zog Karl Brandow die Zügel an und sagte halb über die Schulter gewandt: „Bist Du wirklich sicher, ihn gesehen zu haben?“

„Ich sagte Ihnen ja, ich bin auf hundert Schritt herangekommen,“ erwiderte Hinrich Scheel mürrisch; „und Zeit genug, ihn mir zu besehen, habe ich auch gehabt; ich glaube, er hat eine Stunde da oben gestanden, als ob er fest gewachsen wäre.“

„Aber weshalb sollte der Schuft von Jochen noch jetzt behaupten, daß er nicht wisse, wo er geblieben ist?“

„Vielleicht weiß er es nicht.“

„Dummes Zeug!“

Sie ritten eine kurze Strecke schweigend neben einander; der Herr düster vor sich hinstarrend, der Knecht von Zeit zu Zeit einen Lauerblick aus den Schielaugen auf den Herrn richtend. Jetzt drängte er sein Pferd noch näher heran und sagte:

„Weshalb soll er es wissen? ich weiß ja auch nicht, warum Sie hinter ihm her sind, wie die Katze hinter der Maus.“

„Pah!“

„Und warum Sie von Plüggenhof so früh zurück sind, und unsere beiden Blässen halb zu Schanden gefahren haben, und mir einen Louisd’or gegeben haben, als ich Ihnen sagte, ich hätte ihn gesehen.“

„Und ich will Dir noch sechs geben, wenn Du mir sagst, wo ich ihn finde,“ rief Karl Brandow sich lebhaft im Sattel wendend.

„Wo Sie ihn finden? Nun, das ist doch einfach genug: bei dem da im Strandhause!“

„Wo ich ihn nicht aufsuchen kann.“

„Ohne daß Ihnen der Alte eine Kugel durch den Leib jagt. Sechs Louisd’or! Wissen Sie was, Herr, ich vermeine, ich könnte lange auf die sechs warten. Aber ich will Ihnen ohne das Geld sagen, wo Sie ihn finden, wenn ich den Brownlock da über das Moor reiten darf.“

„Bist Du verrückt?“

„Ich komme schneller hinüber, als Sie über den Berg. Soll’s gelten?“

Vor ihnen hob sich der Weg ziemlich steil über einen Hügel, der, als ein Ausläufer der links liegenden Schanzenberge, sich weit in die Haide hineinstreckte. Rechts vom Hügel zog sich ein breites Moor quer über die Haide bis an den Wald, wo es dann in dem Bach, dessen Lauf Gotthold heute Mittag gefolgt war, einen Ausfluß zum Meere hatte. Die Spitze des Hügels war ohne Zweifel vor Zeiten einmal in das Moor gesunken, denn die langgestreckte Erdwelle brach gegen dasselbe in einer Wand ab, die im Moment des Einsinkens steil genug gewesen sein mochte, von der aber die hügelabwärts sickernden Wasser im Laufe der Jahre so viel heruntergewaschen hatten, daß eine unregelmäßige Böschung entstanden war, und der alte ausgefahren Weg oben hart am Rande hinlief, während weiter hügelaufwärts große Steine die Passage mindestens für Fuhrwerk unthunlich machten, wenn auch Reiter und Fußgänger sich schon durchwinden mochten. Ganz so schlimm war die Sache wohl nicht gewesen, als Bogislaf und Adolf Wenhof ihre Wagen hier im Galopp vorüberlenken mußten, denn jetzt konnte kein Mensch, der bei Sinnen war, die Stelle zu Wagen anders als im Schritt passiren; und auch so noch hatte Jochen Prebrow vollkommen Recht, daß es ihm – und freilich jedem Andern – ein Leichtes gewesen sein würde, Curt’s wahnsinnigen Auftrag auszuführen, und das junge Paar am Hochzeitstage vom Wege die Böschung hinunter in das Moor zu stürzen.

Die Reiter hatten ihre Pferde angehalten; Karl Brandow ließ seinen Blick den Hügel hinauf und über das Moor schweifen.

„Du bist verrückt,“ sagte er noch einmal.

„Verrückt oder nicht,“ rief Hinrich Scheel ungeduldig, „aber es muß sein. Ich war heute Morgen nach Salchow hinüber, um den Mister Thomson ein wenig auszuhorchen. Der Kerl weiß immer Alles, und er sagt, sie hätten eigens um des Brownlock willen für das Herrenreiten ein Stück Sumpfland eingelegt, weil sie glauben, der Brownlock ist zu schwer und Sie müssen dann in einem weiten Bogen herumreiten. Na, Herr, wenn Sie der Bessy den Sieg so leicht machen, dem Grafen Grieben und den anderen Herren wird’s schon recht sein; und mir kann’s ja auch recht sein.“

„Dir wär’s so wenig recht, wie mir,“ sagte Brandow; und dann murmelte er durch die Zähne: „es ist ja eigentlich jetzt Alles gleich.“

„Soll ich?“ sagte Hinrich Scheel, der die Unentschlossenheit seines Herrn wohl bemerkte.

„Meinetwegen.“

Ueber Hinrich Scheel’s häßliches Gesicht zuckte ein Freudenstrahl. Er warf den Brownlock, der längst ungeduldig in das Gebiß knirschte, herum und galoppirte links ab hundert Schritt am Rande des Moors hin, hielt dann still, und rief zu seinem Herrn:

„Fertig?“

„Ja!“

„Ab!“

Der Brownlock sprang mit einem mächtigen Satz an und flog dann über den sumpfigen Grund. Wieder und wieder schlugen die leichten Hufe durch die dünne Grasnarbe, daß das Wasser hell aufspritzte, aber das rasende Tempo verminderte sich nicht, schien im Gegentheil schneller und schneller zu werden, als wüßte das edle Thier, daß der bodenlose Abgrund unter ihm gähnte, und daß es um sein und seines waghalsigen Reiters Leben lief. Und jetzt wurde der schwankende Boden sichtlich fester. Das kaum für möglich Gehaltene war gelungen, Brownlock hatte das Moor passirt, und würde jedes andere passiren.

„Es ist kein Zweifel mehr,“ murmelte Brandow; „ich kann jede Wette annehmen, jede; und nun doch noch dem Plüggen das Thier lassen sollen! für die lumpigen fünftausend Thaler; daß ich ein Narr wäre! Es war auch wohl sein Ernst nicht! aber das Geld muß herbei, und sollte ich es stehlen, und sollte ich deshalb einen Mord begehen. Holla!“

Er hatte kein Auge von dem Brownlock verwandt, während er im Galopp über den Hügel ritt, des Weges nicht achtend, bis sein Fuchs, gewohnt, nur im Schritt diese Stelle zu passiren, jetzt plötzlich von dem Rande zurückprallte, daß Kies und Mergel die Böschung hinabkollerten.

„Holla!“ rief Brandow noch einmal, indem er das erschrockene Thier zusammennahm, „da hätte ich bald einen Mord an mir selbst begangen.“

Er ritt vorsichtiger auf der andern Seite des Hügels hinab und sprengte dann auf Hinrich zu, der, am Rande des Moores auf und ab galoppirend, den schnaubenden Renner zu beruhigen suchte.

„Was sagen Sie, Herr?“

„Daß Du ein Capitalkerl bist; und nun, da Du Deinen Willen gehabt hast: wo meinst Du, daß ich ihn finde?“

„Auf dem Hünengrabe,“ sagte Hinrich; „ich bin, als er weg war, oben gewesen, und habe da so ein Ding gefunden, wie einen Kasten. Es steckte ein Schlüsselchen d’ran; es waren seine Malergeschichten, wie ich wohl sah. Der Kasten war sorgfältig in den Schatten gestellt; aber um sechs Uhr ist die Sonne da, wo heute Mittag der Schatten war, und ich sollte meinen, er ist um die Zeit auf demselben Platz.“

„Und warum hast Du mir das nicht gleich gesagt?“

„Seien Sie doch zufrieden, daß ich es Ihnen nicht gesagt habe,“ erwiderte Hinrich, den Brownlock zärtlich auf den schlanken Hals klatschend. „Sie wüßten jetzt noch nicht, daß Sie, ich weiß nicht wie viel tausend Thaler reicher sind, als Sie geglaubt haben.“

„Es ist sechs,“ sagte Brandow, auf seine Uhr sehend

„Dann reiten Sie hin und holen Sie sich ihn. Ich muß den Brownlock nach Hause bringen. Soll ich der Frau sagen, daß wir heute Abend noch Besuch bekommen?“

„Vorläufig weiß ich das selber noch nicht.“

„Sie würde sich gewiß so freuen.“

„Mach’, daß Du nach Hause kommst, und halte Dein Maul.“

Ueber Hinrich’s groteskes Gesicht zog ein widerliches Grinsen, er warf einen stechenden Blick auf den Herrn, erwiderte aber [583] nichts, sondern wandte den Brownlock und ritt in langsamem Galopp davon.

„Ich hätte ihm ebenso gut Alles sagen können,“ sprach Karl Brandow bei sich, während er sein Pferd über die Haide in den Wald lenkte; „ich glaube, ich bin für den verdammten Kerl von Glas. Gleichviel, man muß doch Einen haben, auf den man sich verlassen kann; und schließlich werde ich doch auch diesmal ohne ihn nicht fertig werden. Ich lade mir den dummen Kerl ungern auf den Hals, aber es ist doch eine Chance, und ich wäre ein Narr, wenn ich in meiner Lage noch lange zimperlich sein wollte.“

[597] Karl Brandow ließ, während er im Schritt den holperigen Waldweg entlang ritt, die Zügel auf den Hals des Pferdes gleiten und nahm einen Brief aus der Tasche, welchen er vorgefunden, als er vor einer halben Stunde nach Hause kam:

„Werther Herr und Freund! Ich beeile mich, Ihnen mitzutheilen, daß, wie ich vorausgesehen und Ihnen vorausgesagt, gestern von dem Curatorium einstimmig beschlossen worden, den Termin auf keinen Fall abermals hinauszuschieben, im Gegentheil, Sie bei Ihrem mündlich und schriftlich abgegebenen Versprechen zu halten und die Zehntausend auf einmal an dem Verfalltage von Ihnen einzufordern. Es thut mir herzlich leid, nach den Confidenzen, die Sie mir gemacht, Ihnen das schreiben zu müssen; aber ich nehme mit Sicherheit an, daß Sie – erregbar wie Sie sind – Ihre Lage verzweifelter angesehen haben, als sie in Wirklichkeit ist. Auf alle Fälle, meine ich, ist es besser, Sie wissen, woran Sie sind, und können die acht Tage, welche Ihnen noch bleiben, dazu benutzen, neue Quellen zu entdecken, wenn die alten wirklich ganz und gar versiecht sein sollten.

Ich spreche, da ich zu der Zeit so wie so noch auf einige andere unserer Güter muß, am Fünfzehnten bei Ihnen vor, und kann, wenn es Ihnen recht ist, das Geld mitnehmen und Ihnen die Reise hierher ersparen. Vielleicht begleitet mich meine Frau, die sich sehr darauf freut, Dollan, von dessen romantischer Lage ich ihr so viel vorgeschwärmt habe, kennen zu lernen und ihre Freundinnen – Frau Wollnow in Prora und Ihre Frau Gemahlin – nach Jahren einmal wiederzusehen. Bedarf es noch eines stärkeren Beweises meiner Ueberzeugung, daß Sie der Mann sind, den Boten von seiner Botschaft zu trennen, und daß ich mich nennen darf wie immer Ihren und Ihrer liebenswürdigen Frau Gemahlin aufrichtig ergebenen

Bernhard Sellien.

P. S. Soeben erfahre ich etwas, was mich sehr interessirt und Sie vielleicht auch interessiren wird. Gotthold Weber, der ausgezeichnete Landschafter, dessen Bekanntschaft ich vor zwei Jahren in Italien machte, und mit dem Sie, wie Sie mir später gelegentlich einmal mittheilten, von der Schule her so befreundet sind, ist heute durch Sundin gekommen, um nach Prora zu gehen und sich dort und in der Umgegend längere Zeit aufzuhalten. Ohne Zweifel wird er Sie aufsuchen, oder vielleicht suchen Sie ihn auf. Er gehört zu den Leuten, die man gern findet, auch wenn man ihrethalben einen Umweg machen muß.“

Karl Brandow lachte höhnisch, indem er den Brief in die Tasche steckte und wieder nach dem Zügel griff.

„Ich glaube, der Teufel hat dabei sein Spiel. Seitdem ich weiß, daß der Mensch hierher kommen wird, verfolgt mich der Gedanke, daß er, just er, mich retten kann. Weshalb? vormeintlich, weil nur ein Narr sich dieser Mühe unterziehen würde, und er der größte ist, den ich je gekannt habe. Und während ich ihm heute Morgen an der Nase vorbeifahre, beeilt sich alle Welt, mir auf die Spur zu helfen, die er so sorgfältig vor mir zu verbergen sucht. Es war ja klar, daß der Mensch, der Jochen, heute Morgen und jetzt nicht sagen durfte, wo er war; aber – er gehört zu den Leuten, um deren willen man gern einen Umweg macht. Und welche reizende Ueberraschung es für sie sein wird, wenn ich ihn ihr bringe!“

Und abermals lachte der Reiter, aber es klang noch bitterer als das erste Mal, und er brach noch schneller ab, um die Unterlippe zwischen die Zähne zu klemmen, während er mit der Reitpeitsche auf ein paar allzuweit in den Weg vorspringende Zweige hieb.

„Wie sie blaß wurde, als der Pfaff’ mit der Nachricht herausplatzte! Sie wollte sich natürlich nichts merken lassen, natürlich! Nur schade, daß man doch Alles merkt, wenn man neun oder zehn Jahre lang das Vergnügen des täglichen Beisammenseins genossen hat! Und wie sie dreinschaute, als ich hernach so schnell aufbrach, als wisse sie, um was es sich handle! und wie stumm sie unterwegs war, trotzdem ich meine ganze Liebenswürdigkeit aufbot! Sie glaubt nicht mehr an meine Liebenswürdigkeit, ich auch nicht; aber ich habe sie so oft mit dem Menschen geärgert, da kann ich ihr ja auch einmal eine Freude mit ihm machen. Und wenn der blöde Schäfer, wie wohl möglich, mehr um ihretwillen als meinetwillen Versteckens spielt – nun, desto leichter wird man ihn an der Nase führen können, desto lustiger wird die Geschichte. Aber freilich, bevor ich meinen Musjö zappeln lassen kann, müßte ich ihn haben. Nun, wir werden ja gleich sehen.“

Und Karl Brandow schwang sich aus dem Sattel, befestigte den Zügel des Pferdes an einen Baumast und begann den schmalen Fußsteig durch den Wald nach dem Hünengrabe hinaufzusteigen.



[598]
9.


Gotthold arbeitete oben bereits seit einer halben Stunde mit dem Eifer des Landschafters, der seinen Gegenstand mit Wärme erfaßt hat und die Stunde ausbeuten muß, die so nicht wiederkommt. Prangten Himmel und Erde und Meer morgen, wenn die Sonne sich neigte, wieder in denselben tiefen Lichtern, fielen die Schatten von den Hügeln so kräftig in das Thal, in die Schluchten – er würde nicht wieder auf demselben Platze stehen, das Vergessene nachzuholen, das Angefangene zu vollenden.

So saß er denn auf einem der niedrigeren Steine des Hünengrabes, das Malbrett auf den Knieen, mit glühendem Künstlerauge die Schönheit des Ortes und der Stunde trinkend, mit emsiger Künstlerhand ein Abbild dieser Schönheit schaffend. Und die Farben auf der Palette mischten sich wie von selbst, und jeder Pinselstrich auf der kleinen Leinwand brachte das Abbild dem Urbild näher mit einer Schnelligkeit und Sicherheit, über die der Künstler selbst freudig erstaunt war. So hatte ihm nie eine Arbeit gefördert, so waren sich nie Absicht und Vollbringen liebend begegnet, so hatte ihn nie das Hochgefühl des Könnens beglückt.

„Und sollte denn doch der Traum, daß ich nur hier werden kann, was ich zu werden bestimmt bin, mehr als Traum gewesen sein?“ sprach er bei sich, „und soll sich auch an mir die tiefsinnige Weisheit der Antäusmythe bewähren? Aber freilich, wir sind ja Alle Erdensöhne; es ist nicht Schuld der Mutter, wenn wir uns von ihr loslösen, um nach fernen Sonnen zu streben, in deren unheimlicher Gluth uns dann gar schnell die wächsernen Flügel schmelzen. Ich war da unten ein solcher Ikarus.“

„Ja, ja,“ rief er laut, „Rom, Neapel, Syrakus, ihr Malerparadiese, was ist dies dürftige Stück Erde im Vergleich zu euch! und doch, mir ist es mehr, so viel mehr, es ist meine Heimath!“

„In der Dich ein alter Freund herzlich willkommen heißt,“ sagte eine helle Stimme hinter ihm.

Gotthold wandte sich erschrocken.

„Karl Brandow!“

Er stand da, die schlanke elastische Gestalt an den Block gelehnt, auf welchem heute Morgen die Schlange gelegen; und die runden harten Augen, deren stechender Blick fest auf ihn gerichtet war, erinnerte Gotthold an die starren Schlangenaugen.

„Freilich bin ich’s,“ sagte Karl Brandow, indem er näher trat mit einem Lächeln, das freundlich sein sollte und so kalt war wie die Hand, die er Gotthold jetzt entgegenstreckte und in die Jener zögernd die seine legte.

„Wie hast Du mich hier gefunden?“ fragte Gotthold.

„Ich bin ein alter Jäger,“ erwiderte Brandow und zeigte seine weißen Zähne. „So leicht entgeht mir nichts, noch dazu auf meinem eigenen Revier. Aber ich will nicht prahlen. Die Sache war in der That einfach genug. Einmal wußte ich schon seit ein paar Wochen, daß Du kommen würdest; sodann hörte ich heute Mittag bei Plüggen auf Plüggenhof – Otto Plüggen, der Stroh-Plüggen, weißt Du, zum Unterschied von seinem jüngeren Bruder Gustav, dem Heu-Plüggen, der Gransewitz bekommen – ich sage: von unserem neuen Pastor hörte ich, daß Du gestern Abend in Rammin gewesen und nach Prora gefahren seiest. Natürlich schickte Plüggen auf meine Bitte sofort seinen Wagen, um Dich nach Plüggenhof einzuladen; Du warst nicht mehr da, heute Morgen schon zu Fuß mit Jochen Prebrow nach Dollan aufgebrochen. Nun, es versteht sich wohl von selbst, daß es mich jetzt keine Minute länger in Plüggenhof litt, trotzdem wir uns eben erst zu Tisch gesetzt hatten, um Dich mit vollen Gläsern empfangen zu können. Ich habe meine beiden Blässen halb zu Schanden gefahren und meine arme Frau halb todt geängstigt, um Dir wenigstens unterwegs zu begegnen, im Falle Du grausam genug gewesen wärest, unsere Rückkehr nicht abwarten zu wollen. Wir kommen an; wir fragen nach Dir noch vom Wagen herab: es ist Niemand dagewesen! Meine Frau und ich sehen uns erschrocken an. ‚Da sitzt Einer oben auf dem Hünengrabe!‘ sagt Hinrich Scheel, mein Factotum, der jetzt an den Wagen tritt; ‚da habe ich ihn heute Mittag schon sitzen sehen.‘ – ‚Es ist nicht unmöglich,‘ sagt meine Frau; ‚er wird unterwegs erfahren haben, daß wir nicht zu Hause sind, und fleißig, wie er ist, die Zeit benutzen. Es war immer ein Lieblingsplatz von ihm.‘ – Ich sage gar nichts, sondern laufe mit dem Fernrohr auf die Giebelstube und sehe, was Hinrich trotz seiner Schielaugen ohne Fernrohr gesehen hatte; laufe wieder hinab, springe auf’s Pferd, und – da habe ich, den ich suchte. Es ist wunderschön, was Du da gemalt hast, wirklich ganz famos; aber nun die Geschichte zusammengepackt, wenn ich bitten darf! Morgen ist auch noch ein Tag und für heute ist es wahrlich genug und zu viel. Von Mittag bis jetzt, das hält auch nur ein Künstler aus. Wie wird sich meine Frau freuen!“

Karl Brandow hatte sich bereits Gotthold’s Reisetasche über die Schulter geworfen und griff jetzt nach dem Malkasten, in welchem dieser mittlerweile die Sachen geordnet.

„Einen Augenblick!“ sagte Gotthold.

„Du kannst mir Deine Schätze sicher anvertrauen.“

„Das ist es nicht.“

„Was denn?“

Gotthold zögerte; aber hier war keine Zeit für lange Ueberlegung.

„Dies ist es,“ sagte er. „Ich kann Deine Einladung, so freundlich dieselbe ausgesprochen ist und so ehrlich sie, ich will es glauben, gemeint ist, nicht annehmen.“

„Um Himmelswillen, weshalb nicht?“

„Weil ich damit ein Unrecht begehen würde gegen mich und in gewissem Sinne auch gegen Dich. Gegen mich: ich könnte nicht in Dollan, in Eurem Hause weilen, ohne bei jedem Schritt, in jedem Augenblick eine Beute der schmerzlichsten Erinnerungen zu sein; und wer ersparte sich nicht gern, wenn er es vermeiden kann, eine solche Prüfung! Gegen Dich: – es muß gesagt sein, Brandow! ich habe Dich stets für meinen Feind gehalten und meine Gesinnung gegen Dich ist keine freundliche gewesen bis zum heutigen Tage, bis zu dieser Stunde. Wer würde einen Mann in sein Haus laden, von dem er weiß, daß er ihm nicht freundlich gesinnt ist!“

„Ist es möglich?“ rief Brandow. „Der Strohkopf von Plüggen und der Pfaff’ sollten wirklich Recht gehabt haben, als sie sagten: ‚er kommt nicht!‘ ‚Er kommt,‘ sagte ich, ‚und wäre es auch nur, Euch zu beweisen, daß er der großmüthige Mensch geblieben ist, der er immer war!‘ Nein, Gotthold, so darfst Du mich nicht Lügen strafen, schon um der albernen Gesellen und ihres Gleichen nicht, die dann wieder eine prächtige Gelegenheit hätten, sich über den Karl Brandow lustig zu machen, der immer hoch hinaus will und dann mit einer langen Nase abziehen muß. Nun, es ist ja leider was daran: ich bin nicht mehr, der ich war, bin ein armer Teufel, habe lernen müssen bescheiden zu sein; aber diesmal will ich es nicht sein, diesmal nicht. Und nun, Deine Hand, alter Feind! so! eingeschlagen! ich kannte Dich doch besser, als Du Dich selbst.“

Sie begannen den Hügel hinabzugehen, Brandow, der es sich nicht nehmen ließ, Gotthold’s Sachen zu tragen, noch immer in seiner hastigen, sich manchmal überstürzenden Weise eifrig sprechend, Gotthold still und vergebens bemüht, die Betäubung abzuschütteln, die ihm das Hirn umnebelte und das Herz beklemmte; er hatte wahr, ganz wahr sein wollen; er war es nicht gewesen: er hatte das Letzte nicht gesagt, weil er es nicht sagen konnte, weil er als ein Thor, ein Geck erscheinen mußte, wenn er es sagte, und als ein roher Mensch, wenn er es nicht sagte, sondern einfach: ich will nicht. Aber war das nicht noch immer besser, als sie wiedersehen?

Gotthold stand still; er riß sich Rock und Weste auf; ihm war, als ob er ersticken müßte.

„Es ist verzweifelt schwül hier im Walde,“ sagte Karl Brandow. „Wir hätten es ja viel näher, wenn wir die andere Seite hinab und dann durchs Feld gegangen wären; aber wir müssen meines Fuchses wegen schon den Umweg machen. Da steht der Racker und schlägt sich vor Ungeduld die Hufeisen ab. So, nun wird er en avant!

Brandow hatte die Zügel über den Arm genommen, Gotthold einen Theil seiner Sachen ergriffen; so schritten sie schnell durch den Wald auf einem Querpfade, der sie bald hinaus auf das Feld brachte. In geringer Entfernung, nur noch durch ein paar Wiesen und durch eine mächtige Roggenbreite von ihnen getrennt, lag der Gutshof, zum Theil bereits im Schatten, den die Haidehügel zur Linken weit in das Thal hineinwarfen, während die Wipfel der höheren Bäume des Gartens und die Kuppen der mächtigen Pappeln, die den Hof auf den drei anderen [599] Seiten umrahmten, im Abendschein glühten. Das Fensterchen der Giebelstube schimmerte und blitzte in dem Scheine. Gotthold konnte den Blick kaum abwenden; er meinte, es müsse sich jeden Moment öffnen und sie in dem Rahmen erscheinen und ihm mit der weißen Hand drohen: nicht näher! um Gotteswillen nicht! Und dann war ihm wieder wie damals, wenn er mit Curt auf einen köstlichen Sonnabendnachmittag und wundervollen Sonntag herauskam und sie in der Ungeduld, an’s Ziel zu gelangen, die letzte Strecke im Laufe zurücklegten. Seine Erregung wuchs mit jedem Schritte; er hörte kaum noch, was sein Begleiter sagte.

Aber Karl Brandow sprach in diesem Augenblicke auch nur, um die Sorge, die ihn drückte, vor seinem Gaste zu verbergen. – Hätte er sie nicht doch lieber mit seinem Vorhaben bekannt machen sollen, auf die Gefahr hin, ihren Widerspruch herauszufordern, oder, schlimmer noch, ihr dadurch eine Freude zu bereiten? Hätte er nicht wenigstens die letzte Gelegenheit benutzen und sie durch Hinrich auf den Besuch vorbereiten müssen, anstatt dem Hinrich noch ausdrücklich Schweigen anzubefehlen? Oder würde der kluge Mensch wieder einmal, wie schon so oft, nach seinem Kopfe gehandelt und eine verfahrene Sache in das rechte Geleis gebracht haben? Und doch, was konnte geschehen, wenn er plötzlich mit ihm vor sie hintrat? Würde sie ihn, angesichts ihres Gastes, Lügen strafen? sagen, sie habe von nichts gewußt und ihr Mann habe die Unwahrheit gesprochen? Es war ja auch das bei ihr möglich; aber wehe ihr, wenn sie es that!

„Da wären wir!“ sagte Karl Brandow, als sie jetzt unter den alten Linden vor der Hausthür anlangten. „Willkommen auf Dollan! nochmals willkommen!“

Er hatte es sehr laut gesagt, halb in die offene Hausthür hinein, und rief jetzt mit der ganzen Kraft seiner helltönenden Stimme über den stillen Hof: „Hinrich, Fritz! – wo steckt denn das Volk?“

Aber im Hause regte sich nichts, und im Hofe zeigte sich Niemand.

„Das ist nun so am Sonntag nicht anders,“ sagte Brandow. „Da läuft Alles wild, und zumal, wenn der Herr vom Hause ist. Rike! Hinrich! Fritz!“

Ein halbwüchsiger Bursche in schmutziger rother Weste und in Stulpenstiefeln kam jetzt über den Hof gelaufen und in demselben Augenblicke trat auch eine junge Magd aus dem Hause. Brandow empfing Beide mit scheltenden Worten. Die Magd sagte schnippisch: sie sei bei der Frau gewesen, die das Kind gar nicht beruhigen könne, das immer noch über den Arm weine; und der Bursche brummte, indem er das Pferd am Zügel ergriff: er habe dem Hinrich bei dem Brownlock helfen müssen, der wohl die Kolik bekommen werde.

„Da schlage das Wetter d’rein!“ rief Brandow; „der verdammte Hinrich, das habe ich nun davon! Ich muß Dich einen Augenblick allein lassen, oder willst Du mitkommen?“

Brandow wartete Gotthold’s Antwort nicht ab, sondern eilte mit langen Schritten über den Hof. Er mußte wissen, was das mit dem Brownlock war. Und dann: Cäcilie hatte in der Kinderstube zu thun; sie würde sicher nicht sogleich erscheinen.

„Was ist es mit dem Kinde?“ fragte Gotthold.

„Sie ist gefallen, just als die Frau nach Hause kam, und hat sich ja wohl den Arm gebrochen,“ sagte das Mädchen, das den Fremden mit einem neugierigen Blick ihrer lüsternen grauen Augen gestreift hatte und jetzt wieder geschäftig in’s Haus eilte.




10.


Gotthold folgte ihr auf den Hausflur und in die Wohnstube linker Hand und wäre ihr gern in das Nebenzimmer gefolgt, aus welchem, als das Mädchen die Thür öffnete und wieder schloß, das Wimmern eines Kindes und die Stimme einer Frau ertönte, die dem Kinde zusprach. Es war ihre Stimme – etwas tiefer und sanfter, däuchte ihm, als damals; aber er hatte nur ein paar Laute vernommen vor dem Weinen des Kindes.

„Armes Kind,“ murmelte er, „armes Kind, wenn ich ihr helfen dürfte!“

Seine Hand streckte sich nach dem Griff der Thür, aber sank alsbald wieder herab. Wenn das Mädchen gesagt hatte, daß er da war, würde sie ja wohl für einen Moment heraustreten; auf jeden Fall mußte ja Karl bald zurückkommen.

Er stellte sich an das offene Fenster und sah über den leeren Hof nach dem Gebäude hinüber, in welches Brandow gegangen war. Wie konnte er nur so lange bleiben! Er wandte sich wieder in das Zimmer, in welchem es bereits zu dunkeln begann, und seine Blicke schweiften mechanisch über die Bilder und Möbel, von denen er manche noch zu kennen glaubte, während sein Ohr gespannt nach dem Nebenzimmer lauschte. Aber dort war es jetzt still geworden, ganz still, und in der Stille tickte die alte Schwarzwälderuhr so laut – er hatte sie vorhin nicht gehört –, der Abendwind flüsterte in den Linden vor dem Fenster, und dann hörte er wieder nichts, als das Sieden seines Blutes in den Schläfen.

War ein Unglück geschehen? war das Kind – er mußte Gewißheit haben.

Aber als er den Fuß hob, öffnete sich die Thür und Cäcilie trat herein. Das Mädchen hatte ihr nichts gesagt von dem Fremden; sie kam, ein Stück Leinwand aus dem Nähkorbe zu holen, der in dem einen der beiden Fenster stand. Der Schatten des breiten Spiegelpfeilers fiel dicht über Gotthold; sie sah ihn nicht, sie war, den Blick auf das hellere Fenster gerichtet, bis unmittelbar in seine Nähe gekommen, als sie plötzlich stehen blieb, erschrocken beide Hände zu der dunkeln Gestalt hebend. Das Abendlicht fiel in ihr blasses Gesicht, aus dem die großen dunkeln Augen seltsam gläsern stierten.

„Ich bin es, Cäcilie!“

„Gotthold!“

Er wußte nicht, daß er die Arme ausgebreitet; er hätte im nächsten Momente nicht mehr sagen können, ob sie wirklich an seiner Brust gelegen. Als er wieder zu sich kam, stand er an ihrer Seite neben dem Bettchen des Kindes.

„Das Mädchen hat mit Gretchen gespielt, kurz bevor wir zurückkamen – sie ist gefallen, den Arm unter sich; ich meinte, sie habe sich nur eben wehe gethan; aber es ist schlimmer und schlimmer geworden, sie kann den Arm nicht mehr bewegen und weint bei der leisesten Berührung; ich glaube, sie hat ihn gebrochen, hier über dem Gelenk.“

Gotthold hatte sich über das Kind gebeugt, das ihn groß, aber nicht ängstlich ansah. Er glaubte in Cäciliens Augen zu blicken.

„Bist Du ein neuer Doctor?“ sagte das Kind.

„Nein, Gretchen, ein Doctor bin ich nicht, aber wenn Du Mama recht lieb hast, so laß mich einmal an Deinen Arm fassen.“

„Er thut so weh,“ sagte Gretchen.

„Es soll gar nicht lange dauern.“

Gotthold nahm den kleinen Arm und bewegte ihn im Schultergelenk und im Ellenbogen – das Kind ließ es ruhig geschehen; dann glitt er vorsichtig an dem untern Arme herab bis zum Knöchel und bog ein wenig das Handgelenk. Das Kind wimmerte leise, Gotthold legte das Aermchen auf die Decke und richtete sich empor.

„Ich glaube mit voller Bestimmtheit versichern zu können, daß der Arm nicht gebrochen ist, es ist weiter nichts als eine starke Zerrung der Sehnen. Ich möchte einen einfachen Verband anlegen, der Gretchen von ihren Schmerzen befreien wird, da er sie verhindert, das Gelenk zu bewegen. Das wird ausreichen, bis der Doctor kommt. Darf ich?“

Er hatte leise gesprochen; aber das Kind hatte es doch gehört.

„Erlaube es ihm doch, Mama,“ sagte es; „ich habe den neuen Doctor viel lieber als den alten.“

Ueber Cäciliens bleiche Wangen rannen ein paar große Thränen, auch Gotthold’s Augen wurden heiß. Er fragte, ob wohl eine Binde, die er beschrieb, vorhanden sei; es war eine da, ganz wie er sie brauchte. Während er sie zusammenrollte, sagte er:

„Es ist doch gut, daß ich während meiner Studienjahre im Interesse meiner Kunst und aus wirklicher Liebe zur Sache fleißig anatomische und andere medicinische Collegia besuchte. Ich habe schon ein paar Mal mit meinem bischen Wissen helfen können, wo keine andere Hülfe zur Hand war und der Fall ein wenig schlimmer lag, als diesmal. Ich wiederhole: es ist auch nicht die Spur einer wirklichen Gefahr vorhanden und ich würde, wenn es sein müßte, ohne mich zu besinnen, die Verantwortung übernehmen.“

[600] „Ich vertraue Ihnen vollkommen.“

Gotthold’s Lippen zuckten. Sie hatten sich vom ersten Augenblick bis zum letzten „Du“ genannt; er hatte sie nicht anders genannt im Wachen und im Traume während dieser zehn Jahre!

Der Verband war angelegt, zu Gotthold’s Zufriedenheit. Gretchen, vom Weinen müde und jetzt ganz ohne Schmerzen, hatte das Köpfchen auf die Seite geneigt und schien einschlafen zu wollen. Gotthold ging aus dem Gemach zurück in das Wohnzimmer. Und während er hier in dem dämmerigen Raume nach dem Hute tappte, bemächtigte sich seiner die wunderlichste Empfindung.

Er hatte nicht eigentlich vergessen, daß er Brandow aufsuchen und ihm von dem Zustande des Kindes Nachricht bringen wollte; aber es war ihm, als ob er damit etwas ganz Unnöthiges, ja Unschickliches vorhabe; als gehe das Kind Karl Brandow so wenig an, wie ihn selbst Karl Brandow’s Pferd; als habe über das Kind nur er und Cäcilie zu entscheiden, und als sei dies Alles nicht seit einer Viertelstunde, sondern immer so gewesen und könne auch niemals anders sein.

Er war, in dieser seltsamen Verwirrung befangen, regungslos stehen geblieben und kam erst wieder zu sich, als Cäcilie jetzt schnell und leise hereintrat und, ihm beide Hände entgegenstreckend, schnell und leise sagte:

„Ich danke Dir, Gotthold! und – ich habe es wohl bemerkt, daß es Dich gekränkt hat; das Mädchen sah uns so verwundert an, sie erzählt Alles wieder, und es muß ja auch sein, aber einmal – zum letzten Mal wollte ich noch in der alten Weise zu Dir sprechen, da Du nun einmal hier bist.“

„Das klingt, Cäcilie, als hättest Du nicht gewünscht, daß ich käme?“

Sie hatte ihm nun doch die Hände, die er bis jetzt festgehalten, entzogen und sich am Fenster in den Stuhl geworfen, den Kopf in die Hand gestützt. Er trat zu ihr.

„Cäcilie, Du hast nicht gewünscht, daß ich käme?“

„Doch, doch!“ murmelte sie, „ich habe sehr, sehr gewünscht, Dich wiederzusehen – seit Jahren – immer; aber Du hättest nicht kommen sollen, nein, nicht kommen sollen!“

„So gehe ich wieder, Cäcilie!“

„Nein, nein!“ rief sie, schnell den Kopf emporrichtend, „so meine ich es nicht. Du bist ja da – es ist ja geschehen. Und nun kannst Du bleiben – nun mußt Du bleiben, bis –“

Sie schwieg plötzlich; Gotthold, der ihrem Blick durch das offne Fenster folgte, sah im Hintergrund des Hofes Karl Brandow, der mit Hinrich Scheel sprach und jetzt eilig auf das Haus zukam.

„Er ist schon zurück,“ murmelte sie, „was willst Du ihm sagen?“

„Ich verstehe Dich nicht, Cäcilie!“

„Er haßt Dich!“

„Dann weiß ich nicht, weshalb er mich aufgesucht und mich so dringend in sein Haus geladen hat, das ich wahrlich nie zu betreten die Absicht hatte.“

„Er Dich aufgesucht – Dich eingeladen – das ist unmöglich!“

„Dann hätte er mich – dann hätte er uns – aber das ist nicht minder unmöglich.“

Sie sah ihn mit starren Augen an.

„Unmöglich!“ sagte sie, „unmöglich!“

Ein wirres, unheimliches Lächeln flog über ihr bleiches Gesicht.

„Dann kann es ja bleiben, wie es war,“ sagte sie, „dann ist es ja nur in der Ordnung.“

„Holla!“ rief Brandow, der die Beiden am Fenster gesehen hatte, und er beschleunigte noch seine raschen Schritte, indem er eifrig mit der Hand winkte.

Er trat alsbald ins Zimmer, noch in der Thür rufend: „Nun, da hast Du sie ja schon gefunden. Das heißt eine Ueberraschung, wie? was bekomme ich dafür? Ja, schlau muß man sein! kein Wort zu der Frau gesagt, die denn doch nur alle möglichen gutgemeinten Einwendungen macht, von alter Feindschaft und anderen längst vergessenen Kindereien; und dem Freunde gesagt: sie steht auf Kohlen, bis ich Dich bringe. So fängt man seine Vögel!“

Und er lachte laut.

„Du wirst Gretchen aufwecken,“ sagte Cäcilie.

„Ja, was ist es denn mit ihr?“ fragte Brandow, seine Stimme senkend. „Hoffentlich nichts, wie mit dem Brownlock, blinder Lärm, oder – wo willst Du hin, Cäcilie?“

Sie war aufgestanden und in die Schlafstube gegangen, deren Thür sie hinter sich zuzog. Gotthold theilte Karl mit, wie er das Kind gefunden und was er für den Augenblick gethan habe.

„Aber da wollen wir doch gleich nach dem Doctor schicken,“ sagte Brandow.

„Ich halte es nicht für unbedingt nöthig,“ erwiderte Gotthold, „aber wenn Du im mindesten ängstlich bist –“

„Ich ängstlich? Gott soll mich bewahren! es wäre das erste Mal in meinem Leben. Ich überlasse das ganz meiner Frau, die, wenn es sich um das Kind handelt – ach, da bist Du ja! Gotthold sagt, wir brauchen nicht zu Lauterbach zu schicken, und es würde auch schwerlich etwas helfen, er ist des Sonntags nie zu finden. Ueberdies muß ich morgen früh hineinfahren, da kann ich ihn denn gleich mitbringen. Meint Ihr nicht?“

„Willst Du Dir Gretchen noch einmal ansehen?“ sagte Cäcilie.

Sie hatte es, ohne ihren Gatten anzublicken, zu Gotthold gesagt, der ihr folgte und die Thür hinter sich aufließ, in der Erwartung, daß Brandow mit ihnen gehen würde; aber Brandow war auf halbem Wege stehen geblieben. Die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt, blickte er durch die offne Thür auf die Beiden, die sich jetzt zu gleicher Zeit von beiden Seiten über das freistehende Bettchen des Kindes beugten, so daß ihre Gesichter in dem Halbdunkel sich zu berühren schienen. Flüsterten sie nicht etwas? ‚er hat uns belogen,‘ oder dergleichen? Nein, es war die Rike, die etwas gesagt hatte. „Die Dirne soll mir gut aufpassen. Vorläufig ist Alles besser abgelaufen, als ich denken konnte.“

Und er ging langsam in das Schlafgemach; auf der Schwelle, die er lange nicht überschritten, unwillkürlich einen Moment zögernd und dann zusammenzuckend vor einem bläulichen Licht, das plötzlich den fast dunklen Raum erfüllte. Aber es war nichts – nur der erste Blitz eines Gewitters, das der heiße Tag heraufbeschworen. Ein ferner Donner grollte hinterdrein, die Bäume im Garten schüttelten sich und einzelne schwere Tropfen tickten an die Fensterscheiben.

Das schwere Gewitter hatte längst ausgerast und die Nacht war schon weit vorgerückt, als Gotthold, leise auftretend und das Licht sorgsam mit der Hand schützend, über den weiten bodenartigen und mit allerlei Sachen angefüllten oberen Raum des einstöckigen Hauses nach der Giebelstube schritt, die ihm zum Schlafraum bestimmt war. Brandow, mit dem er unten in dem Zimmer rechts vom Flure, das von jeher das des Hausherrn gewesen, so lange bei der Flasche gesessen, hatte ihn begleiten wollen; aber er hatte es abgelehnt: er werde den Weg noch von altersher zu finden wissen, und vier Männerstiefel machten mehr Geräusch als zwei, und oben, erinnere er sich, hallten die Tritte in der Nacht unheimlich laut. „Na, dann geh’ allein, Du für alle Welt Besorgter,“ hatte Brandow lachend gesagt, „und hörst Du, verschlafe mir den Gedanken, morgen wieder abzureisen; daraus wird ein für alle Mal nichts. Dem Jochen Prebrow sage ich Bescheid, wenn ich morgen früh an der Schmiede vorüberkomme; der Kerl kann sich auch zu meinem Fritz auf den Bock setzen, und Deine Sachen bringe ich Dir aus dem Fürstenhof mit. Unter acht Tagen lasse ich Dich nicht wieder fort, und wenn es nach mir ginge, bliebest Du immer hier. Aber Du wirst Dich wohl hüten; für einen Weltmann, wie Du, wäre ein solches Leben unerträglich. Nun, ich habe Dir heute schon mehr, als schicklich ist, vorgeklagt; aber einem Manne Deines Schlages gegenüber wird man zu schmerzlich daran erinnert, was vielleicht selbst aus unser Einem hätte werden können und was nun schließlich geworden ist. Gute Nacht, alter Kerl, laß Dir was Angenehmes träumen!“

Und da stand nun Gotthold in der alten trauten Giebelstube am offenen Fenster. Aber wie gierig er auch die Nachtluft einsog, die feucht und kühl durch die noch vom Gewitterregen tropfenden Bäume strich, es wollte ihm nicht leichter um’s Herz werden, das dumpf und schwer in der keuchenden Brust schlug, [602] wie einem Schlafenden, dem ein beängstigender Traum das Hirn umnebelt. War denn dies Alles nicht wie ein toller Traum, daß er in Dollan auf der Giebelstube stand und in den matten Lichtschimmer starrte, der aus dem Fenster gerade unter ihm auf die dunklen Büsche fiel? aus dem Fenster der Stube, in der sie einst als Mädchen geschlafen und in der sie jetzt an dem Bettchen ihres Kindes wachte, ihres und seines –

Gotthold sank an dem Fenster auf einen Sessel und preßte die heiße Stirn in die Hände.

Ein Windstoß, der durch die raschelnden Bäume sauste, weckte ihn aus seinem schmerzlichen Brüten. Er richtete sich schauernd in die Höhe. Seine Glieder flogen wie im Fieber. Er schloß das Fenster und warf sich im Dunkeln – das Licht, das er mitgebracht, war längst erloschen – auf das Bett. Es war dasselbe noch, in welchem er als Knabe und Jüngling so oft geschlafen, und es stand noch auf demselben Platz. Er hatte es, als er vorhin in das Zimmer trat, wohl bemerkt. Jetzt dachte er wieder daran und daß, wie er zum letzten Mal hier gelegen – vor zehn Jahren in der Morgenfrühe der Nacht, deren erste Hälfte er im Strandhause bei Vetter Boslaf zugebracht, und ein paar Stunden später, wenn sie unten wach waren, wollte er hinabgehen und Lebewohl sagen – für immer – ja, da hatte er auch seine brennende Stirn hierhin und dorthin gewandt auf dem Kissen und hatte keine Ruhe finden können.

„Nach so langem Umherschweifen in der weiten Welt zurückgewirbelt zu derselben Stelle, in dieselbe enge Kammer, derselbe, der ich damals war! Nein, nicht derselbe! ärmer, so viel ärmer!

Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War die Welt mir voll so sehr,
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War Alles leer!

Leer, Alles leer!“ murmelte er, als ob er mit den brennenden überwachten Augen die trostlosen Worte abläse von der weißen Wand ihm gegenüber, auf deren leerer Fläche mit dem Dunkel der Nacht das erste Grauen des Morgens unheimlich spielte.

[613]
11.


Eine kurze Reihe stiller Tage war über das stille Dollan hingezogen und jeder Tag hatte der letzte sein sollen, den Gotthold auf dem Gute zubrachte, und es war immer eine Veranlassung gewesen, weshalb dem letzten noch ein allerletzter zugefügt wurde. Einmal war es die angefangene Skizze, welche entschieden noch weiter ausgeführt werden mußte; dann weinte Gretchen so sehr, weil Onkel Gotthold morgen, wo ihr Geburtstag war, reisen wollte; am Donnerstag war der Roggen geschnitten, die Leute hatten am Abend ein kleines Fest und sie hatten sich allerhand unschuldige Possen ausgedacht und durch den alten Statthalter Möller Gotthold bitten lassen, daß er ihnen ein wenig dabei helfe; am Freitag kam ein vom Curatorium gesandter junger Architekt, der den Plan zu dem neuen Wohnhause vorlegen wollte, und Brandow wünschte dringend Gotthold’s Meinung zu hören; morgen war gar nicht an die Abreise zu denken, denn Brandow würde den ganzen Tag in Geschäften abwesend sein, und übermorgen hatte Assessor Sellien mit seiner Frau einzutreffen versprochen, und Otto und Gustav v. Plüggen wollten kommen und Herr Redebas aus Dahlitz und noch ein und der andere Nachbar; es würde eine kleine Gesellschaft geben. Brandow hatte aller Welt geschrieben und gesagt, daß Gotthold da sein werde, alle Welt freue sich darauf und mit einem Worte – vor Montag konnte von Fortkommen keine Rede sein, und am Montag wollten sie weiter darüber sprechen.

Es war am Nachmittag des Sonnabends; Brandow war schon am Morgen ausgeritten und hatte Gotthold gesagt, daß er vor Abend nicht heimkehren werde. Es mußte wohl etwas sehr Dringendes sein, was an einem solchen Tage den Herrn von seiner Wirthschaft rief. Brandow war mit dem Einfahren seines Roggens unverhältnißmäßig weit zurück. Dazu kam, daß er nicht einmal einen Inspector hielt und wiederholt gegen Gotthold über den alten stumpfen Statthalter Möller geklagt hatte, auf den er sich gar nicht verlassen könne, die Menge Leute also, die heute auf dem Felde und in den Scheunen beschäftigt war, sich selbst überlassen blieb. Gotthold hatte sich angeboten, wenn Brandow doch einmal fort müsse, die Aufsicht zu übernehmen; aber Brandow, obwohl er wußte, daß Gotthold wirklich ausreichend von der Sache verstand, die Leute ihn auch sehr gern mochten und ihm gewiß willig gefolgt wären, hatte es auf das Bestimmteste abgelehnt.

„Es ist schon schlimm genug, daß ich die Unhöflichkeit begehen muß, Dich einen ganzen Tag allein zu lassen; aber mehr darfst Du mir auch nicht zumuthen. So lange eine Menschenmöglichkeit ist, weißt Du, pflege ich meine Freunde nicht zu incommodiren.“

Damit war er fortgeritten und Gotthold hatte seine Malgeräthschaften genommen, um einen Vorwand zu haben, ebenfalls das Haus verlassen und in den Wäldern und am Strande umherschweifen zu können – zwecklos, ruhelos, bis er sich darauf besann, von dem alten Fischer Karl Peters aus Ralow gehört zu haben, daß Vetter Boslaf heute Abend von seiner Fahrt nach Sundin zurückkommen werde. Karl Peters mußte es wissen; denn ihm hatte der Alte die Schlüssel zum Strandhause anvertraut, damit er am Abend die Lampe anzünde und des Nachts Wache hielt; auch war es Karl Peters’ Sohn, der Vetter Boslaf auf der Fahrt begleitete. So war Gotthold denn bis zum Strandhause gegangen und hatte sich auf die Uferhöhe in den Schatten der Buchen gesetzt, um zu warten; aber das Meer rauschte so melancholisch einförmig an den Strand, die sonnigen Stunden waren so bleiern langsam hingeschlichen, und wenn er ihr sagen wollte, daß er, anstatt Montag, schon morgen Dollan zu verlassen beschlossen habe, so war jetzt die rechte Zeit.

„Die Frau ist mit Gretchen im Garten,“ sagte die hübsche Rieke; „Sie kennen ja wohl ihren Platz.“

Gotthold blickte das Mädchen ruhig an, das schnell das Gesicht abwandte. Die letzte Bemerkung war mindestens überflüssig, denn der Garten war nicht so groß, daß man Jemand, den man suchte, nicht gar leicht gefunden hätte; aber Rieke hatte es auch noch in einem Tone gesagt, der Gotthold’s Ohr widerwärtig berührte. Es war ihm wiederholt aufgefallen, daß die grauen lüsternen Augen der Dirne mit einem spähenden Ausdruck von ihm zu Cäcilie, von Cäcilie zu ihm schweiften, und daß sie ein paar Mal sehr schnell in das Zimmer gekommen oder sonst herangetreten war, jedesmal mit der Frage, ob man sie nicht gerufen habe. Er hatte sich dabei Cäciliens Aeußerung am ersten Abend erinnert: „sie erzählt Alles wieder,“ und bei sich hinzugefügt: „nur daß sie eben nichts zu erzählen hat.“

Nun, ihr Vergnügen ist morgen zu Ende, dachte er jetzt, während er langsam den Heckengang hinaufschritt nach einem kleinen, ebenfalls von Hecken umgebenen und mit Blumenbeeten ausgelegten Platz, wo Cäcilie um diese Stunde mit dem Kinde sich aufzuhalten pflegte.

[614] Gretchen kam ihm, sobald sie seiner ansichtig wurde, entgegengelaufen.

„Wo bist Du gewesen, Onkel Gotthold? Was hast Du mir mitgebracht?“

Er pflegte dem Kinde stets von seinen Streifereien eine seltenere Blume, wunderlich geformte Strandsteine oder irgend eine andere Merkwürdigkeit mitzubringen; heute hatte er zum ersten Mal nicht daran gedacht. Gretchen empfand es sehr übel. „Ich habe Dich auch gar nicht mehr lieb,“ sagte sie, indem sie wieder zu ihrer Mutter lief; „und Mama soll Dich gar, gar nicht mehr lieb haben!“ rief sie, ihr Köpfchen aus dem Schooße der Mutter aufrichtend.

Gotthold hatte, nachdem er Cäcilie begrüßt, sich in einer geringen Entfernung von ihr auf eine zweite Bank gesetzt, wie er es stets that, wenn sie ihn nicht neben ihr Platz zu nehmen einlud. Sie hatte es heute nicht gethan und, als sie ihm stumm die Hand gab, kaum von ihrer Arbeit aufgeschaut. Es hatte ihn gerade jetzt schmerzlich berührt; aber während er sie still beobachtete, glaubte er zu bemerken, daß ihre Augenlider geröthet waren. Hatte sie vor ihm die Spuren frischgeweinter Thränen verbergen wollen? verbergen wollen, daß sie noch weinen konnte? daß der starre leere Blick, mit dem sie jetzt an ihm vorüber nach dem Kinde zu sehen schien, welches in der Tiefe des Platzes spielte, nicht der einzige Ausdruck sei, dessen die einst von sanftem Feuer so schön belebten Augen noch fähig seien?

„Ich ertrage es nicht länger,“ sprach der junge Mann bei sich.

Er war aufgestanden und zu Cäcilie hinübergegangen, die, als er herantrat, ihr Kleid zusammenstrich, trotzdem auch sonst noch Platz genug auf der großen Bank war.

„Cäcilie,“ sagte er, „ich habe halb und halb versprochen, noch bis Montag zu bleiben; aber ich habe daran gedacht, daß Selliens, wenn sie morgen kommen, die Nacht hier zubringen werden und vielleicht noch einer und der andere Eurer Gäste, und Du bist im Raum so wie so ein wenig beschränkt –“

„Du willst fort!“ unterbrach ihn Cäcilie; „weshalb es nicht gerade heraussagen?“

Sie hatte, als Gotthold zu sprechen begann, mit einem schnellen, schmerzlichen Blick, der ihm durch’s Herz schnitt, von ihrer Arbeit aufgeschaut; aber als sie antwortete, klang ihre Stimme ganz ruhig, nur ein wenig dumpf; sie lächelte sogar, während sie ihre Handarbeit wieder aufnahm.

„Wann willst Du fort?“ fügte sie nach einer Pause hinzu, da Gotthold, unfähig zu antworten, noch immer schwieg.

„Ich dachte morgen früh,“ erwiderte Gotthold, und es war ihm, als ob nicht er, sondern ein Anderer die Worte spräche; „Karl hat mir gesagt, daß er morgen früh einen Wagen hineinschickt.“

„Morgen früh!“

Sie hatte die Arbeit wieder in den Schooß sinken lassen und preßte für einen Moment Stirn und Augen in die linke Hand, während die Finger der rechten, die mit der Arbeit in ihrem Schooße lag, ein paar Mal leicht zuckten; dann fiel die Linke schwer herab und Cäcilie starrte mit gespannten Brauen vor sich nieder, während sie in demselben dumpfen Tone sagte: „Welchen Grund hätte ich, Dich zu halten?“

„Vielleicht den, daß Du mich gern hier sähest,“ erwiderte Gotthold.

Er meinte, sie habe es nicht gehört; aber sie hatte es wohl gehört; es dauerte nur so lange, bis sie sicher war, daß sie, ohne in Thränen auszubrechen, weiter sprechen könne. Sie wollte nicht weinen; sie durfte nicht weinen, und nun hatte sie sich wieder.

„Du weißt es,“ sagte sie; „aber das ist kein Grund, Dich halten zu wollen. Ich fühle zu wohl, wie unbehaglich das Leben hier ist; wie monoton, wie langweilig für Alle, die es nicht gewöhnt sind, und so leicht, in ein paar Tagen, gewöhnt man sich nicht daran, dazu gehören Jahre, lange Jahre. So lade ich Niemand ein – ich kann mir nicht denken, daß Jemand gern kommt; und so halte ich Niemand – ich kann mir sehr wohl denken, daß er gern geht. Weshalb sollte ich Dich anders behandeln als die Andern?“

„Gewiß nicht, wenn ich Dir nicht mehr bin als die Andern.“

„Mehr? Was heißt das? Du meinst, weil wir uns so früh gekannt haben, weil wir Freunde gewesen sind, als wir Beide noch jung waren? was will das sagen? was ist Jugendfreundschaft? Und blieben wir denn dieselben? Du vielleicht, in der Hauptsache wenigstens; ich gewiß nicht, ich gleiche der Cäcilie von damals so wenig wie – wie die Wirklichkeit unseren Illusionen; und wenn auch – ich bin verheirathet; eine Frau braucht keinen Freund, hat keinen Freund, wenn sie ihren Mann liebt, und liebt sie ihn nicht –“

„Nehmen wir den letzteren Fall,“ sagte Gotthold, als Cäcilie plötzlich schwieg.

„Der Fall ist nicht so einfach, wie er scheint,“ erwiderte Cäcilie, die Stiche an ihrer Arbeit revidirend; „ja, es sind sehr viele Fälle denkbar. Es ist ja zum Beispiel sehr wohl möglich, daß er sie trotzdem liebt – gegen treue Liebe wird auch eine weniger edle Frau selten unempfindlich und undankbar sein –; aber angenommen, er liebt sie nicht, liebt sie nicht mehr, hat sie wohl nie geliebt – nun, so kommt es noch immer darauf an, wie die Frau geartet ist. Vielleicht ist sie nicht stolz und schämt sich nicht, ihr Unglück einem Freunde zu beichten, der dann ihr Liebhaber werden dürfte; oder sie ist stolz, so wird sie – ich weiß nicht was thun, aber ganz gewiß sich lieber im tiefsten Schooße der Erde verbergen, als hingehen und sagen, es sei zu wem es sei: ich bin unglücklich!“

„Und wenn es dessen gar nicht bedarf, wenn ihr Unglück auf ihrer Stirn geschrieben steht, wenn es aus ihren Augen blickt, aus dem Tone jedes ihrer Worte klingt?“

Ueber Cäciliens feines Gesicht flog es wie der Schatten einer Wolke; aber sie glättete mit besonderer Sorgfalt die Naht an ihrer Arbeit, als sie mit leidenschaftsloser, fast gleichgültiger Stimme erwiderte:

„Wer kann das sagen? Wer ist so klug, daß er von eines Menschen Stirn die Gedanken lesen könnte und sich niemals täuschte und niemals das Gesicht des Andern nur zum Spiegel der eigenen lieben Eitelkeit machte? Aber das ist ein recht häßliches Gespräch, in welches wir da gerathen sind. Laß mich lieber wissen, wohin Du von hier gehst und wo Du in Zukunft zu bleiben gedenkst. Du willst nicht wieder nach Italien zurück? Mir däucht, Du sagtest das neulich einmal.“

„Ich danke Dir für Deine Theilnahme,“ erwiderte Gotthold mit bebenden Lippen; „aber ich habe noch nichts entschieden. Als ich Rom verließ, war es allerdings mit dem Wunsche, wenigstens eine Zeitlang hier im Norden zu bleiben und zu versuchen, ob mir die Heimath wieder Heimath werden kann; der Versuch wird wohl nicht gelingen, ist, glaube ich, schon mißlungen.“

„Das hieße, däucht mir, etwas schnell über eine solche Frage entscheiden,“ sagte Cäcilie; „aber die Frage ist auch wohl nur für uns Andere wichtig, Ihr glücklichen Künstler habt schließlich Eure Heimath in Eurer Kunst, und die nehmt Ihr überall mit Euch, wohin Ihr Euch auch wendet.“

„Und doch meine ich, daß wir unsere Kunst nur in der Heimath haben können,“ erwiderte Gotthold.

„Das heißt?“

„Das heißt, daß der Künstler nur in seiner Heimath das Höchste erreichen kann, zu dem er durch seine Anlagen befähigt ist. Ich schließe das aus der Geschichte aller Künste, die nur immer da und dann gediehen sind, wo und wann die Künstler das Glück hatten, an Stoffen, die ihnen das Land, dessen Bürger sie waren, und die Zeit, in der sie lebten – denn auch die Zeit ist in diesem Sinne die Heimath des Künstlers – ich sage: wenn sie das Glück und freilich auch die Kraft hatten, auf heimischem Boden an heimischen Stoffen ihr Talent frei entfalten zu können und zu entfalten. Ich schließe es aus meiner eigenen Beobachtung, die mich gelehrt hat, daß Diejenigen, welche damit begonnen, in ihrer Heimath – örtlich und zeitlich – keine Stoffe finden zu können, eben keine echten Künstler waren, sondern entweder Dilettanten und Anempfinder, oder geradezu Charlatans, die mit ihren künstlichen, des echten Lebens und damit des echten Werthes baaren Productionen nur den großen Haufen – das Bettelsuppenpublicum – täuschten, zu dem freilich sie im tiefsten Grunde ihres Wesens selbst gehörten.“

Gotthold hatte, als er über ein Thema zu sprechen begann, das ihm in diesem Augenblicke sehr fern lag, nur den Aufruhr in seiner Seele beschwichtigen, zum Wenigsten vor der blassen ernsten Frau an seiner Seite verbergen wollen, und dann hatte [615] er doch, von dem Gegenstande hingerissen, mit einer gewissen Lebhaftigkeit und zuletzt mit einer Freiheit des Gemüthes gesprochen, deren er sich eine Minute vorher nicht für fähig gehalten haben würde. Und so, zerstreut im Anfange, allmählich eifriger, hatte Cäcilie zugehört; ja, es leuchtete ein Strahl des alten Feuers in ihren dunklen Augen, als sie jetzt fragte:

„Und dies nun auf Dich angewendet?“

„Auf mich angewendet, heißt es, daß es ein Unglück für mich war, durch den unseligen Zwist mit meinem Vater und durch – durch eine und die andere trübe Erinnerung, auf die hier einzugehen es der Mühe nicht verlohnt – ich sage: es war ein Unglück, daß ich aus meiner Heimath gewissermaßen verbannt wurde in dem Augenblick, wo ich ihrer am wenigsten entbehren konnte: der Blumen, die ich als Kind auf den Wiesen gesucht; der Bäume, unter denen der Knabe gespielt, durch deren Kronen er die Sonnenstrahlen hat schlüpfen sehen und den Regen hat rauschen hören; des Himmels, der jetzt so wonnig lachen kann, und ein ander Mal so unsäglich trüb, so grenzenlos melancholisch ist; des Meeres, über dessen glatte, im Abendschein leuchtende Bahn, auf dessen gewitterschwarzen Wogen des Jünglings Phantasie so oft hinausgeschwebt, hinausgesegelt war in die Gefilde der Seligen und in das düstre Nebelreich seiner Träume von Schlacht und Kampf und frühem Heldentod; das Alles – ich meine die Dinge und die Träume – hätte ich malen können, zur Lust und Freude Anderer, denen ich durch meine Bilder die sehnende Erinnerung ihrer eigenen Kindheit, Knaben- und Jünglingszeit in der Seele erweckt hätte; was ich jetzt gemalt – ich habe es nicht aus meiner Seele heraus, nicht mit ganzer Seele gemalt, malen können – wie kann es da etwas Anderes sein als im besten Falle eine klingende Schelle!“

„Warum zieht Ihr Künstler denn so eifrig in ferne Länder?“ fragte Cäcilie.

Sie schien wieder ganz das lernbegierige Mädchen, dessen dunkle glänzende Augen immerdar das rastlose Feuer ihres Geistes wiederstrahlten, von dessen Lippen jetzt silbernes Lachen klang und jetzt ein geistreich ernstes Wort.

„Ich glaube, daß dieser Eifer oft genug ein blinder, unverständiger ist,“ erwiderte Gotthold, „und jedenfalls würde ich dem jungen Künstler immer rathen, seinen Römerzug nicht früher zu machen, als bis er fest in seinen Schuhen steht, sonst ist es dort unten ein Spiel der Wolken und der Winde. Goethe hatte längst seine Blätter von deutscher Art und Kunst geschrieben und war längst ein Meister deutscher Art und Kunst, als er nach Italien ging; so mochte er denn unter den Pinien des Gartens der Villa Borghese ruhig weiter an seinem Faust dichten und zurückkehren, beladen mit den überreichen Schätzen seiner Beobachtungen des Landes und der Menschen und dessen, was sie seit Jahrtausenden unter diesem schönen Himmel getrieben, und im tiefsten Grunde seiner Künstlerseele doch derselbe, der er war. Sieh, Cäcilie, es ist in der Republik der Künste wie im Staate. Welcher Bürger könnte die großen Verhältnisse des Staates übersehen, der nicht zuvor den Blick an den engeren Beziehungen des Gemeindelebens geübt hätte; wer könnte in der Gemeinde etwas Tüchtiges leisten, der nicht gelernt hätte, sein Haus zu verwalten; wer könnte sein Haus verwalten, seine Familie regieren und lenken, der sich selbst nicht zu regieren und zu lenken verstände?“

Während Gotthold sprach, war Gretchen herangekommen; Cäcilie hatte sie auf den Schooß genommen, und das Kind hatte da still gesessen, als wüßte es, daß es jetzt nicht hineinreden dürfe. Nun, da Gotthold schwieg, sagte es: „Mama, weißt Du, ich will Onkel Gotthold zu meinem Papa haben.“

Eine Purpurgluth flammte über Cäciliens Gesicht; sie machte eine heftige Bewegung, Gretchen von ihrem Schooße zu lassen; aber das Kind wollte seine Sache nicht so leicht aufgeben. Sie schlang ihr gesundes rechtes Aermchen um der Mutter Hals und sagte schmeichelnd: „Nicht wahr, Mama; er hat so blaue Augen und ist immer gut zu Dir, und Papa ist oft so garstig; nicht wahr, Mama?“

Cäcilie erhob sich schnell mit dem Kinde und that ein paar Schritte, als wolle sie von dem Platze entfliehen. Aber ihre Kniee zitterten, sie konnte nicht weiter und mußte Gretchen auf den Boden gleiten lassen, die, durch die Heftigkeit der Mutter erschreckt, weinend davon lief und im nächsten Moment ihren Schmerz über ein paar bunten Schmetterlingen vergaß, die vor ihr her in die Beete flatterten. Sie selbst war, von Gotthold abgewandt, stehen geblieben.

„Cäcilie!“ sagte Gotthold.

Er war an sie herangetreten, er wollte ihre herabhängende Hand ergreifen. Sie wandte sich und das Antlitz der Medusa starrte ihn an.

„Cäcilie!“ rief Gotthold noch einmal, beide Hände nach ihr ausstreckend.

Sie wich nicht zurück, sie rührte sich nicht; nur in dem starren Gesicht, um die halbgeöffneten Lippen zuckte es und dann kamen die Worte langsam, wie letzte Blutstropfen aus einer tödtlichen Wunde.

„Ich brauche Dein Mitleid nicht, hörst Du; ich habe Dir kein Recht gegeben, mich zu bemitleiden, Dir und Niemand; was quälst Du mich?“

„Ich werde Dich nicht länger quälen, Cäcilie; ich habe Dir gesagt, daß ich gehe.“

„Warum gehst Du nicht? warum sprichst Du mit mir von solchen Dingen? mit mir! Du willst mich wahnsinnig machen; und – ich will nicht wahnsinnig werden.“

„Dies ist Wahnsinn, Cäcilie,“ rief Gotthold leidenschaftlich. „Wenn Du ihn nicht liebst – und Du liebst ihn nicht, kannst ihn nicht lieben – kein göttliches Gesetz und schließlich auch kein menschliches zwingt Dich, zu bleiben, zu verbluten, zu vergehen in namenlosem Elend. Und so wenig wie Du ihn, liebt er Dich.“

„Hat er Dir das gesagt?“

„Bedarf es dessen?“

„Bei Deiner Ehre, Gotthold, hat er Dir das gesagt?“

„Nein, aber –“

„Und wenn er mich nun doch liebte, und – und wenn ich ihn liebte? Wie kannst Du wagen, so zu mir zu sprechen, wie Du eben zu mir gesprochen! Wie kannst Du wagen, mich jetzt durch Dein Schweigen Lügen zu strafen, mich vor mir selbst so zu demüthigen! Ist das Deine gerühmte Freundschaft?“

Gotthold ließ das Haupt sinken und wandte sich. Gretchen kam ihm entgegen.

„Wo willst Du hin, Onkel Gotthold?“

Er hob das Kind in die Höhe, küßte es, ließ es wieder auf den Boden gleiten und ging.

„Warum weint Onkel Gotthold, Mama?“ fragte Gretchen, die Mutter an dem Kleid ergreifend. „Papa kann nicht weinen, nicht wahr, Mama?“

Cäcilie antwortete nicht; die starren thränenlosen Augen hingen an der Stelle, wo Gotthold zwischen den Büschen verschwunden war.

„Für immer!“ murmelte sie, „für immer!“




12.


Als Gotthold zu dem hölzernen Gitterpförtchen kam, das, von einer halbverdorrten Linde überschattet, durch die struppige Hecke auf dieser Seite aus dem Garten führte, stand er still und warf einen scheuen Blick über die sonnigen Felder nach dem Walde. Es wäre ihm jetzt unerträglich gewesen, einem Menschen zu begegnen, vielleicht stehen zu bleiben und einen Gruß, eine Frage beantworten zu müssen. Aber er sah Niemand; sie waren Alle drüben auf der großen Roggenbreite, von der man heute schon den ganzen Tag eingefahren hatte; der Weg zum nahen Walde war frei.

Die Sonne brannte in unheimlich sengender Gluth und die erhitzte Luft zitterte über dem Weizen, der sich bereits zu bräunen begann und dessen kräftige Halme nicht der leiseste Hauch bewegte; überlaut zirpten und schwirrten auf beiden Seiten des schmalen Pfades, der sich durch das Feld wand, unzählige Cicaden; ein großer Flug Feldtauben kreiste in nicht allzugroßer Höhe, und wenn sie sich in blitzschneller Wendung herumwarfen, erglänzte auf dem fleckenlos blauen Himmel die bewegliche Wolke in dem Strahl der landwärts sinkenden Sonne wie ein stählerner Schild.

Gotthold sah das Alles, weil er gewohnt war mit der Natur zu leben, und so fühlte er auch die elektrische Spannung in der Atmosphäre, aber nur als in Uebereinstimmung mit dem Krampf, der sein Herz zusammenschnürte. Die brennende Thräne, [616] die ihm vorhin der Schmerz ausgepreßt, hatte die Scham längst aus dem starren Auge getrocknet; die Scham, durch seine Haltlosigkeit diese Scene hervorgerufen zu haben, in der er nach acht langen qualvollen Tagen nun zuletzt doch die würdelose Rolle des Dritten gespielt hatte, um zu erfahren, daß sie diesen Mann noch immer liebe, daß ihr Unglück darin bestehe, sich von diesem Manne nicht so geliebt zu wissen, wie sie ihn liebte, wie sie geliebt sein wollte. „Bei Deiner Ehre, Gotthold, hat er Dir das gesagt?“ Mit welch verzweifeltem Tone sie das gerufen! wie die Angst, ein Ja zu hören, ihr schönes Gesicht entstellt hatte! – „Ist das Deine gerühmte Freundschaft?“ Ja wohl, seine Freundschaft, mit der er ihr vor Jahren schon lästig gewesen war, mit der er ihr heute noch ebenso lästig fiel, nur daß er sich nicht mehr wie damals hinter der Maske der Freundschaft bergen konnte, nur daß er nicht einmal mehr den armseligen Trost hatte, unbemerkt und unbeachtet sich davonschleichen zu können, wie er in jener Nacht davongeschlichen war.

Hier am Waldesrande, im Dunkel der Nacht unter der großen Buche hatte er gelegen und das Moos zerrauft und sich und die Welt verflucht, weil er im blassen Schein des Mondes zwei glücklich Liebende gesehen! Jetzt schien die Sonne grell auf das Schmerzenslager, als wollte sie ihm zeigen, wie kindisch damals seine Schmerzen gewesen und daß er seine Verzweiflung bis zu dieser Stunde hätte aufsparen sollen. Sie war ja glücklich gewesen! Gotthold wollte lachen, aber es war nur ein Schrei, der aus seiner gequälten Brust kam, ein dumpfer, stöhnender Schrei wie eines verwundeten Thieres. So hatte er geschrieen, als er in jener Nacht auf demselben Wege durch den schwülen Wald schwankte und die Bäume im Dämmerschein des Mondes wie höhnende Gespenster ihn umtanzten. Jetzt standen sie in eherner sonnegetränkter Ruhe da und schienen zu sagen: was geht uns Dein selbstgeschaffener Jammer an, Du Thor!

Und was geht mich Dein Elend an! sagte das Meer, das jetzt, als er aus dem Walde auf die Uferhöhe trat, in schwärzlicher Bläue vor ihm sich hindehnte, regungslos, wie erstarrt in unnahbarer Majestät. So hatte er es einst gesehen an einem Nachmittage über die Felsenklippen von Anacapri und es hatte ihm zu einem seiner besten Bilder das Motiv gegeben; aber jetzt dachte er daran nur flüchtig, wie durch die brennende Stirn eines sonnegequälten Wanderers auf staubiger Landstraße die Erinnerung schießt des kühlsten Waldesschattens und des murmelnden Quells, an dem er unlängst gesessen.

Unter ihm in der kleinen, mühsam in den steinigen Strand gegrabenen Bucht lagen die Boote, die dem Gute gehörten. Er hatte das kleinere in diesen Tagen wiederholt zu Ruderfahrten an der Küste hin benutzt und trug den Schlüssel zu der Kette, mit welcher sie an die Pflöcke befestigt waren, in der Tasche.

Breiter und breiter wurde der Schatten, der vom Ufer her auf die See fiel, und überholte Gotthold, während er mit kräftigen Schlägen quer über die weite Bucht zu rudern begann, an deren äußerstem südlichen Haken das Strandhaus, in diesem Augenblick hell von der Sonne beleuchtet, lag. Aber der Schatten kam nicht vom Ufer, sondern von einer schwarzen Wolkenwand, die über dem Ufer gleichmäßig breit, langsam heraufstieg, und deren scharfer oberer Rand in unheimlichem Feuer glühte und glänzte. Es war ein schweres Gewitter, das vom Lande her heraufzog. Mochte es kommen! Gotthold sehnte sich, aus dieser Gewitterschwüle seiner Seele aufathmen zu können im Sturm der Elemente. Da zuckte ein rother Flammenstrahl über die schwarze Wolkenwand hin und noch einer und ein dritter; und mit unheimlicher Eile steigt und steigt die Wolkenwand, alles Licht vor sich her auslöschend am Himmel und am Ufer und auf dem Meere, über das jetzt in pfeifenden Stößen der Wind saust, die bis dahin spiegelglatte Fläche furchend und bald in schäumenden Wellen zerwühlend.

Wellen und Wind trafen Gotthold’s kleines Boot von der Seite und trieben es wie im Spiel vor sich her, seewärts, auch als er jetzt, die Gefahr wohl erkennend, nach dem Ufer hielt. Er bemerkte es nach wenigen Schlägen, daß seine einzige Hoffnung darin lag, es werde das Gewitter so schnell vorübergehen, wie es heraufgekommen.

Aber es schien, als hätten Dämonen der Finsterniß sein frevles Wort gehört und wollten nun ihr Opfer haben. Immer breiter deckte sich nächtiger Schatten über die brausende See; nur am fernsten Horizonte glänzten noch ein paar weiße Segel und jetzt tauchten auch sie in die Nacht; immer höher schäumten die Wellen auf, und immer schneller trieb das Boot vom Ufer ab, auf dem bereits für Gotthold’s scharfes Auge das weiße Kreideufer mit dem dunklen Wald, der es krönte, in einen grauen Streifen zusammenlief. Es war gar kein Zweifel mehr, daß er in die offene See hinausgetrieben wurde, wenn nicht, was jeden Augenblick geschehen konnte, eine Welle das Boot kentern machte; ja, es mußte als ein Wunder erscheinen, daß dies nicht bereits geschehen war.

Gotthold that kaltblütig, was er zu seiner Rettung thun konnte; er beobachtete sorgsam das Heben und Sinken jeder heranrollenden Welle und hielt, bald mit dem rechten Ruder, bald mit dem linken, bald mit beiden kräftig ausgreifend, das schaukelnde Boot scharf in dem Wind. Schlug es um, so kam Alles darauf an, ob es zugleich sank, oder auf der Oberfläche blieb. Im letzteren Falle war seine Lage noch nicht ganz verzweifelt; er konnte sich dann vielleicht noch stundenlang halten, um, wenn der Wind umsprang, entweder an das Land getrieben, oder draußen von einem vorübersegelnden Schiff aufgefischt zu werden; sank aber das Boot, so war er nach menschlichem Ermessen verloren. Er konnte jetzt keinen Moment die Ruder aus der Hand lassen, sich seiner Kleider zu entledigen, und in vollem Anzug bei solchem Seegang lange zu schwimmen, durfte er, ein so guter Schwimmer er war, nicht hoffen, umsoweniger, als er bereits zu spüren begann, daß seine Kraft, wie sorgsam er sie auch zu Rathe hielt, allmählich abnahm.

Allmählich anfangs und nun schneller und schneller. Er hatte vorhin die complicirtesten Ruderbewegungen mit Leichtigkeit ausgeführt, jetzt wurden sie den erstarrenden Händen, den erlahmenden Armen schwerer und schwerer. Enger und enger wurde es ihm um die Brust, dumpfer und dumpfer schlug das Herz, das Athmen wurde zum Keuchen, die Kehle war wie zugeschnürt; die Schläfen hämmerten, er mußte, kam, was wollte, eine Minute ruhen, die Ruder einziehen und das Boot treiben lassen.

Sofort fing das kleine Fahrzeug an, Wasser zu schöpfen; Gotthold hatte es vorausgesehen. „Es kann nun nicht mehr lange dauern,“ sprach er bei sich, „und was ist es denn auch? Wenn du für sie leben könntest, da verlohnte es sich der Mühe; aber so – wem stirbst du als dir? Da kann doch das Sterben nicht so schwer sein. Sie wird freilich denken: er hat den Tod gesucht, und er hätte mir das ersparen können. Es ist sehr ungalant von mir, so, als unbequeme Leiche an’s Land zu treiben, sehr ungalant und sehr dumm; aber es geht in einen Kauf mit dem Andern; und schließlich kann man doch eine Dummheit nicht theurer bezahlen als mit dem Leben.“

Immer wirrer drängten sich die Gedanken durch das betäubte Gehirn, während er, todesmatt, vornübergebeugt dasaß, auf die Ruder stierend, die er mechanisch mit den erstarrten Fingern umklammert hielt, und auf den schwankenden Bord des Bootes, der sich jetzt scharf von dem grauschwarzen Himmel absetzte und jetzt fußtief unter dem weißschäumenden Kamme der vorüberbrausenden Welle lag. Und dann sah er das Alles nur noch wie einen verschwimmenden Hintergrund, von dem sich in voller Klarheit ihr Gesicht abhob, aber nicht mit dem schmerzzuckenden Munde und den starren Medusenaugen, sondern verklärt von holdselig schalkhaftem Lächeln, wie es immer aus den köstlichen Tagen der Jugend in seiner Erinnerung gestanden und wie er es vorhin für einen Augenblick wiedergesehen hatte.

Und plötzlich ergriff ihn unendliche Wehmuth, daß er aus dem Leben scheiden solle, ohne gelebt zu haben, ohne von ihr geliebt zu sein; aus dem Leben, das, wenn er sie nur weiter lieben durfte, schon ein unaussprechliches Glück war; aus dem Leben, das ihm nicht gehörte, das er ihr, so oder so, schuldig war, für das er um ihretwillen bis zum letzten Hauche kämpfen mußte.

Und die starren Finger legten sich wieder fest um die Rudergriffe, und die erlahmten Arme regten sich und parirten mit mächtigem Drucke den Schlag der hoch heranbrausenden Welle; das ermüdete Auge blickte wieder über die schäumenden Wogen nach Rettung, und aus der gepreßten Brust drang ein freudiger Schrei, als jetzt, wie herbeigezaubert, ein Segel aus dem Wasserdunste, mit dem die Atmosphäre angefüllt ist, auftaucht. Im nächsten Moment kommt es herangeschossen, ein größeres Fahrzeug, mit dem Backbord so tief im Wasser, daß Gotthold den [617] ganzen Kiel vom Bug bis zum Stern sich aus den Wellen heben sieht und über den hochragenden Leebord nur eben den Kopf des Steuermannes, dessen schneeweißes Haar im Winde flattert, und den Oberleib eines jungen Mannes am Bugspriet, der in den erhobenen Händen eine zusammengerollte Leine hält. Und jetzt schnellt die Leine wie eine Schlange herüber, quer über sein Boot. Er hat sie ergriffen und um den Haken geschlungen. Ein mächtiger Ruck; herüber und hinüber schwankt sein Boot, das jetzt fast bis an den Rand mit Wasser gefüllt ist und unter seinen Füßen sinkt; aber schon liegen seine Hände an dem Bord des größeren Fahrzeuges; zwei kräftige Arme fassen ihn um die Schultern und im nächsten Moment taumelt er zu den Füßen des alten Boslaf, der ihm die linke Hand entgegenstreckt, während er mit der rechten das Steuer mächtig herumdrückt, das eigene Fahrzeug vor dem Kentern zu bewahren.

[629]
13.


Die See war von dem Gewittersturm des Nachmittags noch in Aufregung; aber über die dunkeln Wellen hatte die Sonne, ehe sie sank, bereits wieder zitternde Lichter gestreut. Jetzt traten aus dem schwärzlichen Blau des Himmels die Sterne allgemach hervor; Gotthold blickte zu ihnen auf und dann wieder in das stille Antlitz des alten Mannes, an dessen Seite er auf der Bank im Schutze der dicken Mauern des Strandhauses saß. Neben ihnen durch das Fenster schimmerte das Licht der Lampe, die, so lange Vetter Boslaf im Strandhause lebte, Nacht für Nacht dort gebrannt hatte und nun auch weiter brennen würde, wenn ihm der Tod die treuen Augen geschlossen. Zu diesem Zwecke hatte er jetzt eben die Reise nach Sundin gemacht – die erste, seitdem er vor fünfundsechszig Jahren aus Schweden zurückgekommen, und wohl die letzte, die er in seinem Leben machen würde. Es hatte ihn einige Ueberwindung gekostet, der Gewohnheit des Einsiedlers auf Tage zu entsagen, sich noch einmal unter die Menschen zu mischen. Aber es mußte eben sein; er durfte nicht danach fragen, ob ihm der Gang leicht ober schwer wurde. Und so war er in Begleitung des jungen Karl Peters, des Sohnes seines alten Freundes, abgesegelt, und hatte sich in Sundin sechs Tage lang jeden Morgen bei dem Herrn Präsidenten gemeldet und war stets abgewiesen worden, weil der Herr Präsident zu beschäftigt sei, wie der Kammerdiener sagte, der ihm zuletzt in grobem Tone das Wiederkommen verbot in dem Augenblicke, als jener aus seinem Arbeitszimmer trat und, den alten Mann erblickend, freundlich fragte, was er sei und was er begehre. Da hatte Vetter Boslaf dem freundlichen Herrn gesagt, er heiße Bogislaf Wenhof und sei ein gar guter Freund von Malte von Krissowitz gewesen, dessen Bild dort an der Wand hänge und der, wenn er nicht irre, der Urgroßvater des Präsidenten sei; und hatte ihm dann sein Begehr gemeldet. Malte von Krissowitz weiland aber war einer von den sechs jungen Herren, die in dem Wettkampfe zwischen Bogislaf und Adolf Wenhof als Richter fungirt; der Präsident hatte als junger Mensch die famose Geschichte von seinem Vater gehört, der sie von seinem Großvater hatte, dem sie der Urgroßvater erzählt; es war ihm wie ein Märchen vorgekommen, daß der Held jener Geschichte noch lebe und derselbe alte Mann sei, der neben ihm auf dem Sopha saß. er hatte seine Frau und seine Tochter herbeigerufen und sie dem alten Manne vorgestellt und darauf bestanden, daß er zu Mittag bliebe. Alle waren voll Güte und Freundlichkeit gewesen und – was die Hauptsache war – der Präsident hatte ihm beim Abschiede sein gräflich Wort darauf gegeben, daß die gute Sache, für die er eingestanden, fortan seine eigene sein solle.

„Schon in diesen Tagen,“ sagte Vetter Boslaf, „wird hier vor dem Hause auf hohem Unterbau von Strandsteinen eine Leuchtbake errichtet, deren Licht noch eine Meile weiter trägt, als das meiner Lampe. Karl Peters ist zum Aufseher bestimmt und wird mit mir im Strandhause wohnen, das schon jetzt zum Wachthaus dienen und nach meinem Tode Eigenthum der Regierung werden soll. So ist denn diese große Sorge von mir genommen. Ich brauche nicht mehr zu sagen, wenn ich bei Tagesanbruch die Lampe verlösche: wirst du sie heute Abend auch wieder anzünden können?“

Der alte Mann schwieg; lauter knatterte die schwedische Fahne auf dem Giebel des Strandhauses; lauter rauschte die Welle zwischen den Uferkieseln. Gotthold’s Blick streifte mit scheuer Ehrfurcht die Gestalt an seiner Seite, die hohe Gestalt des Neunzigjährigen mit dem Silberhaar, in dessen Brust das Herz noch immer so warm für die Menschen schlug – für die armen Schiffer und Küstenfahrer, die er nicht kannte, die ihn nicht kannten, von denen er nichts wußte, als daß sie dort in der Nacht, selbst seinen scharfen Augen unsichtbar, vorübersegelten und, so lange sie das Licht sahen, von der gefährlichen Küste abhielten, wie es ihre Väter und Großväter sie gelehrt. Der alte Mann, wie er nur für Andere lebte, wie sein Leben eitel Liebe für Andere war, von denen er Gegenliebe, Dankbarkeit weder verlangte noch erwartete, hatte heute sein Leben auf’s Spiel gesetzt, ihn zu retten, der kaum gerettet sein wollte, dem sein Leben werthlos dünkte, weil er liebte und nicht wieder geliebt wurde. Was würde der Alte dazu sagen? würde er in der Unermeßlichkeit seiner selbstlosen Liebe eine so eigensinnig egoistische Leidenschaft auch nur verstehen?

„Das war meine eine Sorge,“ hub Vetter Boslaf wieder an; „die Regierung hat sie mir abgenommen; ich habe noch eine andere, die kann mir Niemand abnehmen.“

„Handelt es sich um sie – um Cäcilie?“ fragte Gotthold mit klopfendem Herzen.

„Ja,“ sagte der Alte, „um sie handelt es sich, um Ulrikens Urenkelkind, die ihrer Ahne so ähnlich sieht, nur daß sie wohl noch unglücklicher ist. Sie hätte den Mann nie heirathen dürfen, [630] wäre es nach meinem Willen gegangen; aber sie haben meinen Rath in den Wind geschlagen; sie haben es immer gethan.“

Eine seltsame, schauerliche Wandlung war mit dem Alten vorgegangen. Die hohe Gestalt war zusammengesunken, als wäre alle Kraft von ihr gewichen, die tiefe und vor wenigen Augenblicken noch so feste Stimme bebte und zitterte, als er nach einer kurzen Pause, die Gotthold nicht zu unterbrechen wagte, fortfuhr:

„Sie haben es immer gethan. Und so haben sie ihre Aecker verloren, einen nach dem andern, und ihre Wälder, einen nach dem andern, und sind Pächter geworden, wo sie einstmals Herren waren, und sind zu Grunde gegangen, Einer nach dem Andern. Ich habe es mit angesehen, mit ansehen müssen, und immer gedacht: nun kann es nicht schlimmer werden – aber das Schlimmste war mir noch vorbehalten. Sie waren Alle kopflos und leichtsinnig; aber schlecht waren sie nicht, Keiner von ihnen; und am Ende waren es Männer, die, wenn es sein mußte, von ihrer Hände Arbeit ehrlich leben konnten. Jetzt, jetzt wird selbst unser alter Name mit mir erlöschen; ein armes hülfloses Weib ist übrig geblieben, das ihren Namen vertauscht hat mit dem Namen eines Mannes, der ein Taugenichts ist, wie es seine Vorfahren waren; der Taugenichts wird sie mit sich in seine Schande ziehen - seine Schande und meine!“

Des Alten letzte Worte waren kaum verständlich gewesen; er hatte das runzelige Gesicht in den knorrigen Händen begraben. Gotthold legte ihm die Hand auf’s Knie.

„Wie mögt Ihr nur so reden, Vetter Boslaf,“ sagte er, „wie mögt Ihr Euch anklagen für ein Unglück, das Ihr nicht habt verhindern können; Euch, der Ihr immer des Hauses guter Geist gewesen seid!“

„Des Hauses guter Geist – großer Gott!“

Der Alte war aufgesprungen und ging mit großen Schritten zum nahen Strande, wo er stehen blieb, das Antlitz dem Meere zugewandt; sein weißes Haar flatterte im Winde; er hob die Arme gegen die dunkle See und ließ sie dann wieder sinken, unverständliche Worte murmelnd. Gotthold war an seiner Seite geblieben; war der alte Mann kindisch, war er wahnsinnig geworden?

„Was ist Euch, Vetter Boslaf?“ fragte er.

„Vetter Boslaf!“ schrie der Alte, „ja wohl, Vetter Boslaf! so hat er mich genannt und sie, und Alle mit ihnen und nach ihnen: meine Kinder und Kindeskinder!“

„Vetter Boslaf!“

„Und immer nur Vetter Boslaf! es ist ja auch ganz recht so, und wird auch so auf meinem Grabstein stehen. Auch sollte es kein Mensch hören, ich habe es geschworen; aber ich trage es nicht länger. Was wir an der Menschheit gefrevelt, soll ein Mensch erfahren, damit er uns unsere Schuld im Namen der Menschheit vergeben kann. Ich habe Dich immer lieb gehabt, und habe Dir heute das Leben gerettet; so sollst Du dieser Mensch sein.“

Er hatte Gotthold wieder zu der Bank geführt.

„Du hast wohl früher einmal von dem Handel gehört, den ich mit meinem Vetter Adolf um Dollan hatte?“

„Ja,“ erwiderte Gotthold, „und habe noch neulich, als ich Euch zu besuchen kam, an Alles lebhaft gedacht und in meinem Herzen die seltene Großmuth gepriesen, mit der Ihr den reichen Besitz und das geliebte Mädchen Eurem Vetter ließet, nachdem Ihr erfahren, daß er der von ihr Bevorzugte sei. Emma von Dahlitz, Ulrikens Vertraute, hatte Euch am Abend vor dem entscheidenden Tage diese Botschaft gebracht; verhielt es sich nicht so?“

„Ja,“ sagte Vetter Boslaf, „nur daß die Botschaft falsch war, und daß sie, die sie mir brachte, gelogen, aus Liebe – wie sie von ihrem Sterbebette ein paar Jahre darauf nach Schweden an mich schrieb – aus Liebe zu mir, den sie dadurch für sich zu gewinnen hoffte. Und dasselbe hatte die Unglückliche auch Ulriken gebeichtet, die, wie ich, ihren Lügen geglaubt, und daß ich ihrer gespottet und gehöhnt, ich wolle lieber eine Lappländerin mein Weib nennen als sie. Nun, ich hatte keine Lappländerin gefreit; aber die Unglückliche war Adolf’s Weib geworden, und so, als Adolf’s Weib und Mutter zweier Knaben, fand ich sie, als ich zurückkam. Ein drittes Kind – ebenfalls ein Knabe – wurde ein Jahr nach meiner Rückkehr geboren. Die beiden ältesten starben in ihrer Jugendblüthe; der dritte blieb leben und blieb das einzige, und dieser Knabe war – mein Sohn!“

„Armer, armer Mann!“ murmelte Gotthold.

„Ja wohl, armer Mann!“ sagte der Alte, „denn wer ist ärmer, als ein Mann, der sich seines Kindes nicht freuen, der nicht vor aller Welt sein nennen darf, was doch sein ist, wenn etwas auf der Welt. Ich durfte es nicht. Ulrike war stolz; sie wäre zehnmal lieber gestorben, als daß sie die Schmach des Ehebruchs auf sich genommen; und ich war feig, feig aus Liebe zu ihr und zu ihm – meinem armen, guten, ahnungslosen Adolf, den ich von Kindesbeinen an wie einen Bruder geliebt hatte, der mir ganz und völlig vertraute, der gegen eine Welt verfochten haben würde, daß ich sein bester, sein treuester Freund sei. So gingen ein paar fürchterliche Jahre hin; Ulrike verzehrte sich in dem entsetzlichen Widerstreite der Pflicht und einer Liebe, zu der sie sich nicht bekennen durfte, und starb; ich hatte ihr in ihre erkaltenden Hände schwören müssen, daß ich das Geheimniß bewahren wolle. So bin ich meinem Kinde und meinen Enkeln Vetter Boslaf gewesen und geblieben. Sie haben mich ein wenig höher gehalten als einen alten Diener, den man nicht verabschieden will, wie lästig er auch oft ist; sie haben mich auch reden lassen, wenn sie bei guter Laune waren; und wenn Eines geboren war, durfte der alte Vetter Boslaf beim Kindtaufsschmaus unten am Tische sitzen, und wenn sie Eines nach Rammin auf den Kirchhof trugen, in der letzten Kutsche hinterdrein fahren, wenn gerade noch ein Platz war. Ich habe es Alles getragen: Bitternisse ohne Zahl und Maß; ich habe geglaubt, daß ich durch Demuth, durch Liebe gegen Andere abbüßen könnte, was ich einst gefrevelt an meinem Fleisch und Blut; aber der Fluch ist nicht von mir genommen: ‚Ich sah niemals den Rechtschaffnen verlassen, noch seinen Samen betteln sein Brod.‘ Ich bin kein Rechtschaffner gewesen, mein Same wird sein Brod betteln müssen; ich bin so alt geworden, es noch zu erleben.“

„Nimmer und nimmermehr!“ rief Gotthold aufspringend, „nimmermehr!“

„Was willst Du thun?“ sagte der Alte, „ihm Geld leihen? Wo bleibt das Wasser, das Du zwischen die Finger nimmst? wo bleibt das Geld, das man einem Spieler leiht? Ich hatte ihm eines Abends die Ersparnisse von sechszig Jahren gebracht; es war eine nicht unbedeutende Summe, das Pachtgeld meiner paar Wiesen und Aecker auf Zins und Zinseszins; er hatte am nächsten Morgen keinen Schilling mehr von Allem. Du sagtest mir vorhin, Du seiest jetzt ein reicher Mann, Du kannst ihm vielleicht mehr geben. Er wird so viel nehmen, als er bekommen kann, und in dem Augenblicke, wo er nichts mehr bekommen kann, Dir den Stuhl vor die Thür setzen und Dir sein Haus verbieten, wie er es mir gethan. Er wußte wohl, daß ich ihn nicht verklagen würde, ja, daß ich ihn nicht einmal verklagen könnte; ich hatte mir es nicht schriftlich geben lassen, daß ich, was ich hatte, meiner Urenkelin geschenkt.“

„Und Cäcilie?“

„Sie ist ihrer Ahne rechtes Kind; sie ist zu stolz, um für das Elend, das über sie gekommen, mehr zu haben, als heimliche Thränen. Ich kenne diese Thränen von Alters her; sie geben dem Auge, das sie auf dem einsamen Kissen nächtens vergießt, einen starren angstvollen Blick, mit dem sie mich angeblickt hat, so oft ich ihr seitdem – es ist nicht oft gewesen – begegnet bin. Wo willst Du so eilig hin?“

Gotthold war aufgesprungen.

„Ich bin schon so lange – zu lange fort.“

„Erwartet sie Dich, Gotthold?“

Der Alte hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt; Gotthold sah, wie die scharfen Augen fest auf ihm ruhten.

„Nein,“ sagte er, „ich glaube nicht.“

„Und es ist besser so,“ erwiderte der Alte. „Es ist genug, daß ein Mensch erlebt hat, was ich erlebt habe. Wann sehe ich Dich wieder?“

„Ich wollte morgen früh fort; ich komme dann von Prora noch hierher.“

„Es ist gut; mein Kind ist so schon unglücklich genug; je früher Du fortkommst, desto besser ist es.“




14.


„Desto besser ist es!“ wiederholte sich Gotthold, während er durch den dunklen Wald dahinschritt. „Für wen? – für mich? mein Schicksal ist entschieden; für sie? was ist es ihr, ob ich [631] komme oder gehe? – für ihn? wenn er nicht mich, nur mein Geld wollte, weshalb hat er es nicht längst gesagt? Ich habe es ihm oft genug angeboten – vielleicht nicht deutlich genug; ich könnte es nicht über’s Herz bringen, noch deutlicher zu sein – es war mir, als ob ich mir damit von dem Manne die Erlaubniß erkaufen wollte, in der Nähe seiner Frau weilen zu dürfen. Warum hat er es nicht gewollt? traut er meiner Aufrichtigkeit nicht? ist er zu stolz, von mir, gerade von mir, zu nehmen? Und doch – wer sollte ihm williger geben als ich? Ist es doch das Einzige, was ich für sie thun kann. Vielleicht fehlt ihnen nur das zu einem vollkommenen Glücke, vielleicht ist seine Liebe von der Sorte, die nur in der Sonne des Wohlstandes gut gedeiht und in den Nebeln der Sorge traurig dahinsiecht. Helfen wir dieser kränkelnden Liebe wieder auf. Das wird die Rosen zurückbringen auf ihre Wangen, und sie wird wieder glückselig lachen, wie sie damals lachte.

Es ist keine glänzende Rolle, die ich in dem Familiendrama spiele; aber wo und wann wäre die Rolle des Dritten glänzend und dankbar gewesen? Der arme, arme alte Mann! Was muß er gelitten haben! was muß er leiden! Aber nicht schuldlos, nein, nicht schuldlos! Nur die Lüge ist Sünde, die Wahrheit nicht. Dieser Ehebund zwischen Adolf Wenhof und Ulrike von Dahlitz, wie er durch eine Lüge zu Stande gekommen, war und blieb eine Lüge. Sie liebte ja einen Andern! und dieser Andere kommt; sie sieht, daß er sie noch liebt, wie er sie immer geliebt hat; in einer Stunde des Rausches nach so langer Qual eignet sie sich dem geliebten Manne; sie wird sein Weib vor ihrem Gewissen, so mußte sie es auch vor den Menschen werden. Doppelte und dreifache und tausendfache Lüge, daß sie es nicht that, daß diese eine Stunde, und wenn sie niemals wiederkehrte, sie nicht mit dem alten Leben brechen, nicht ein neues Leben beginnen ließ! Sie ist an dieser Lüge in ein frühzeitiges Grab gesunken, die Stolze, Schöne! er hat vergebens in dieser endlosen Zeit sein Verbrechen zu sühnen versucht – das Verbrechen, daß er die Wahrheit von seiner Schwelle gestoßen, daß er die Lüge über seine Schwelle gelassen! Heiliger Genius der Menschheit, der du im Lichte der Wahrheit lebst, bewahre mich vor der Sünde, die aller Sünden größte ist, bewahre mich vor der Lüge!“

Ueber die Lichtung nahe am Ausgange des Waldes, die den Fußpfad durchschnitt, kam rasch eine dunkle Gestalt, in welcher Gotthold, als er nahe genug war, den alten Statthalter Möller erkannte, der nun seinerseits beide Arme hob, rufend:

„Gott sei Dank, da sind Sie ja! Sie haben uns eine schöne Angst gemacht!“

„Ich? wem? wodurch?“

„Sie, natürlich, Sie! und wem? uns Allen, vorweg unserer Frau, die so ganz außer sich ist! und wodurch? na, das ist eine schöne Frage! wenn Einer bei so einem gräulichen Gewitter, das noch dazu in die See zieht, auf einer solchen Nußschale von Boot so weit in die See hineinrudert und der alte Schafskopf von Christian sieht es und denkt: na, da bist du doch neugierig, wie der zurückkommt; ist aber gar nicht neugierig, sondern treibt in den Wald hinein und wartet da das Gewitter ab und schickt erst vor einer halben Stunde seinen Jungen herein: das Boot sei noch immer nicht wieder da, und ob dem Herrn wohl ein Unglück passirt sei? – Herr, das ist denn doch ein starkes Stück! Und unserer Frau muß denn dabei auch heil angst geworden sein, denn sie kam gleich gelaufen und brachte uns auf den Marsch. Mit der Frau ist nicht zu spaßen, wenn sie eifrig wird, so seelengut sie sonst ist; und wir kriegten es auch Alle mit der Angst, und ein Paar sind nach Ralow hinunter, ob Sie da vielleicht angetrieben sind, und ein Paar nach Neuhof, und ich sollte eben nach dem Strandhause und den alten Herrn, der ja wohl heute zurück ist, fragen, was wir nun thun sollten. Die Frau wollte selber hin, aber ich habe es nicht gelitten.“

„Wo ist die Frau?“

„Sie wird wohl noch hier auf dem Felde sein,“ sagte Möller nach links deutend; „ich komme eben her.“

„Und wie lange sind die Anderen fort?“

„So lange wie ich; wenn ich mich dazu halte, hole ich sie wohl noch ein.“

Und Statthalter Möller schlug sich rechter Hand in den Wald, mit lauter Stimme die Namen der Knechte rufend, während Gotthold eilig den Fußpfad weiter verfolgte, der ihn nach wenigen Minuten an den Ausgang des Waldes brachte, wo eine alte Buche auf freiem Felde stand. Ueber das Feld warf der Mond zwischen großen schwarzen Wolken hindurch ein trübes wechselndes Licht. Es war die Roggenbreite, von der man heute eingefahren hatte. Ein vollgeladener Wagen setzte sich eben in Bewegung, an ein paar anderen arbeitete man noch, aber, wie es Gotthold schien, nur lässig; er hörte die Stimmen der Leute in einigem Gespräch und sah, wie sie in kleinen Gruppen hier und da zwischen den Hocken standen, von denen sich noch mehrere Reihen am Saume des Waldes hinzogen. Es war Gotthold ein unangenehmer Gedanke, daß man um seinetwillen die so dringende Arbeit unterbrochen hatte oder weniger eifrig betrieb. Er eilte zu den Leuten. Cäcilien hatte er, obgleich er ziemlich deutlich die Scene überblicken konnte, nicht bemerkt; jedenfalls war sie bereits wieder nach dem Hause zurückgegangen.

Aber als er sich der Buche näherte, erhob sich von der Bank, mit welcher der mächtige Stamm umgeben war, eine weiße Gestalt, die dort, das Gesicht in die Hände begraben, gesessen hatte und jetzt durch den eiligen Schritt des Nahenden aufgeschreckt worden war.

„Um Himmelswillen, Möller, Ihr kommt schon zurück. Ist er –“

„Ich bin es selbst; Cäcilie, liebe, geliebte Cäcilie!“

„Gotthold!“

Sie hatte sich an seine Brust geworfen; er hielt die weiche Gestalt, die sich fest und fester an ihn schmiegte, umschlungen; ihre zarten Lippen bebten auf seinen Lippen in einem langen, von süßer Leidenschaft zitternden Kuß.

„Seid Ihr es?“ ertönte plötzlich in unmittelbarer Nähe Karl Brandow’s Stimme.

Er schien wie aus der Erde gewachsen; ohne Zweifel hatten die Hocken, von denen die letzte bereits halb unter den äußersten, tief herabhängenden Zweigen der Buche stand, sein Kommen verdeckt. Aber auch dem Herantretenden konnte aus dem Dunkel unter der Buche wohl nur Cäciliens helles Gewand sichtbar gewesen sein. Dennoch hatte für Gotthold’s Empfindung das laute Lachen des Mannes einen schauerlichen Klang und seine helle Stimme einen nie gehörten, widerwärtig kreischenden Ton, als er jetzt, mit der Reitpeitsche nach seiner Gewohnheit herumfuchtelnd, rief: „Ich habe schon Alles gehört; ich sage ja immer: nur nicht den Rücken wenden! gleich geschieht etwas, was sonst gewiß nicht geschehen wäre. Ich würde Dich nicht so wild haben laufen lassen; ebensowenig, wie ich vorn an der Scheune mit dem Einfahren angefangen hätte. Was soll mit der Geschichte hier werden, wenn es wieder zu regnen anfängt, wie es den Anschein hat, und morgen weiter regnet? Dann können wir’s hernach anstatt in die Scheune nur gleich auf den Dunghof fahren; in acht Tagen kommt hier Niemand mit einem Wagen heran und da ist es längst ausgewachsen.“

„Das ist doch am Ende nicht so schlimm, Herr,“ sagte Statthalter Möller, der mit den Knechten, die er im Walde eingeholt, eben herantrat. „Wir haben so in der Scheune keinen Platz mehr; wir setzen hier eine Miethe, und dann ist es gut.“

„Du weißt es natürlich immer besser!“ rief Brandow.

„Ich habe bei der Scheune anfangen wollen; aber Hinrich Scheel wollte es ja nicht leiden und sagte, Sie hätten selbst –“

„Natürlich hätte ich es selbst – ich bin immer schuld, wenn Ihr eine Dummheit gemacht habt, Ihr Schwachköpfe!“

Es war nicht das erste Mal, daß Gotthold in dieser Weise Karl Brandow mit seinen Leuten schelten hörte; aber nie war die Veranlassung so frivol und das Unrecht so offenbar auf seiner Seite gewesen. Gotthold hatte selbst gehört, daß er heute Morgen beim Wegreiten dem Hinrich Scheel zugerufen, sie sollten mit dem Einfahren oben am Walde anfangen. War er betrunken? hatte er mehr gesehen, als er sich merken ließ? wollte er seine eifersüchtige Wuth an den unschuldigen Leuten auslassen? oder war dies nur das Vorspiel und die Probe, ob er in der Auseinandersetzung, die alsbald erfolgen mußte, die Töne des Gekränkten, Beleidigten finden würde?

Gotthold bangte nicht vor dieser Auseinandersetzung; nur vor dem Gedanken, dieselbe könne in Cäciliens Gegenwart stattfinden. Er wünschte die geliebte Frau weit entfernt und dann fühlte er wieder die Nothwendigkeit, vorher noch ein Wort von ihr zu hören, daß dies Alles kein wirrer Traum, sondern Wirklichkeit [632] sei, daß sie in diesem Kusse, der noch auf seinen Lippen zitterte, sich ihm zu eigen gegeben, daß er für sie handeln, für sie entscheiden dürfe.

Aber machte ihn nun die Sorge, einen Ausbruch Brandow’s hervorzurufen, zaghaft und ungeschickt; wich sie selbst, von derselben Rücksicht geleitet, ihm aus – es gelang ihm auf dem Rückwege nicht, seine Absicht auszuführen. Brandow ging zwischen ihnen; er selbst mußte sein Abenteuer erzählen, und Brandow schalt auf Vetter Boslaf, den alten Hans in allen Gassen, vor dem man selbst auf dem Wasser nicht sicher sei und der ohne Zweifel die ganze Scene nebst Gewitter und allem Zubehör arrangirt habe, um wieder einmal etwas retten zu können. – Gotthold würde unter andern Umständen dergleichen Spottreden, die Brandow noch dazu mit höhnischem Gelächter begleitete, nicht unerwidert gelassen haben; aber so freilich durfte Brandow reden, wie und was er wollte. Und dann schlug ihm Brandow auf die Schulter und rief: „Nichts für ungut, Gotthold, aber ich kann den alten Schleicher nun einmal nicht leiden und habe auch meine Gründe dafür. Entweder man ist Herr in seinem Hause oder man ist es nicht; ein Drittes: die Herrschaft mit einem Andern zu theilen, der überall mit hineinredet und es natürlich immer besser weiß – das giebt es nicht, wenigstens nicht für mich. Wie sagten wir doch auf der Schule: ‚Einer sei König, Einer sei Herrscher!‘ Du wirst auch wohl noch den griechischen Text wissen; ich armer Teufel bin froh, daß ich das Deutsche so ungefähr behalten habe.“

Man langte am Hause an; Gotthold konnte sich von Brandow nicht los machen, der ihn vor der Thür mit einem Gespräch über einen Wirthschaftsgegenstand festhielt, während Cäcilie hineinging. Hinrich Scheel trat heran und beklagte sich über den Statthalter, der heute wieder einmal die Kutschpferde vor den Arbeitswagen habe spannen lassen. Brandow gerieth in großen Zorn; Gotthold murmelte, daß er sich umziehen müsse, und schlüpfte in’s Haus. Aber in der Wohnstube fand er nur die hübsche Rieke, die den Abendtisch deckte und ihn von der Seite mit einer spöttischen Miene, wie es schien, ansah, während er in der Zeitung blätterte, die auf dem Dach vor dem Sopha lag. Das Mädchen ging hinaus, kam aber alsbald wieder und machte sich an dem Wandschrank zu schaffen; sie wollte offenbar im Zimmer bleiben. Gotthold ging nun wirklich nach seiner Stube hinauf und vertauschte seine Kleider, die im Strandhause nur nothdürftig getrocknet waren, mit andern. Dabei versagten seine zitternden Hände ihm fast den Dienst. War es das Fieber der Ungeduld vor der Entscheidung? war es ein wirkliches Unwohlsein, das ihm die Ueberanstrengung während des Sturmes zugezogen? „Nur jetzt nicht krank werden,“ murmelte er, „nur jetzt nicht! jetzt, wo Du Dir nicht mehr selbst gehörst, wo Du Dein Leben, jeden Athemzug, jeden Blutstropfen ihr schuldig bist!“

Brandow’s Stimme schallte von dem untern Flur herauf in lauten, scheltenden Tönen. Galt es Cäcilien? war der bis jetzt vielleicht nur mühsam zurückgehaltene Zorn zum Ausbruch gekommen? sollte sich das Drama vor den Leuten abspielen?

Im Nu war Gotthold zum Zimmer hinaus, über den langen, dunklen Raum die Treppe hinab. Aber seine Furcht war glücklicherweise unbegründet gewesen. Cäcilie hatte sagen lassen, daß sie sich zu angegriffen fühle und nicht zum Abendbrod kommen werde. Weshalb man dann nicht drüben in seiner Stube gedeckt habe, wo man ungestört sei und Niemand störe? ob Rieke niemals Vernunft annehmen werde? Rieke erwiderte, indem sie widerwillig dem Befehl Folge leistete, in schnippischem Ton, sie wünsche, daß es mit der Vernunft anderer Leute nicht schlechter stehe, als mit der ihrigen; und wer wohl wissen solle, was er zu thun habe, wenn man jetzt diesen und in der nächsten Minute einen andern Auftrag bekäme! Brandow befahl ihr zu schweigen. Das Mädchen lachte höhnisch: es sei allerdings das Bequemste, den Leuten den Mund zu verbieten; aber auf die Dauer gehe das nicht, und wenn sie reden wolle, würde sie reden, und dann würden andere Leute wohl schweigen müssen.

„Mach’, daß Du hinauskommst!“ rief Brandow wüthend.

Das Mädchen antwortete mit einem noch frecheren Lachen und ging zur Thür hinaus, die sie unsanft in’s Schloß warf.

„Das hat man davon, wenn man zu gut ist!“ rief Brandow, indem er ein Glas Wein, das er sich mit unsicherer Hand eingeschenkt hatte, auf einen Zug hinuntergoß.

Er warf dabei einen lauernden Blick auf Gotthold, der ihm fest in’s Auge sah. Was bedeutete diese Scene? Was würde das Mädchen reden können, wenn sie reden wollte? Hatte sie an ihren Herrn Ansprüche, welche dieser anerkennen mußte? War ihm hier unverhofft eine Waffe in die Hände gespielt, die ihm in dieser Stunde nützen könnte? Eine unedle Waffe in der That; aber doch vielleicht nicht zu unedel im Kampf mit einem Manne, der, als der Gatte einer solchen Frau, auch die Dirne nicht verschmähte!

Dennoch sagte sich Gotthold, daß er für sein Theil den Kampf nicht beginnen dürfe; daß er, wenn es möglich war, denselben hinausschieben müsse, bis er sich mit Cäcilien über die nächsten Schritte verständigt. Und es schien möglich; ja, es wurde Gotthold bald geradezu zweifelhaft, ob Brandow im schlimmsten Falle mehr als einen dunklen Verdacht habe, dem er keinen Ausdruck geben konnte, oder doch keinen Ausdruck zu geben wagte. Vielleicht wollte er sich nur Muth trinken, während er jetzt Glas auf Glas hinunterstürzte und aus seiner Schlafstube nebenan eine Flasche alten Rothweins nach der andern hervorholte; vielleicht wollte er seinem ohnmächtigen Grimm wenigstens einigermaßen Luft machen, wenn er jetzt auf Vetter Boslaf, den alten Schleicher, schalt, der ihm durch sein ewiges Hineinreden das Leben völlig verleidet habe, bis er ihm denn schließlich das Haus verboten; und wenn er dann wieder auf seine elenden Verhältnisse, wie er sagte, zu sprechen kam, an denen er aber wahrlich weniger schuld sei, als gewisse andere Leute.

„Es ist wahr,“ rief er, „ich habe auf meinen Reisen mehr ausgegeben, als Gevatter Schneider und Handschuhmacher; ich habe auch nachher so wenig wie vorher den Gentleman verleugnen können; aber die hauptsächlichste Veranlassung meiner schändlichen Lage ist doch meine Heirath. Natürlich machst Du ein ungläubiges Gesicht; Du möchtest, als alter Partisan der Wenhofs, mir widersprechen – es würde Dir nichts helfen, lieber Schatz, ich weiß zu gut, wie dies Alles so gekommen ist. Ich will von dem edlen Curt nichts sagen – die paar Universitätsschulden, die ich für ihn bezahlen mußte, waren schließlich nur eine Bagatelle; aber der Alte, der nebenbei gar nicht so alt war, um nicht an den guten Dingen dieser Welt noch verdammt viel Geschmack zu finden, – der Alte war ein bedenklicher Herr Schwiegervater. Daß ich die Kosten der Aussteuer selbst zu tragen hatte – du lieber Himmel – in solcher Zeit holte man ja die Sterne vom Himmel, die Herzallerliebste damit zu schmücken; so machte es mir wahrlich keinen Schmerz, für das Bischen Flitter und sonstigen Kram aufzukommen, wenn es damit sein Bewenden gehabt hätte Das war nun leider nicht der Fall. Ich habe an meinen Herrn Schwiegervater während der zwei Jahre, die er noch lebte, an zehntausend Thaler baar gegeben und nach seinem Tode mindestens eben so viel Schulden bezahlen müssen. Das ist ein hartes Stück Geld, mon cher, wenn man selbst nichts übrig hat, und so ist mein schönes Dahlitz zum Teufel gegangen und ich war froh, hier auf Dollan unterkriechen zu können; und eines Tages wird auch Dollan zum Teufel gehen; denn ohne eigenes Vermögen kann man sich heut zu Tage auf der besten Pachtung nicht halten, und mir haben die wohlweisen Herren vom Curatorium St. Jürgen den Brodkorb noch einmal so hoch gehängt, als meinem Herrn Schwiegervater, der doch auch schon nicht fertig werden konnte. Aber was soll ich einen so rangirten Herrn von solcher Misère unterhalten! Helfen kannst Du mir trotz alledem nicht, und wenn Du mir helfen könntest, von seinen guten Freunden soll man sich nicht helfen lassen – zu dergleichen hat man ja seine guten Feinde.“

Und Brandow lachte laut und sprang dann auf, um mit verstörter Miene, hastigen Schrittes in dem Zimmer hin- und herzulaufen und endlich vor dem Gewehrschrank stehen zu bleiben und eine Pistole vom Nagel zu reißen, deren Hahn er spannte, indem er sich auf den Hacken zu Gotthold umdrehte, rufend:

„Nur daß leider nur zu oft die guten Freunde mit den guten Feinden identisch sind, so daß man sie nicht wohl von einander unterscheiden kann. Meinst Du nicht?“

„Es soll vorkommen,“ sagte Gotthold ruhig, „aber Du thätest gut, die Pistole wieder in den Schrank zu hängen, Deine Hand ist heute Abend zu unsicher für solche Spielereien, es könnte ein Unglück geben.“

[663] Gotthold war entschlossen, auf keinen Fall heute Abend in eine Auseinandersetzung mit dem mehr als halb Berauschten einzugehen, und ebenso entschlossen, seinen Drohungen, wenn dies eine sein sollte, nicht nachzugeben und sich das Lösegeld abtrotzen zu lassen, das er zu erlegen hatte, wenn er, im Uebrigen straflos, von dannen ziehen wollte.

Brandow war der Ausdruck ruhiger Entschlossenheit in dem ernsten Gesicht seines Gastes nicht entgangen; er ließ die halb erhobene Waffe sinken, legte sie aus der Hand, kam wieder an den Tisch, warf sich in seinen Stuhl und sagte:

„Du hast Recht! es könnte ein Unglück geben; aber kein Hahn würde danach krähen, und es wäre am Ende doch nur consequent, wenn ich mir eine Kugel durch den Kopf schösse. Du bist ein glücklicher Kerl. Du hast von Jugend auf arbeiten müssen und so viel gelernt; nun kommt Dir noch im Schlaf ein großes Vermögen, rein zum Ueberfluß! Ich, ich habe nie gearbeitet, ich habe nichts gelernt, und ich verliere ein Vermögen, ohne das ich nichts bin, weniger als nichts: der Spott aller Leute, die mich gekannt haben, eine Scheuche für die bunten Vögel, denen ich es bis dahin gleich und zuvor gethan habe, und die nun die arme gerupfte Krähe ihrem Schicksale überlassen. Tod und Teufel!“ –

Er stieß das Glas auf den Tisch, daß es zerbrach.

„Ah bah! die Sache ist nicht werth, daß man darüber außer sich geräth. Einmal muß doch Alles ein Ende haben, und wie sie mich auch verhöhnen werden, das kann Keiner behaupten, daß ich mein Leben nicht genossen. Ich habe mein Lebtag die feinsten Weine getrunken, die schnellsten Pferde geritten und die schönsten Weiber geküßt. Du bist ja auch ein Kenner, Gotthold; Du hast es gewiß nicht anders gemacht, in Deiner stillen Weise natürlich! Ja, Du warst immer ein Schlaukopf, und ich habe schon auf der Schule einen verdammt großen Respect vor Deiner Schlauheit gehabt. Na, schadet nichts! ganz dumm bin ich auch nicht, und kluge Leute, wie Du und ich, werden sich immer gut vertragen; es sind nur die Dummköpfe, die sich in die Haare fahren – Dummköpfe, dumme Jungen, wie wir es damals waren! Weißt Du noch? Terz, Quart, Quart, Terz! Ha! ha! ha! Das kann uns jetzt nicht mehr passiren! Angestoßen, alter Bursche! angestoßen auf gute Cameradschaft!“

Und er hielt ihm das volle Glas entgegen.

„Mein Glas ist leer,“ sagte Gotthold, „und so ist die Flasche. Laß uns zu Bette gehen; wir haben überreichlich getrunken.“

Er hatte das Zimmer verlassen, bevor Brandow, der ihn mit weit vorspringenden Augen anstierte, ein Wort erwidern konnte.

Als die Thür sich hinter ihm geschlossen, machte Brandow einen Satz, dem Raubthier gleich, das hinter der Beute her ist, und blieb dann mitten in der Stube stehen, die weißen Zähne fletschend, und mit geballten Fäusten nach der Thür drohend.

„Verfluchter Schurke! ich will Dein Blut, Tropfen für Tropfen! aber erst will ich Dein Geld!“

Die erhobenen Arme sanken herab; er wankte nach dem Tisch und saß da, den brennenden Kopf in beide Hände gestützt, mit den spitzen Zähnen an den Lippen nagend, daß das Blut durch die Haut sprang, im Geiste Verbrechen auf Verbrechen häufend, nur daß alle nicht zu dem Ziele führen wollten. Auf einmal richtete er sich empor, ein heiseres Lachen brach aus seiner Kehle. So mußte es gehen! Sie, sie selbst mußte es von ihm fordern, und das war das Mittel, sie zu zwingen! Rache, Rache vollauf! und keine Gefahr dabei! nur daß die Dirne plaudern konnte! sie hatte schon ein paar Mal damit gedroht und war heute unverschämter als je; aber morgen mußte ja Alles geschehen sein, und die Nacht war zu vielen Dingen gut!

In dieser Nacht – er wußte nicht, wie spät es war; denn er hatte so dagelegen, angekleidet, mit fiebernden Schläfen, wach, und doch, wie in einem tollen Traum, von der Höhe mehr als irdischer Seligkeit in die Tiefe rathloser Angst und Sorge taumelnd – in dieser Nacht hörte Gotthold durch das Rascheln [664] des Laubes vor seinem Fenster und das Klopfen des Regens gegen die Scheiben einen Ton, der ihn jäh sich vom Bette emporrichten und mit angehaltenem Athem in die Nacht hineinhorchen ließ. Es war wie ein Schrei gewesen, eines Weibes Schrei, und konnte nur aus dem Zimmer unter ihm gekommen sein, wo Cäcilie allein mit dem Kinde schlief. Mit einem Sprunge war er am Fenster. Wind und Regen schlugen ihm in’s Gesicht, dennoch durch Wind und Regen hörte er jetzt deutlich Brandow’s Stimme, bald lauter, bald leiser, wie ein Mensch spricht, den die Leidenschaft fortreißt und der sich dann wieder gewaltsam zur Ruhe zwingt. Zwischendurch glaubte er ein paar Mal ihre Stimme zu vernehmen; aber seine bis zum Wahnsinn erhitzte Phantasie füllte auch vielleicht nur die Pausen aus, in denen er die Stimme des Verhaßten nicht hörte. Eine eheliche Scene im Schlafgemach der Gattin, die ihre Thür nicht verschließen kann, nicht verschließen darf; die die wüsten Worte des Wüthenden, Trunkenen anhören muß, ihm nichts entgegenzusetzen hat als Thränen!

„Und es dulden, dulden müssen! Hülflos die Hände ringen müssen! Das ist bitterer als der Tod!“ murmelte Gotthold. „Warum habe ich nicht gesprochen? es könnte jetzt schon Alles entschieden sein! Ist denn schweigen, wo man sprechen müßte, nicht auch Lüge, grauenhafte, scheußliche Lüge? und muß denn hier gelogen sein, von dem Guten, wie von dem Schlechten? Morgen! wäre der Morgen da, wenn es nach solcher Nacht noch einen Morgen giebt!“

Er warf sich stöhnend, schluchzend auf sein Bett, den Kopf in die Kissen begrabend, außer sich, und sprang dann wieder auf. War es nicht ein Schritt, der über den Bodenraum knisterte, vorsichtig langsam? kam man zu ihm? mit der Mordwaffe in der Hand? gleichviel! und Gott sei Dank!

Gotthold sprang nach der Thür, die er aufriß. Alles war still, still und dunkel. Die Treppe von unten führte grade in der Mitte zwischen den beiden Giebeln herauf; der vorsichtige Schritt, den er gehört, war nicht nach seiner Seite, war ohne Zweifel nach der andern gegangen, wo seinem Zimmer gegenüber zwei kleinere Zimmer lagen, von denen das linker Hand leer stand, und das rechter Hand der hübschen Rieke eingeräumt war. Denn aus dem Zimmer rechter Hand durch die Ritze der Thür schimmerte jetzt ein schwacher Lichtschein, der ebenso schnell wieder erlosch, und durch die lautlose Stille kam ein Lachen, das alsbald abbrach, wie wenn sich eine rasche Hand auf den lachenden Mund legte.

Gotthold schloß die Thür; er mochte nichts weiter sehen und hören.




15.


Der dunkeln regnerischen Nacht war ein grauer trüber Morgen gefolgt. Endlose, dann und wann zu finsteren Wolken zusammengeballte Dunstmassen wälzten sich vom Meere her, so tief, daß sie fast die hohen Wipfel der Pappeln streiften, die vor dem rauhen Winde sich jetzt über die verregneten Strohdächer der Scheunen bogen und jetzt trotzig zurückschnellten und dann wieder unmuthig sich schüttelten.

Gotthold stand am Fenster der Wohnstube und blickte düstern Auges auf das düstere Schauspiel. Er hatte erst gegen Morgen, wider Willen fast, eine Stunde geschlafen; aber schwerer als die physische Erschöpfung auf seinem Körper, lastete auf seiner Seele die Sorge des Kommenden. Furchtbar wie die Nacht gewesen, es hatten dann und wann doch Hoffnungssterne auf Augenblicke tröstlich durch die Finsterniß gefunkelt; jetzt wollte ihm bedünken, als sei der trübe Tag nur deshalb angebrochen, ihm zu sagen: dies öde häßliche Treiben ist das Leben, ist die Wirklichkeit; was gehen mich deine Träume an? Er hatte, als er die Treppe hinabkam, mit einem Gefühle des Grauens fast gesehen, wie man in dem großen sonst unbenutzten Saale nach dem Garten die Vorbereitungen zu der Gesellschaft traf, und aus der Küche am Ende des langen Ganges das Klappern der Kessel gehört und das laute Gespräch der Mägde; und eben schob ein Knecht aus der Remise den Wagen heraus, der die Gäste aus Prora holen sollte. Das ging Alles seinen Gang, als sei heute wie gestern und morgen wie heute, als sei nichts geschehen, als könne nichts geschehen, was die alte Welt wieder jung macht wie am ersten Paradiesestage. Und doch, und doch! es war ja kein Traum; es war ja geschehen! es konnte nicht verwehen wie formloser Nebel! es mußte eine Gestalt annehmen, heraustreten aus dem Chaos, vielleicht herausgearbeitet werden in heißem Kampf – gleichviel! nur verloren konnte es nicht sein!

Aber dies öde thatlose Warten war fürchterlich. Sie mußte wissen, daß er hier stand, seit einer halben Stunde schon, ihrer harrend, auf ein Wort aus ihrem Munde, auf einen Blick nur, der ihm sagte: ich gehöre dir, wie du mir; zähle auf mich, wie ich auf dich. Warum kam sie nicht? der Augenblick war günstig, wie er im Laufe des Tages vielleicht nicht wiederkam. Brandow war vorhin über den Hof nach den Ställen gegangen, wie er es jeden Morgen that; das Frühstück stand auf dem Tische; sie waren noch immer um diese Zeit eine halbe Stunde ungestört beisammen gewesen – und heute, heute mußte sie ihn allein lassen!

Eine grenzenlose Ungeduld erfaßte ihn; er schritt in dem Gemache auf und ab; jeden Moment wieder die Blicke nach der Thür wendend, durch die der Andere heute Nacht gekommen und gegangen und die für ihn verschlossen war, gespannten Ohres lauschend, ob er keinen Laut vernehmen würde. Er hörte nichts, nichts als das verschlafene Summen einer Fliege; selbst die Wanduhr in dem hohen alten Holzgehäuse tickte heute nicht, der Zeiger war während der Nacht stehen geblieben.

Er preßte die Hände gegen die pochenden Schläfen; es war ihm, als müsse er wahnsinnig werden, wenn diese Marter nicht bald ein Ende nahm; und dann kam ihm ein Gedanke, entsetzlicher als alle früheren. Hatte sie Furcht vor ihm? Hielt sie die Scham gebannt, Dem vor die Augen zu treten, dessen Herz gestern an ihrem Herzen geschlagen, dessen Kuß sie genommen und erwidert hatte? Nein! nein! und tausendmal nein! Was sie auch fern von ihm hielt, das war es nicht, das nicht! Es war Versündigung an der Stolzen, es zu denken! Sie konnte sterben, aber nicht ehrlos leben. Vielleicht war sie krank, zum Sterben krank, hülflos, allein –

Doch da, das war Gretchens Stimme. „Mama, ich will mit, ich will mit zu Onkel Gotthold, ich will Onkel Gotthold ‚Morgen‘ sagen!“ und dann leise beschwichtigende Töne, und dann öffnete sich die Thür, und sie trat herein.

Gotthold stürzte auf sie zu, aber nur wenige Schritte. Sie hatte beide Hände erhoben in einer Geberde rührendster Bitte, und rührendste Bitte blickte aus den großen thränenumflorten Augen und aus jeder Miene des holden, von tödtlicher Blässe bedeckten Gesichtes. So kam sie auf ihn zu. So blieb sie vor ihm stehen, und dann kam über die zuckenden Lippen kaum hörbar:

„Wirst Du mir verzeihen, Gotthold?“

Er war nicht im Stande, zu antworten; diese Geberde, diese Miene, diese Worte – sie sagten ihm, daß seine bange Sorge zur Wahrheit wurde, daß, so oder so, Alles für ihn verloren sei.

Ein grimmiger Schmerz erfaßte ihn, und dann wallte der Zorn in seinem Herzen auf; er lachte laut.

„Das also ist Dein ganzer Muth!“

Ihre Arme sanken herab, ihre Lider schlossen sich, ein krampfhaftes Zucken flog über ihr Gesicht, sie bebte am ganzen Körper.

„Es ist nicht mein ganzer Muth, Gotthold! Aber ich danke Dir, daß Du so zornig bist; es wäre mir sonst doch wohl unmöglich. Nein, blicke mich so nicht an! nicht so! Lache, wie Du eben lachtest! Was kann ein Mann thun, als lachen, wenn eine Frau, von der er sich geliebt glaubt, kommt und sagt: –“

„Es ist nicht nöthig,“ rief Gotthold, „es bedarf dessen nicht; dergleichen begreift man nicht, aber man versteht es ohne Worte.“

Und er wandte sich zur Thür.

„Gotthold!“

Es lag Verzweiflung in dem Tone; der junge Mann ließ die Hand vom Drücker.

„Cäcilie, kann es denn sein? Ich habe Dich durch meine Heftigkeit erschreckt; es soll nicht wieder geschehen. Sage mir nur das Eine Wort, daß Du mich liebst, so will ich alles Andere tragen, so ist ja alles Andere gleichgültig; es muß und wird sich finden; aber so kannst Du mich nicht fortlassen, so nicht!“

[665] Er spähte vergeblich in ihrem Gesichte nach einer Bestätigung. Ihre Züge waren wie erstarrt in einem grauenhaften Lächeln.

„Nein,“ sagte sie, „so nicht; nicht, bevor Du mir versprochen hast, daß Du meinen Mann, den ich liebe und ehre, von dem ich mich nicht trennen kann und mag, retten willst –“

Sie sprach die Worte langsam, tonlos, wie ein Auswendiggelerntes und schwieg jetzt, wie eine Schülerin, die ihre Lection vergessen hat.

„Was soll die Komödie?“ sagte Gotthold.

Die Thür zur Schlafstube that sich auf, Gretchen streckte ihren Lockenkopf herein und kam dann auf die Mutter zugesprungen. Cäcilie riß das Kind an sich und fuhr, während fieberhafte Gluth die frühere Blässe verdrängte, hastig fort: „– retten willst vom Bankerott, dem er verfallen ist, wenn Du ihm nicht hilfst. Es handelt sich um – um –“

Sie hatte Gretchen losgelassen und griff mit den Händen nach der Stirn.

„Mama! Mama!“ rief Gretchen und fing laut an zu weinen, als Gotthold die Schwankende nach dem nächsten Stuhl führte.

„Was ist mit meiner Frau?“ fragte Brandow.

Gotthold hatte ihn nicht kommen hören. Bei dem ersten Ton seiner Stimme richtete sich Cäcilie aus seinen Armen auf und stand jetzt zwischen den beiden Männern, ohne Stütze, das Kind an sich drückend, blaß; aber mit dem Ausdruck finsterer Entschlossenheit, und es lag eine sonderbare klanglose Festigkeit im Ton ihrer Stimme, als sie jetzt, die Augen auf ihren Gatten richtend, sagte:

„Er weiß es und wird es thun.“

Und dann zu Gotthold gewandt:

„Nicht wahr, Gotthold, um unserer alten Freundschaft willen wirst Du es thun? Und, lebe wohl, Gotthold; wir werden uns nicht wiedersehen.“

Sie reichte ihm eine eiskalte Hand, nahm Gretchen auf den Arm und verließ das Zimmer, ohne sich umzusehen, während Gretchen über ihre Schulter die Händchen nach Gotthold ausstreckte, rufend: „Bring’ mir heute was Schönes mit, Onkel Gotthold! hörst Du, Onkel Gotthold?“




16.


„Wenn doch die Frauen nicht gleich Alles tragisch nehmen wollten!“ sagte Brandow, „es ist wirklich ein Leidwesen! erst erbietet sie sich selbst, und jetzt – aber Consequenz darf man von den guten Geschöpfen freilich nicht fordern.“

„Und was forderst Du von mir?“ fragte Gotthold.

Er hatte sich an den Tisch gesetzt, während Brandow unruhig auf und ab ging, und sich bald da, bald hier im Zimmer etwas zu schaffen machte.

„Fordern! wie Du nur redest! fordern! wenn ich etwas von Dir zu fordern hätte, ich würde nicht so lange geschwiegen haben; aber ich denke, meine Frau hat Dir Alles gesagt, oder sollte sie –“

„Sie hat Alles gesagt, bis auf die Summe, um die es sich handelt!“

„Bis auf die Summe! prächtig, prächtig! so ganz frauenzimmermäßig! bis auf die Summe! auf solche Nebensachen braucht man freilich kein Gewicht zu legen!“

Und Brandow versuchte ein Lachen, das sehr heiser klang.

„Kurz und gut!“

„Kurz, meinetwegen! und gut! na, ich hoffe, daß Du es gut nimmst! ich brauche fünfundzwanzigtausend Thaler.“

„Zu wann?“

„Das ist eben der Teufel; zehntausend, die ich dem Curatorium für die aufgelaufene Pacht schuldig bin, sind morgen Vormittag an der Klosterhauptcasse in Sundin zu zahlen, nur daß Sellien, wenn er heute kommt, sie gleich mitnehmen wollte; aber natürlich ist das nur eine Gefälligkeit von seiner Seite, und würde eine Coulanz von der meinigen sein – keine Verpflichtung. Die Geschichte hat also bis morgen Zeit. Der Rest – will sagen fünfzehntausend – ist eine Schuld auf Ehrenwort, respective Ehrenschein, die heute Abend bezahlt sein muß, wenn ich meinen Brownlock und meine Weizenernte, die ich als Pfand eingesetzt, nicht verlieren will. Unter uns, man hat es eigentlich nur auf den Brownlock abgesehen; man, das heißt, die beiden Plüggens und Redebas, die mir seiner Zeit das Geld förmlich aufgezwungen und den Termin auf heute angesetzt haben, weil sie wußten, in welcher Klemme ich durch meine Pachtverpflichtungen bin, und hofften, ich würde auf keinen Fall zahlen können, und dann hatten sie den Brownlock! Die Schleicher, die Gauner! den Brownlock, der noch einmal so viel werth ist, als die ganze Mahlzeit, den Brownlock, auf den ich jetzt schon Fünfzehntausend in meinem Wettbuch habe und der mir seine Dreißigtausend einbringen soll, so wahr ich Karl Brandow heiße!“

Er that, als ob er sich in Zorn geredet habe und schlug mit der Reitpeitsche durch die Luft und an die Stulpen seiner Stiefel, während sein Lauerblick unverwandt an Gotthold haftete, der noch immer, die Stirn in die Hand gestützt, regungslos an dem Tische saß.

„Und das Geld sollte ich Dir verschaffen? Wie hast Du Dir das gedacht?“

„Ich dachte etwa so. Meine Frau sagte mir, daß Du uns heute schon verlassen willst; es thut mir natürlich ungeheuer leid; aber Du hast gewiß Deine Gründe, die ich achte, ohne sie zu kennen, und da benutzest Du vielleicht den Wagen, den ich eben, um Selliens zu holen, nach Prora schicke. Ich werde Dir Hinrich Scheel mitgeben, auf den ich mich vollkommen verlassen kann, und Hinrich könnte mir dann die Fünfzehntausend, mit denen ich meine lieben Gäste füttern muß, gleich zurückbringen. Du brauchst das Geld gar nicht zu zählen; Dein ausgezeichneter Wollnow, dieser untadelhafte Manichäer, verzählt sich nicht. Die Zehntausend für Selliens können gleich dort bleiben; er kann sie sich ja morgen mitnehmen, da er doch wieder über Prora muß. Du schreibst mir nur eine Zeile, oder sagst auch nur Hinrich, daß das Geld für ihn bei Wollnow auf meine Anweisung bereit liegt. Er läßt mir dann die Quittung gleich hier, oder giebt sie morgen an Wollnow, wo ich mir sie ja dann gelegentlich holen kann, und die Sache ist in Ordnung.“

„Und wenn Wollnow mir das Geld nicht geben will?“

„Nicht geben will? aber ich denke, Du hast Fünfzigtausend in seinem Geschäft?“

„Keinen Groschen mehr als Zehntausend!“

„Aber Semmel versicherte mich doch –“

„Semmel irrt.“

Brandow war mit erhobener Reitpeitsche stehen geblieben. Sollte der Mensch sich auf’s Handeln legen? elende Zehntausend? und dachte damit durchzukommen?

Ein höhnisches Lächeln flog über sein scharfes, heute ungewöhnlich blasses Gesicht, und die Reitpeitsche sauste durch die Luft.

„Ah bah! so hast Du doch Credit für Fünfzigtausend. Credit ist Geld, das weiß Niemand besser als ich, der ich seit lange schon von Credit lebe. Aber mache, was Du willst! Ich plaidire nicht für mich – ich bin von hartem Holz und werde auch diesen Sturm überstehen. Um die arme Cäcilie thut es mir freilich leid. Sie hat so sicher auf Deine Freundschaft gerechnet; sie hat mir so zugeredet, mich Dir anzuvertrauen –“

Gotthold hatte seine ganze Kraft zusammennehmen müssen, um während dieser abscheulichen Scene an sich zu halten, seinem Gegner nicht zu zeigen, wie furchtbar er litt. Plötzlich flirrte es ihm vor den Augen, es sauste in seinen Ohren, ihm war, als ob er am Boden läge und Brandow, der über ihm stand, holte eben zu einem zweiten Hiebe aus. Und dann raffte er sich mit einer ungeheuren Anstrengung aus der Ohnmacht, die ihn zu befallen drohte, auf und sich erhebend sagte er:

„Es ist gut; Cäcilie soll nicht umsonst auf meine Freundschaft gerechnet haben; sieh’ Du zu, daß Du Dich nicht verrechnet hast.“

Brandow war, von dem geisterhaften Ausdruck in Gotthold’s Gesicht erschrocken, unwillkürlich ein paar Schritte zurückgewichen. Er wollte mit einem Scherz erwidern, daß er sich, wenn es seine Schulden beträfe, nicht zu verrechnen pflege; aber Gotthold schnitt ihm mit einem verächtlichen „Genug!“ die Phrase in der Mitte durch und verließ das Zimmer, seine Sachen zu ordnen.

Eine Viertelstunde später rollte der Wagen, den Hinrich Scheel lenkte, in den Nebelmorgen hinein über die Haide den Weg nach Prora.

[669]
17.


In Frau Wollnow’s kleinem behaglichen Balconzimmer der oberen Etage hatte man soeben den Kaffee eingenommen; die Herren waren gegangen, um unten im Comptoir eine Cigarre zu rauchen. Die Damen saßen noch am Tisch, von welchem das hübsche junge Dienstmädchen die Sachen abräumte; die drei Kinder, die sich in die veränderte Hausordnung – man nahm den Kaffee sonst unten im Wohnzimmer ein – nicht finden konnten, tollten übermüthig umher, zu Frau Wollnow’s herzlichster Lust, während Alma Sellien eine mißvergnügte Falte mit der zarten wohlgepflegten Hand von der weißen Stirn glättete.

„Könntest Du die Kinder jetzt nicht fortschicken?“

„Die Kinder!“ sagte Frau Wollnow mit einem erstaunten Blick ihrer runden braunen Augen auf ihre braunäugigen Lieblinge.

„Ich bin des Morgens stets ein wenig nervös; und heute, wo ich noch eine Landpartie vorhabe, muß ich doppelt vorsichtig sein.“

„Ach, verzeihe, liebe Alma! ich dachte nicht daran, daß Du an den Spectakel nicht gewöhnt bist. Es ist auch nicht immer bei mir so schlimm; aber seitdem mich vorgestern meine Stine verlassen hat – lieber Gott, ich kann es ihr nicht verdenken; sie will heirathen, die gute alte Person, und noch dazu einen jungen Menschen, der beinahe ihr Sohn sein könnte, da hat sie denn allerdings keine Zeit zu verlieren. Sie ist zu ihren Eltern zurückgegangen; die Hochzeit soll schon in zwei Wochen sein. Es ist ihr schwer genug geworden, sich von den Kindern zu trennen –“

„Du wolltest die Kinder ja wegschicken, Liebe!“

Die Kinder waren fortgeschickt; Alma Sellien lehnte sich erschöpft in die Sophaecke zurück und sagte, indem sie die sanften blauen Augen wie im Halbschlummer schloß: „Ich bin überzeugt, es ist wieder eine Enttäuschung.“

„Was, liebe Alma?“ fragte Frau Wollnow, deren Gedanken noch bei ihren Kindern waren.

„Mein Mann schwärmt so entsetzlich für ihn; er enthusiasmirt sich immer nur für Männer, die ich hinterher abscheulich finde.“

„Diesmal dürftest Du Dich irren,“ rief Frau Wollnow, die über einem so interessanten Thema selbst das Schreien ihres Jüngsten auf der Treppe überhörte; „Dein Mann hat eher zu wenig als zu viel gesagt. Er ist nicht nur ein schöner Mann – worauf ich für mein Theil herzlich wenig Gewicht lege – groß, von einer überaus feinen, anmuthigen Haltung, die mit dem sanften und doch entschiedenen Ausdruck seiner Züge, mit dem milden und doch festen Blick der großen, tiefblauen Augen, ja mit dem weichen und doch sonoren Klang seiner Stimme auf das Herrlichste harmonirt.“

„Du wirst ja zur Dichterin,“ sagte Alma.

Ottilie Wollnow erröthete bis in ihr krauses blauschwarzes Stirnhaar hinauf.

„Ich leugne nicht, daß ich ihn sehr – sehr –“

„Liebe,“ ergänzte Alma.

„Nun ja, wenn Du willst; das heißt, wie ich alles Schöne und Gute liebe.“

„Eine vortreffliche Theorie, zu der ich mich ganz und gar bekenne, nur daß wir leider in der Praxis jedesmal auf den Widerspruch unserer Männer gefaßt sein müssen. Der Deinige schien wenigstens von Deinem Protégé nicht ebenso entzückt zu sein.“

„Mein guter Emil!“ sagte Frau Wollnow, „wir stimmen in so manchen Dingen nicht, und, lieber Himmel, es ist ja auch kein Wunder; er hat es sich sein Lebenlang so blutsauer werden lassen müssen, das hat ihn ein wenig ernst und pedantisch gemacht; aber er ist ein so grundguter Mensch, und in diesem Falle irrst Du Dich nun vollkommen: er interessirt sich im Grunde für Gotthold noch viel mehr, oder, wenn das zuviel gesagt ist, mindestens ebenso viel wie ich.“

„Es schien nicht so.“

„Aber schien auch nur. Er fürchtet, sich etwas zu vergeben, wenn er redet, wie es ihm um’s Herz ist. Ich habe gefunden, alle Menschen, die eine traurige Jugend durchgemacht haben, sind so. Auch das Herz will, so zu sagen, Tanzstunde gehabt haben, und hat es keine gehabt, hat es immer nur unter dem Druck enger, trübseliger Verhältnisse schlagen können, wie bei meinem armen Emil, das verwindet man das ganze Leben nicht. Aber, was ich bemerken wollte: diesmal hat es damit eine ganz besondere Bewandtniß. Mein guter Emil ist freilich noch niemals, selbst gegen mich nicht, mit der Sprache herausgegangen, der gute, liebe Mensch, als ob ich ihm übel nehmen würde, daß er vor dreißig Jahren, oder sind es schon fünfunddreißig, einmal gründlich verliebt gewesen ist, in die Mutter Gotthold’s nämlich, als er und sie in Stettin in demselben Hause lebten – es ist eine lange, ganz romantische Geschichte.“

[670] „Sieh’, sieh’!“ sagte Alma, „wer hätte das Deinem Manne zugetraut!“

„Bitte,“ rief Ottilie, „da verkennst Du doch Emil sehr gründlich; er ist von einer Frische, einer Kraft, einem jugendlichen Feuer –“

„Wie glücklich Du bist!“ sagte Alma mit einem leisen Seufzer.

„Ich hoffe, Du bist es nicht weniger; aber ich wollte ja erklären,[WS 1] weshalb Emil still wird, sobald auf Gotthold die Rede kommt. Also einmal aus dem angeführten Grunde, und dann hat er sich in den Kopf gesetzt: dieser Besuch Gotthold’s bei Brandows müsse für ihn – ich meine für Gotthold – zum Unglück ausschlagen. Du weißt, Gotthold hat Cäcilien geliebt, ja, unter uns, ich bin überzeugt, er liebt sie noch. Aber nun sage selbst: kannst Du darin ein so großes Unglück sehen?“

„Gar nicht; ich finde es nur etwas unwahrscheinlich; Du weißt, ich habe Eure Schwärmerei für Cäcilie niemals theilen können und sehe durchaus nicht ein, weshalb sich alle Männer in sie verlieben sollen. Ihr Mann ist offenbar gar nicht mehr in sie verliebt; wenigstens macht er einer Dame, die ich kenne, so oft er sie trifft, den Hof in einer Weise, die dafür spricht, daß sein Herz nach einer andern Seite nicht gerade übermäßig stark engagirt ist.“

„Wenn er überhaupt eines hätte. Verzeihe, liebe Alma, Du bist eine kluge Frau, und ich bin überzeugt, daß Du Deinen Mann liebst; aber Brandow ist wirklich ein ungewöhnlich gefährlicher Mensch: von der feinsten Tournüre, wenn er will, stets munter, launig, oft witzig, ja gefühlvoll, wenn es sein muß; dabei keck, kühn, ein anerkannter Meister in allen ritterlichen Künsten, und so etwas imponirt uns Frauen immer, mit einem Wort ein gefährlicher Mensch. Lieber Gott, wäre es denn sonst zu verstehen, daß die aristokratische, poetische Cäcilie sich in ihn verliebt hätte! Aber was hilft das Alles ohne wahre Liebe, und einer solchen halte ich Brandow ein für alle Mal nicht fähig. Nun laß in eine derartige Ehe einen Mann eintreten, wie ich Dir Gotthold geschildert habe, der noch dazu eine Jugendleidenschaft für die Frau kaum überwunden hat – wahrhaftig, wenn man so recht darüber nachdenkt, kann man meinem Manne kaum Unrecht geben: Naturen von einer solchen Leidenschaftlichkeit – in der Einsamkeit des Landlebens dazu – es fällt mir wirklich wie Schuppen von den Augen. Und daß Gotthold während dieser ganzen acht Tage nichts von sich hat hören lassen! Stille Wasser sind tief, aber sind nicht vielleicht auch tiefe still? Und ich bin doch eigentlich durch meine unglückselige Bilderwuth die Veranlassung dazu gewesen!“

„Darüber glaube ich Dich beruhigen zu können,“ sagte Alma; „ich habe gefunden, daß die Männer immer einen Grund haben, das zu thun, was sie gern thun möchten; ist es das Eine nicht, ist es das Andere. Und dann kann ich Dir ja heute Abend, spätestens morgen, wenn wir die Nacht in Dollan bleiben, die neuesten und genauesten Nachrichten über alle diese interessanten Verwickelungen bringen. Ich fürchte nur, daß sie weniger interessant sind, als Du Dir einredest.“

„Du Glückliche!“ sagte Ottilie seufzend; „wie gern ginge ich mit. Aber das würde mein Mann nie erlauben.“

„‚Erlauben‘ ist ein Wort, das sich ein Mann gegenüber seiner Frau niemals erlauben sollte,“ sagte Alma, indem sie ihren Trauring an dem schlanken Finger auf- und abgleiten ließ.

Das Gespräch der beiden Damen wurde durch den Assessor Sellien unterbrochen, der mit einiger Hast durch den Salon herbeikam.

„Nun,“ sagte seine Frau, „Du kommst schon zurück? Der Wagen ist da? Ich bin noch gar nicht in der Reisestimmung.“

„Der Wagen ist noch nicht da,“ sagte der Assessor, indem er zwischen den Damen Platz nahm und die Hand seiner Frau, die schlaff über der Sophalehne hing, an seine Lippen führte; „ich komme eigentlich, zu fragen, ob Du nicht lieber hier bleiben willst.“

„Ich hier bleiben?“ sagte Alma, sich schnell aus ihrer Ecke aufrichtend. „Aber was fällt Dir nur ein, Hugo?“

„Du hast Deine Migraine, liebes Kind, und in hohem Grade; ich habe es Dir vorhin schon angesehen.“

„Dann hast Du ganz falsch gesehen, lieber Hugo; ich befinde mich heute Morgen ganz ausnahmsweise wohl.“

„Und das abscheuliche Wetter,“ sagte der Assessor mit einem nachdenklichen Blicke durch die offene Balconthür; „da, es regnet schon wieder; ich begreife nicht, wie die Damen sich so exponiren können.“

Er stand auf und machte die Thür zu.

„Brandow wird doch jedenfalls einen geschlossenen Wagen schicken,“ sagte Alma.

„Um so schlimmer!“ rief der Assessor. „Eine Stunde in einem geschlossenen Wagen, das hältst Du, armes Kind, gar nicht aus. Und dazu die gräulichen Wege – ich kenne das! auf der Dollaner Haide, nachdem es die ganze Nacht geregnet hat! – das ist geradezu lebensgefährlich.“

„Ich werde Dich doch dieser Lebensgefahr nicht allein aussetzen!“ sagte Alma lächelnd.

„Das ist ganz etwas Anderes, liebes Kind! Wir Männer müssen folgen, wohin uns die Pflicht ruft.“

„Und die Aussicht auf ein gutes Diner –“

„Und mit Einem Worte, liebe Alma, Du thätest mir einen Gefallen, wenn Du hier bliebest.“

„Ich habe nicht die mindeste Lust, Dir diesen Gefallen zu thun, lieber Hugo, und nun von was Anderm, wenn ich bitten darf.“ Der Assessor war aufgestanden und hatte einen Gang durch das Zimmer gemacht.

„Nun denn,“ sagte er, stehen bleibend; „Du weißt, wie ungern ich Dir etwas versage; aber diesmal kann ich es Dir wirklich nicht erlauben.“

Alma[WS 2] sah ihren Gatten starr an; Ottilie, die nicht länger an sich halten konnte, lachte laut und rief:

„‚Erlauben‘ ist ein Wort, das sich ein Mann gegenüber seiner Frau niemals erlauben sollte.“

„Das Wort ist vielleicht nicht ganz schicklich,“ sagte der Assessor; „aber es ändert schließlich an der Sache nichts. Und die Sache ist, daß mir Ihr Gatte soeben gewisse Mittheilungen gemacht hat, die mir Alma’s Begleitung diesmal nicht nur nicht wünschenswerth, nein geradezu unmöglich erscheinen lassen. Auch ist Ihr Gemahl, theure Frau, ganz und gar meiner Ansicht.“

„Aber Emil geht in seiner Aengstlichkeit auch zu weit,“ rief Frau Wollnow ärgerlich; „das hat doch die arme Cäcilie nicht verdient! Das heißt doch, den Ruf einer Frau preisgeben, noch dazu ganz ohne Noth, ganz ohne Grund! Wenn man so streng sein will, so müßte man schließlich allen Umgang abbrechen.“

„Ich verstehe Sie nicht ganz, verehrte Frau,“ sagte der Assessor; „zum wenigsten weiß ich nicht, was der Ruf der Frau Brandow mit dieser ganzen leidigen Angelegenheit zu thun hätte.“

„Dann verstehe ich wieder Sie nicht,“ sagte Ottilie.

„Es wird am besten sein,“ erwiderte Sellien, „daß ich, um ferneren Mißverständnissen vorzubeugen, den Damen einfach sage, um was es sich handelt. Zwar hat mir Herr Wollnow Discretion zur Pflicht gemacht; aber die mir so schmeichelhafte Hartnäckigkeit, mit der meine Frau meine schüchternen Versuche, sie zum Hierbleiben zu bewegen, zurückweist, zwingt mich, aus meiner diplomatischen Haltung zurückzutreten. Herr Wollnow hat mir aber soeben anvertraut, daß meine sichere Annahme, Brandow werde die zehntausend Thaler bereit haben, die ich heute bei ihm in Empfang nehmen wollte, gänzlich illusorisch ist. Brandow schrieb mir allerdings vor ungefähr vierzehn Tagen und machte aus seiner Verlegenheit kein Hehl; aber er ist ein so gewandter Mensch und hat sich noch immer geholfen, wenn es darauf ankam; jedenfalls hatte er mir auf meinen ermuthigenden Brief nicht geantwortet, und ich mußte, wie gesagt, annehmen, daß er mich nicht umsonst kommen lassen werde, im Gegentheil Alles in Ordnung sei. Nun aber höre ich von Ihrem verehrten Gemahl, wie die Sache ganz anders und in der That ganz verzweifelt steht. Brandow’s Credit ist vollständig erschöpft; Herr Wollnow sagt, auf der ganzen Insel fände sich Niemand, der ihm noch einen Thaler leihen würde, seitdem die beiden Plüggens und Redebas, die ihn so lange über Wasser gehalten, noch gestern unten in Herrn Wollnow’s Comptoir erklärt haben, ihre Geduld sei erschöpft und von ihnen bekomme er keinen Schilling mehr. Dafür aber bekommen sie von ihm, das heißt, sollen sie in den nächsten Tagen schon eine sehr bedeutende Summe bekommen. Sie haben von fünfzehntausend Thalern gesprochen; indessen meint Herr Wollnow, dabei würde wohl ein wenig Aufschneiderei mit unterlaufen. Wie dem aber auch sei und angenommen, daß [671] dies Brandow’s ganzes Debet wäre – was zweifellos nicht der Fall ist – er ist immer ein verlorener Mann. Das Curatorium rechnet mit Sicherheit darauf, daß Brandow seine zwei Jahre lang gestundete Pacht morgen zahlt. Geschieht es nicht, wird es unweigerlich von seinem Rechte Gebrauch machen und zur Exmission schreiten, und dann ist Brandow so gewiß und so gründlich ruinirt, wie man es nur überhaupt sein kann.“

„Arme Cäcilie! arme, arme Cäcilie!“ rief Frau Wollnow, in Thränen ausbrechend.

„Sie dauert mich,“ sagte der Assessor, an seinen langen Nägeln spielend. „Aber was ist da zu thun?“

„Emil muß helfen!“ rief Frau Wollnow, das Taschentuch vom Gesichte nehmend.

„Er wird sich hüten; ‚es hieße Wasser in das Faß der Danaiden schütten,‘ sagte er noch eben.“

„Aber Sie selbst, lieber Sellien, Sie sind sein Freund; Sie können Ihren Freund nicht untergehen sehen.“

Der Assessor zuckte die Achseln. „Freund! lieber Himmel, wen nennt man nicht so! Und mein Verhältniß zu Brandow ist doch im Grunde ein sehr oberflächliches, wenn Sie wollen, ein geschäftliches, nicht wahr, liebe Frau?“

„O gewiß, gewiß!“ murmelte Alma.

„Und gerade diesen geschäftlichen Charakter unseres Verhältnisses würde ich verleugnen, wenn ich mich in einer so kritischen Situation von Alma begleiten ließe. In Gegenwart der Frauen die gemüthlichen Saiten nicht zu berühren, ist sehr schwer, und es scheint mir doch äußerst wünschenswerth, daß man in einem solchen Falle selbst der Möglichkeit dazu sorgsam aus dem Wege geht. Bist Du nicht auch der Ansicht, liebe Alma?“

„Es ist eine unangenehme Lage,“ sagte Alma.

„Nicht wahr? Und weshalb wolltest Du Dich derselben ohne Noth aussetzen? Ich wußte ja, daß meine kluge kleine Frau mir schließlich Recht geben würde.“

Und der Assessor küßte zärtlich Alma’s Hand.

„Dann, däucht mir, müßten aber auch Sie hier bleiben, lieber Assessor,“ sagte Frau Wollnow.

„Ich? Weshalb? Im Gegentheil, es ist nur praktisch, wenn ich so unbefangen wie möglich erscheine. Ich weiß von nichts; ich ahne nichts. Es thut mir natürlich ungeheuer leid, wenn Brandow mich auf die Seite nimmt und mir sagt, daß er nicht zahlen kann; aber ich wette, das Diner wird deshalb um nichts schlechter sein und mir um nichts schlechter schmecken. Seine Rothweine und sein Champagner waren immer süperb.“

Frau Wollnow stand auf und trat auf den Balcon. Sie mußte frische Luft schöpfen, auf die Gefahr hin, sich den neuen seidenen Morgenrock in dem Regen zu verderben, der in diesem Augenblicke ziemlich dicht vom grauen Himmel herabfiel. „Arme, arme Cäcilie!“ wiederholte sie seufzend, „und Niemand, der Dich retten kann und will!“

Sie dachte daran, daß sie ihrem Manne fünfzigtausend Thaler baar mitgebracht hatte; aber freilich, ohne Emil’s Erlaubniß konnte sie die nicht angreifen, und Emil würde es nicht erlauben. Sollte sie es mit einem Fußfall versuchen? Sie wäre über diese extravagante Idee, besonders wenn sie sich dabei ihres Gatten verwundertes Gesicht vorstellte, beinahe in ein lustiges Gelächter ausgebrochen, nur daß ihr wieder die Thränen aus den Augen drangen und sich mit den Regentropfen vermischten, die ihr in das heiße Gesicht schlugen. Plötzlich wurden die beiden Gatten drinnen in ihrer leisen und angelegentlichen Unterhaltung durch einen lauten Ruf vom Balcon aufgeschreckt: „Gotthold, um des Himmels willen, Gotthold!“

„Wo, wo?“ riefen der Assessor und seine Frau wie aus einem Munde, nach dem Balcon eilend.

„Dort kommt er!“ sagte Ottilie, auf den Marktplatz hinabdeutend, über welchen jetzt ein Mann, den breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen, gerade auf das Haus zugeschritten kam.

„Er ist nicht so groß wie Brandow,“ sagte Alma, welche durch ihre Lorgnette den Kommenden scharf betrachtete.

„Was mag er wollen?“ fragte ihr Gatte.

„Wir werden es alsbald erfahren,“ sagte Frau Wollnow, indem sie mit einiger Aengstlichkeit die beiden Anderen aus der offenen Thür in das Zimmer zurückdrängte.

Aber Gotthold hatte sich, wie das herbeigerufene Mädchen berichtete, nur bei dem Herrn melden lassen, und sie hatte ihn zum Herrn in das Comptoir führen müssen. Die Conferenz, welches Inhaltes sie auch sein mochte, dauerte viel länger, als den erwartungsvoll Harrenden irgend lieb war, und nach einer Stunde, in welcher der Assessor die Ungeduld der Damen durch eine ausführliche Relation seiner mit Gotthold in Sicilien erlebten Abenteuer eher vermehrt als beschwichtigt hatte, erschien Herr Wollnow allein. Man war erstaunt, verwundert und beruhigte sich kaum, als Wollnow sagte, daß Gotthold nur in den Fürstenhof gegangen sei, sich umzuziehen und zum Frühstück zurückkommen werde, wenn seine Geschäfte ihm Zeit ließen. Man wünschte zu erfahren, was denn das für Geschäfte seien, die so dringend wären und zu deren Erledigung sich Gotthold einen Sonntagvormittag ausgesucht habe.

„Da werden die Damen ihn schon selber fragen müssen,“ sagte Herr Wollnow; „er hat mich nicht in sein Vertrauen gezogen. Ich weiß nur, daß er mit unserem Freunde hier nach Dollan zurückfahren und in derselben liebenswürdigen Begleitung, auf die er sich ausnehmend freut, heute Abend oder morgen wieder hier eintreffen will, um dann alsbald seine Reise weiter fortzusetzen. Es scheint, daß es sich noch um den schleunigen Einkauf von ein paar Geschenken handelt, mit denen er seine Dollaner Gastfreunde zu guter Letzt überraschen will, wenigstens hat er sich von mir eine Summe geben lassen, die für bloße Reisezwecke fast ein wenig zu groß ist, das Weitere verschweig’ ich!“

Und Herr Wollnow summte mit anscheinend größter Sorglosigkeit die betreffende Melodie aus dem „Figaro“, als er sich, weiteren Fragen auszuweichen, wieder aus dem Zimmer begab.

„Ich finde es keineswegs artig, sich nicht wenigstens zu präsentiren,“ sagte Alma; „ich habe große Lust, ihn dafür abzustrafen und nicht beim Frühstück zu erscheinen.“

„Aber ich bitte Dich!“ sagte der Assessor.

Ottilie Wollnow antwortete nicht. Sie kannte ihren Gatten zu gut, als daß ihr trotz seiner scheinbar unbefangenen Miene der düstere Blick der Augen und die Wolke auf der Stirn hätten entgehen können. Sie hatte durchaus die Empfindung, daß die Unterredung Gotthold’s mit ihrem Gatten nicht so harmlos gewesen sei, daß vielmehr irgend eine Unannehmlichkeit, vielleicht ein Unglück in der Luft schwebe, und vor Allem war sie überzeugt, daß Selliens sich ganz umsonst ereiferten und Gotthold nicht zum Frühstück erscheinen werde.




18.


In dem Garten zu Dollan wandelte die Gesellschaft zwischen den nassen Hecken in den hier und da verregneten Wegen bereits seit einer halben Stunde auf und ab, der Ankunft des Assessors und des Mittagessens harrend.

„Du bist ein schöner Kerl,“ schrie Hans Redebas, der mit Otto von Plüggen ging, als ihm Brandow mit Gustav von Plüggen und dem Pastor Semmel zum dritten Mal an derselben Stelle begegnete; „erst ladest Du uns auf Jemand ein, der bei Thau und Nebel das Weite sucht, dann fällt es Deiner lieben Frau, um deren willen wir Alle gekommen sind, ein, Migräne zu haben und nicht zu erscheinen; dann müssen wir wieder auf den Assessor warten und hier in Deinem alten nassen Garten umherlaufen, wie die Pferde in der Tretmühle! Ich gebe Dir noch zehn Minuten, wenn wir dann nicht bei Tisch sitzen, lasse ich anspannen und wir essen in Dahlitz und nicht schlecht. Was sagst Du dazu, Pastor?“

Und Herr Redebas lachte und schlug den Pastor, der mit ihm in seinem Wagen gekommen war, derb auf die Schulter. Brandow lachte auch; man müsse Geduld mit ihm haben; es sei nicht seine Schuld, daß der Assessor noch nicht da sei und wenn es sonst heute ein wenig quer bei ihm gehe; das Essen sei übrigens längst fertig.

„Dann laß uns in dreier Teufel Namen zu Tisch gehen, oder ich falle in Ohnmacht,“ schrie Herr Redebas.

Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß der riesengroße und riesenstarke Mann einer solchen Anwandlung von Schwäche unterliegen werde; aber Brandow hatte alle Ursache, die üble Laune seiner Gäste nicht noch mehr zu reizen. Man hatte bereits, die Zeit bis zur Mahlzeit zu kürzen, ein kleines Spiel gemacht, an welchem sich der Pastor, außer mit seinem gespanntesten Interesse, nicht betheiligte, und hatte ein paar hundert Thaler an ihn verloren. Das war freilich eine verschwindend kleine Summe in Vergleich zu der, welche er seinen Gästen schuldig war; aber [672] man hatte den Verlust doch übel empfunden und aus seinem Verdruß um so weniger ein Hehl gemacht, als Brandow noch mit keinem Wort des Geschäftes Erwähnung gethan, zu dessen Regulirung man eigentlich heute zusammengekommen war. Ohne Zweifel konnte Brandow nicht zahlen. Das hatte man freilich vorausgesetzt, ja im Grunde war das ganze von Hans Redebas und den beiden Plüggen gemeinschaftlich unternommene Geschäft auf dieser Voraussetzung basirt; aber jetzt hatte Jeder von ihnen nicht übel Lust, sich in dem Lichte eines Ehrenmannes zu sehen, den man in seinem Vertrauen auf das Schmählichste betrogen hat.

Besonders war Herr Redebas in sehr gereizter Stimmung. Die Bedingungen, zu denen er sich bei Abschluß des gemeinschaftlichen Geschäfts verstanden hatte, gefielen ihm mit jedem Augenblicke weniger. Warum hatte er nicht entweder die ganze Summe gezahlt, oder sich doch für sein Dritttheil das zweite Pfand, das Brandow neben dem Brownlock angeboten, seine Weizenernte, zuschreiben lassen? Der Weizen, wie er sich eben noch überzeugt hatte, stand ganz ausnahmsweise und über alles Erwarten gut, es hätte ein namhafter Gewinn dabei herauskommen können; mit dem Pferde war es doch schließlich ein unsicherer Handel. Seitdem das Comité in die Bahn für das Herrenreiten ein großes Stück Sumpfland hineingezogen, waren die Chancen für den Brownlock, den man allgemein als ein zu schweres Pferd erachtete, namhaft gefallen. Und was hatte ein so äußerst solider Mann wie Hans Redebas mit solchen Dingen zu thun, die sich schließlich nur für Edelleute schickten! Mochten die beiden Plüggen zusehen, wie sie mit dem Pferde fertig wurden! Es war das ihr Metier; sie verstanden sich darauf, und so mochten sie für ihre Zehntausend in Gottes Namen das Pferd behalten und ihm den Weizen lassen! – Aber die beiden Brüder machten trotz der sprüchwörtlichen Uneinigkeit, die sonst zwischen ihnen herrschte, diesmal gemeinschaftliche Sache. Man habe einmal die Verabredung getroffen und es müsse dabei sein Bewenden haben; und wenn Hans Redebas glaube, er wisse allein, wo Barthel den Most hole, so irre er sich gewaltig. Und da nun Herr Redebas seinen Groll an den beiden Compagnons nicht wohl auslassen konnte, hatte er gemeint, sich gegen Brandow desto unzarter und schonungsloser betragen zu dürfen. Er hatte es bereits vor Tisch in überreichem Maße gethan, und der Wein, welchen er bei der Tafel in ungeheuren Quantitäten zu sich nahm, hatte, trotz seiner sonstigen vorzüglichen Qualitäten, nicht die Eigenschaft, die Laune des Riesen zu verbessern.

Brandow würde es zu jeder andern Zeit ein Leichtes gewesen sein, die plumpen Scherze seines Gegners zu pariren und die Lacher auf seine Seite zu bringen; auch galt er sonst unter seinen Gefährten für einen Mann, den man nicht ungestraft reizen dürfe; aber heute schien sein gefürchteter Witz ihn sammt dem erprobten Muth verlassen zu haben. Er hörte nicht, was gar nicht zu überhören war; er verstand nicht, was man gar nicht mißverstehen konnte; er lachte, wo er sonst zornig aufgesprungen sein würde, und versuchte mit blassen bebenden Lippen, so gut es gehen wollte, der Unterhaltung eine scherzhafte Wendung zu geben, wobei er denn zu immer stärkeren Mitteln griff und bald neue Anekdoten zum Besten gab, die selbst dem langmüthigen Pastor allzu anstößig dünkten.

Es war trotz des Gelächters und Lärmens, und trotzdem die Reihe leerer Flaschen unter dem Schenktisch immer länger wurde, ein trübseliges, unerquickliches Mahl, für Niemand mehr, als für den Wirth des Hauses. Brandow wußte aus langjähriger Erfahrung, daß er seinen Nerven viel zumuthen dürfe, aber es kam ihm jetzt doch vor, als werde er, was er heute auf sich genommen, nicht zu Ende führen können. Während er wie toll über eine Geschichte lachte, die er eben zum Besten gegeben, zuckte es ihm in den Fingern, die Champagnerflasche aus dem Kübel zu reißen und sie dem Redebas auf dem großen, schwarzhaarigen Kopf zu zerschmettern. Seine Kraft, er fühlte es, war so gut wie erschöpft; er brach zusammen, wenn Hinrich Scheel nicht bald kam und ihn aus dieser grauenhaften Qual der Ungewißheit erlöste. Und dann war ihm wieder, als ob diese Qual gar nichts sei gegenüber der andern, gegenüber der Qual der Gewißheit, daß seine Frau jenen Menschen liebte und daß sie ihn selbst zu tief verachtete, um ihn auch nur hassen zu können, und daß er diese Verachtung vollauf verdiene. Wieder und wieder – mit der Schnelligkeit des Blitzes – in den paar Momenten, die er brauchte, das Glas zum Munde zu bringen und hinunterzustürzen – durchlebte er die Scene heute Nacht in ihrem Schlafgemach, als er mit geballten Fäusten vor ihr stand und keine Miene in ihrem bleichen Gesicht zuckte, bis er den tödtlichen Streich, den er so lange grausam aufgespart, nach ihrem Herzen führte. Nach ihrem Herzen! in ihr Herz! es war ein Meisterstreich gewesen! ein Streich, der die Stolze, Hoffährtige zusammenbrechen ließ, wie einen Hirsch, den die Kugel auf’s Blatt getroffen, der sie zu seinem willenlosen, gehorsamen Werkzeug und ihn zum Herrn der Situation machte! Eine herrliche Situation, hier zu sitzen und die plumpen Stichelreden des Redebas ertragen, und über seine eigenen albernen Witze lachen, und die dummen Gesichter der Plüggen ansehen, und gegen den scheinheiligen Pfaffen freundlich sein, und darauf achten zu müssen, daß keiner ein leeres Glas habe, und durch all den wüsten Lärm immerfort auf das Rollen des Wagens zu horchen, der den Hinrich brachte und mit dem Hinrich das Geld, für das er gethan, was er gethan, für das er litt, was er litt, und ohne das er ein verlorener Mann war! Endlich, endlich! das war Klappern von Pferdehufen und das Geräusch eines Wagens, der vor dem Hause hielt! Niemand hatte es gehört, außer ihm! desto besser, so konnte er ungestört mit dem Hinrich sprechen!

Er verließ unter dem Vorwand, noch eine andere Sorte Champagner holen zu wollen, seine Gäste, und eilte über den Flur der offenen Hausthür zu, vor der noch der Wagen hielt und er den Assessor im Gespräch mit Hinrich Scheel erblickte, als er plötzlich aus seinem Zimmer, dessen Thür ebenfalls offen stand, seinen Namen rufen hörte, und, sich nach dem Rufe wendend, den Verhaßten dort stehen sah. Schrecken und Wuth durchzuckten ihn wie ein zweischneidig Schwert. Was brachte den Menschen zurück? wie konnte er wagen zurückzukommen? um zu sagen, daß er kein Geld habe, nicht zahlen wolle?

„Wir haben ein paar Augenblicke für uns,“ sagte Gotthold, die Thür hinter dem Eingetretenen verriegelnd, „der Assessor ist noch draußen; er weiß von nichts, und Niemand weiß etwas, außer selbstverständlich Wollnow, ohne den ich Dir das Geld, das Du verlangtest, überall nicht verschaffen konnte. Und auch so ist es mir nicht möglich gewesen, es Dir zu verschaffen, wie Du es wünschtest; ich habe deshalb noch einmal kommen müssen. Du wolltest fünfzehntausend Thaler baar. Wollnow, der gerade morgen sehr bedeutende Zahlungen für Getreideeinkäufe zu machen hat, konnte mir nicht mehr als zehntausend geben; das Uebrige bringe ich Dir in drei Wechseln zu fünftausend Thalern, von Wollnow acceptirt und morgen nach Sicht in Sundin bei Philipp Nathanson, dem bedeutendsten Banquier in Sundin, wie mir Wollnow mittheilte, zahlbar. Diese Wechsel sind bei dem Rufe, in welchem Wollnow in der ganzen Gegend und nicht zum wenigsten bei Deinen Freunden steht, so gut wie baares Geld. Ich denke, daß Du Dich so mit ihnen wirst arrangiren können; schlimmsten Falles bin ich hier, um Dir mit meinem persönlichen Credit zu Hülfe zu kommen, obgleich ich sicher annehme, daß es dessen nicht bedürfen wird.“

Gotthold legte ein größeres, versiegeltes Packet auf den Tisch und nahm aus seiner Brieftasche die drei Wechsel, die er Brandow einhändigte und die dieser mit einem vielgeübten Blick überflog, um sich zu überzeugen, daß diese Papiere in der That vollkommen so gut waren, wie baares Geld.

[685] Eine wunderliche Empfindung bemächtigte sich des Halbberauschten. Die Befreiung von der Angst der Erwartung, die Gewißheit der entschiedenen Rettung aus seiner verzweifelten Lage, die Aussicht dazu, jetzt mit Hülfe seines wiedergewonnenen Brownlock in Kurzem als Sieger aus dem Sundiner Rennen und Gewinner einer unberechenbar großen Summe hervorzugehen – das Alles kam über ihn wie ein Freudenrausch und eine Art von Nöthigung, den Mann, der ihm dazu verholfen, als seinen Retter und einzigen wahrhaften Freund in die Arme zu schließen; und in demselben Momente sagte er sich, daß der Mann, Träumer und Phantast, wie er war, unmöglich ihm eine Summe, die ein kleines Vermögen repräsentirte, anvertrauen würde, wenn nicht alles Schlimmste, was seine unkeusche eifersüchtige Phantasie sich ausgemalt, bereits geschehen – und der Blick seiner stieren Augen, mit denen er jetzt Gotthold ansah, sagte: könnte ich dich zertreten, wie eine Schlange, die mir über den Weg kriecht!

„Ich glaube nicht, daß Du jemals in die Lage kommen wirst, mir dies Geld zurückzustellen,“ sagte Gotthold; „vielleicht ist es Dir nicht unangenehm zu hören, daß ich von vornherein auf Wiederbezahlung und deshalb auf einen Schuldschein, der ja doch nur ein Stück Papier bleiben würde, verzichte.“

Er hatte das Zimmer verlassen; Brandow brach in ein heiseres Gelächter aus.

„Auch das!“ murmelte er; „als ob es noch eines Beweises bedürfte! Aber Ihr sollt es mir bezahlen, alle Beide, so theuer, daß dies hier im Vergleich dazu ein Tropfen auf einen heißen Stein ist.“

„Durch die Thür, welche Gotthold halb offen gelassen, schaute der Assessor herein. Er habe von Gotthold gehört, daß Brandow hier sei, und er beeile sich, die günstige Gelegenheit zu benutzen, um den Freund unter vier Augen zu begrüßen und ihm sein Bedauern darüber auszusprechen, daß Gotthold’s Geschäfte sie so lange in Prora festgehalten, sodann, daß er seine Frau, die an einer schrecklichen Migräne leide, nicht habe mitbringen können. Brandow erklärte es als einen Beweis der Sympathie schöner Seelen, daß seine Frau heute an demselben Uebel darniederliege; und der sarkastische, ja höhnische Ton, in welchem er es sagte, veranlaßte den Assessor, sich im Stillen wegen seiner Vorsicht ein schmeichelhaftes Compliment zu machen, daß er dies zerrüttete Haus allein betreten habe. Um so größer aber war nun sein Erstaunen, als Brandow mit scheinbar vollkommener Gelassenheit fortfuhr:

„Und da wir doch nun einmal unter vier Augen sind, lieber Sellien, wollen wir die Zeit benutzen, unser kleines Geschäft in Ordnung zu bringen. Hier sind die bewußten Zehntausend. Ich habe sie von Wollnow – nebenbei für meinen vorjährigen Raps und einige kleinere Getreidelieferungen. Das Paket liegt noch, wie ich’s bekommen, mit Wollnow’s Siegel verschlossen. Wollen Sie sich die, wie ich glaube, überflüssige, aber doch wohl nothwendige Mühe nehmen, nachzuzählen, so geniren Sie sich nicht. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie mir wohl nach. Ich mache Ihnen nur noch eine Quittung zurecht, die Sie gütigst unterschreiben und in dies Schubfach legen wollen.“

Der Assessor war so erstaunt, daß er wirklich kaum wußte, was er erwidern solle; auf jeden Fall war er entschlossen, den Inhalt des Pakets trotz des Wollnow’schen Siegels einer genauen Prüfung zu unterziehen. Brandow schrieb mit fliegender Feder die Quittung und verließ dann mit einem ironischen „Verzählen Sie sich nicht, lieber Assessor!“ das Zimmer.

Er hatte es so eilig gehabt, um endlich mit seinem Vertrauten sprechen zu können. Hinrich Scheel hielt noch mit dem Wagen vor der Thür; aber er wußte wenig zu erzählen und konnte nicht sagen, weshalb sich die Abfahrt von Prora so lange hingezögert. Er glaube, daß es mit dem Gelde gehapert, und daß man auf die Rückkehr des Loitz, der ausgefahren gewesen sei, habe warten müssen. Die Frau Assessor sei nicht krank gewesen, habe im Gegentheil, als sie abgefahren, neben der Frau Wollnow auf dem Balcon gestanden und den Herren im Wagen Küsse zugeworfen. Was die Herren unterwegs gesprochen, wisse er ebenfalls nicht; sie hätten die meiste Zeit in einer fremden Sprache gekauderwälscht. Er habe dafür jedes Loch auf dem Wege mitgenommen, es seien heute nach dem Regen viel Löcher im Wege gewesen – dem Herrn Assessor habe die Fahrt so wenig behagt, daß er zuletzt auf gut deutsch laut geflucht und geschworen habe, heute den Weg nicht noch einmal zu machen, und wenn man ihm eine Tonne Gold dafür gebe. Und darauf habe der Andere gesagt: dann werde er allein zurückkehren müssen, denn er bliebe auf keinen Fall die Nacht in Dollan.

„Es ist ein böser Weg in der Nacht,“ sagte Brandow.

„Besonders wenn es so dunkel ist, wie heute,“ erwiderte Hinrich Scheel.

[686] Die Blicke des Herrn und des Dieners begegneten sich und wandten sich in demselben Moment wieder zur Seite.

„Es ist schon Manchem, der durchaus in der Nacht fahren wollte, ein Unglück auf dem Wege passirt,“ sagte Brandow langsam.

„Wenn der Kutscher nicht sehr aufpaßte,“ fügte Hinrich Scheel hinzu.

Und wieder trafen sich die Blicke. Ohne Zweifel hatte ihn der Hinrich verstanden – diesmal, wie immer; ohne Zweifel wußte der Hinrich diesmal, wie immer, was er wollte. Brandow athmete tief auf. Er hätte gern gesehen, wenn Hinrich noch ein Wort gesagt hätte, ein letztes Wort; aber Hinrich hatte sich zu den Pferden gewandt. Aus dem Speisesaale ertönte wüster Lärm von Stimmen, die in den höchsten Tönen des Zorns durcheinanderschrieen, und in demselben Moment kam auch Rieke herbeigelaufen. Die runden Wangen der hübschen Dirne waren hochgeröthet, ihre grauen Augen blitzten, ihr reiches blondes Haar war nicht mehr so glatt, als es zu Anfang des Diners gewesen.

„Was giebt’s?“ fragte Brandow.

„Sie zanken sich schon seit einer Viertelstunde; ich glaube, sie kriegen sich noch bei den Köpfen,“ sagte Rieke, und zeigte lachend ihre weißen Zähne.

„Wir sprechen uns noch!“ rief Brandow dem Hinrich nach, der eben mit dem Wagen davonfuhr; dann zog er Rieke in den dunklen Flur.

„Er ist wieder mitgekommen,“ sagte er; „sieh zu, wo er geblieben ist! sobald Du etwas merkst, sagst Du Bescheid.“

„Ich habe keine Lust, immer hinter den Beiden herzulaufen,“ sagte Rieke trotzig.

„Dir von den Herren drinnen in die Wangen kneifen und Dich umfassen zu lassen, gefällt Dir natürlich besser.“

„Warum nicht?“ sagte die Dirne.

„Du weißt, was ich Dir heut Nacht versprochen habe,“ flüsterte Brandow, nun selbst seinen Arm um den schlanken Leib der Dirne legend und seinen Mund zu ihrem Ohr beugend.

„Versprechen und halten ist zweierlei,“ sagte Rieke, sich nicht eben sehr eifrig losmachend.

Der Lärm im Speisesaale wurde immer größer.

„So, Du bist ein gutes Kind,“ sagte Brandow, und nun mach’, daß Du fortkommst; ich muß sehen, was die Kerle haben.“

Hans Redebas hatte die momentane Abwesenheit des Wirthes benutzen zu müssen geglaubt und den beiden Brüdern noch einmal seinen Vorschlag an’s Herz gelegt, ihm für seinen Theil Brandow’s Weizen zuzuschreiben und dafür den Brownlock in ausschließlichen Besitz zu nehmen; und hatte als Zeugen der Loyalität seiner Absichten den Pastor citirt, mit welchem er bereits auf dem Herwege die Sache wiederholt durchgesprochen. Der Pastor, der seinem Patron in jeder Weise gefällig zu sein wünschte, hatte sich bemüht, die Vorzüge zu schildern, welche das Arrangement für alle Betheiligten habe, dabei aber in seiner Trunkenheit die Farben so stark aufgetragen, daß die beiden Brüder stutzig wurden und ein halbes Zugeständniß, welches sie bereits gemacht hatten, wieder zurückzogen. Herr Redebas hatte deshalb den Pastor als einen dummen Menschen bezeichnet, der sich in Alles mische, trotzdem er von nichts etwas verstehe, höchstens ein wenig von seinem theologischen Kram, und der deshalb, außer auf seiner Kanzel, überall sonst den Mund zu halten habe. Nun war der geistliche Herr aufgesprungen und hatte geschrieen, daß „dumm“ ein Tusch sei, den sich ein alter Hallenser Corpsbursch von Niemand, auch nicht von seinem Patron gefallen lasse, worauf Herr Redebas in ein schallendes Gelächter ausgebrochen war, das den Trunkenen vollends in Wuth versetzte.

Unterdessen waren auch die Plüggen in heftige Uneinigkeit gerathen. Gustav hatte seinem Bruder zugeraunt, er habe Lust, das Anerbieten zu acceptiren, wenn Redebas noch zweitausend Thaler darauf legen wolle; Otto, als der Senior, hatte den Jüngeren gewarnt, sich auf einen Handel mit Redebas einzulassen, der mehr Verstand in seinem kleinen Finger habe als er in seinem Kopfe. Gustav hatte sich durch diesen Zweifel an seiner Klugheit beleidigt gefühlt und etwas von „Stroh“ gemurmelt, das ja bekanntlich in dem Kopfe des Andern gelegentlich gefunden werde, – eine Anspielung auf den bekannten Spitznamen des ältern Bruders, die selbstverständlich von Seiten desselben eine Erwiderung hervorrief, in welcher dem „Heu“ eine hervorragende Bedeutung eingeräumt wurde. Und so schrieen denn alle Vier aufeinander ein – zur größten Verwunderung des Groom Fritz, der mit offenem Munde zuhörte, bis er sich plötzlich an der Schulter berührt fühlte und aufschauend seines Herrn Gesicht über sich erblickte.

„Scher’ Dich hinaus und komme nicht wieder herein, bis ich Dich rufe!“

Der Bursche ging; Brandow musterte noch einmal die Streitenden am Tische mit schnellen Blicken. „Das ist just der rechte Augenblick,“ sprach er durch die Zähne.

Er trat an den Tisch, setzte sich aber nicht, sondern blieb, die Arme auf die Lehne seines Stuhls stützend, stehen und sagte, sich an den verlegenen Gesichtern der plötzlich still gewordenen Vier weidend: „Verzeiht, Ihr Herren, daß ich Eure interessante Unterhaltung störe, noch dazu mit einer rein geschäftlichen Angelegenheit, die aber doch auch erledigt sein will. Mein Hinrich Scheel ist eben von Prora zurück – mit dem Assessor und mit einem andern Herrn, dessen Name vorläufig ein Geheimniß sein soll. Ich hatte Wollnow ersucht, mir von meinem Guthaben fünfzehntausend Thaler baar zu schicken. Er hat mich bitten lassen, ihn zu entschuldigen, wenn er statt dessen Wechsel in dem genannten Betrage sendet, Wechsel, meine Herren, von Louis Loitz und Compagnie in Prora an meine Ordre ausgestellt, von Wollnow selbst acceptirt und in Sundin bei Philipp Nathanson domicilirt. Vielleicht haben die Herren die Güte, mir gegen diese Wechsel – jeder im Betrage von fünftausend Thalern – die drei Ehrenscheine auszuhändigen, welche Sie sich neulich von mir geben ließen, falls Sie dieselben zufällig bei sich haben sollten.“

Brandow bot mit einer ironischen Verbeugung die drei Wechsel dar, welche er fächerartig aus der erhobenen Hand herabhängen ließ.

Die Genossen blickten einander mißtrauisch an. Die Sache war nicht in der Ordnung; die Scheine lauteten auf baar; sie waren nicht verpflichtet, die Wechsel zu nehmen; aber sie hatten sich eben noch untereinander zu sehr gezankt, um sofort zu einem einheitlichen Entschluß fähig zu sein; und im Grunde gönnte Jeder dem Andern, daß er um die sichere Beute betrogen werde.

„Nun, Ihr Herren,“ rief Brandow, „ich hoffe nicht, daß Einer von Euch an der Form meiner Zahlung Anstoß nimmt. Es würde das eine Beleidigung gegen den wackern Wollnow sein, auf dessen Gefälligkeit wir ja Alle von Zeit zu Zeit angewiesen sind. Oder solltet Ihr durchaus wünschen, daß der Assessor, der jeden Augenblick kommen kann, Zeuge der Art und Weise wird, in welcher die Herren von Plüggen und Herr Hans Redebas einem alten Freunde, der in Verlegenheit gerathen ist, zu helfen pflegen?“

In der That vernahm man jetzt des Assessors Stimme auf dem Flur.

„Gieb her!“ sagte Hans Rebebas.

„Meinetwegen,“ sagte Otto von Plüggen.

„Ich bin kein Spielverderber,“ sagte Gustav.

Die Wechsel wanderten in die Brieftaschen der drei Herren gegen die Ehrenscheine, welche Brandow mit einem ironischen Lachen wie werthloses Papier zusammendrückte und zu sich steckte, in dem Moment, wo der Assessor hereinkam.

Sein Erscheinen wurde Brandow ein willkommener Vorwand, die Tafel, welche ihm nur schon allzu lange gedauert hatte, aufzuheben. Es habe nachgelassen zu regnen; ob man den Kaffee nicht lieber in dem kühlen Garten als in dem schwülen Zimmer nehmen wolle? Er vermuthete Gotthold im Garten und hatte sich auch nicht getäuscht. Man traf ihn in einem der entlegenen Gänge auf- und abwandelnd. Er schwieg dazu, als Brandow sein Wiederkommen als eine Ueberraschung ausgab, die er seinen Gästen habe bereiten wollen, und entschuldigte sich mit einem heftigen Kopfschmerz, der ihn manchmal plötzlich überfalle und den er erst habe vorübergehen lassen wollen, bevor er sich der Gesellschaft vorstellte. Die beiden Plüggen waren entzückt, ihren alten Schulcameraden, den sie immer gründlich gehaßt hatten, wiederzusehen, und Herr Redebas rechnete es sich zur Ehre, die Bekanntschaft eines so berühmten Mannes zu machen, obgleich aus seinen Reden deutlich hervorging, daß ihm vollkommen unbekannt war, in welchem Zweige menschlicher Thätigkeit Gotthold sich seinen Ruhm erworben haben möchte. Der Pastor, auf den er sich in solchen Augenblicken zu verlassen pflegte, konnte ihm [687] leider keine Auskunft geben, weil er eben den Assessor, den er heute zum ersten Male sah, in seine Arme schloß und denselben seiner ewigen Freundschaft versicherte. Der Assessor lachte und hatte auch Humor genug, weiter zu lachen, als jetzt Hans Redebas, seine vielbewunderte Stärke zu zeigen, die sich Umarmenden umfaßte, in die Höhe hob und auf dem Platze umhertrug, Otto Plüggen dadurch veranlassend, sein seidenes Taschentuch hervorzuziehen und über dasselbe, indem er es an zwei Zipfeln erfaßte, vorwärts und rückwärts zu springen, während Gustav in rühmlicher Nacheiferung des sinnreichen Bruders einen Gartenstuhl auf den unteren Schneidezähnen balancirte.

„Ich möchte Euch nun auch meine Kunststücke vormachen,“ rief jetzt Brandow, „und Euch zu dem Zwecke bitten, mir ein paar Schritte zu folgen.“

Er ging voran und öffnete, an dem Gartenzaune angelangt, eine kleine Thür, die unmittelbar auf die Bahn führte, in welcher er seine Rennpferde zu trainiren pflegte. Es war ein ziemlich bedeutendes Terrain, das mit großem Verständniß ausgewählt und mit vorzüglichem Geschicke zu seinem Zwecke vollends künstlich hergerichtet war. Da gab es schmälere und breitere Gräben, niedrige und höhere Hecken; da gab es weite Strecken vollkommen glatten, kurzgehaltenen Rasens, um auslaufen lassen zu können; da gab es tiefgeackerte Brache für einen Jagdgalopp. Brandow hatte diesen Platz, der mit der einen Seite an die Pferdeställe stieß, auf den andern drei Seiten mit einem manneshohen Bretterverschlage einfriedigen lassen und hielt ihn eifersüchtig vor Jedermann verschlossen. Jetzt weidete er sich an den Blicken neidischer Verwunderung, welche die drei Gutsbesitzer umherschweifen ließen. Aber er hatte ihnen eine noch empfindlichere Kränkung zugedacht. Als die Gesellschaft sich nach den Ställen zu in Bewegung setzte, kam ihr Hinrich Scheel entgegen, den Brownlock am Zügel führend. Das herrliche Thier knirschte vor Ungeduld in das Gebiß, rieb den feinen Kopf an des Bereiters Schulter und blickte dann wieder aus den großen schwarzen Augen die vor ihm Stehenden an, als fordere es Jeden heraus, der Muth habe, es mit ihm aufzunehmen.

„Nun, Ihr Herren,“ rief Brandow, „Ihr hattet ja so große Lust, den Brownlock zu reiten; da ist er. Ich wette zehn Louisd’or gegen einen, daß Keiner von Euch auch nur in den Sattel kommt.“

„Ich möchte dem Thiere nicht gern das Rückgrat entzweibrechen,“ murmelte Hans Redebas.

Otto Plüggen hatte sich beim Springen den Fuß vertreten; aber Gustav meinte, daß er sich die zehn Louisd’or wohl verdienen möchte.

Gustav von Plüggen war ein anerkannt guter Reiter, der in den Sundiner Rennen mehr als einmal den Preis davongetragen. Er zweifelte nicht einen Augenblick, daß er die Wette gewinnen werde, hielt es aber doch für zweckmäßig, mit aller möglichen Vorsicht zu Werke zu gehen. So umschritt er denn den Renner, ihn an seinen Anblick zu gewöhnen, klopfte ihm auf den schlanken Hals, kraute ihm in dem glatten Stirnhaar, ordnete dann, fortwährend mit dem Thiere sprechend, ganz leise die Zügel und hieß Hinrich Scheel loszulassen und wegzutreten. Aber in dem Moment, wo er mit dem Fuße den Bügel berührte, prallte der Brownlock so stark auf die Seite, daß Gustav froh sein konnte, nur die Zügel in der Hand behalten zu haben. Wieder und wieder machte er den Versuch und stets mit demselben unglücklichen Erfolg.

„Ich hätte Dir es vorhersagen können,“ schrie Herr Redebas.

„Du blamirst Dich wieder einmal unnöthigerweise,“ schnarrte sein Bruder.

Gotthold hatte bemerkt, daß Hinrich Scheel immer vor dem Pferde stehen geblieben war, es scharf aus den Schielaugen fixirend und jedesmal, so oft Gustav Plüggen es besteigen wollte, eine kaum sichtbare Wendung mit dem Kopfe machend, worauf das Thier, das seinerseits eines seiner schwarzen Augen gespannt auf den Bereiter gerichtet hatte, zur Seite prallte oder stieg.

„Ich glaube, Sie würden gut thun, Herr von Plüggen, wenn Sie den Hinrich Scheel von dem Pferde wegtreten ließen,“ sagte er.

„Ich denke, Gustav giebt es auf,“ rief Brandow hastig; „die Wette war so wie so von mir nur scherzhaft gemeint; die Sache ist, daß Hinrich Scheel den Brownlock darauf dressirt hat, sich von Niemand besteigen zu lassen, außer von ihm und von mir; und ich selbst könnte nicht in den Sattel kommen, wenn Hinrich nicht will. Das war ja eben das Kunststück, das ich Euch zeigen wollte.“

Mit Ausnahme Gotthold’s hielt man das Ganze für einen Scherz, bis Brandow ihnen durch den Augenschein das Gegentheil bewies. Der Brownlock ließ sich erst von ihm besteigen, als Hinrich dem Thiere das betreffende Zeichen gegeben. Nun kam der zweite Theil der Vorstellung, die Brandow seinen Gästen zugedacht hatte. Er ritt den Brownlock über die ganze Bahn, die schwierigsten Hindernisse mit einer Leichtigkeit nehmend, welche seine vollendete Reitkunst ebenso, wie die fast wunderbare Kraft und Ausdauer des herrlichen Thieres in das hellste Licht setzte und die Herzen seiner drei Rivalen mit bitterstem Neid erfüllte.

„Es ist eine Schande, daß so ein Kerl ein solches Pferd haben soll,“ sagte Gustav Plüggen, der sich an Gotthold angeschlossen hatte, während die Gesellschaft die Füllenkoppel und hernach die Ställe zu besichtigen ging; „eine wahre Schande. Das heißt: er reitet ja famos – für einen Bürgerlichen, meine ich; aber ein Bürgerlicher sollte überhaupt keine Rennpferde halten dürfen. Ich habe genug im Comité darüber gesprochen, als wir vor acht Jahren die Sundiner Rennen einrichteten; aber ich konnte ja nicht damit durchdringen. Nun haben wir’s. Seit vier Jahren schnappt uns Brandow alle besten Preise weg; es ist, um toll zu werden. Der Kerl wäre ja längst ruinirt, wenn ihn die Rennen nicht hielten, die Rennen und – seine Frau.“

„Seine Frau?“ fragte Gotthold.

„Nun, natürlich. Ihm liehen wir schon längst keinen Pfennig mehr, aber um der Frau willen, die wirklich famos ist, kann man ihn doch nicht ganz fallen lassen. Er weiß das natürlich besser als irgend Einer, und sie muß jedesmal von der Partie sein, so oft es einen neuen Pump zu riskiren giebt – so heute vor acht Tagen, als wir in Plüggenhof waren und Otto ihr in Gegenwart seiner Frau – einer geborenen Freiin von Grieben-Keffen – bei Tisch in der tollsten Weise die Cour gemacht hatte, und eine halbe Stunde nach Tisch hatte Brandow seine fünftausend Thaler in der Tasche. Es war ein Unsinn von Otto; wir hatten ausgemacht, daß wir zusammen nicht über Fünftausend gehen wollten. Es wäre ein famoses Geschäft geworden, das uns der verfluchte Jude nun wieder verdorben hat. Weiß der Teufel, weshalb er ihm geholfen. Und der Assessor sagte mir, daß er auch bezahlt ist. Fünfundzwanzigtausend auf ein Brett! Mir steht der Verstand still – und das will etwas sagen; ich kenne sonst alle seine Pfiffe und Kniffe. Der Pastor meint, Du und kein Anderer habest ihm das Geld gegeben; und dafür habe Brandow durch die Finger gesehen, wenn Du seiner Frau – na, Du brauchst deshalb nicht aufzufahren. Pfaffengeschwätz, ich sage es ja. Du würdest Dich hüten, Fünfundzwanzigtausend – lächerlich! aber er hat sie – das ist ein Fact, wie sie in England sagen – mal in England gewesen? war da – vor acht Jahren, als wir die Sundiner Rennen einrichteten – famoses Land: Pferde, Weiber, Schafe – famos! – was ich sagen wollte: er hat die Fünfundzwanzigtausend und Dollan auf neue fünf Jahre, meint der Assessor; und nun gar den Brownlock! damn! ist das ein Pferd! auf meine Ehre! ich habe selbst in England so etwas nicht gesehen! wie das aufgesetzt ist! und diese Sprunggelenke! und wie das durchgeritten ist! göttlich! aber zu schwer, auf Ehre zu schwer – er kommt nicht über das Moor, das wir jetzt in das Rennen gezogen haben. Fürst Prora soll gesagt haben, das wäre kein ehrliches Spiel! er hat gut reden; er läßt nicht laufen! Kommst Du nicht mit herein? ich höre, es soll noch ein kleiner Tempel oder so was gemacht werden.“

„Ich habe nie gespielt und – meine Kopfschmerzen melden sich wieder.“

„Sonderbar, weiß gar nicht, was Kopfschmerzen sind, als ob ich keinen Kopf hätte. Ihr Maler kriegt das wohl von den Oelfarben; abominabler Geruch!“




19.


Der junge Edelmann folgte den Andern, die bereits in das Haus und in Brandow’s Zimmer rechter Hand vom Flur getreten waren, wo der Spieltisch, wie Gotthold durch das Fenster bemerkt hatte, bereits arrangirt war.

[688] „Nun, Herr Weber, wollen Sie hier draußen bleiben?“ fragte Rieke, die auf dem Flur gestanden hatte und jetzt an ihn herantrat.

Sie sah ihn freundlich genug aus ihren grauen Augen an; es schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß es wohl nur an ihm gelegen, wenn er sich das begehrliche Geschöpf nicht geneigt gemacht, und daß er noch jetzt das Versäumte nachholen könne, ja nachholen müsse, wollte er anders den Zweck erreichen, um dessen willen er nach Dollan zurückgekommen war. Er hatte sie heute Morgen bei der Abreise überreichlich beschenkt; vielleicht brauchte er nur das Angefangene fortzusetzen.

„Wir dachten nicht, Sie so bald wiederzusehen,“ fuhr das Mädchen fort; „und die Abreise kam so schnell; es ist auch Manches liegen geblieben; ein wunderschönes rothseidenes Tuch – soll ich es holen?“

Sie hatte sich jetzt ganz nahe zu ihm gestellt und dabei, wie zufällig, seinen Arm berührt.

„Ich glaube, es wird Ihnen recht gut stehen,“ sagte Gotthold.

„Glauben Sie? ich dachte, Sie wüßten viel, was mir stünde oder nicht. Sie hatten ja nur Augen für – wen anders.“

„Wo ist die Frau heute? weshalb läßt sie sich gar nicht sehen?“ fragte Gotthold, und setzte dann hinzu, da er zu sehen meinte, daß ein Schatten über das Gesicht des Mädchens flog: „ich gäbe viel darum, wenn ich es wüßte.“

„Wieviel denn wohl?“ sagte das Mädchen mit schelmischem Lachen.

„Rieke! wo steckst Du denn?“ ertönte Brandow’s Stimme aus dem Spielzimmer. „Es fehlen noch ein paar Gläser, wo steckt denn die Dirne?“ und er warf die Thür wieder ärgerlich hinter sich zu.

„Er hat uns nicht gesehen,“ flüsterte Rieke, „ich muß jetzt hinein, komme aber gleich wieder.“

Sie schlüpfte fort; Gotthold blieb noch ein paar Momente stehen, unschlüssig, ob er auf eigene Hand den Versuch, Cäcilien zu sehen, machen solle. Ohne Frage konnte ihm das Mädchen behilflich sein, wenn sie wollte; aber würde sie wollen? Sie schien ernstlich erschrocken, als Brandow rief; aber an der leichten Gunst der Leichtfertigen war ihm wahrlich nicht gelegen, und vielleicht war das Ganze nur ein abgekartetes Spiel zwischen Brandow und dem Mädchen, um ihn sicher zu machen, um ihn desto sicherer in’s Garn zu locken. Besser, vertrauend auf die eigene Gewandtheit, die Gelegenheit benutzen.

Und die Gelegenheit war günstig, wie sie es mehr wohl nicht sein konnte. Ein zweiter verstohlener Blick durch das Fenster in das bereits erleuchtete Zimmer zeigte ihm die Gesellschaft eifrig beim Spiel – Pharao, wie es schien – und Brandow hielt Bank – so konnte er jetzt nicht abkommen. Rieke stand im Hintergrunde des ziemlich großen Gemaches mit einem Präsentirbrett voll Gläser, welche der Pastor aus einer großen Bowle füllte – so war auch sie für die nächste Zeit beschäftigt. Auf dem Hausflur regte sich nichts; in dem Speisesaale stand noch der Tisch, wie ihn die Gäste verlassen – das einzelne Licht, an welchem sie ihre Cigarren angezündet, flackerte in dem lebhaften Luftzuge, dem Erlöschen nahe. Auch hier war Niemand; so gelangte er ungesehen in den abendlichen Garten.

Es war, obgleich die Sonne eben erst untergegangen sein konnte, beinahe dunkel. Die Wolken, die sich am Nachmittage etwas gelichtet, hatten sich wieder zu großen dunklen Massen zusammengezogen, die ein heftiger, in unregelmäßigen Stößen daherfahrender Wind in wildem Spiel durcheinander- und übereinanderschob. Die Wipfel der alten Bäume schüttelten sich; in den hohen Hecken raschelte und zischelte es wie von tausend spitzen Zungen.

So schien es Gotthold. Ein paar Mal blieb er tiefaufathmend stehen; er war es so gar nicht gewohnt, sich auf seinen Wegen zu verstecken. Und doch mußte es sein; er konnte so nicht von ihr auf immer sich trennen.

Den Giebel des Hauses, in welchem unten ihre Zimmer lagen und oben die Stube, die er bewohnt, begrenzte ein kleinerer Garten, der nach dem Hofe zu von einer Mauer, gegenüber von der Wand einer Scheune und nach dem größeren an der Hinterseite des Hauses gelegenen Garten von einer sehr hohen und dichten Hecke eingeschlossen wurde. Es war ursprünglich ein Obst- und Gemüsegarten gewesen, und es standen noch ein paar sehr alte mächtige Aepfel- und Birnbäume darin; später hatte man ihn als Tummelplatz für die Kinder des Hauses benutzt, denen zu Liebe man die Spargel- und Gurkenbeete in einen Grasplatz verwandelt und auch eine schmale Thür aus der Kinderstube durch die dicke Mauer gebrochen hatte.

Gotthold hatte Cäcilien, die sich des Abends immer früh zurückzog, wiederholt in diesem Garten gesehen, mit dem Kinde oder – in den späteren Stunden – allein. Seine Hoffnung war, sie hier zu finden, andernfalls ihr seine Gegenwart, von der man sie schwerlich unterrichtet hatte, kund zu thun, und – er wußte selbst nicht, was dann geschehen würde, geschehen müsse; er sagte sich nur, daß es so, wie es war, nicht bleiben dürfe, nicht bleiben könne.

Der Platz, soweit sich derselbe von der Pforte aus übersehen ließ, war leer, aber an den Fenstern bewegte sich ein Licht hin und her. So vorsichtig er die Pforte aufdrückte, konnte er doch nicht verhindern, daß die selten benutzte laut in den verrosteten Angeln kreischte; in demselben Augenblick sprang auch ein Wachtelhündchen, mit dem Gretchen zu spielen pflegte, dem Eindringling mit heftigem Gebell entgegen, beruhigte sich aber, sobald es Gotthold erkannt hatte. Er nahm die Liebkosungen des Thierchens für ein gutes Zeichen und schritt vorsichtig weiter, dem Lichte zu, das jetzt stetig aus dem einen Fenster schien. Es war das Fenster der neben Cäciliens Schlafzimmer gelegenen Kinderstube. Gotthold trat mit klopfendem Herzen heran und sah sie.

Sie hatte eben, wie es schien, die Spielsachen des Kindes zusammengesucht und sich dann neben dem Tische in einen Stuhl sinken lassen, die Stirn in die linke Hand gestützt, das Bild in sich versunkenen Leides. Der Schein des hinter ihr stehenden Lichtes ließ die wunderschöne Form ihres Kopfes, die zarten Linien des schlanken Halses, des sanft gewölbten Nackens und lieblichen Busens klar und rein hervortreten, während der tiefe Schatten den Ausdruck der Trauer auf ihrem holden Gesichte noch zu vermehren schien. Gotthold’s Herz floß über von Liebe und Mitleid. „Cäcilie, liebe Geliebte!“ murmelte er.

Sie konnte es nicht vernommen haben; aber sie hatte in diesem Moment den Kopf emporgerichtet und, den Blick nach dem Fenster wendend, die dunkle Gestalt vor demselben bemerkt. Sie stieß, sich vom Stuhle hebend, einen leisen Freudenschrei aus, öffnete ihre Arme und wehrte dann mit beiden Händen ab, in angstvollen Tönen rufend: „Nein, nein, um Gotteswillen nicht!“

[701] Gotthold hatte die abwehrende Bewegung Cäciliens nicht mehr gesehen, ihre Worte nicht mehr gehört. Er war eilends durch die Thür, die er nur angelehnt fand, hereingetreten und lag jetzt zu ihren Füßen, ihre Hände ergreifend und mit leidenschaftlichen Küssen bedeckend.

Und Alles, was in diesen letzten wunderbaren, von Liebesleid und Liebeslust überreichen Tagen seine Brust bewegt und zum Zerspringen erfüllt hatte, was er von gestern Abend bis zu diesem Augenblicke Namenloses gelitten – es fluthete in wildbewegten Worten über seine Lippen; und wie sie sich auch sträuben mochte, sie fühlte sich fortgerissen und ließ sich dahintragen von der Fluth, bis er, aufspringend und sie mit sich emporziehend, rief: „So komm, Cäcilie! Nicht einen Augenblick länger darfst Du in diesem Hause, darfst Du unter einem Dache mit diesem Elenden sein, der sich die Schmach, sein Weib von einem Andern geliebt zu wissen und zu wissen, daß sein Weib diesen Andern liebt, abkaufen läßt mit schnödem Gelde. Ich bin heute Morgen gegangen ohne Dich – es kam das Alles so plötzlich, war so unbegreiflich; ich meinte, daß ich Deinem Befehle folgen müsse, auch wenn ich Dich nicht verstand, auch wenn Du, was Du thatest, aus Mitleid mit dem Manne thatest, den Du einst geliebt, ja aus einem Rest von Liebe für diesen Mann. Jetzt verstehe ich Dich besser; jetzt weiß ich für immer und ewig, daß Du mich liebst; jetzt habe ich mich – haben wir uns wiedergefunden; jetzt soll uns Niemand und Nichts trennen! Cäcilie! Du antwortest mir nicht!“

Sie hatte ihn mit großen Augen angeblickt, in denen sich schmerzlichste Verwunderung malte. Jetzt ergriff sie das Licht und leuchtete ihm voran in die Schlafstube, in deren Hintergrunde ihr Bett stand, dicht vor demselben das Bettchen ihres Kindes.

Die Kleine lag da, die Augen nicht ganz geschlossen, das Mündchen leise geöffnet, die Wänglein geröthet in jenem süßen Kinderschlaf, der dem Wachen folgt wie das Abendroth der untertauchenden Sonne. Cäcilie deutete nicht auf das Kind; aber ihr Blick, der Ausdruck ihrer Züge sagte: das ist meine Antwort.

Gotthold’s Blick suchte den Boden; er hatte in dem Egoismus der Leidenschaft kaum an das Kind gedacht und ganz gewiß nie, daß es ein Hinderniß sein könne. Er begriff das auch jetzt noch nicht. „Dein Kind wird mein Kind sein,“ stammelte er. „Du sollst Dich nie von dem Kinde trennen; ich will Dich nie von dem Kinde trennen.“

Sie hatte das Licht auf den Boden gestellt, damit es Gretchen nicht in die Augen schien, und war dann an dem Bettchen hingekniet, die Stirn auf den Rand des Gatters gedrückt, mit der Hand winkend, daß er gehen solle. Gotthold stand neben der Knieenden, mit der verzweiflungsvollen Empfindung Jemandes, der ahnt, daß seine Sache verloren ist, und sie doch nicht verloren geben kann und will. Plötzlich begann der Hund, welcher ihnen gefolgt war, zu knurren und brach dann in leises Bellen aus, indem er die Spitze seiner Schnauze gegen die Schwelle der Thür richtete, durch die man aus dem Schlafzimmer in das Wohnzimmer gelangte; Gotthold glaubte, dort ein Geräusch gehört zu haben; er ging nach der Thür; Cäcilie warf sich ihm in den Weg. Ihre Miene, ihre Geberde drückte die tödtlichste Angst aus; sie deutete nach der Kinderstube, durch die sie hereingekommen, und eilte, als Gotthold nicht alsbald ihrer Weisung nachkam, selbst ihm voraus, dorthin; Gotthold folgte mechanisch.

„Um Gottes willen, geh!“ rief Cäcilie.

Es waren die ersten Worte, die über ihre Lippen kamen.

„Ich fliehe nicht noch einmal!“

„Du mußt! oder es ist Alles vergebens gewesen! die Qual, der Kampf, die Schmach – Alles, Alles!“

„Cäcilie,“ rief Gotthold außer sich, „ich müßte kein Mann sein, wenn ich so noch einmal ginge. Ich will Licht; ich will wissen, was ich thue, warum ich es thue.“

„Ich darf nichts weiter sagen; Du mußt mich verstehen; ich glaubte, Du hättest es von Anfang an, ich hätte sonst nicht den Muth gehabt; ich wäre das unseligste Geschöpf auf Erden, wenn Du mich jetzt noch nicht verstündest. Aber Du wirst es; ich könnte Dich ja nicht lieben, wenn es anders wäre. Und nun, bei Deiner Liebe zu mir, Gotthold, keine Secunde darfst Du länger hier sein. Leb’ wohl und ewig wohl!“

Es war wie ein Kampf gewesen zwischen den Beiden in dem halbdunkeln Gemache; er hatte sie, sie hatte ihn gehalten, als sollte es für immer sein; sie hatte sich verzweifelt losgerissen, hatte ihn von sich gedrängt, als müßte der nächste Augenblick seiner Gegenwart Tod und Verderben bringen. Nun hielt er noch einmal die holde Gestalt in den Armen, an seinem Herzen; er fühlte ihre heißen, zuckenden Lippen auf seinen Lippen, und dann stand er draußen, und der Regen schlug ihm in’s Gesicht, und über ihm rauschte und raunte es in den sich schüttelnden Bäumen, und neben ihm aus den hohen Hecken raschelte und [702] zischelte es wie von tausend und tausend spitzen Zungen: „Du Narr, Du blöder Thor, Du dummer Hans, der Du Dich anführen läßt, einmal, zweimal, so oft sie will, so oft er will – was weiß ich!“

Und er brach in ein Gelächter aus, und während er noch lachte, quoll es in seiner Brust auf, heiß und heißer; er hätte viel darum gegeben, wenn er hätte weinen können. Aber weinen konnte er nicht, weinen wollte er nicht. Es war noch nichts entschieden, trotz alledem; es war noch nichts verloren, trotz alledem, trotzdem es so dunkel nächtig in seiner Seele war, wie um ihn her dunkle Nacht die Erde bedeckte. Kein Stern durch den Graus schwarzer jagender Wolken, nach Westen kaum der matteste Schimmer einer Helligkeit. Und doch – dieser matte Schimmer kam von der Sonne, die untergegangen war und morgen wieder aufgehen würde; er war der Bürge, daß die finstere Nacht nicht ewig dauern würde. Und auf seinen Lippen schwebte noch ein Etwas von dem Hauch ihres Mundes, von der Gluth ihres Kusses. Nein! nein! es konnte keine Trennung für immer sein! es konnte diese Qual nicht ewig dauern!




20.


Die hübsche Rieke war länger im Spielzimmer festgehalten worden, als ihr lieb war. Der Pastor hatte sein Schenkenamt nur mit unsicherer Hand geübt, und noch dazu mit langathmigen, einigermaßen confusen Reden begleiten zu müssen geglaubt; desto schneller aber hatten die Herren am Spieltische getrunken und ungeduldig nach mehr verlangt, bis Rieke zuletzt, des Hin- und Herlaufens, das kein Ende nehmen wollte, müde, kurz entschlossen den Schenktisch mit der Bowle zum Spieltische trug und es so dem dienstwilligen Pastor möglich machte, die Gläser, die er gefüllt, auch selbst zu credenzen. Dann hatte sie, sich über Hans Redebas’ Stuhl beugend, noch ein paar Augenblicke dem Spiele zugeschaut und war dann schnell aus dem Zimmer geschlüpft.

Es verlangte sie, das Gespräch mit Gotthold fortzusetzen. Sie hatte den schönen, stillen Mann eigentlich immer gern gehabt und die Aufpasserrolle, welche ihr Brandow zur Pflicht gemacht, weniger aus Liebe zu ihrem Herrn als aus Eifersucht gegen ihre Frau, der sie den stattlichen Fremden nicht gönnte, mit solcher Emsigkeit betrieben. Nun hatte sie heute Morgen sein überreichliches Geschenk einigermaßen gerührt, ja stutzig gemacht, und die Freundlichkeit, die er ihr eben bezeigt, hatte sie vollends entwaffnet. Natürlich war er nur der Frau willen zurückgekommen; aber ihrem leichtbeweglichen Herzen war es durchaus kein unlösbares Räthsel, wie man das Eine thun könne, ohne das Andere zu lassen. Sie wollte ihm sogar behülflich sein, wenn er jetzt sehr, sehr freundlich zu ihr war, und eigentlich war es ja doch nur ihr Vortheil, wenn schließlich der fremde Herr mit ihrer Frau davonlief.

Aber sie fand ihn nicht an der Hausthür, wo sie ihn verlassen. Die Hausthür war auch kein geeigneter Ort, das interessante Gespräch fortzusetzen: es konnte jeden Augenblick Jemand kommen; ebenso bedenklich war der Flur. Vielleicht war er im Speisesaale. Er war nicht dort; im Garten, in den sie einen Blick warf, schüttelten sich die Bäume gar zu unwirsch. Wo konnte er geblieben sein? wo anders als auf seinem Zimmer, nach den Sachen zu sehen, die er dort zurückgelassen! Sie mußte ihm doch dabei helfen; er konnte ja in der Dunkelheit sich gar nicht zurechtfinden.

Die hübsche Dirne athmete tief und war dann im Nu unhörbaren Schrittes die Treppe hinauf über den Bodenraum nach dem Giebelzimmer gehuscht, das Gotthold während seiner Anwesenheit bewohnt. Hier blieb sie stehen, die Hände gegen die brennenden Wangen und gegen den wogenden Busen drückend, und öffnete dann nach leisem Klopfen, auf das sie kein Herein erwartete, wie schüchtern zögernd, die Thür. Ihre Wangen hatten vergebens gebrannt, ihr Herz hatte vergebens gepocht – das Zimmer war leer. Sie trat an das Fenster und sofort wieder zurück. Da, dicht unter ihr, in dem Spielgarten war er ja, den sie suchte, vorsichtig langsam sich den Fenstern nähernd, aus denen ein schwaches, wechselndes Licht auf die Baumstämme fiel; und dann war er verschwunden – wohin anders als durch die Kinderstubenthür zu ihr! Das hatte sie den beiden Scheinheiligen nicht zugetraut; sie wußten sich selbst zu helfen, wahrhaftig! es war zu frech! Dann mochte ja auch wahr werden, was er ihr schon ein paar Male gesagt und sie eigentlich nicht geglaubt, daß er sie zu seiner Frau machen wolle, wenn die Andere erst fort sei. Erfahren sollte er es jedenfalls; die Beiden verdienten es nicht besser.

„Was soll denn das heißen?“ rief Hans Redebas, als Brandow mit einer flüchtigen Entschuldigung, da eben die Taille zu Ende war, sich von dem Tische erhob.

„Ich komme sofort wieder,“ sagte Brandow.

„Das wollten wir uns auch ausgebeten haben,“ schrie Hans Redebas. „Pastor, noch ein Glas!“

Brandow verließ den Tisch nur ungern; er hatte wiederum sehr bedeutend gewonnen, und sein Spieleraberglaube sagte ihm, daß er dem Spiele nicht den Rücken wenden dürfe; aber die Rieke hatte ihm über Hans Redebas’ schwarzhaarigen Kopf weg ein Zeichen gemacht – es mußte etwas ganz Besonderes geschehen sein.

Er folgte dem Mädchen auf den Flur, von dort in die Wohnstube linker Hand, wo sie ihm durch Zeichen bedeutete, leise aufzutreten, bis sie zu der schmalen Thür gelangten, die in Cäciliens Schlafzimmer führte. Unter der Thür weg durch die Ritze fiel ein schwacher Lichtstreif. Das Mädchen kauerte sich auf die Schwelle und drückte das Ohr an die Thür; Brandow stand über sie hingebeugt, ebenso lauschend. Man konnte wohl hören, daß Jemand sprach, aber nicht wer oder was. Wozu auch? Mit wem konnte sie hier sprechen als mit ihm? Was konnten sie sprechen, als was sie nicht hören lassen durften? Und jetzt wurde der Lichtschein stärker – man war in die Schlafstube getreten. Brandow bebte am ganzen Leibe vor eifersüchtiger Wuth. Sollte er hineinstürzen und das verbuhlte Paar erwürgen, der öffentlichen Schande preisgeben? Aber Gotthold war nicht mehr der schwächliche Knabe von ehemals; der Ausgang des Kampfes mit ihm, Mann gegen Mann, war mindestens zweifelhaft, und – er hatte ja schon die Bezahlung erhalten! Die Schande blieb bei ihm, und – es war zu spät! Das Bellen des Hundes, das ihn und seine Helfershelferin von der Thür zurückfliegen machte, mußte auch sie gewarnt haben; er würde das Nest leer finden. Mochte es sein; er hatte genug gehört.

„Nun?“ sagte Rieke, als sie durch das Wohnzimmer zurückgeschlichen waren und wieder auf dem Flur standen.

„Geh’ hinein und sag’, ich käme gleich,“ erwiderte Brandow.

Der Ton, in welchem er das sagte, weissagte Schlimmes; Rieke that beinahe leid, was sie gethan. „Er ist nicht so wie Sie,“ sagte sie entschuldigend und aus wirklicher Ueberzeugung.

Brandow lachte höhnisch. „Mach’, daß Du hineinkommst,“ wiederholte er dann, mit dem Fuße stampfend.

Das Mädchen ging; Brandow trat in die offene Hausthür und starrte in den dunklen Hof nach den Ställen hinüber. Der Regen schlug ihm in’s Gesicht und mit dem Regen der süßliche Rauch des heimischen Tabaks. Links, unmittelbar unter ihm, vor der steinernen Bank, glühte ein feuriger Punkt, und eine rauhe Stimme fragte:

„Nun, wie ist es mit dem Anspannen?“

Es war Der, nach dem er eben ausgeschaut, auf den er bei der Ausführung des Racheplanes, der dunkel in seiner Seele gährte, gerechnet hatte, ja der, wie er sich jetzt einbildete, den ersten Keim zu diesem Plane in seine Seele gelegt hatte. Es sollte also sein.

„Er wird jetzt nicht mehr fort wollen, und wäre es auch blos des schlechten Wetters wegen.“

„Die Anderen müssen doch auch fort.“

„Sie sind oft genug hier geblieben.“

„Schicken Sie sie fort!“

Brandow dachte einen Augenblick nach. „Wenn ich noch ein paar Hundert gewinne, gehen sie von selbst,“ murmelte er. „Aber Du mußt es ihm gründlich eintränken, Hinrich, gründlich.“

„Wo kein Grund ist,“ sagte Hinrich.

Durch Brandow’s Seele zuckte es wie ein blutrother Blitz über einen nächtigen Himmel. Das war es! Das!“

„Und ich gebe Dir, was Du verlangst!“ sagte er mit heiserer Stimme, sich in den Qualm niederbeugend, der aus Hinrich’s Pfeife aufstieg.

„Umsonst ist der Tod; und das vorhin mit dem Brownlock [703] hat mich auch fünf Louisd’or gekostet; ich sollte ja die Hälfte haben.“

„Hier hast Du sie,“ sagte Brandow in die Tasche greifend und von dem Golde, das er eben gewonnen, gebend, was ihm eben in die Hand kam.

„Sie sind immer ein guter Herr gegen mich gewesen,“ sagte Hinrich, in seiner harten Faust die Goldstücke gegeneinanderreibend.

„Und will’s nun erst recht sein.“

„Die Herren wollen fort, wenn Sie nun nicht wieder hereinkommen,“ sagte Rieke, die eilig herbeikam. Sie hatte die Thür zum Spielzimmer aufgelassen, und man hörte Hans Redebas’ dröhnende Baßstimme: „Brandow! Brandow!“ und krähendes Gelächter und eine heisere Stimme intoniren: „Nach Hause geh’n wir nicht! nach Hause geh’n wir nicht!“

„Ich will Euch schon fortbringen,“ murmelte Brandow. „Du bleibst hier, Hinrich.“

„Ich habe Zeit, Herr.“

Brandow ging in das Spielzimmer zurück.

„Ihr macht von der Freiheit, welche Euch die zufällige Abwesenheit der Damen giebt, einen übertriebenen Gebrauch,“ sagte Brandow mit schneidendem Hohn, als ihn seine Gäste mit geschwungenen Gläsern und einem Halloh empfingen, in welches Gustav von Plüggen ein schnarrendes Hip, Hip, Hurrah! mischte.

„Zufällig?“ rief Hans Redebas; „gar nicht zufällig. Du machst ja heute gute Geschäfte!“

„Und wozu denn da Deine Frau?“ sagte Otto von Plüggen.

„Ich erbitte mir darüber eine Erklärung!“ rief Brandow; „ich werde nicht dulden –“

Er brach plötzlich ab. Sich heftig gegen Otto von Plüggen wendend, sah er neben demselben Gotthold stehen, der unmittelbar hinter ihm in das Zimmer gekommen sein mußte und ohne Frage Alles gehört hatte. Es war unmöglich, in seiner Gegenwart dies Thema zu erörtern. So würgte er denn den wüthenden Haß, der beim Anblick des Menschen in seinem Herzen aufkochte, mit gewaltsamer Anstrengung hinunter und rief:

„Da bist Du ja endlich! wo in aller Welt hast Du nur gesteckt? Gott sei Dank, daß Du kommst und dem abscheulichen Spiel ein Ende machst.“

„Hoho!“ rief Hans Redebas; „abscheulichen Spiel! pfeifst Du aus dem Loch? das glaube ich! sechshundert oder so hat er schon! schmeckst du prächtig!“

„Ich bin noch Niemand Revanche schuldig geblieben!“ schrie Brandow mit übertrieben heftiger Geberde.

„Aber, Brandow!“ rief der Assessor; „Sie müssen auch nicht jedes Wort auf die Goldwage legen; es ist ja Redebas nicht eingefallen, Sie beleidigen zu wollen. Er möchte nur, daß weiter gespielt wird, und – offen gestanden – ich wüßte nicht, was wir Gescheidteres thun könnten.“

„Nun, wenn Sie das meinen, Herr Assessor, der Sie auch gewonnen haben –“

„Die paar Thaler!“ sagte der Assessor nicht ohne einige Verlegenheit.

„So kann ich gewiß nichts dagegen haben,“ fuhr Brandow fort. „Ich meinte nur, daß wir Freund Gotthold, der nicht spielt und von dem wir bis jetzt so wenig gehabt haben, diese kleine Rücksicht schuldig wären, oder sage ich lieber: uns! er verliert an uns nicht viel, aber wir an ihm desto mehr.“

„Ich bitte, sich meinethalben nicht incommodiren zu wollen,“ sagte Gotthold.

„Na, denn zu, in dreier Teufel Namen!“ schrie Hans Redebas, nach den Karten greifend. „Ich will einmal Bank halten; es werden sich ja wohl noch ein paar Mutterpfennige finden.“

Und er nahm mit der Linken aus der dicken, vor ihm liegenden Brieftasche Banknoten, die er zu einem Haufen zusammendrückte. „So, nun aber ordentlich pointirt, Brandow und Ihr Anderen, das bitte ich mir aus!“

„Es thut mir leid, aber was soll ich machen? ich hoffe, daß Du mir es nicht übel nimmst,“ raunte Brandow Gotthold zu und nahm dann seinen Platz am Spieltisch wieder ein. Gotthold trat mit einer abwehrenden Handbewegung zurück und konnte nun nicht anders, als der Einladung des Pastors Folge leisten, der in der einen Ecke des großen Ledersophas saß und, als Gotthold in der andern Platz genommen, nicht ohne Anstrengung ein wenig heranrückte und mit lallender Zunge zu sprechen anfing.

„Ja, ja, geliebter Freund, eine sündige Welt, eine grausam sündige Welt! aber man darf auch nicht zu streng sein, um Himmelswillen, nicht zu streng! Sie arbeiten die ganze Woche, lassen wenigstens ihre Kerls für sie arbeiten; am Sonntag dürfen sie es nicht, bei schwerer Strafe. Wir haben erst vor Beginn dieser Ernte ein landräthliches Scriptum zugesandt erhalten, das gründlich gepfeffert war. Was sollten sie da mit den langen Stunden beginnen? Müßiggang ist aller Laster Anfang: Spielen, Trinken – Rieke, ein Glas – zwei Gläser – Du trinkst nicht? thust sehr unrecht – selber gebraut – nach einem Recept meines verehrten langjährigen Principals, des Grafen Zernikow. Ueber dreihundert Bowlen während meines Candidatenlebens gebraut – zuletzt blindlings, auf Cerevis! – mit geschlossenen Augen, mit geschlossenen Augen!“

Er hatte die letzten Worte nur noch gelallt, der schwere Kopf nickte vornüber und der untere Theil des Gesichts verschwand in den Falten des gelockerten weißen Halstuches. So sank er hülflos in seine Ecke zurück.

Gotthold erfüllte der trostlose Anblick mit zorniger Verachtung.

Der Mann hatte gehalten, was der Knabe, der Jüngling versprochen; die Maske der Scheinheiligkeit hatte der Rausch abgerissen, und da war das stupide Wüstlingsgesicht des Hallenser Corpsburschen, dessen sich Gotthold so gut erinnerte. Es konnte ja nicht anders sein. Aber daß dieser Jammermensch der Nachfolger seines Vaters war, daß diese blinzelnde Eule da saß, wo der Adler gehorstet, dessen Feuerauge allzeit die Sonne suchte; daß diesem plumpen Schalksnarren verstattet war, mit seinen Schellen an der Stätte zu klingeln, von welcher der Prediger in der Wüste mit glühender Beredsamkeit zur Buße, zur Besserung gerufen hatte – es kam ihm wie eine Beleidigung vor, die man ihm persönlich angethan. Und doch! dieser Mensch gehörte ja hierher; die Herde war des Hirten werth; es war hier Alles aus einem Guß – war wie ein Bild, von Meisterhand in kecksten Umrissen und tollkühnen Farben hingeworfen: der trunken-nickende Pfaff in der Sophaecke hier, dort die wüsten weinglühenden Gesichter der Spieler, da die üppige Dirne, ab- und zugehend und den Zechern den Feuertrank reichend, ein verbuhltes Lächeln, ein schlüpfriges Wort mit Diesem wechselnd, die Hand Jenes, die sich um ihre Hüfte legen will, kokett wegdrückend – die wahre Göttin dieses Lastertempels! – und das Alles eingehüllt in den wogenden grauen Qualm, der aus den unaufhörlich brennenden Pfeifen aufsteigt und um die trüben Flammen der Kerzen in schmutzig rothen Ringen kreist; nur daß es kein Bild, nur daß es derbste, plumpste, gemeinste Wirklichkeit war! Und ach, der Schmach, daß sie unter diesem selben Dache lebte, daß der wüste Lärm bis in ihr stilles Zimmer schallte. – heute nicht zum ersten Mal! heule nicht zum letzten Mal! – Daß dies die Menschen waren, die hier aus- und eingingen, – diese hohlköpfigen Krautjunker, dieser rohe Emporkömmling mit seinen plumpen Händen und plumpen Späßen! Und wenn sie dieser Gesellschaft der Faunen und Satyrn entflohen, als Trösterin die Einsamkeit, die sie mit den kalten, harten, stechenden Schlangenaugen anstarrt! Da waren sie, diese Augen; sie hatten eben von der Karte herübergeblickt mit einem schnellen verstohlenen Blick! diese Augen und ihre – die weichen, sanften, zärtlichen Augen!

Und Gotthold sah nicht die Spieler mehr. Er sah sie sitzen in der öden Kinderstube neben den Spielsachen ihres Kindes – die rührende Gestalt, in ihrer schlanken Zartheit selbst noch so mädchenhaft. Er sah das trauernde Antlitz von rosiger Freude überstrahlt, sah es von Schrecken und Angst entstellt – er lebte die ganze Scene wieder durch, die ihm schon jetzt wie ein Traum erschien; und träumte weiter von einer Zukunft, die ja doch kommen müsse, einer Zukunft voll Sonnenschein und Liebe und Poesie. –

Er hätte nicht sagen können, wie lange er so gesessen, als ihn ein Lärm vom Spieltisch her jäh emporfahren ließ. Es schien etwas Besonderes vorgefallen zu sein; nur Hans Redebas und Brandow saßen noch, die Anderen standen mit neugierigen Gesichtern über den Tisch gebeugt, auch Rieke blickte zu, so eifrig, daß sie den Arm des Assessors, der sich um ihre Taille geschlungen, wegzustoßen vergaß.

„Hältst Du noch einmal?“ schrie Redebas.

[704] „Ja.“

„Noch einmal tausend? Es sind dann fünf!“

„Zum Kukuk, ja!“

Eine athemlose Stille folgte, in welcher Gotthold nur das Geräusch der Karten hörte, die Redebas abzog, und abermals Lärm und Geschrei, wie es ihn vorhin aus seinen Träumen geweckt, nur diesmal so laut, daß selbst der trunkene Pfaffe aus seiner Ecke auftaumelte. Gotthold trat an den Tisch. Sein erster Blick fiel in Brandow’s Gesicht, das ganz bleich war; aber die dünnen Lippen waren fest aufeinandergepreßt und in den harten, kalten Augen blitzte sogar ein unheimliches Lächeln auf, als er jetzt, gegen den Herzutretenden gewandt, rief:

„Sie haben mich schön gerupft, Gotthold; aber noch ist es nicht aller Tage Abend.“

„Aber dieses!“ rief Redebas, die Karten auf den Tisch legend und eine Notiz in seiner Brieftasche machend; „ich danke!“

„Was heißt das?“ fragte Brandow.

„Daß ich nicht mehr spielen will,“ erwiderte Redebas mit lautem Gelächter, die Brieftasche schließend und sich schwerfällig erhebend.

„Ich meinte immer, der Verlierer könne das Spiel aufheben, nicht der Gewinner.“

„Wenn der Gewinner seiner Sache nicht sicher ist, – o ja!“

„Ich erbitte mir eine Erklärung!“ rief Brandow, den Tisch auf die Seite stoßend.

„Aber Brandow! – sei doch vernünftig!“ riefen Otto und Gustav von Plüggen durcheinander.

„Seid Ihr wieder associirt?“ schleuderte ihnen Brandow mit Hohnlachen entgegen, und dann vor Redebas tretend: „ich erbitte mir eine Erklärung, auf der Stelle!“

Der Riese war einen Schritt zurückgewichen: „Oho,“ schrie er, „willst Du so, komm’ an!“

„Aber lieber Brandow!“ sagte der Assessor, beschwichtigend dazwischen tretend.

„Bitte, Herr Assessor,“ rief Brandow, ihn auf die Seite schiebend, „ich weiß, was ich zu thun habe.“

„Und ich weiß es auch!“ schrie Redebas, das Fenster aufreißend und dann mit seiner Löwenstimme über den stillen Hof: „Anspannen! August, anspannen!“ rufend.

Eine wüste Scene folgte, in der Alle so durcheinander rasten, daß Gotthold nur hier und da ein einzelnes Wort verstehen konnte. Am meisten tobte Hans Redebas, aber, wie es schien, ebenso aus Angst als aus Zorn, während Brandow verhältnißmäßig ruhig blieb und ganz offenbar beflissen war, den Assessor, welcher sich immer wieder hineinmischte, von den drei Andern zu sondern, zu denen sich nun auch der Pastor gesellte und durch alle möglichen Zeichen die Absicht an den Tag legte, eine Rede zu halten, es auch wirklich ein paar Mal bis zu dem Ansatz: „Meine vielgeliebten Freunde!“ brachte.

Die drei Wagen, welche die geduldigen Kutscher schon längst bereit gehalten haben mochten, waren vorgefahren. Der Streit hatte sich aus der Stube auf den Flur, vom Flur vor die Hausthür bis an den Schlag des Wagens fortgesponnen.

„Es wird sich finden, es wird sich finden!“ schrie Hans Redebas unaufhörlich; „sitzt Du, Pastor? dann in dreier Teufel Namen fort! – Es wird sich finden!“ brüllte er noch einmal aus dem Wagenfenster heraus, als die gewaltigen dänischen Pferde bereits, mächtig ausholend, davontrabten, der nördlichen Ausfahrt zu, von welcher der kürzere, bei der Dunkelheit allerdings kaum fahrbare Weg durch den Wald nach Dahlitz ging.

Inzwischen waren Otto und Gustav von Plüggen zuletzt noch unter einander in Streit gerathen. Gustav, der keine Laternen an seinem Wagen hatte, erklärte, über die Haide fahren zu müssen, während Otto, der Laternen hatte, Redebas folgen wollte. Gustav hatte sich heute bereits so lange mit seinem Senior vertragen, daß er diese Weigerung für eine grimmige Beleidigung nehmen zu müssen glaubte. Er habe keine Heubündel vor dem Kopfe, und wolle sich nicht im Walde an den Bäumen den Schädel einrennen. Dann möge er sich doch das Stroh anstecken, das er im Kopfe habe, und sich damit nach Hause leuchten, replicirte Otto.

So fuhren sie von dannen, der Eine hierhin, der Andere dorthin.

„Das ist dumm,“ sagte Brandow, dem Wagen Gustav von Plüggen’s nachschauend.

„Der Eine kommt hinüber, der Andere nicht,“ sagte Hinrich Scheel.

„Man weiß, daß Du der beste Fahrer bist.“

„Ein Unglück kann dem Besten passiren.“

„Du willst es also?“

„Es scheint, daß Sie nicht wollen.“

Brandow antwortete nicht gleich. Er hatte sich die Sache doch leichter gedacht; aber er brauchte ja nicht gleich den Hals zu brechen, blos Arm und Bein!

Er warf einen scheuen Blick durch das Fenster; das Licht fiel gerade voll in Gotthold’s ernstes, schönes Gesicht. Brandow knirschte mit den Zähnen. Nein! es war nicht genug! er mußte sein Leben haben; der verfluchte Schleicher hatte es nicht besser verdient; und wo war das Verbrechen? ein Unglück konnte dem Besten passiren!

Auf einmal fuhr er zusammen. Daran hatte er vorher nicht recht gedacht. Er hatte durch seinen Streit mit den Spielgenossen glücklich verhindert, daß die ganze Gesellschaft, wie schon oft, zur Nacht oder doch bis an den hellen Morgen blieb, und hatte so Gotthold den schicklichen Vorwand geraubt, ebenfalls zu bleiben, wenn er anders diese Absicht hatte – und davon war Brandow nach dem, was er vorhin belauscht, fest überzeugt. Er hatte auch, indem er den Assessor geflissentlich vom Streite fern hielt, es diesem unmöglich gemacht, mit den Andern zugleich aufzubrechen – an Einladungen hatte es nicht gefehlt, und so wäre ihm die Beute entwischt, da Gotthold ohne den Assessor nicht wohl hätte zurückbleiben können. Aber nun – welches Mittel, die Beiden zu trennen? Blieb der Assessor – und er schien nicht an Aufbruch zu denken – so blieb auch Gotthold, hatte Gotthold wenigstens den schicklichsten Vorwand zu bleiben; und zwang er den Assessor zu gehen –

Abermals streiften seine düstern Blicke die Beiden in dem Zimmer. Sie standen noch auf derselben Stelle – der Assessor unter lebhaften Gesticulationen auf Gotthold einsprechend; dieser, nach seiner Miene und Geberde zu schließen, nur unwillig zuhörend.

„Ich habe sie ja Beide hergefahren, so kann ich sie auch Beide zurückfahren,“ sagte Hinrich Scheel, die Asche in seiner Pfeife feststopfend.

Beide! der Eine, ja! aber was hatte ihm der Andere gethan? nichts! gar nichts! und daß er ihm heute die zehntausend Thaler abgenommen –

„Es ist nur schade um das schöne Geld, wenn uns ja im Moore ein Unglück passiren sollte,“ sagte Hinrich, die Pfeife ausklopfend; „ich will den Wagen immer zurecht machen, und die Vordermähren von Jochen Klüt nehmen, um unsere Blässen wäre es doch schade.“

Und Hinrich Scheel ging langsamen Schrittes davon. Brandow’s Blicke verfolgten die untersetzte schwarze Gestalt; er wollte ihn zurückrufen, wollte ihm zurufen, er sollte nicht anspannen; aber es kam nur ein seltsam heiserer, würgender Ton aus der Kehle; die Zunge klebte ihm am Gaumen; er taumelte, als er den Fuß hob, wie ein Betrunkener und mußte sich an den Stamm einer der alten Linden festhalten, durch deren dichtes Gezweig jetzt eben ein heftiger Windstoß sauste. Der Regen, der wieder zu fallen begann, schlug ihm in das Gesicht, das seltsam brannte, trotzdem es ihn vom Wirbel bis zur Zehe durchschauerte.

Da! was war das? das Geräusch des Wagens, den Hinrich aus dem Schuppen schob. Noch war es Zeit! aber er hatte ja nichts gesagt, gar nichts; was konnte er dafür, wenn dem Hinrich in der Nacht auf der Haide ein Unglück passirte!

Gotthold und der Assessor waren im Zimmer geblieben; der Assessor bemühte sich, Gotthold umständlich zu beweisen, daß Brandow entschieden in seinem Rechte gewesen sei, als er verlangte, daß weiter gespielt werde, aber er habe Unrecht daran gethan, seinen Wunsch in dieser peremptorischen Weise auszusprechen. Denn schließlich habe er doch nicht vergessen dürfen, daß er der Wirth war, und als solcher auch eine Tactlosigkeit seiner Gäste in den Kauf nehmen mußte.

Den letzten Theil seiner langen Rede hatte der Assessor im Ton der Belehrung schon halb gegen Brandow gerichtet, der eben in das Zimmer gekommen war und, zu dem Schenktisch tretend, ein paar Gläser hinuntergestürzt hatte.

[706] „Ich habe in der That heute viel dergleichen in den Kauf nehmen müssen, und ich bin Ihnen verbunden, Herr Assessor, daß Sie mich bis zum letzten Augenblick in Uebung erhalten.“

Der Ton, in welchem Brandow dies gesagt, und die Geberde, mit der er jetzt vor den Assessor trat, waren so auffallend, daß dieser bis zu einem gewissen Grade nüchtern wurde und mit weitaufgerissenen Augen Brandow anstarrte, der jetzt noch einen Schritt näher trat und mit leiser Stimme sagte:

„Oder wie nennen Sie es, wenn die Gäste in Gegenwart der Dienstboten das Benehmen des Herrn vom Hause einer so wenig schonungsvollen Kritik unterwerfen?“ und er deutete auf Rieke, unter deren Aufsicht eine andere Magd und der Groom Fritz die auf den Tischen herumstehenden Gläser abzuräumen und die auf der Erde umhergestreuten Scherben zusammenzukehren begannen.

Der Assessor richtete sich straff in die Höhe.

„Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte er, „und Sie hatten die Freundlichkeit gehabt, Herr Brandow, mir auch für die Rückfahrt Ihren Wagen zur Disposition zu stellen. Ich bedaure, daß ich von Ihren andern Gästen eine Gefälligkeit nicht angenommen habe, um die ich Sie jetzt ersuchen muß. Ich darf doch auf Ihre Gesellschaft rechnen, Gotthold?“

„Ich denke, daß Brandow nichts dagegen haben wird.“

„Ich bitte die Herren, ganz über mich verfügen zu wollen.“

Man verbeugte sich mit höflicher Kälte gegeneinander. Wenige Minuten später rollte derselbe leichte Holsteiner Wagen, der vor einigen Stunden die Beiden gebracht, über den holprigen Damm in die finstere, sausende Nacht hinein. Hinrich Scheel lenkte die Pferde.

[717]
21.


Es war vielleicht zehn Uhr, aber, obgleich man im Hochsommer sich befand, und der Mond bereits aufgegangen sein mußte, so dunkel, wie es nur eine mondlose Herbstnacht sein konnte. Und herbstlich kalt wehte der Wind über die Roggenstoppeln, und herbstlich kalt schlug ihnen der Regen in’s Gesicht, welcher eben wieder mit erneuter Heftigkeit einsetzte.

„Knöpfen Sie sich fest zu,“ sagte Gotthold zu seinem Gefährten, der unbehaglich in seinem Sitz hin- und herrückte. „Sie schienen vorher sehr erhitzt.“

„Weil ich den ganzen Abend zugeknöpft gewesen bin,“ erwiderte der Assessor, „ich meine im wirklichen Sinne, wegen der Zehntausend, die ich seitdem in der Brusttasche trage; in figürlichem hätte ich es wohl etwas mehr sein können; trotzdem aber, – ich bitte Sie, lieber Freund, erklären Sie mir Brandow’s räthselhaftes Betragen! Er hat mir ja geradezu den Stuhl vor die Thür gesetzt! Und weshalb? ich verstehe es nicht! nachdem wir den ganzen Abend auf das Cordialste miteinander verkehrt! nachdem wir, so zu sagen, Hand und Handschuh gewesen! Und Alles zwischen uns in bester Ordnung! die ganze große Summe baar bezahlt bei Heller und Pfennig, was freilich das größte Räthsel ist! Und von Wollnow will er das Geld haben! Hat Wollnow mich mystificirt? Und warum? Ich sehe in dem Allen so wenig Licht, wie ich hier meine Hand vor den Augen sehen kann. Abscheuliche Dunkelheit!“

„Der Mond ist schon seit einer Stunde auf,“ sagte Hinrich Scheel.

„Und darum habt Ihr auch wohl keine Laternen am Wagen?“

„Herr von Plüggen hat auch keine gehabt.“

„Und dann dachtet Ihr, daß uns Eure Pfeife hinreichend Licht geben würde, nicht wahr?“

„Ich brauche nicht zu rauchen, Herr!“

„Dann laßt es lieber; ich kann nicht sagen, daß ich den Duft Eures Knasters sehr goutirte.“

„Unser Einer kann keinen feinen Tabak rauchen, wie die feinen Herren,“ sagte Hinrich Scheel, die Pfeife ausklopfend, daß die Funken durch die Nacht dahinstoben, und sie in die Brusttasche steckend.

„Ist das nicht derselbe Kerl, der uns heute Nachmittag fuhr?“ fragte der Assessor leise.

„Derselbe,“ erwiderte Gotthold, „und ich möchte Ihnen zu derselben Vorsicht rathen, deren wir uns auf der Herfahrt bedienten.“

Aber der Assessor war nicht in der Stimmung, Gotthold’s Rathe zu folgen. Der Rausch, welchen die Scene mit Brandow nur für kurze Zeit unterbrochen, stellte sich in der sausenden kalten Nachtluft mit doppelter Starre wieder ein. Er fing an, auf Brandow zu schelten, dem er im Curatorium immer das Wort geredet, der ohne ihn bereits vor einem Jahre von Dollan hätte abziehen müssen, der ihm in jeder Beziehung zu großem Danke verpflichtet sei, und von dem er nun so mit schnödem Undank belohnt werde. Aber mit seiner Freundschaft, mit seiner Protection sei es jetzt zu Ende. Er habe den saubern Herrn noch immer in der Hand. Die Pacht müsse, so wie so, erneuert werden. Nun habe Brandow freilich bezahlt, aber welche Gewähr der Sicherheit sei bei einem Manne, der in einer so precären Lage sich noch eine Spielschuld von fünftausend Thalern auf den Hals lade? Er brauche dem Curatorium nur diese Mittheilung zu machen, und Brandow sei geliefert. Ob Brandow glaube, das Curatorium dadurch zu beruhigen, daß er ihm den Brownlock vorreite? Brownlock hin, Brownlock her! Noch habe Brandow nicht gesiegt, und man nehme es etwas streng auf dem Rennplatze. Noch im vorigen Jahre habe man den jungen Klebenitz ausgeschlossen – Majoratsherr, wie er sei – weil bekannt geworden, daß er eine Spielschuld vierundzwanzig Stunden zu spät bezahlt. Es sei doch sehr fraglich, ob Redebas die Fünftausend, die er eben dem Brandow abgenommen, bis morgen Mittag in seinem Secretär liegen haben werde.

Es war ganz vergeblich gewesen, daß Gotthold den Redseligen zu unterbrechen suchte; und er war deshalb nicht unzufrieden, als jener, nachdem er noch ein paar unzusammenhängende Worte gelallt, plötzlich schwieg und, in seine Ecke zurückgelehnt, seinen Rausch verschlafen zu wollen schien. Gotthold legte ihm noch seine eigene Decke über die Kniee, schlug ihm den Kragen des Ueberziehers in die Höhe, und überließ sich, in die Dunkelheit hineinstarrend, seinen Betrachtungen. Auch ihm war Brandow’s Betragen unbegreiflich. Was konnte ihn bewogen haben, den Assessor in dieser Weise zu beleidigen, einen Mann, dessen Gunst sich zu erhalten er jede Veranlassung hatte? War auch er betrunken gewesen? aber diese Trunkenheit mußte sehr plötzlich über ihn gekommen sein, und hatte jedenfalls eine seltsame Miene angenommen – die Miene des Hasses, der sich in kalte Höflichkeit [718] hüllt. Oder hatte das Alles nur ihm gegolten? war ihm so viel daran gelegen gewesen, den Feind aus dem Hause zu haben, daß er es sich selbst die Freundschaft des einflußreichen Mannes kosten ließ? Das war so einfach menschlich, sah dem kalt berechnenden Menschen so wenig ähnlich – aber, wenn nicht Trunkenheit, die sich austoben, nicht Haß, der sich befriedigen will – was war es dann?

Und wenn es nun Haß wäre, der sich befriedigen will um jeden Preis? und wenn dieser Haß ihr nicht minder galt als ihm, ihr vielleicht mehr noch als ihm? wenn der Fürchterliche das Haus frei haben wollte, um seinem wüthenden Haß freien Lauf lassen, schwelgen zu können in grausamer Rache?

Gotthold richtete sich, laut stöhnend, halb von seinem Sitze auf, und sank wieder zurück und schalt sich, daß er solche Grauengespenster heraufbeschwor. Es war ja doch das Unwahrscheinlichste von Allem! Welches Mittels er sich auch gestern Nacht bedient haben mochte, den Stolz der Stolzen zu brechen – er hatte gesiegt, er war der Herr der Situation! er konnte zufrieden sein! Und war er es nicht – er wußte ja jetzt das Geheimniß, Gold zu machen, der schlaue Alchymist; und wie bald er wieder in die Lage kommen konnte, seine Kunst in Anwendung bringen zu müssen – der heutige Abend hatte es bewiesen! – Wo bleibt das Wasser, das du zwischen die Finger nimmst? wo bleibt das Gold, das du einem Spieler giebst? Vetter Boslaf hatte Recht gehabt!

Aber je mehr Gotthold bemüht war, sich das Entsetzliche auszureden, als unwahrscheinlich, ja unmöglich hinzustellen, um so deutlicher trat es vor seine Augen. Er sah ihn nach ihrem Zimmer schleichen, sah ihn leise vorsichtig die Thür öffnen, hineinschlüpfen, auf ihr Bett zu. Heiliger Gott, was war das? Er hatte ganz deutlich seinen Namen rufen hören in schrillem Tone tödtlichster Angst.

Es war nur ein Spiel seiner aufgeregten Sinne, ein Uhu vielleicht, der auf unhörbaren Schwingen, vom Sturm geschleudert, dicht über seinen Kopf weggestrichen war, und in der Ueberraschung den Schrei ausgestoßen hatte. Dies, oder etwas der Art.

Ohne Zweifel, nur daß die Phantasie ihr grausames Spiel deshalb um nichts minder eifrig fortsetzte, und aus dem langgezogenen Heulen und dumpfen Brausen des Sturmes über die Haide, aus dem Rascheln der Ginsterstauden an der Wegseite, aus dem Kreischen des mühsam gleisenden Wagens, aus dem Schnaufen der sich abarbeitenden Pferde geisterhafte Töne formte, die sich in grausige Worte umsetzten, Töne und Worte, wie sie die Gestalten raunen und röcheln konnten, die rechts neben dem Wagen her auf den Haidehügeln durch die grauschwarze Dämmerung der Felsblöcke schlüpften, oder unten links durch die undurchdringliche Nacht huschten, die von dem Moore kalt heraufathmete.

Der Weg war schon eine Zeitlang gestiegen, nach Gotthold’s Meinung mußten sie beinahe auf der Höhe des Hügels sein, als plötzlich die Pferde schnaufend stillstanden.

„Was heißt das?“ fragte Gotthold.

Hinrich Scheel antwortete nur mit ein paar sausenden Peitschenhieben, welche die Pferde wieder vorwärts trieben, aber nur ein paar Schritte, dann standen sie wieder, unruhiger noch als vorher schnaufend und sich in dem Geschirre zurücklegend, daß der Wagen ein wenig hügelabwärts glitt.

„Die verdammten Mähren!“ schrie Hinrich Scheel, aber nicht mehr von seinem Sitze, sondern rechts neben dem Wagen.

„Noch einmal, was giebt’s?“ rief Gotthold, sich aufrichtend.

„Gar nichts,“ schrie Hinrich, „bleiben Sie ruhig sitzen. Die verdammten Mähren! das bischen Arbeit! ich will’s ihnen beibringen! bleiben Sie ruhig sitzen, wir sind ja gleich oben! Die verdammte Peitsche!“

Hinrich, der bis jetzt wie unsinnig auf die Pferde losgeschlagen hatte, war neben dem Wagen verschwunden; die angstvoll vorwärts drängenden Pferde thaten noch ein paar Sprünge – plötzlich neigt sich der Wagen nach links auf die Seite – tiefer und tiefer – wie ein Blitz durchfährt es Gotthold, daß, wenn der Wagen hier umschlägt, er unaufhaltsam sechszig Fuß tief die Böschung hinab in das Moor stürzt – er hat bereits die Hand auf der Lehne, sich nach rechts hinauszuschwingen – er will sich nicht retten ohne den Gefährten. Der aber regt sich nicht, rührt sich nicht. Er hat ihn umfaßt, sich mit ihm aus dem Wagen zu werfen. Es ist zu spät. Ein dumpfes Krachen, Rauschen, Rascheln, als ob die Erde selbst sich aufthäte, um Wagen, Roß und Mann auf einmal zu verschlingen; ein Sausen und Knattern des Windes in den Ohren – ein furchtbarer Schlag, ein Stürzen, Rollen, Aufschlagen, wieder Stürzen, Rollen, Aufschlagen und dann – vorbei der Graus!




22.


In dem großen behaglichen Zimmer neben dem Comptoir saßen beim gedämpften Scheine einer prachtvollen Lampe – die Schwesterlampe brannte auf dem Spiegelconsol in der Tiefe des Zimmers – Frau Ottilie Wollnow und Alma Sellien; Ottilie mit einer feinen Handarbeit beschäftigt, während Alma, die schlanken Hände müßig in den Schooß gelegt, in der Sophaecke lehnte. Ueber den Damen stand auf einem hochlehnigen Stuhle und gut in das Licht gerückt Gotthold’s Bild von Dollan, und Alma warf von Zeit zu Zeit einen ihrer schmachtenden Blicke darauf. Sie wollte, wenn die Herren heute Abend kamen, Gotthold eine angenehme Ueberraschung mit dem Interesse bereiten, das sie an seinem Werke nahm, und deshalb mußte das Bild, das vorhin auf ihren Wunsch herabgenommen war, hier stehen bleiben.

„Ich fürchte nur, es könnte herabgleiten und beschädigt werden,“ sagte Ottilie; „und überdies – ich bin gar nicht so sicher, daß sie heute Abend noch zurückkommen.“

„Ich weiß nicht, was das Zurückkommen der Herren mit meinem Kunstgenusse zu thun hat,“ erwiderte Alma, die Augen mit der Hand beschattend und das Bild mit scheinbar erhöhtem Interesse betrachtend. „Wie kräftig diese Buchen hier in dem Vordergrunde, wie bequem der Blick in den zweiten Plan hinübergleitet und in süßer Ruhe dort verweilt, um sich dann links mit Lust auf der braunen Haide zu ergehen, oder rechts sehnsuchtsvoll in die blaue duftige Meeresferne hinauszuschweifen. Er ist wirklich ein großer Künstler.“

Ottilie lachte. „Und das willst Du ihm Alles sagen?“

„Warum nicht?“ erwiderte Alma, „ich gebe gern Jedem, was ihm zukommt.“

„Besonders wenn der ‚Jede‘ ein so liebenswürdiger Mann ist wie Gotthold.“

„Ich habe ihn ja heute Morgen kaum fünf Minuten gesehen und gesprochen.“

„Und das reicht für eine so seine Kennerin auch vollkommen hin. Gestehe, Alma, Du bist bezaubert und siehst jetzt, daß unsere arme Cäcilie doch nicht so hart zu verurtheilen ist, wenn sie wirklich das Unglück gehabt haben sollte, einen solchen Mann liebenswürdig zu finden.“

„Du weißt, ich denke in diesen Dingen sehr streng,“ entgegnete Alma; „ja, sehr streng, trotz der großen Augen, die Du zu machen beliebst. Aber, offen gestanden, es ist mir passabel gleichgültig, was Deine arme Cäcilie findet oder nicht findet; ich möchte nur nicht gern an dem guten Geschmacke und dem Tacte der Männer verzweifeln, und das müßte ich, fände wirklich umgekehrt ein solcher Mann Deine arme Cäcilie liebenswürdig.“

„Aber, Alma!“

„Bitte, liebe Ottilie, erlaube, daß ich in diesem Punkte meine eigene Ansicht habe und festhalte. Sage mir lieber – denn das interessirt mich jetzt, nachdem ich ihn persönlich kennen gelernt habe –, was Du von seinen sonstigen Verhältnissen weißt. Hugo behauptet, er sei ein halber Millionär. Ist er wirklich so reich? und wie ist er zu dem Vermögen gekommen? Hugo sagt, es sei eine ganz mysteriöse Geschichte – das sagt er aber immer, wenn er über etwas keine Auskunft geben kann. Was ist daran?“

„Gar nichts,“ erwiderte Ottilie; „ich meine gar nichts Mysteriöses, aber traurig ist die Geschichte; ich habe, als mein Emil sie mir neulich erzählte – er hatte vorher nie mit mir davon gesprochen –, so weinen müssen!“

Und Ottilie Wollnow trocknete die Thränen, die ihr bereits in den dunkeln Wimpern hingen.

„Du machst mich unglaublich neugierig,“ sagte Alma; „wie kann eine Geschichte traurig sein, bei der schließlich eine halbe Million herausspringt?“

„So viel ist es nun wohl nicht,“ sagte Ottilie; „überhaupt darfst Du keine Details von mir verlangen, da Emil’s Erzählung selbst sehr – wie soll ich sagen? – sehr discret war – aus [719] Gründen, die ich Dir heute Morgen bereits andeutete, und ich – aus ebendenselben Gründen – nicht weiter in ihn zu dringen wagte. Man muß solche alte Cotillonorden immer respectiren und für richtige, echte Orden zu halten scheinen.“

„Alte Cotillonorden?“ fragte Alma erstaunt.

Ottilie lachte. „Ich nenne so die Reminiscenzen unserer Männer an ihre alten Liebschaften, die sie mit so possirlicher Rührung conserviren und, so zu sagen, immer heimlich unter dem Rock tragen, um uns nicht durch den Glanz zu beschämen; denn wir sind ja gute und vortreffliche Frauen, aber wie könnten wir uns mit diesen Huldinnen messen! In diesem Falle freilich –“

„Verzeihe, liebe Ottilie, daß ich Dich unterbreche! aber Du wolltest mir erzählen, wie Gotthold zu seinem Vermögen gekommen ist.“

„Das steht ja Alles im engsten Zusammenhange,“ erwiderte Ottilie; „der Cotillonorden, ich meine die alte Flamme meines guten Emil und Gotthold’s Mutter, das ist ja eine und dieselbe Person; aber freilich, ich fange meine Geschichten immer am Ende an, behauptet Emil. Also nun, ausnahmsweise mit dem Anfang. Aber wie das?“

„Vielleicht, indem Du sagst, wer denn die genannte Dame eigentlich war.“

„Du triffst doch immer den Nagel auf den Kopf! Gewiß; wer sie war? das einzige Kind ihrer Eltern – ihr Vater ein reicher Kaufmann in Stettin, Reginald Lenz mit Namen – ihre Mutter – ich habe vergessen, wie sie hieß; aber sie muß ein herziges, liebes Geschöpf gewesen sein und ihren Mann leidenschaftlich geliebt haben, zu leidenschaftlich vielleicht. Auch mag der Mann wohl sehr liebenswürdig gewesen sein – sie haben ihn nur immer den ‚schönen Lenz‘ genannt; und wie denn solche verwöhnte Herren sind: das lustige Junggesellenleben wird in der Ehe fortgesetzt; ein paar unglückliche Speculationen mögen noch dazu gekommen sein; mit Einem Worte: Herr Lenz fallirte nach ein paar Jahren oder stand vor dem Banquerott, und die Bücher stimmten wohl nicht, wie sie sollten; er wollte die Schande nicht überleben, und – es ist schrecklich, wenn man sich das vorstellt – er nimmt ganz heiter Abschied von seiner jungen Frau, um auf die Jagd zu gehen und sich nach dem vielen Rechnen, wie er sagt, den Kopf klar zu machen, und am Abend bringen sie ihn mit zerschmettertem Schädel –; ist es nicht fürchterlich?“

„Weiter!“ sagte Alma.

„Ja, das Weitere ist fast ebenso schlimm. Die junge Frau, die keine Ahnung von der Lage ihres Mannes hatte – sie hätte ihn sonst gewiß nicht fortgelassen –, sieht ganz unvorbereitet die Leiche. Sie sehen, mit einem gräßlichen Schrei zusammenbrechen ist bei der Aermsten Eines. Eine Stunde später – die Unglückliche hat ein zweites Kind unter dem Herzen getragen – rast sie in einem hitzigen Fieber und ist nach ein paar Tagen eine Leiche.“

„Wie unvorsichtig!“ sagte Alma.

„Die kleine fünfjährige Marie –“

„Ein häßlicher Name,“ sagte Alma.

„Ich kann es nicht finden; jedenfalls ist die Trägerin desselben nichts weniger als häßlich gewesen, versichert Emil; und, offen gestanden, ich bin überzeugt, daß er in diesem Punkte nicht übertreibt und daß die kleine Dame, die natürlich im Laufe der Jahre ein große Dame wurde, in der That alle die vorzüglichen Eigenschaften hatte, die dem armen Jungen, der damals so einige Zwanzig war, den Kopf verdrehten. Und nicht blos ihm: sämmtlichen anderen jungen Leuten in dem Geschäfte ist es nicht anders gegangen. Ich vergaß nämlich zu sagen, oder wollte sagen, daß die arme kleine Waise in das Haus ihres Onkels gekommen, des Bruders ihres unglücklichen Vaters, der aber in jeder Beziehung das Gegentheil von Jenem war: häßlich, streng, ja pedantisch, freilich ein vorzüglicher Geschäftsmann, aus der alten Schule, wie Emil sagt, der in dem Geschäfte gelernt und sich zu dieser Zeit bis zum Procuristen aufgeschwungen hatte. Die Frau soll wunderbar gut zu ihm gepaßt, das heißt, ihm weder an Häßlichkeit noch an pedantischer Strenge etwas nachgegeben haben, so daß das arme Mädchen in diesem Hause gerade nicht auf Rosen gebettet gewesen ist.“

„Trotz aller Bewunderer?“

„Trotz aller Bewunderer. Sie hat es von ihrem Vater gehabt, der auch immer hoch hinaus gewollt hat.“

„Vielleicht hat sie überhaupt nicht gewußt, was sie wollte.“

„Ist auch möglich; jedenfalls hat von den jungen Leuten keiner Gnade vor ihren Augen gefunden, höchstens Emil ein wenig, aber er behauptet, nur deshalb, weil er der einzige Jude in dem christlichen Geschäfte gewesen ist und also gewissermaßen nicht mitgezählt hat – die Stellung der Juden, mußt Du wissen, war damals, vor dreißig Jahren, noch ein wenig precärer und ungemüthlicher als jetzt, trotzdem auch jetzt vielleicht noch nicht Alles ist, wie es sein sollte. Wenigstens hat sie den am schlechtesten behandelt, der, was die äußeren Verhältnisse betrifft, die größten Ansprüche machen konnte – ihren Cousin Eduard nämlich, den einzigen Sohn des Hauses, einen stillen, schüchternen jungen Menschen, der sie grenzenlos geliebt hat. Emil sagt, ihm könnten noch jetzt die Thränen in die Augen kommen, wenn er an die Zeit zurückdenkt, wo ihm Eduard, dessen bester Freund er gewesen ist, sein Herzeleid geklagt hat – nicht so pomphaft, weißt Du, mit großen Worten, die gar nicht seine Sache gewesen sind, sondern so sanft, so resignirt –“

„Ich kann diese sanften, resignirten Menschen nicht leiden,“ sagte Alma.

„Sie bringen es auch selten sehr weit, wie das Beispiel des armen Eduard zeigt. Aber freilich, sie hat noch ganz anderen Leuten Körbe gegeben, die keineswegs sanft und resignirt waren: Officieren, Baronen und Grafen – was weiß ich; sie ist ja das Wunder der Stadt und der Abgott der ganzen jungen Männerwelt gewesen, und sie hat sie nicht mehr beachtet, als wie die Sonne die Nebel.“

„Du wirst ja ganz poetisch,“ sagte Alma.

„Ein Bild von Emil, der immer poetisch wird, sobald er von ihr spricht – bis dann der Rechte kam.“

„Der Landpastor! Du lieber Himmel! Tant de bruit pour une omelette!“ sagte Alma.

„Bitte, er ist gar keine Omelette gewesen, im Gegentheil ein ganz außergewöhnlicher Mensch, der den Frauen gerade so den Kopf verdreht hat, wie sie den Männern. Und nicht blos den Frauen; viele Männer, und nicht die schlechtesten, haben auch für ihn geschwärmt, unter andern mein Emil, der, seitdem er sich zu unserer Hochzeit hat taufen lassen, keinen Fuß in eine Kirche gesetzt hat, und der damals allsonntäglich, Jude wie er war, dem Gottesdienste beiwohnte, welchen der junge Prediger-Substitut – so, glaube ich, nennt man sie – abgehalten. Die ganze Stadt, sagt er, ist dagewesen; die große Kirche hat die Leute nicht fassen können; sie haben in den Thüren, ja, vor den Thüren gestanden, ihn nur herauskommen zu sehen. Mit einem Worte: dieser junge Prediger war der Rechte. Wie sie sich kennen gelernt haben, weiß ich nicht; thut auch nichts zur Sache. Sich sehen, sich lieben, war Eines. Die Pflegeeltern, die ihres Eduard wegen froh gewesen sind, sie aus dem Hause zu haben, gaben selbstverständlich sofort ihre Einwilligung, trotzdem die kleine Pfarre hier in Rammin, aus die hin sie heiratheten, eher zum Verhungern, als zum Leben war. So sind sie denn von Stettin fort und hierher gezogen und –“

„Die Geschichte ist zu Ende,“ sagte Alma, „wie dergleichen Geschichten, die so überschwänglich anfangen, zu Ende zu gehen pflegen: in Alltagsmisère. Aber dabei weiß ich noch immer nicht, wie Gotthold zu seiner halben Million kam.“

„Keine halbe Million,“ erwiderte Ottilie, „Hunderttausend etwa, meint Emil; und von wem anders sollte er sie wohl haben, als von dem guten Eduard, der nie hat heirathen wollen, so glänzende Partien natürlich der reiche Erbe machen konnte, sondern seiner Jugendliebe treu geblieben ist bis an das Grab, und, als es zum Sterben kam, sein großes Vermögen an wohlthätige Anstalten gewandt und den Rest dem Sohne seiner Cousine als seinem nächsten Erben vermacht hat.“

„Es muß eine sehr angenehme Ueberraschung gewesen sein,“ sagte Alma.

„Ohne Zweifel, obgleich ich doch wieder sagen muß, daß kein rechter Segen bei dem Gelde ist. Nun ja, er ist jetzt ein reicher oder doch wohlhabender Mann; was hat er persönlich davon? So gut wie nichts. In Emil’s Geschäft stehen schon von der Zeit vor unserer Heirath – seitdem braucht Emil, Gott sei Dank, kein fremdes Geld mehr – zehntausend Thaler oder so – er hat sich nie darum bekümmert; das andere hat er dem Stettiner Geschäft gelassen, das von einem der Theilhaber [720] unter der alten Firma fortgeführt wird, und wo es gar nicht mehr sehr sicher angelegt sein soll; aber er rührt nicht einmal die Zinsen an, außer wenn es gilt, hülfsbedürftigen Künstlern beizuspringen, oder junge, strebsame Talente zu fördern, ihnen den Aufenthalt auf der Akademie, eine Reise nach Italien zu ermöglichen, und was dergleichen mehr ist. Nun, er braucht es ja nicht; er verdient ja mit Leichtigkeit so viel, wie er will, und ist ja überdies ein so grundguter Mensch, dem Andern wohlzuthun Bedürfniß ist, aber ich glaube, es hat doch damit seine eigene Bewandtniß.“

„Womit?“ fragte Alma.

„Warum heirathet er nicht? Gelegenheit dazu hat sich ihm doch gewiß die beste geboten, und er ist achtundzwanzig Jahre! Ich fürchte, ich fürchte, er wird ein Junggeselle bleiben, wie sein Onkel in Stettin; und – aus demselben Grunde. Und wo das Geld bleibt, das glaube ich auch schon zu wissen. Nach dem, was wir heute Morgen über Brandow’s Verhältnisse gehört haben, wäre es dann auch recht gut placirt; von Vater und Mutter wird das arme Gretchen wohl nicht viel zu erben haben.“

„Er wird kein Narr sein,“ sagte Alma.

„Das werden die Leute von dem guten Eduard Lenz ebenfalls gesagt haben. Und ich glaube, ich glaube – aber Du mußt mich nicht verrathen, wenn Dein Mann zurückkommt –, ich glaube, ein Theil von Gotthold’s Vermögen ist heute schon in Brandow’s Hände gewandert.“

„Sagte Dein Mann das?“

„Dann wüßte ich es ja; Emil und Ausplaudern – da kennst Du ihn schlecht. Alles eigene Combination, aber die sich bestätigen wird, wenn die Herren morgen zurückkommen.“

„Ich habe ihnen noch beim Wegfahren gesagt, daß ich sie heute Abend mit Bestimmtheit zurückerwarte,“ sagte Alma, durch die hohle Hand auf das Gemälde blickend, und im Stillen die Phrase wiederholend, mit der sie Gotthold empfangen wollte.

„Wahrhaftig, da sind sie schon! rief Ottilie, als jetzt die Hausglocke ertönte.

„Es kann ja auch Dein Mann aus seinem Club sein.“

„Der klingelt nicht,“ sagte Ottilie; „es ist auch nicht sein Schritt.“

Ottilie ging mit einem „Herein“ auf die Thür zu, an welche jetzt geklopft wurde; Alma lehnte sich in die Sophaecke, den Kopf ein wenig hintenübergeneigt, im Begriff, die weißen Hände in dem Schooße möglichst vortheilhaft zu arrangiren, als sie durch einen leisen Schrei Ottiliens aus ihrer Pose aufgeschreckt wurde.

„Herr Brandow!“

„Verzeihen Sie, gnädige Frau, verzeihen die Damen, daß ich mich, in Ermangelung eines Domestiken, der mich hätte melden können, unangemeldet introducire. Ich hoffe, daß Sie mich einige Minuten bei sich dulden und mir so einen Scherz ausführen helfen, den ich unsern Freunden zugedacht habe.“

Brandow verbeugte sich; Ottilie blickte ihn überrascht, ja erschrocken an. Herr Brandow sah so gar nicht aus wie Jemand, der einen Scherz auszuführen gedenkt; sein Gesicht bleich und wie entstellt, sein langer blonder Schnurrbart zerzaust, seine Kleidung eine seltsame Zusammenstellung von Gesellschaftsanzug und Reitcostüm, mit Spritzflecken, die bis zur Schulter hinaufreichten. Und in dieser Verfassung, zu dieser späten Stunde in ein Haus zu kommen, das ihm so gut wie fremd, ja seit Jahren eigentlich verschlossen war! Ottilie hatte für das Alles nur eine Erklärung.

„Es hat doch kein Unglück gegeben?“ rief sie.

„Ein Unglück?“ sagte Brandow, „daß ich nicht wüßte; oder doch, das Unglück, das ich gehabt habe, mich den Freunden gegenüber ein wenig tactlos – ein wenig sehr tactlos, meine Damen, zu benehmen. Und da ich, obgleich sonst ein vielgeprüfter Mann, meine Damen, an diese Sorte Unglück nicht sehr gewöhnt bin, hat es mich nicht gelitten, bis ich den Versuch gemacht, mich in meinen Augen zu rehabilitiren, von den Freunden zu schweigen, die mir meine Ungeschicklichkeit gewiß schon unterwegs vergeben haben.“

„Nicht wahr, sie kommen heute Abend? ich habe es ja gesagt!“ rief Alma.

„Ohne Zweifel, gnädige Frau; und sie werden gleich hier sein, in – sagen wir in zwanzig Minuten – ganz recht, zwanzig Minuten. Sie fuhren genau zehn Minuten vor zehn von Dollan ab; jetzt ist es genau ein halb elf; sie brauchen, trotz des abscheulichen Wetters, mit meinen kräftigen Pferden und einem so ausgezeichneten Kutscher, wie mein Hinrich, eine Stunde; also in zwanzig Minuten, meine Damen, werden wir den Wagen vorfahren hören.“

Brandow hatte seine Uhr hervorgenommen und blickte nicht von derselben auf, während er seine Rechnung anstellte.

„Und Sie selbst?“ fragte Alma.

„Ich selbst, gnädige Frau, ritt, nachdem ich mich von den Herren mit einer Unfreundlichkeit verabschiedet, die ich tief bedauere, Schlag zehn Uhr von Dollan ab und stellte genau fünfundzwanzig Minuten später meinen Gaul in den Stall des Fürstenhofes, das heißt, ich habe zu den anderthalb Meilen von Dollan bis zum Fürstenhof genau fünfmal so viel Zeit gebraucht, wie zu den fünfhundert Schritt vom Fürstenhof bis hierher.“

„In fünfundzwanzig Minuten denselben Weg, auf dem die Anderen eine Stunde fahren!“ rief Alma.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau; ich konnte nicht denselben Weg über die Dollaner Haide nehmen, den die Freunde genommen, sonst wäre ja die Ueberraschung unmöglich gewesen. Ich ritt einen zweiten über Neuenhof, Lankenitz, Faschwitz und so weiter. Frau Wollnow wird ungefähr die Direction verfolgen können – einen Weg, der mindestens noch einmal so lang, und – noch einmal so schlecht ist, wie ich leider an meinen Kleidern zu spät bemerke.“

„O, wie ich diese kühnen Reiterstücke liebe!“ rief Alma mit einem schwärmerischen Augenaufschlage. „Setzen Sie sich zu mir, lieber Brandow, hierher.“

Sie hatte das Arrangement vergessen, das sie zu Gotthold’s Empfang gemacht, und indem sie mit der ausgestreckten Hand an die Lehne des Stuhles stieß, glitt das Bild herab und fiel auf die Erde. Ottilie, die es fallen sah, kreischte; Brandow sprang hinzu, es aufzuheben; aber er hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als er mit einem dumpfen Schrei es aus der Hand gleiten ließ.

„Mein armes Bild!“ rief Ottilie.

„Ich bitte tausendmal um Verzeihung,“ sagte Brandow, „ich sehe, wenn man anderthalb Meilen in fünfundzwanzig Minuten reitet, ist man doch nicht ganz Herr seiner Gliedmaßen.“

In der That zitterte er, als er das Bild abermals in die Hand nahm, ja er schien Mühe zu haben, sich aufrecht zu erhalten; Ottilie, die es bemerkte, bat ihn nun endlich auch, Platz zu nehmen.

[733] „Darf ich nicht erst das Bild wegstellen?“ sagte Brandow.

„Auf keinen Fall!“ rief Alma, „ich kann mich nicht davon trennen; und für Sie, lieber Freund, müßte es doch doppeltes Interesse haben. Sehen Sie doch nur, wie kräftig diese Buchen hier im Vordergrund! wie bequem der Blick in den zweiten Plan hinübergleitet und in süßer Ruhe dort verweilt, um dann recht sehnsuchtsvoll in die blaue duftige Meeresferne hinauszuschweifen, oder sich mit Lust auf der braunen Haide zu ergehen.“

„O gewiß, gewiß,“ sagte Brandow, ohne das Bild, das ihm jetzt unmittelbar gegenüberstand, anzusehen; „es soll Dollan sein, nicht?“

„Soll sein!“ rief Ottilie, „aber Herr Brandow, Sie wollten es ja damals selber kaufen! erinnern Sie sich denn nicht, als Ihre Frau und ich vor dem Bilde standen und Sie herzutraten?“

„O gewiß, gewiß!“ sagte Brandow.

„Ich möchte wetten, unsere Herren sind jetzt dort auf jener braunen Haide,“ sagte Alma.

„Gewiß, sicher,“ sagte Brandow.

„Unmöglich!“ rief Ottilie, „oder sie müßten dort ein Unglück mit dem Wagen gehabt haben, was wir denn doch nicht fürchten wollen.“

„Freilich, o gewiß nicht!“ sagte Brandow, sich mit dem Taschentuch die Stirn trocknend.

„Sie sind angegriffen, Herr Brandow; ich darf Ihnen eine Erfrischung anbieten!“ fragte Ottilie, nach der Klingel greifend und dann aufstehend, um dem Dienstmädchen, das alsbald eintrat, ihre Befehle zu ertheilen. In demselben Augenblick beugte sich Alma vornüber und flüsterte, Brandow die Hand hinhaltend: „Mein theurer Freund, wie freue ich mich, Sie zu sehen! Was haben Sie denn mit Hugo gehabt? ich dächte doch, es läge in unser Aller Interesse, daß Ihr gute Freunde bleibt.“

Brandow hatte die kleine weiße Hand genommen und flüchtig an seine Lippen geführt.

„O gewiß, gewiß, meine schöne Freundin,“ sagte er; „ich bin ja eben deswegen hier, es ist eigentlich gar nichts, ich war etwas aufgeregt durch – ich – o meine gnädige Frau, weshalb das? ein Glas Wein, wenn Sie durchaus befehlen, sonst bitte, bitte, keine Umstände!“

Er hatte sich zu Ottilien gewandt, Alma zog sich schmollend in ihre Ecke zurück; Brandow war heute doch sehr sonderbar, so kalt, so gar nicht wie sonst. Alma beschloß, ihn dafür zu strafen, wenn Gotthold kam, und, um die Strafe noch zu verschärfen, die paar Minuten bis dahin noch ganz besonders liebenswürdig zu sein.

Aber die Minuten vergingen, die Pendule schlug elf Uhr, sie schlug ein halb zwölf – seit Brandow’s Kommen war eine Stunde vergangen, und noch immer ließ sich kein Wagenrollen vernehmen, nur das Sausen der hohen Pappeln auf dem kleinen Platze vor dem Hause und das Klatschen des Regens gegen die Fensterscheiben, so oft eine Pause in dem Gespräche eintrat. Und es trat, je später es wurde, desto öfter eine solche Pause ein, da Ottilie gegen ihre Gewohnheit fast gar nicht an der Unterhaltung theilnahm, Alma, wie immer, genug zu thun glaubte, wenn sie durch gnädiges Lächeln die Erlaubniß gegeben, sie zu amüsiren, und Brandow heute Abend gar nicht der angenehme Gesellschafter war, für den er im Allgemeinen galt. Die Unruhe, mit welcher er von einem Gegenstande zum andern sprang, hatte etwas Fieberhaftes, sein Lachen klang gezwungen; und dann schien er wieder gar nicht zu bemerken, daß schon seit längerer Zeit kein Wort gesprochen war, und saß da, auf das Bild starrend, bis er plötzlich sich zusammenraffte und von Neuem zu sprechen begann mit einer übertrieben lauten Stimme, deren harter Klang Ottilien jedesmal erschreckte. Ottiliens Unruhe war von Minute zu Minute gestiegen. Sie war schon ein paar Male aufgestanden, an das Fenster getreten und hatte, die Vorhänge zurückschiebend, in die Nacht geblickt, die der trübe Schein der Lichtchen in ein paar schaukelnden Laternen wo möglich noch dunkler machte.

„Ich ängstige mich doch gar zu sehr,“ rief sie endlich, sich wieder vom Fenster in das Zimmer wendend.

„Es ist allerdings auffallend,“ sagte Brandow; „wir haben jetzt zehn Minuten vor Zwölf; sie müßten seit einer Stunde hier sein.“

„Und auch mein Mann kommt nicht,“ sagte Ottilie.

„Sei doch froh, wenn er sich amüsirt,“ sagte Alma. „Wollen Sie schon fort, lieber Freund?“

„Ich will versuchen, uns Aufklärung zu verschaffen,“ erwiderte Brandow, der sich hastig erhoben und seinen Hut genommen hatte.

„Sie werden doch sich nicht noch einmal in die Nacht hinauswagen?“ rief Alma.

„Aber Alma!“ sagte Ottilie.

[734] Brandow war im Begriff zu gehen, als die Hausglocke ertönte, ein schwerer Tritt durch das Comptoir kam und alsbald Herr Wollnow in’s Zimmer trat. Ottilie eilte ihm entgegen und theilte ihm in ein paar Worten mit, wie die Sachen standen. Herr Wollnow begrüßte den späten Gast mit höflicher Kälte. Er sehe noch keinen rechten Grund, besorgt zu sein, wenn es Herr Brandow nicht sei.

„Aber er ist besorgt!“ rief Ottilie.

„Dann würde Herr Brandow schon längst aufgebrochen sein,“ entgegnete Wollnow.

„Ich bin besorgt und bin es auch wieder nicht,“ sagte Brandow. „Die Nacht ist ja dunkel und der Weg an einer und der andern Stelle nicht besonders; aber mein Hinrich Scheel ist ein notorisch ausgezeichneter Fahrer, und – ja, das fällt mir eben ein – Gustav von Plüggen ist denselben Weg gefahren, und zwar wenige Minuten vor unseren Freunden.“

„Was nicht ausschließt, daß der einen oder der andern Partie, oder auch beiden ein Unfall zugestoßen,“ erwiderte Wollnow. „Ich sage Unfall, meine Damen, nicht Unglück; aber auch ein Unfall – das Brechen eines Rades oder dergleichen – ist in einer solchen Nacht kein Spaß; und ich bin allerdings dafür, daß man unseren Freunden entgegengeht. Ich werde Sie begleiten, Herr Brandow, wenn es Ihnen recht ist.“

„Gewiß, ohne Zweifel, aber ich bin beritten,“ erwiderte Brandow.

„So nehmen wir im Fürstenhofe einen Wagen; ist etwas passirt, kann ihnen nur ein Wagen etwas nützen.“

Alma fand es gar nicht artig von den Herren, die Damen in solchem Augenblicke allein zu lassen, während Ottilie ihrem Gatten einen Shawl aufnöthigte und ihm mit einem geflüsterten „Du bist mein braver Emil“ den herzlichsten Kuß gab.

Wollnow hatte verlangt, daß die Damen im Zimmer blieben. Als die Thür geschlossen war, sagte er: „Ich bin überzeugt, daß ihnen ein Unglück zugestoßen ist; und Sie sind es auch, nicht wahr?“

Die schwarzen Augen des Mannes leuchteten in dem Scheine des Lichtes, das er in der Hand trug, so seltsam und blickten so scharf und forschend; – Brandow zuckte zusammen, als wenn ihm vor Gericht eine Frage gestellt wäre, von deren Beantwortung der Ausgang seiner Sache abhing.

„O gewiß nicht, keineswegs!“ stammelte er, „das heißt: ich weiß allerdings nicht, was ich davon halten soll.“

„Ich auch nicht,“ entgegnete Wollnow kurz, das Licht auf einen Tisch in der Nähe der Hausthür stellend und den Riegel zurückschiebend.

Das Licht fiel hell auf die Thür, und als Wollnow die Thür öffnete, gähnte die Nacht schwarz herein. Plötzlich stand in der Thür auf dem schwarzen Hintergrunde der Nacht eine Gestalt, bei deren Anblick selbst der gelassene Wollnow bebte, während Brandow, der unmittelbar hinter ihm ging, mit einem dumpfen Schrei zurücktaumelte – die Gestalt eines Mannes, dessen Kleidung, als sei er eben aus der Erde heraufgestiegen, von Nässe durchtränkt und über und über mit Sand und Lehm beschmutzt war, dessen bleiches, von dunklem Barte umrahmtes und von dem breitkrämpigen Hute überschattetes Gesicht durch eine schmale Blutspur, die von der Schläfe aus über die Wange lief, grausig entstellt war.

„Um des Himmels willen, Gotthold, was ist geschehen?“ rief Wollnow, beide Hände nach dem Freunde ausstreckend und ihn auf den Flur ziehend.

„Wo sind die Damen?“ fragt Gotthold leise.

Wollnow deutete nach dem Wohnzimmer.

„So lassen Sie sie fort; Sellien liegt im Fürstenhofe, wir haben ihn eben verbunden; er ist noch immer ohne Besinnung; Lauterbach zweifelt, daß er durchkommt; ich glaubte, es sei besser, wenn ich die Botschaft brächte. Du hier, Brandow?“

Brandow hatte seine Fassung wiedergewonnen; es war ja lächerlich, daß er sich so ohne Noth geängstigt. Der Schuft hatte ein Katzenleben, und was lag ihm an dem Andern!

„Ich erwartete Euch hier schon seit beinahe zwei Stunden,“ sagte er. „Aber wie ist denn das möglich gewesen? armer Gotthold und der gute Sellien! Ich muß nach ihm sehen. Du bleibst nun doch wohl hier und auch Sie, Herr Wollnow?“

Brandow wartete keine Antwort ab; er stürzte zur Thür hinaus und verschwand in der Nacht.

Wollnow’s Auge blitzte hinter ihm her; aber er verschwieg das Wort, das ihm auf den Lippen zu zucken schien.

„Und Sie selbst, lieber Gotthold?“ sagte er.

„Ich bin noch so davon gekommen,“ sagte Gotthold. „Aber was soll nun geschehen? Wie wollen wir es der Frau beibringen?“

„Ich möchte ihn erst noch selbst sehen. Man weiß, daß ich Euch entgegen wollte, und wird mich nicht vermissen.“

„So kommen Sie!“

Die Freunde schritten hinaus. Wollnow hatte Gotthold seinen Arm gegeben. „Lehnen Sie sich fest auf,“ sagte er, „ganz fest, und sprechen Sie nicht!“

„Nur noch Eines. Die Zehntausend, die Sellien bei sich trug, sind verloren. Wir merkten es erst, als wir ihm hier den Rock aufschnitten.“

„Wie kann es verloren sein, wenn Ihr ihm den Rock aufschneiden mußtet?“

Gotthold antwortete nicht; das Ohnmachtsgefühl, das er schon unterwegs ein paar Male kaum überwältigt hatte, kam wieder über ihn; er mußte sich nun wirklich sehr fest auf Wollnow’s Arm stützen.

So erreichten sie, nicht ohne Anstrengung, den Fürstenhof, wo Alles in größter Aufregung war, trafen aber bereits Brandow nicht mehr. Er hatte, wie der Wirth erzählte, sobald er die Nachricht von dem Verluste des Geldes erfahren, sein Pferd zu satteln befohlen und war fortgeritten, ohne den Herrn Assessor vorher gesehen zu haben. Da könne er doch nichts nützen, habe er gemeint; das Geld werde aber ohne ihn schwerlich gefunden werden.

„Vielleicht auch nicht mit ihm,“ murmelte Wollnow.

Der Zustand des Assessors war unverändert. „Wenn er nicht bald wieder zu sich kommt, haben wir keine Hoffnung, den Patienten durchzubringen,“ sagte Doctor Lauterbach.

Doctor Lauterbach hatte bald zwei Patienten. Gotthold war an dem Bette Sellien’s in Ohnmacht gefallen.

„Ich sagte es ja,“ sagte der Doctor, „ein Wunder, daß er so lange ausgehalten hat. Es ist wirklich ein böser Zufall.“

„Wenn es ein Zufall ist,“ murmelte Wollnow.




23.


Für Herrn Wollnow und seine Gattin folgten ruhelose Tage und Nächte. Es hatte sich die Möglichkeit herausgestellt, den Assessor trotz seiner schweren Verletzungen in das Wollnow’sche Haus zu transportiren, wo er denn allerdings in jeder Beziehung besser aufgehoben war, während man Gotthold, den man im Vergleich zu Jenem kaum verletzt nennen konnte, in dem Fürstenhofe lassen mußte. Er hatte in starkem Fieber gelegen, stundenlang sogar ohne Besinnung, in heftigen Phantasien; Doctor Lauterbach hatte bedenklich den Kopf geschüttelt und von einer Gehirnerschütterung gesprochen, die nicht unmöglich, von einer inneren Verletzung, welche äußerst wahrscheinlich sei – Herr Wollnow war in großer Sorge gewesen und hatte, was er nur von Zeit erübrigen konnte, an dem Bette des Kranken zugebracht.

„Der Fall des Assessors ist ja eigentlich sehr einfach,“ sagte Herr Wollnow; „er hat den linken Schenkel glatt gebrochen und den rechten Arm regelrecht aus dem Gelenk gefallen; der Arm ist glücklich eingerenkt und das Bein liegt in einem vortrefflichen Gypsverbande – für den Assessor bin ich nicht bange, den werdet Ihr Frauen schon wieder in die Höhe bringen; mit Gotthold ist das etwas Anderes; wir wissen noch immer nicht, woran wir sind; da bin ich unentbehrlich.“

Ottilie meinte, er werde sich immer da für unentbehrlich halten, wo Gotthold sei; im Uebrigen habe sie gar nichts gegen eine Vorliebe, die sie durchaus theile; Gotthold komme ihr schon ganz wie ihr Sohn vor.

Herr Wollnow nahm dieses wunderliche Geständniß lächelnd entgegen; und dasselbe, etwas melancholische Lächeln spielte ein und das andere Mal über sein ernstes Gesicht, während er an dem Bette des Kranken saß und ihm das weiche lockige Haar aus der heißen Stirn strich und das feine, jetzt bleiche, jetzt in Fieber geröthete Antlitz mit einem andern Antlitze verglich, das ihm einst als Vorbild und Ausdruck aller Schönheit erschienen war und dessen Erinnerung seine treue Seele so treu bewahrt hatte.

[735] Und viel seltsames Gedenken, das diese Erinnerung wach gerufen, überkam ihn, während er so saß, in den langen, stillen Stunden, Gedenken, das sich ihm schmeichelnd nahte und das er doch von sich abwehrte, weil es ihn wegzuheben suchte von dem festen Grunde, auf den er sich und sein Haus gestellt und auf dem er fest stehen bleiben mußte, sollte er nicht sich selbst und was ihm anvertraut war, zu einem Spiele der Wellen und der Winde machen. Nein, nein! nicht blos Gott geziemt es, zu sagen, es sei gut, was er gemacht; auch der Mensch muß es von seinem Schaffen sagen dürfen, muß es sagen können, wenn er sich den Muth und die Kraft bewahren soll, die dazu gehört, das Geschaffene nun auch zu bewahren. Er hatte sich sein Theil erwählt; war es das schlechtere, war es das bessere? gleichviel! er hatte es erwählt, und damit war Alles gesagt. Nicht die Besseren – die Schlechteren sind es, die sich noch entscheiden wollen, wenn Alles längst entschieden ist.

Aber für ihn, der den Jahren nach sein Sohn sein konnte – den er so gern – nein, nein! das nicht, so nicht; aber er liebte ihn, weil er so gut und edel war, liebte ihn, wie der ältere Mann den jüngern lieben kann und darf, den er schwanken sieht auf derselben Stelle wirr verschlungener Lebenspfade, die einst sein Herzblut getrunken – für ihn war ja noch nichts entschieden. Konnte die Entscheidung nicht so ausfallen, daß das Herz nicht erst sein bestes Blut vergießen mußte, bis es ruhig genug war, die Lehren der Weisheit zu verstehen? Wie gern hätte er ihm ein Glück gegönnt, das er selbst hatte entbehren müssen! Ein volles Glück war es ja auf keinen Fall mehr – zu viel war geschehen, das seinen schweren Schatten in alle sonnigste Zukunft warf – aber wie diese Stirn nun einmal geformt, wie diese Augen nun einmal geschnitten – für ihn war es vielleicht doch das einzig mögliche Glück. Es lag am Ende in der Race, in der Gewohnheit des Denkens, Fühlens, auf Kind und Kindeskind herabgeerbt von jenen alten germanischen Bärenhäutern, die ihre dürftige Heimath nicht zu verbessern suchten, sondern einfach aufgaben, die in der Schlacht keine andere Strategie kannten, als sich mit Ketten Einer an den Andern zu schließen, und im Spiel sich lieber selbst verspielten, als dem Unglück eine Concession machten. Und nun gar er! der Sohn eines solchen Vaters, einer solchen Mutter, die Beide an diesem Ueberschwange der Empfindung, die nicht mit sich markten und handeln lassen will, zu Grunde gegangen waren! Auch lag der Fall hier doch wesentlich anders; es spielte hier ein Moment herein, das damals gänzlich gefehlt, ein Moment, das, was er sonst als Frevel an der Gesellschaft entschieden verdammen mußte, fast zu einer That der Menschenliebe zu machen schien – zu einer Nothwendigkeit, und die doch immer in seinen Augen eine traurige Nothwendigkeit war!

Freilich war nach dieser Seite fast noch Alles Vermuthung und mußte Vermuthung bleiben, mindestens so lange Diejenigen, welche die Opfer jenes – Unglücksfalles auf der Haide geworden, nicht im Stande waren, zu sagen, was sie selbst wußten, welche Beobachtungen sie etwa vorher und nachher gemacht hatten. Zwar den Aussagen des Assessors war wohl im besten Falle nur ein geringer Werth beizulegen, da aus dem Wenigen, was Gotthold am ersten Abend mitgetheilt, zur Genüge hervorging, daß Jener so ziemlich unzurechnungsfähig gewesen und nun auch wirklich, nachdem er wieder klar denken und sprechen konnte, bei der Behauptung blieb, er wisse von gar nichts und müsse entschieden geschlafen haben, bis die Katastrophe hereinbrach. Aber Gotthold selbst, der ganz gewiß mit seinen offenen feinen Künstlersinnen Alles gesehen, gehört und beobachtet hatte, was überhaupt nur zu sehen, zu hören und zu beobachten war – er konnte ohne Zweifel ein Material liefern, das ein kluger, thätiger Untersuchungsrichter zu schätzen wußte.

Als einen solchen konnte man freilich den Justizrath von Zadenig in der benachbarten Hauptstadt der Insel, in dessen Sprengel der Fall gehörte, kaum bezeichnen. Herr Justizrath von Zadenig sah in dem Falle nach keiner Seite etwas Außerordentliches. Daß Wagen an mehr oder weniger gefährlichen Stellen umgeworfen werden könnten und Brieftaschen oder dergleichen dabei verloren gingen, müsse Jeder zugeben, und daß der Weg über die Dollaner Haide dergleichen Stellen aufzuweisen habe, sei bekannt, zum Mindesten ihm – dem Justizrath von Zadenig –, der die Geschichte der beiden Vettern Wenhof, die ja zum Theil auf der Dollaner Haide spiele, sehr genau kenne, wie sie Jeder kenne, der, wie er, aus einer alten Familie der Insel stamme. Die Brandows seien keine alte Familie und die Weise, wie sie seiner Zeit zu Dahlitz gekommen, wohl nicht vollständig zu rechtfertigen; aber Dahlitz hätten sie ja nicht mehr, und Karl Brandow wegen des Zustandes der Dollaner Wege zu chicaniren, auf denen drei oder vier Generationen der Wenhofs unbelästigt hin- und hergefahren seien – das halte er – der Justizrath von Zadenig – denn doch für unerlaubt, um so mehr, als die Spitze der Chicane sich gar nicht gegen Brandow, sondern vielmehr gegen seinen eigenen Schwager, den Herrn Landrath von Swantewit auf Swantewit, richten würde, der allerdings in letzter Instanz für den Zustand der Communal- und Vicinalwege verantwortlich sei. Wenn indessen Herr Wollnow, vor dessen Respectabilität und Klugheit er die höchste Achtung habe, meine, daß die Sache an Ort und Stelle untersucht werden müsse, so wolle er sofort den Referendar von Pahlen hinschicken und ihm sogar einen Gensd’arm mitgeben, was immer noch besonders officiell und feierlich aussehe – und damit würde Herr Wollnow doch gewiß zufrieden sein.

Herr Wollnow war es, weil er von dem indolenten, im Uebrigen vortrefflichen alten Herrn erreicht hatte, was erreicht werden konnte, und kehrte, nachdem er noch einige Geschäfte abgewickelt, nach Prora zurück, um in der Thür des „Fürstenhofs“ Karl Brandow zu begegnen, der heute, wie alle vorhergegangenen Tage, hereingeritten war, sich persönlich Nachricht über das Befinden der Kranken zu holen.

„Es steht vortrefflich!“ rief er Herrn Wollnow entgegen. „Seit einer Stunde ist sein Kopf vollkommen klar; ich habe nicht versucht, bis zu ihm zu dringen, da ich mir sage, daß trotzdem noch jede kleinste Aufregung sorgfältig vermieden werden muß; aber ich sprach Lauterbach, der ganz betrübt ist. Er hatte sich auf eine Gehirnentzündung vorbereitet und sieht nun, daß er darum kommt. Auch Sellien geht es, den Umständen entsprechend, gut; ich kann heute mit leichterem Herzen zurückreiten, als die Tage vorher. Wie wird sich meine Frau freuen! Ich bringe sie morgen vielleicht mit. Die Erlaubniß Ihrer Frau Gemahlin habe ich. Also auf Wiedersehen morgen, Herr Wollnow, auf Wiedersehen!“

„Ein fesches Pferd, der Fuchswalach,“ sagte der Hausknecht, dem Davongaloppirenden nachschauend, „aber gegen den Hengst, den er Sonntag Nacht ritt, ist er doch nichts, das war ein Capitalpferd.“

Auch Wollnow’s Blicke waren dem schlanken Reiter, der so bequem und sicher im Sattel saß, gefolgt. „Wenn er der Schurke ist, für den ich ihn halte, so wird ihm auf alle Fälle schwer beizukommen sein. Und ich darf Gotthold nichts merken lassen, es würde ihn furchtbar aufregen und vorläufig ohne Grund. Zum Wenigsten will ich ‚einen Grund, der sicherer ist‘. Ein Schauspiel thäte es freilich nicht; die Schlinge, die den Buben fängt, müßte etwas feiner sein.“

Gotthold streckte dem Freunde, als derselbe bei ihm eintrat, eine bleiche fieberfreie Hand entgegen.

„Da,“ sagte er, „fühlen Sie selbst; und nun, lassen Sie sich in diesem Händedruck danken für Ihre Güte, für Ihre Liebe. Ich bin nicht so ganz von Sinnen gewesen, daß ich nicht durch alles phantastische, wirre Zeug, mit dem ich mich gequält, von Zeit zu Zeit deutlich Ihr Gesicht gesehen hätte, und immer mit demselben schönen, mitleidsvollen Ausdruck, dessen ich mich erinnern werde, und für den ich dankbar sein werde, so lange ich lebe.“

Gotthold’s Stimme zitterte, und seine Augen glänzten feucht. – „Es ist nicht die Schwäche der Krankheit,“ sagte er; „ich will es nur gestehen: es ist die Macht einer für mich neuen Regung. Ich habe so wenig Gelegenheit gehabt, für Dienste der Liebe dankbar zu sein. Die, welche anderen Menschen zeitlebens das Vorbild uneigennütziger, aufopfernder Liebe ist – die Mutter starb mir so früh – ich habe sie kaum gekannt; von dem Vater trennte mich eine, wie ich glauben muß, unübersteigliche Kluft, und seit zehn Jahren irre ich in der Welt – durch tausend Verhältnisse, tausend Beziehungen, fortwährend in lebhaftem Verkehr, in der Mitte und manchmal sogar der Mittelpunkt einer großen Freundesschaar, und doch im tiefsten Grunde meiner Seele einsam – einsam und nach einer Liebe schmachtend, die mir so spät von einem Manne wurde, der mich, den ich vor wenigen Tagen zum ersten Male sah, zwischen welchem und mir [736] bis dahin keinerlei Beziehungen stattgefunden hatten, als die allergewöhnlichsten geschäftlichen.“

Auf des Kaufmanns ernstem, dunklem Gesicht lag eine tiefe Rührung, als er nach einer kleinen Pause mit einem eigenthümlich weichen, leisen Klang seiner tiefen Stimme sagte:

„Und wenn ich Sie und Sie mich nicht erst vor wenigen Tagen gesehen; wenn ich Sie, als Sie ein Knabe von vier, fünf Jahren waren, schon auf dem Arm geschaukelt hätte; wenn das Interesse, das ich an Ihnen nehme, auf einem viel tieferen Grunde ruhte, als auf unseren geschäftlichen Beziehungen; wenn es sich mit Allem verknüpfte, was die Poesie und den Glanz meines Lebens ausmacht: wie dann, mein lieber junger Freund, wie dann?“

„Sie haben meine Mutter gekannt?“ fragte Gotthold ahnungsvoll, „Sie müssen sie ja gekannt haben!“

„Ich habe sie gekannt und – ich habe sie geliebt. Sie kennen und lieben war für mich damals Eines, ja scheint mir noch in diesem Augenblicke zu einander zu gehören, wie Licht und Wärme.“

„Und meine Mutter – hat Sie geliebt. Sprechen Sie es aus und lösen Sie das Räthsel, das bis jetzt für mich unlösbar über dem Verhältniß meiner Eltern geschwebt hat.“

Wollnow schüttelte den Kopf. „Nein, nein,“ sagte er, „so ist es nicht; und wenn es einen Augenblick schien, war es eben nur ein Schein, und es ist der schmerzensreiche Stolz meines Lebens, daß ich mich durch diesen Schein nicht blenden ließ, daß ich durch ihn hindurch den rauhen Pfad erkannte, den mich die Pflicht, den mich die Ehre wandeln hieß.“

„Sie verdichten das Räthsel, anstatt es zu lösen,“ sagte Gotthold.

„Ist mir doch selbst bis auf diese Stunde so Manches in diesem Drama räthselhaft geblieben,“ erwiderte Wollnow, die Augen mit der Hand bedeckend; „nur das Eine nicht, wie ein Mann von dem Gepräge Ihres Vaters, ein so hochbegabter, von der heiligen Leidenschaft der Wahrheit durchglühter Mensch, in dem Herzen Ihrer nicht minder begabten, nicht weniger hochstrebenden Mutter eine allmächtige Liebe erwecken mußte. Ich sage Ihnen, mein Freund, wenn es je eine Liebe gab, wie Sie sie neulich schilderten, so war es die, welche diese beiden schönen auserwählten Menschen zu einander trieb, zwei Flammen gleich, die einander entgegenrauschen. Wer Zeuge dieses herrlichen Schauspiels war, er stand bewundernd und sprach: es kann ja nicht anders sein! Mein armer geliebter Eduard sagte es; für ihn war es ein Todesurtheil; ich sagte es ebenfalls und ich glaubte, das Herz sollte mir brechen; aber mein Herz war stärker, als ich dachte, und dann: ich wollte leben! Da lebt sich’s denn schon, mein Freund, wenn es auch anfänglich ein recht elendes, erbärmliches Stück Leben ist.“

Wollnow schwieg, weil er fühlte, daß er mit auch nur einiger Fassung nicht weiter sprechen konnte. Nach einer Weile hob er wieder an:

„Ich bin jetzt nicht im Stande zu beurtheilen, ob ich ein Unrecht that, als ich mich Ihnen gegenüber zu diesen Geständnissen hinreißen ließ; ich würde aber gewiß ein Unrecht begehen, – an dem Andenken Ihrer Eltern, an Ihnen, lieber junger Freund, ja, an mir selbst, wollte ich jetzt nicht Alles sagen, wenn dieses Alles auch nur wenig, und dieses Wenige furchtbar bedeutsam für die traurige Ungewißheit des Menschenlooses ist.

Das schöne junge Paar war hierher gezogen; ich sah sie nach wenigen Jahren, als mich die Geschäfte meines Hauses in diese Gegend führten, zufällig wieder, denn ich wäre einer Begegnung, welche für mich nur schmerzlich sein konnte, gewiß aus dem Wege gegangen. Aber an meinem Wagen brach, als ich durch Rammin kam, unmittelbar vor dem Pastorhause ein Rad. Ich wurde herausgeschleudert mit einer solchen Heftigkeit, daß ich mir den Arm aus dem Gelenke fiel, und die Gastfreundschaft Ihrer Eltern auf mehrere Wochen in Anspruch nehmen mußte. Sie können sich meiner nicht mehr erinnern; ich sehe es noch vor mir, das lockige, großaugige Bübchen, das vergnüglich in dem Garten zwischen den Asterbeeten zu den Füßen seiner Mutter in der Herbstsonne spielte und, Gott sei Dank, keine Ahnung davon hatte, was der düstere Blick bedeutete, mit dem die junge, schöne Mutter so oft über das spielende Kind weg in das Leere starrte. Ach, für sie blühten die Blumen nicht, für sie schien die liebe Sonne nicht; um sie war Alles dunkel, und dunkel war es in ihr, in ihrem jungen heißen Herzen. Und so war es in dem heißen Herzen des Mannes, den sie einst, der sie einst so leidenschaftlich geliebt, den sie und der sie – ich bin fest davon überzeugt – noch in diesem Augenblick mit nicht geringerer Leidenschaft liebte, in diesem Augenblick, wo sie sich bereits zu hassen schienen, vielleicht zu hassen glaubten. Ach, lieber Freund, ich will nicht predigen; ich will nicht unsern Streit von neulich wieder aufnehmen; aber wie kann ich anders, als die Wunde berühren und sagen: es war auch hier wieder – und hier in einer verhängnißvollen Weise – jene Maßlosigkeit, die sich nicht begnügen will mit dem, was ist; nicht daran arbeiten will, aus dem, was ist, das Mögliche zu machen; sondern, sich loslösend von den natürlichen Bedingungen, nach der Verwirklichung eines Phantasiegebildes strebt. Diese beiden herrlichen Menschen, die sich einander so viel bieten, so viel sein konnten, achteten dieses Viel für Nichts, weil es nicht Alles war. Er sollte nicht nur der Gottesstreiter sein, vor dem sie anfangs bewundernd geknieet, er sollte sich auch als jeder Tugend theilhaftig erweisen, die das geistvolle, vielumworbene Mädchen je in einem Manne bewundert hatte; sie sollte zu ihren übrigen Reizen, mit denen sie die Natur verschwenderisch geschmückt, auch noch – ich weiß nicht, welche mystische Krone tragen, ohne welche alle Erdenschönheit in den Augen des schwärmerischen Apostels werthlos war. Und anstatt nun zu versuchen, die nothwendigen Unterschiede der Naturen durch liebevolles Entgegenkommen, durch Geduld, durch Sanftmuth so viel wie möglich auszugleichen, und über den Rest, der immer bleiben wird, mit Ehrfurcht vor der Allkraft, von der wir nur ein Theil sind, wegzusehen, steigerte jedes mit verhängnißvollem Trotz seine specielle Kraft in’s Uebermaß: er wollte nur durch einen Spiegel in dem dunklen Wort sehen und lesen; sie, die immer viel zu stolz gewesen, um eitel zu sein, behauptete, daß ihr der Spiegel nichts sage, als daß sie jung und schön sei, wie es die Welt sei, trotz aller Kopfhänger und Grillenfänger. Und nun dieser seltsame Kampf in dem stillen Pfarrhaus eines kleinen Dorfes auf einem vom Weltverkehr damals noch fast abgeschlossenen Eiland, – was Wunder, daß die beiden Unglückseligen aus tiefen Wunden bluteten, und verbluten mußten, wenn – sie sich nicht zur rechten Zeit trennten, denkt und sagt in einem solchen Falle die Welt. Ich weiß es wohl; aber ich für mein Theil dachte nicht so. Ich sagte mir: diese beiden Menschen können sich nie mehr vergessen und nie verlieren, und wenn sie eine Welt zwischen sich legten, und nächst ihnen selbst würde es Derjenige am meisten büßen, der wahnsinnig genug wäre, zu dieser Trennung die Hand zu bieten. So sagte ich auch der jungen Frau, die ihr Leid vor mir nicht verbergen konnte oder wollte; ich sprach zu ihr – wie ich es für meine Pflicht hielt, mit herzlicher Eindringlichkeit; und, ich darf es ja wohl bekennen, indem ich so sprach, übertönte ich die Stimme nicht meiner Ueberzeugung, aber meines eigenen Herzens, das in diesen wunderlichen Scenen mir die übervolle Brust zu sprengen drohte. Jetzt erst erfuhr ich, daß ich dem schönen Mädchen, bevor der Rechte kam, viel näher gestanden, als ich je zu hoffen, zu ahnen gewagt – erfuhr es in abgerissenen Worten, Andeutungen, die aus dem heißen, leidenschaftlichen Herzen wie Funken von einem lodernden Feuer stiebten. Daß ich von diesem Feuer nicht ergriffen wäre – wie könnte ich es leugnen! daß es mir unsäglich schwer geworden, ihm zu widerstehen, ich darf es ja sagen. Ja, mein Freund, ich habe gerungen, wie jener Erzvater in der Wundernacht, und aus meiner schwerathmenden Brust, wie er, die zaubermächtigen Worte gekeucht: ‚Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!‘

Und war es denn, um von mir zu schweigen, kein Segen, daß von der Ruhe, zu der ich mich durchgerungen, ein Etwas in die Seele der jungen verzweifelten Frau überging? daß sie – was in einer solchen Lage Alles ist – Zeit gewann, zu sich zu kommen, sich daran zu erinnern, was sie einst besessen; sich zu fragen, ob sie es nicht wieder besitzen könne, wenn sie nur wolle? Ich sehe noch den Blick, mit dem sie mir beim Abschiede die Hand reichte; den tiefen, seelenvollen Blick, in dem doch ein Schimmer der Hoffnung leuchtete; ich höre noch ihre süße Stimme die Worte sagen, die mir reichster Lohn für Alles waren, was ich gethan und gelitten, die Worte: „Ich danke Ihnen, mein Freund!“

[737] „Und ich danke Ihnen,“ sagte Gotthold, die Hand des tiefbewegten Mannes ergreifend und mit Wärme drückend; „danke Ihnen von ganzem Herzen, denn Sie haben nach Ihrer Ueberzeugung gehandelt, und was kann ein Mensch mehr thun? wenn Sie auch nicht verhindert haben, daß meine arme Mutter an gebrochenem Herzen gestorben ist.“

Wollnow blickte düster vor sich nieder; Gotthold fuhr mit schmerzlichem Lächeln fort:

„Freilich, es ist noch besser so zu sterben, jung zu sterben, als mit dem gebrochenen Herzen weiter zu leben, sich zur Qual und Anderen nicht zur Freude, wie es das Schicksal meines armen Vaters war. Und er kann sich selbst mit dem Schatten [738] meiner Mutter nicht versöhnt haben! Weshalb hätte er sonst, als er mich einst voll Zorn von sich stieß, mit bleichen Lippen gemurmelt: ‚Du bist wie Deine Mutter!‘ Nein, nein, mein Freund, ich ehre Ihre Weisheit; aber ich glaube, man muß weise geboren werden – lernen läßt sich das nicht.“

„Am wenigsten in einer Lection,“ sagte Wollnow mit freundlichem Ernst, „und diese hat lange genug gedauert, zu lange, wenn ich den Zustand des Schülers bedenke.“

Gotthold protestirte dagegen; er fühle sich vollkommen wohl und ausreichend kräftig, um noch lange fortdebattiren zu können, und das Thema habe für ihn einen dämonischen Zauber.

„Und gerade deshalb lassen Sie uns davon abbrechen,“ erwiderte Wollnow, „und beantworten Sie mir lieber, wenn Sie wirklich noch die Kraft haben, ein paar Fragen, bezüglich Ihrer Unglücksfahrt. Ich will es nur gestehen, daß ich dieselben halb und halb im Auftrage der hohen Obrigkeit an Sie richte. Wenigstens behauptet Justizrath Zadenig, daß ohne Ihre Aussage kein Schritt weiter in der leidigen Angelegenheit zu thun sei, und er hat mich gebeten, sie gewissermaßen zu Protokoll zu nehmen.“

Gotthold blickte erstaunt auf. – „Um was handelt es sich?“

[749] „Es handelt sich in erster Linie um das verlorene Geld, das doch, wenn es möglich, wieder herbeigeschafft werden muß,“ erwiderte Wollnow.

„Der arme Sellien! er thut mir wahrlich leid,“ sagte Gotthold; „aber ich sehe nicht, was Ihre Fragen und meine Antworten zur Herbeischaffung des Verlorenen helfen sollen.“

„Lassen Sie uns eben sehen. Glauben Sie zu wissen, daß Sellien das Geld noch bei sich hatte, als Sie Dollan verließen?“

„Ich weiß es mit Bestimmtheit; er hatte mir, da er ja nicht ahnte, daß das Geld von mir kam, auf einem Spaziergange nach Tische voller Bewunderung mitgetheilt, daß Brandow ihn bezahlt habe, und mir dabei das Paket gezeigt, indem er es aus der Brusttasche seines Rockes nahm. Dort sah ich es auch während des ganzen Abends – nicht ohne einige Unruhe. Ich fürchtete immer, er könne sich verleiten lassen, das Geld anzugreifen. Glücklicherweise blieb er im Gewinn.“

„Es wurde also gespielt? Wer war der Verlierer?“

„Brandow.“

„Verlor er viel?“

„Ich glaube, daß er an Redebas, der wohl allein den Muth hatte, einem so tollkühnen Gegner Stand zu halten, fünftausend Thaler verloren hat.“

„Die er selbstverständlich nicht auf der Stelle bezahlte?“

„Gewiß nicht; und eben daraus entstand der Streit, der damit endete, daß die Anderen zornentbrannt das Haus verließen.“

„Hatten Sie sich in den Streit gemischt?“

„Ich sicher nicht; Sellien vielleicht ein wenig, wenigstens konnte Brandow daraus Veranlassung zu den Ungezogenheiten nehmen, die uns dann auch aus dem Hause trieben.“

„Aus dem Hause trieben! sehr gut!“ sagte Wollnow, als hätte er die Worte wirklich zu Protokoll genommen. – „Und Sellien hatte das Geld noch, als Sie fortfuhren?“

„Ich fühlte das Paket, als ich dem Halbberauschten den Ueberrock zuknüpfte.“

„Und der Ueberrock war noch zugeknöpft, als Lauterbach ihm hier den Verband anlegen wollte. So sagten Sie neulich, und Lauterbach bestätigt es. Hatten Sie denn in der Schmiede keinen Versuch gemacht, ihn seiner Kleider zu entledigen?“

„Nein. Der alte Prebrow wollte es; aber Sellien, der für einen Augenblick zur Besinnung kam, bat so dringend, ihn zu lassen, wie er sei, daß wir davon abstanden und uns begnügten, ihn in dem Stroh und Heu des Wagens, den die Prebrows unterdessen bereit gemacht hatten, möglichst weich zu betten.“

„Und fühlten Sie das Paket auch da noch?“

Gotthold besann sich. „Nein,“ sagte er; „da hatte er es nicht mehr. Ich erinnere mich jetzt, daß erst der Alte und dann ich ihm die Brust betasteten, weil er über große Schmerzen in den kurzen Rippen der linken Seite klagte. Da hätte ich das Paket fühlen müssen. Das ist wirklich seltsam.“

„Gewiß ist es das,“ erwiderte Wollnow, „da es ihm doch nicht von den wackern Prebrows, Vater und Sohn, die ihn von der Unglücksstätte bis zur Schmiede trugen, aus der Tasche genommen sein kann?“

„Unmöglich!“ rief Gotthold.

„Und es doch fast, wenn auch in einem andern Sinne, ebenso unmöglich ist, daß er es während des Sturzes aus den Taschen seines zugeknöpften Rockes verloren hat, über den noch ein anderer Rock geknöpft war?“

„Dennoch bleibt keine andere Annahme übrig.“

„So scheint es. Aber lassen Sie uns wieder ein paar Schritte zurückgehen. Sie hatten also durchaus die Empfindung, daß Brandow Sie aus dem Hause trieb. War Ihnen das nicht auffallend?“

„Nein und ja.“

„Nehmen wir an, daß das Nein auf Ihr Verhältniß mit Brandow geht und das Ja sich auf den Assessor bezieht, dessen Gunst sich zu erhalten, er doch wahrlich die dringendste Veranlassung hatte. Ich gestehe, mir ist es unbegreiflich. Und dazu in einer solchen Nacht – wie König Lear sagt: in Sturm und Regen und Finsterniß – Sie hinauszutreiben und Ihnen dann einen Wagen ohne Laternen zu geben auf einem so mit Recht verrufenen Wege!“

„Es ist das Alles wahr,“ sagte Gotthold verlegen; „aber die Constatirung von Brandow’s Unfreundlichkeit – die er ja übrigens sofort bereut und noch an demselben Abend wieder gut zu machen versucht hat – wird uns wohl kaum zur Wiedererlangung des Geldes verhelfen.“

„Sie sehen, ein wie ungeschickter Inquisitor ich bin,“ erwiderte Wollnow, sich mit der Hand über die Stirn fahrend. „Lassen wir also den Herrn und halten wir uns ohne Ehrerbietung vor der Sprüchwortweisheit an den Knecht. War es nicht derselbe, der Sie am Morgen gefahren?“

[750] „Derselbe. Brandow’s Bereiter und, wie Sie sehen, gelegentlicher Kutscher, auch Verwalter, mit einem Worte: Factotum.“

„Factotum, sehr gut,“ sagte Wollnow. „Thue-Alles, im Gegensatze von Thue-Recht; nur daß sich dieser Signor Thue-Alles ebenfalls vor Niemand und vor Nichts zu scheuen scheint. Wenigstens hat er den Eindruck auf mich gemacht. Was halten Sie denn von dem Mann?“

„Daß er ein merkwürdiger Mensch ist, insofern, als man ihn wohl schwerlich wieder vergißt, wenn man ihn einmal gesehen. Ich erinnerte mich seiner von früher her mit vollkommener Deutlichkeit: des viereckigen, platten Schädels mit der kurzen, zurückfliegenden Stirn der großen Raubkatzen, an die auch seine grünen Schielaugen erinnern, während ihn die breiten Schultern, die stämmige, untersetzte Figur mit den plumpen, auswärts gekrümmten Beinen eher in das Hundegeschlecht weisen – eine Kreuzung von Dachs und Bulldogge etwa – mit denen er denn auch die Zähigkeit und die Treue gemein hat. Ich glaube, daß er für seinen Herrn durch Feuer und Wasser geht.“

„Und Wasser geht,“ sagte Wollnow; „vortrefflich, wie so ein Künstler sieht! wie das Alles Hand und Fuß hat! Und da hätten wir denn nun dieses liebenswürdige Ungeheuer, diesen treuen Caliban vor Ihnen auf dem Wagen, in die Nacht hineinfahrend. Wie war denn die Fahrt?“

„Ich habe, offen gestanden, bis kurz vor der Katastrophe wenig oder gar nicht auf Das geachtet, was um mich her vorging. Doch erinnere ich mich jetzt, daß wir, wahrscheinlich weil der Sturm so gegen uns drückte, nur mit Mühe den Hügel hinaufkamen und Hinrich Scheel, grausam wie er ist, auf die armen Pferde heftig losschlug, die ihr Schicksal zu ahnen schienen und nicht von der Stelle wollten, so daß Hinrich zuletzt von dem Wagen herabsprang.“

„Von dem Wagen herabsprang,“ wiederholte Wollnow; „sehr gut! sehr à propos! denn gleich darauf erfolgte der Sturz? nicht wahr?“

„Er muß in demselben Moment erfolgt sein.“

„Sagen wir, ein paar Momente später, sonst hätte doch der treue Caliban die Partie mitmachen müssen. Den Sturz haben Sie mir neulich Abend schon geschildert, so weit Sie sich der einzelnen Momente bewußt waren, und es ist staunenswerth, wie weit die Beobachtung eines Künstlers reicht, bis in die Pforte, ja ich möchte sagen, bis über die Schwelle des Todes. Und wie lange mag dieser schauerliche Augenblick, wo Sie dem Schicksal so nahe waren, gedauert haben?“

„Ich wußte es schwer zu sagen; die Bewußtlosigkeit war über mich gekommen, ohne Kampf, ja ohne Uebergang, schnell, unmerklich, wie das Lid über das Auge sinkt; und so erwachte ich wieder ohne Uebergang und lag da, das Gesicht nach oben, das Auge auf den Mond gerichtet und beobachtend, wie die gelbbraunen Wolken unter ihm dünner und dünner wurden – als hätte ich auf der Welt weiter nichts zu thun – bis er plötzlich in voller Klarheit aus dem letzten durchsichtigen Schleier hervortrat. In demselben Moment kam ich, und zwar mit einem Schlage, zum vollen Bewußtsein meiner Situation und wußte, als ob es mir Jemand gesagt hätte, daß ich ungefähr in halber Höhe der Böschung auf einem Vorsprung liegen geblieben war, während alles Uebrige, die Böschung hinab bis an den Rand des Moores gleitend, dort unten in einem schauerlichen Durcheinander lag, an welchem ich etwas Einzelnes nicht mehr unterscheiden konnte. Dann aber muß ich doch wieder, nicht in Bewußtlosigkeit, aber in einen hallucinirenden Zustand verfallen sein. Ich hatte nämlich die ganz deutliche Vision eines Reiters, der mit einer Schnelligkeit, wie sie eben nur in Visionen vorkommt, von mir fort in der Richtung nach Neuenhof über das Moor flog. Er hatte sich als richtiger Gespensterreiter bei der rasenden Carrière tief auf den langen dünnen Hals des weitausgreifenden Thieres gebeugt und hatte einen hohen Hut auf. Ein Gespenst mit einem hohen Hut, ist das nicht lächerlich?“

„Sehr lächerlich! in der That!“ sagte Wollnow. Er hatte sich wieder erhoben und war an das Fenster getreten, seine Erregung vor Gotthold zu verbergen. Was hatte vorhin der Hausknecht von der Vortrefflichkeit des Pferdes gesagt, das Brandow in jener Nacht geritten? und in der Richtung nach Neuenhof war der Gespensterreiter gejagt, nach Neuenhof, über das Brandow gekommen! Brandow, der seltsamer Weise in jener Nacht einen hohen Hut getragen; und der hohe Hut war mit Schlammwasser bespritzt gewesen!

Wollnow wandte sich wieder zu Gotthold. „Sie halten es für unmöglich, daß Jemand, ich meine Jemand in Fleisch und Knochen, und wäre es mit dem besten, schnellsten Pferde, das Dollaner Moor passiren kann?“

„Aber wie kommen Sie darauf?“ fragte Gotthold erstaunt.

„O, nur, weil Brandow überall erzählt, daß eines der beiden Pferde, das losgekommen war und sich über das Moor hatte retten wollen, bei der Gelegenheit ertrunken ist.“

„So haben Sie ja den besten Beweis der Unmöglichkeit.“

„Freilich!“ entgegnete Wollnow; „und nun müssen Sie durchaus Ruhe haben; Lauterbach wird so wie so schon sehr unzufrieden sein. In zwei Stunden bin ich wieder hier; bis dahin müssen Sie unbedingt schlafen.“

Wollnow verbrachte die zwei Stunden in einer Unruhe und Ungeduld, deren sich der gelassene Mann nicht mehr für fähig gehalten. Er erwartete den Referendar, welcher ihm versprochen hatte, bei der Rückkehr von Dollan in Prora anzuhalten und ihm das Resultat seiner Recherchen mitzutheilen. Herr von Pahlen war zwei Stunden vor ihm von B. abgefahren und konnte um diese Zeit seine Mission ausgeführt haben. Wirklich kam denn auch der Erwartete, aber ohne den Gensd’arm, den ihm sein Chef beigeordnet, um der Sache den rechten Anstrich zu geben.

„Das ist ein seltsamer Handel,“ sagte Herr von Pahlen. „Sie wissen, daß ich doch nur eigentlich hingefahren bin, um den Kunden, der die Herren kutschirt, den Hinrich Scheel, zu Protokoll zu nehmen; wenigstens war dies die Hauptperson, und nun denken Sie sich –“

„Der Mann war verschwunden,“ sagte Wollnow.

„Woher wissen Sie es?“

„Ich dachte es mir nur. Aber erzählen Sie weiter.“

„War in der That verschwunden,“ fuhr Herr von Pahlen fort, „nachdem er eine halbe Stunde vor unserer Ankunft noch von den Leuten auf dem Gute gesehen, auch von Herrn Brandow, der vor kurzer Zeit nach Hause gekommen. Er war verschwunden und blieb verschwunden, trotzdem Herr Brandow die Freundlichkeit hatte, nach allen Richtungen Leute auszusenden, die, wie Herr Brandow selbst sagte, ihn hätten finden müssen, wenn –“

„Sich der Mann hätte finden lassen wollen.“

„Ganz richtig; aber nun bitte ich Sie, welche Dummheit von dem Kerl, den doch schließlich weiter keine Schuld trifft, als daß er auf seine eigene Faust, um die Kutschpferde zu schonen, die beiden schlechtesten Gäule, die er unter so vielen guten hat auftreiben können, zu der Fahrt genommen hat! Denn daher, sagt Brandow, sei, so wie er die Sache bis jetzt angesehen, das ganze Unglück gekommen. Nun freilich, wenn der Kerl wirklich flüchtig geworden sein sollte – ich habe vorläufig Rüterbusch dagelassen, der ihn beim Kragen nehmen wird, falls er sich noch etwa einstellt –, nun freilich nimmt der Handel ein ganz anderes Aussehen an. Der Kerl provocirt ja geflissentlich die Unterstellung, daß er das Geld, Gott weiß wie, gefunden, oder gar dem Assessor während seiner Ohnmacht aus der Tasche gezogen und nun, im Bewußtsein seiner Schuld, als er uns kommen sah – und man kann ja ein gutes Stück über die Haide sehen –, das Weite gesucht hat. Brandow, der sehr betreten war, sagte, daß er jedem Andern eher ein solches Verbrechen zutraue, als dem Menschen, der schon bei seinem Vater in hohem Ansehen gestanden und ihm von jeher treu und ehrlich gedient habe; gab aber dann doch zu, daß das plötzliche Verschwinden des Mannes in der That räthselhaft, und schließlich Alles möglich, jedenfalls die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen sei, daß der arme Teufel der schweren Versuchung, mit einem Schlage ein reicher Mann zu werden, erlegen ist.“

„Ein Teufel fühlt sich immer zum Bösen versucht, auch wenn er eben nicht arm ist,“ sagte Wollnow.

„Sie meinen also, er hat es gestohlen?“ fragte der Referendar eifrig.

„Ich habe hier weder ein Amt, noch eine Meinung,“ erwiderte Wollnow ausweichend, während dabei aus seinen dunkeln Augen ein Blitz schoß, der dafür zu sprechen schien, daß er in dieser Sache denn doch eine Meinung, und eine sehr entschiedene Meinung hatte.




[751]
24.


Gotthold war, sobald sein Zustand es erlaubte, von Prora nach Sundin übergesiedelt, obgleich Ottilie behauptete, daß die Luft in Prora für einen Reconvalescenten ungleich besser sei, und er das versprochene Bild ebensowohl hier wie dort ausführen könne. Ja, sie hatte sich bereit erklärt, falls sich nur der Freund um diesen Preis halten ließe, ganz und gar auf das Geschenk zu verzichten; aber ihr Gatte war wieder einmal anderer Meinung gewesen. „Man darf nicht halten wollen, wer gehen will,“ hatte er gesagt; „oder man müßte dann die Verantwortung alles dessen übernehmen, was aus dem Bleiben folgen kann. Und dazu habe ich in diesem Falle keine Lust. Ich bin dem jungen Manne wahrhaftig herzlich gut, wie er es verdient, und gönne ihm von Herzen alles Glück, das er verdient; nur sehe ich nicht recht, wie er es auf diesem Wege erreichen könnte. Und ich will damit nicht etwa feierlich an meine Dir bekannten Ansichten über die Ehe erinnert haben; ich ließe mich schon zu allen möglichen Concessionen bereit finden, wenn Gotthold damit geholfen wäre. Aber das ist es nun doch nicht. Und das einzige Mittel, die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, ist so schlimmer Art, daß, wie ich ihn kenne, er schaudern wird, es anzuwenden, wenn es überhaupt einmal so weit kommt. Vorläufig ist es noch nicht so weit.“

„Ich werde mich hüten, mir über diese Räthsel den Kopf zu zerbrechen,“ rief Ottilie, „nur diese eine Frage, auf die ich mir aber eine gerade, ehrliche Antwort erbitte: kennt Gotthold dies Mittel?“

„Ich habe es ihm nicht genannt; es ist aber möglich, daß sein Scharfsinn von selbst darauf verfällt.“

Wie wenig zufrieden auch Ottilie mit dieser problematischen Auskunft gewesen war, daran hatte auch sie nicht zweifeln können, daß Gotthold in der That fort wollte, und daß ihn selbst das Zureden ihres Gatten schwerlich gehalten haben würde.

Gotthold war fortgeeilt mit der Heftigkeit Jemandes, der einen Zauberbann um sich gezogen wähnt, und nun denselben, koste es was es will, zu durchbrechen strebt. War es denn nicht wie ein magischer Kreis, der sich um ihn geschlungen von dem Augenblick an, da er seine Heimathsinsel betreten hatte und mit dem Gefährten seiner Jugend, ohne ihn zu kennen, durch die heimischen Fluren gefahren war? Der gute Jochen Prebrow! er hatte wahrlich herzlich wenig von einem Götterboten, und doch hatte mit ihm die Reihe der Wunder dieser letzten Tage begonnen, die ihm jetzt ein himmlisch Angesicht und jetzt eine höllische Fratze zeigten, ihn jetzt mit Nektar und Ambrosia letzten und ihm jetzt Asche auf die lechzende Zunge streuten.

„Ich wäre das unseligste Geschöpf, wenn Du mich nicht verständest!“

Die Worte klangen ihm immerdar im Ohr – die Worte und der bange Ton, in welchem sie dieselben gerufen, wie aus der Tiefe der Unseligkeit heraus, in die sie rettungslos stürzte, wenn er sie nicht verstand. Sie und er! Hieß Nichtverstehen doch Zweifeln; und Zweifeln und Verzweifeln war in diesem Falle Eines und Dasselbe!

Hatte er sie verstanden?

Es war mitten in der Nacht gewesen, als Gotthold aus einem unruhigen Schlaf emporfuhr, und da hatte es, nachtgeboren, vor seiner Seele gestanden: Eines und nur Eines gab es, was sie nicht konnte, nicht durfte: gehen, während ihr Kind blieb, in der Gewalt dieses Teufels blieb; und mit diesem Einen hatte der Teufel sie zu seinem Willen gezwungen. Und daß er sie zum Gehen zwingen könne, zum Gehen zwingen werde! die Scheidung einer Ehe beantragen werde, die sie gebrochen – oder sollte sie, die Stolze, leugnen? abschwören daß sie in des Freundes Armen gelegen? vor Gericht, vor der Welt das Ja wiederholen, das sie längst ihm in’s Angesicht in ein starres Nein verwandelt? Nun wohl, dann war der Treubruch constatirt, die Ehe geschieden, das Kind wurde dem schuldigen Theil ab- und dem Theil zugesprochen, den keine Schuld traf!

Und dann hatte er ihr hohnlachend die wahrheitschänderische Formel vorgesprochen, mit der sie am nächsten Morgen vor dem Geliebten sich zur Dirne machen sollte, machen mußte, wenn er das höllische Spiel nicht durchschaute, wenn er sie nicht verstand!

Gott sei Dank, daß er sie jetzt verstand! Aber was mußte sie gelitten haben! was mußte sie leiden!

Und das sollte so bleiben? nimmer und nimmermehr! Jetzt, da er endlich seines Gegners schnödes Spiel durchschaut hatte, mußte ihm der Sieg gelingen. Und wenn er sich die Schande, zu wissen, daß sein Weib im Herzen einem Andern gehöre, mit baarem Gelde hatte bezahlen lassen, was war ihm dann nicht feil! Aber war ihm Alles feil: Ehre, Weib und Kind – weshalb hatte er denn nicht Alles und Alle auf einmal verkauft, da er doch wußte, daß ihm jeder Preis bezahlt werden würde, so weit das Vermögen des[WS 3] Käufers reichte? Wollte er künstlich den Preis seiner Waare steigern, dadurch, daß er die Stücke einzeln losschlug? Oder gab es auch für ihn ein Etwas, über das er nicht hinwegkam? undenkbar! oder war sein Haß gegen den Nebenbuhler doch größer, als seine Habsucht? trieb er das Raffinement der Grausamkeit so weit, seine Opfer nur zu verstümmeln, damit er sich noch an ihren Qualen weiden konnte?

Das war gewiß bei einem solchen Manne sehr wohl denkbar; aber wie lange blieb der Verschwender, der Spieler in der Lage, sich eine so kostbare Lust gewähren zu können? wie bald konnte die Nöthigung an ihn herantreten, seine Waare losschlagen zu müssen? Was hatte der Käufer zu thun, als ein wenig Geduld zu haben und das Geld bereit zu halten?

Und mit einem Male gewann für Gotthold sein Vermögen, auf das er bis jetzt ein so geringes Gewicht gelegt, einen wunderbaren, unschätzbaren Werth; und es fiel ihm schwer auf die Seele, daß er den größten Theil desselben Leuten anvertraut, deren Redlichkeit keineswegs außer allem Zweifel stand. Wenigstens hatte Wollnow bereits früher, als sie nur erst brieflich mit einander verkehrten, wiederholt andeutend und endlich mit klaren Worten zur Vorsicht gegen das Stettiner Geschäftshaus ermahnt; aber Gotthold hatte, aus Gleichgültigkeit gegen den Besitz, aus Pietät vor dem Namen des Erblassers, der in der Firma des Nachfolgers beibehalten war – die Warnung nicht beachtet, bis Wollnow neuerdings und dringender als vorher auf diesen Punkt zu sprechen gekommen war und geradezu gesagt hatte, daß er sein Geld kündigen müsse und daß Gefahr im Verzuge sei. Das Banquierhaus in Sundin, welches die Wollnow’schen Wechsel discontirt, hatte Gotthold die Aussagen des Geschäftsfreundes bestätigt und ihm seine guten Dienste angeboten, aber er solle lieber heute als morgen kündigen.

Gotthold hatte es thun wollen; aber sein nächster Besuch hatte seinem Pensionair, dem jungen Maler Bruggberg, gegolten, den er sterbend fand, und er hatte über seinen Freundespflichten alles Andere vergessen. Dann waren Tage und Wochen trübster Verstimmung gefolgt, in welchen er sich zu keinem Entschlusse aufraffen konnte. Jetzt brauchte er sich nicht aufzuraffen; jetzt trieb es ihn, die Säumniß einzubringen; es war zu spät.

Als er bei dem Banquier eintrat, kam ihm derselbe mit einem sehr ernsten Gesicht entgegen. Soeben war die Nachricht aus Stettin eingelaufen, daß das Haus Lenz und Compagnie fallirt habe – in einer unerhört scandalösen Weise; für die Gläubiger würden nicht fünf Procent aus der Masse abfallen. „Es thut mir herzlich leid,“ sagte Herr Nathanson; „ich selbst verliere eine Kleinigkeit, wenn man noch verlieren kann, was man längst verloren gegeben hat; aber Sie sind sehr stark engagirt, wenn ich Sie recht verstanden habe. Waren es nicht fünfzigtausend Thaler?“

Vor kurzer Zeit noch würde Gotthold ob einer solchen Nachricht die Achseln gezuckt haben und wieder an seine Arbeit gegangen sein. Jetzt traf ihn dieselbe wie ein Donnerschlag. Durch die Anleihe, welche er neulich bei Wollnow gemacht hatte, und seinen jetzigen Verlust war sein Vermögen auf den vierten Theil etwa reducirt, und auch dieser gehörte ihm, streng genommen, nicht mehr. Ja, nicht einmal streng brauchte er es zu nehmen; er brauchte nur den Verpflichtungen, die er eingegangen, nicht untreu werden zu wollen: Verpflichtungen gegen arme junge Künstler, die ihren Lebensplan auf seine Freundschaft gebaut, gegen die Wittwe und die Kinder des eben dahingeschiedenen Kunstgenossen, die ohne ihn dem Elend preisgegeben waren. Was blieb ihm, wenn er, wie es seine Ehre, wie es sein Herz von ihm heischten, diese Schulden bezahlte? nichts! nichts außer den Erträgnissen seiner Arbeit. Das war für ihn genug, und übergenug; aber für die Unersättlichkeit jenes Wüstlings? er würde sich nicht auf die Zukunft vertrösten, nicht auf Abschlagszahlungen einlassen, er nicht!

[752] Gotthold stand rathlos vor einer Schranke, die sich unübersteiglich vor ihm aufthürmte und die sein Zorn, seine Verzweiflung wahrlich nicht aus dem Wege räumten. Wessen konnte man sie beschuldigen, als daß sie, jung, großherzig, vertrauensvoll, sich durch einen Schurken hatte täuschen lassen? daß sie dann nach langen Jahren banger, dumpfer Qual beim Anblicke des Freundes ihrer Jugend aufgeathmet und, Rettung suchend, in seine Arme sich geflüchtet hatte? Und jetzt war sie der schuldige Theil, und der Schurke konnte sie, auf seine Rechte pochend, ungestraft verhöhnen, martern, tödten!

So wurde er von Zorn, Haß, Liebe ruhelos umhergetrieben in dem schrecklichen Kreislauf, aus dem kein Entrinnen möglich schien, es hätte denn ein Mittel geben müssen, Den, der in Wahrheit die Schuld trug, vor aller Welt dieser Schuld zu überführen.

Aber läßt sich solche Schuld beweisen?

Gotthold erschrak vor sich selbst, wenn er sich ertappte, grübelnd über die Möglichkeit, diese Beweise herbeizuschaffen. Sollte er seine, Cäciliens Ehre besudeln, indem er die unsaubern Geheimnisse aufdeckte, die sich aus der Herrenstube in Dollan nächtliche Treppen hinauf in das Dachstübchen der Zofe spannen? Nimmermehr!

Und daß der Wüstling, der Spieler aus den dunkeln Maulwurfsgängen des Lasters hervor sich auf die verhältnißmäßig offene Straße des Verbrechens wagen sollte – selbst dieser Gedanke war ihm gekommen; aber zu Vieles sprach dagegen. Einmal traute er dem Schurken nicht den Muth zu, der doch immer zum Verbrechen gehört; sodann hätte Wollnow doch wohl einen Verdacht geäußert, Wollnow, der sich aus Theilnahme, wie es schien, für den Assessor, vielleicht auch aus eigenem Drang der Seele, die jedes dunkle Problem reizte, der Sache so eifrig angenommen, mit solcher Sorgfalt jeder schwächsten Spur, die zur Entdeckung des verlorenen oder gestohlenen Geldes führen konnte, nachgegangen war. Und schließlich, war es nicht eine psychologische Unmöglichkeit, daß selbst ein Brandow – mochte er nun direct oder indirect bei dem Diebstahl betheiligt sein – die Hand des Bestohlenen ruhig fassen konnte, wie er es eben erst gethan, als Gotthold ihn in heiterstem Gespräch mit dem Reconvalescenten und dessen Gattin traf? Freilich, die Angelegenheit war ja in einer für Sellien ausnehmend günstigen Weise vor dem Curatorium St. Jürgen erledigt worden. Man hatte unter dem Vorsitz von Alma’s Vater gefunden, daß dem Assessor eine Schuld in keiner Weise beizumessen sei, da er, als Bevollmächtigter des Curatoriums, so berechtigt, wie verpflichtet war, das Geld in Empfang zu nehmen, und man ihn für das, was sich auf der Dollaner Haide während des Sturzes und nach demselben ereignete, unmöglich verantwortlich machen könne. Das Curatorium habe also die zehntausend Thaler einfach in das Verlustconto zu setzen, „und,“ hatte Sellien’s Schwiegervater geäußert, „wenn es anginge, meine Herren, den hinter dem Hinrich Scheel erlassenen Steckbrief zurückzunehmen, so würde ich für meinen Theil nichts dagegen haben. Der Kerl ist längst über alle Berge, das Publicum wird also ganz unnötigerweise immer wieder an die dumme Geschichte erinnert, das liegt doch weder in unserem Interesse, meine Herren, noch in dem meines Schwiegersohnes.“

Brandow hatte sehr gelacht, als Sellien diese Relation der letzten Sitzung des Curatoriums zum Besten gab, und hatte sich dann leider alsbald empfehlen müssen, da er gleich fort wolle, nachdem er noch einer Sitzung des Renncomité beigewohnt: der siebenten Sitzung innerhalb vierzehn Tagen! er komme gar nicht mehr aus der Stadt fort; aber was solle er thun? es handle sich für ihn Alles darum, daß der Beschluß, ein Stück Moorland in die Bahn für das Herrenreiten zu ziehen, rückgängig gemacht werde. Sein Brownlock, der übrigens mit den übrigen Pferden gestern bereits wohlbehalten angekommen, sei ein Steeple-chaser, wie es je einen gegeben habe; aber gerade bei seiner Sprungkraft sei er auf festen Boden angewiesen; es sei eine Sünde und Schande, daß man so gegen ihn verfahre; selbst der junge Fürst Prora habe erklärt, es sei „indigne“. Aber Reugeld zahle er auf keinen Fall, lieber im Moore stecken bleiben und, wenn’s sein müsse, ertrinken.

„Er ist ein Held!“ hatte Alma Sellien mit einem schwärmerischen Augenaufschlage gerufen, als Brandow die Thür noch nicht hinter sich geschlossen hatte.

„Er ist ein Narr!“ hatte Gotthold gesagt, als er bald darauf durch die stillen verregneten Straßen nach seiner Wohnung schritt; „mindestens ebenso sehr Narr, wie Schurke, und ganz gewiß keiner That fähig, die auch nur in irgend einem Sinne einen Mann erfordert.“

In seiner Wohnung angelangt, fand Gotthold einen Briefe in der ihm jetzt so vertrauten festen, ja kühnen Hand Wollnow’s.

Der Brief war lang; Gotthold meinte, daß derselbe von der Stettiner Affaire handeln werde, über welche er in den letzten Wochen vielfach mit dem Freunde correspondirt. Er hatte sich getäuscht. Seine Augen glühten, als er stehenden Fußes mit fliegender Eile die Seiten durchlas; dann warf er sich in einen Sessel, um alsbald wieder aufzuspringen, denn schon war sein Entschluß gefaßt. Er eilte nach dem Hause, in welchem der Rennclub seine Sitzungen hielt. Herr Brandow hatte nach einem heftigen Wortwechsel mit einigen der Herren vom Comité vor einer halben Stunde das Haus verlassen. Er fuhr nach dem Hôtel, in welchem, wie er wußte, Brandow Logis zu nehmen pflegte. Herr Brandow hatte diesmal dem Hôtel nicht die Ehre erwiesen, war vielleicht im „Goldenen Löwen“ abgestiegen. Der „Goldene Löwe“ wußte nichts von Herrn Brandow, meinte, der Herr möge im „Weißen Roß“ sein. Aus dem „Weißen Roß“ war Brandow vor ungefähr einer Viertelstunde abgereist, der Oberkellner vermuthete, nach Hause, wenigstens habe er seine Sachen nach dem Fährboote bringen lassen.

Das nächste Boot ging erst in einer halben Stunde. Gotthold hatte gerade noch Zeit, nach Hause zu eilen und Sachen für ein paar Tage in einen Nachtsack zu werfen. „Möglich, daß ich erst im ein paar Tagen zurück bin,“ hatte er der Wirthin zugerufen; und bei sich selbst hatte er gesagt: „Möglich, daß ich gar nicht zurückkomme!“

[765]
25.


Die Ueberfahrt nach der Insel dauerte heute ungewöhnlich lange. Der heftige Wind war umgesprungen und wehte gerade entgegen; das Boot war mit Menschen und Pferden überfüllt, man mußte vorsichtig laviren. Die Unterhaltung der Passagiere – Gutsbesitzer, Pächter von der Insel – drehte sich fast ausschließlich um die Rennen, die in wenigen Tagen beginnen sollten. Es würden die glänzendsten Rennen werden, die noch je stattgefunden. Es seien Pferde aus Schlesien, ja aus Ungarn gemeldet; Fürst Prora hätte sich wahrlich nichts vergeben, wenn er auch hätte laufen lassen. Der große Staatspreis sei um tausend Thaler erhöht; aber das Hauptrennen werde doch das Herrenreiten werden. Man habe anfangs geglaubt, daß von den vierundzwanzig gemeldeten Pferden nicht drei erscheinen würden, da bereits im Mai sechs aus Furcht vor Herrn Brandow’s Brownlock Reugeld gezahlt hätten; aber jetzt habe sich das Blatt gewendet, jetzt wollten Alle laufen lassen, denn daß der Brownlock das Moor nicht würde nehmen können, sei notorisch, und dann müsse er die Führung abgeben, um den Umweg zu machen, und könne es nicht mehr holen, da hinter dem Moore bis zum Pfosten nur noch ein unbedeutendes Hinderniß sei und auf freier Bahn es andere Pferde gut und gern mit ihm aufnähmen.

So sprachen die Männer, ihre Köpfe zusammensteckend, eifrig untereinander, während Regen und Sprühwasser über ihre breiten Schultern hinwehten, und Gotthold faßte an den Brief, den er in der Tasche trug. „Der Brownlock könne das Moor nicht nehmen, Brandow habe es selbst gesagt!“ er hatte Ursache, es zu sagen, und nicht blos, um die Wettlust seiner Gegner anzustacheln, wie Einer der Debattirenden gemeint hatte!

Endlich langte das Boot drüben an. Gotthold eilte in den Gasthof, sich einen Wagen nach Prora zu verschaffen. Die drei Wagen des Herrn Peters waren sämmtlich unterwegs, der eine könne bald zurückkommen, ja müßte eigentlich schon zurück sein; aber es sei ja kein Verlaß mehr auf die Knechte, der einzige Verläßliche, den er jemals gehabt, habe vor drei Wochen geheirathet, ein gewisser Jochen Prebrow aus Dollan, das heißt, nicht vom Gute, sondern aus der Schmiede, in deren Nähe neulich das Unglück passirt sei, von dem der Herr auch wohl gehört.

„Ja, mein Gott,“ rief Herr Peters, „aber das sind Sie ja selbst! Hätte ich Sie doch kaum wiedererkannt! Sie sehen ja noch blasser und kränker aus als vor drei Wochen, als Sie mit dem Herrn Assessor und dem Herrn Wollnow hier durchkamen. Ich habe noch vor ein paar Stunden mit Herrn Brandow wieder von der Geschichte gesprochen. Schade, daß Sie das Zwölf-Uhr-Boot verpaßten! Hätten ja mit Herrn Brandow weiter fahren können, der sich immer von hier mit eigenen Pferden abholen läßt. Und von dem Hinrich Scheel ist noch keine Spur; der Kerl ist gewiß seit drei Wochen unterwegs nach Amerika.“

Herr Peters mußte sich um seine andern Gäste bekümmern, von deren breitschulterigen Gestalten heute die große Gaststube überfüllt war. Gotthold hatte bereits neugierige Blicke auf sich gerichtet gesehen; vermuthlich hatte ihn Herr Peters als einen der Helden der Unglücksgeschichte auf der Dollaner Haide bezeichnet, die schon viel von sich hatte reden machen und von welcher jetzt, wo Brandow’s Name in Aller Munde war, mehr als je vorher geredet wurde. So verließ er denn den von Tabakrauch erfüllten Raum und trieb sich draußen in dem sprühenden Regen umher, bis endlich, nach einer Stunde ungeduldigsten Harrens, der versprochene Wagen kam – eine alte gebrechliche Chaise, vor welche glücklicherweise ein paar frische Pferde gelegt wurden. Herr Peters kam heraus, sich zu verabschieden und Gotthold zu sagen, daß er, bei der großen Nachfrage, das Fuhrwerk nicht für den gewöhnlichen Preis lassen könne. Gotthold willigte in die unverschämte Forderung und würde, um nur fortzukommen, noch mehr bewilligt haben.

„Ich sah es ihm gleich an, daß was im Gange ist,“ sagte Herr Peters zu seinen Gästen. „Vor zwei Stunden Brandow, jetzt Der; passen Sie Achtung: sie sind hinter dem Scheel her.“

„Dummes Zeug!“ sagte ein dicker Pächter; „Der ist längst, wo der Pfeffer wächst.“

„Ich denke, er hat sich das Leben genommen,“ meinte ein Anderer.

„Oder es ist ihm genommen worden,“ brummte ein Dritter.

Man steckte die Köpfe dichter zusammen. Daß Hinrich Scheel nicht die Früchte seines Verbrechens allein geerntet, ja möglicherweise ganz darum betrogen sei, war eine Ansicht, die sich im Publicum festgesetzt hatte, ohne daß die Sache eine bestimmte Gestalt annahm. Man wollte oder konnte auch diesmal keinen Namen nennen; im Gegentheil, die Sache wurde immer dunkler, [766] je länger man über dieselbe sprach und je häufiger die dicken kleinen Gläser mit dem grünlichen Liqueur geleert wurden. Herr Peters schaute vergnügt drein; es mochte unentschieden sein, wer von den Debattirenden zuerst nach einer Bowle seines berühmten Glühweins rufen würde; daß dieser Ruf aber innerhalb der nächsten fünf Minuten ertönen werde, war ganz gewiß. Herr Peters hatte schon durch das kleine Fenster, das nach der Küche ging, seiner Tochter, die am Herde stand, das betreffende Zeichen gemacht.

Unterdessen fuhr Gotthold hinein in den sprühenden Regen, der die ganze Landschaft in einen grauen, von Stunde zu Stunde sich mehr verdichtenden Schleier hüllte. Durch die Ritzen des nach der Wetterseite zugezogenen Schutzleders pfiff der Wind; das alte Gefährt krachte und stöhnte, wenn – was nur zu oft geschah – die Räder links oder rechts in die Löcher des ausgefahrenen Weges schlugen; aber die Pferde waren kräftig und der Knecht, dem ein gutes Trinkgeld in Aussicht stand, willig; so ging es verhältnißmäßig schnell vorwärts, wenn auch bei weitem nicht schnell genug für Gotthold’s nagende Ungeduld.

Und doch mußte er sich sagen und sagte sich auch, daß seine Eile einen stichhaltigen Grund gar nicht habe, daß es auf eine Stunde mehr gar nicht ankomme, ja daß ihm eine Stunde mehr, die vielleicht einen bestimmten Entschluß in seiner Seele reife, nur willkommen sein könne. Und während er sich das sagte, bog er sich aus dem Wagen heraus, um dem Knechte zuzurufen, daß der Weg hier ganz glatt sei und daß er schneller fahren möge.

Und dann lehnte er sich wieder in die Ecke seines kleinen dumpfen Gefängnisses zurück und nahm Wollnow’s Brief heraus und starrte hinein, als könne er nicht glauben, daß man mit einer so festen Hand, in so großen klaren Schriftzügen schreiben könne, was hier geschrieben stand. Und er las zum zweiten Male:

„Was ich heute zu berichten habe, lieber Freund, ist so schlimmer Art, daß es durch keine geschickteste Einleitung besser werden würde. Ohne alle Einleitung also: Der Sturz auf der Haide war kein böser Zufall, sondern ein schändliches Verbrechen, dessen moralischer Urheber Brandow ist. Zweitens: das Geld wurde gestohlen. Der moralische Urheber des Diebstahls, welcher sich zum Raubmord qualificiren dürfte, ist wiederum Brandow; er ist sehr wahrscheinlich bei der That zugegen gewesen, oder doch unmittelbar nach der That auf dem Platze erschienen, und jedenfalls ist der Raub in seine Hände gefallen. Ob die beiden Verbrechen gewissermaßen nur Eines sind, ich meine so, daß das erste verübt werden mußte, damit das zweite ausgeführt werden könne; oder ob das zweite noch hinterher ausgeführt wurde, nachdem das erste doch nun einmal verübt war, weiß ich nicht, und wird auch wohl Niemand je wissen, da zu fürchten steht, daß ein drittes Verbrechen die entsetzliche Consequenz jener beiden ersten gewesen ist.

Wer mir diese Gräuel verrathen hat? Der so oft der Verräther des Verbrechens ist: der Zufall.

Ein Zufall, wie er zufälliger nicht sein konnte.

Das Geld in dem Paket bestand aus Hundert-, Fünfzig- und Fünfundzwanzig-Thalerscheinen. Ich selbst habe, wie Sie wissen, das Geld abgezählt und verpackt; ich würde selbstverständlich deshalb noch nicht die Identität irgend eines der Scheine feststellen können, falls derselbe wieder in meine Hände käme. Aber bei einem bin ich es doch im Stande; dieser Schein befindet sich wieder in meinen Händen, und ich kann nachweisen, in wessen Händen er in der Zwischenzeit gewesen ist.

Ich mußte diesen Schein vor zehn Jahren in einer für mich sehr kritischen Zeit ausgeben, – das letzte Geld, das ich in dem Moment besaß; ich bezeichnete ihn in einem Anflug humoristischer Laune mit den Worten ‚Glückliche Reise!‘ und dem Datum des Tages in kleiner, fast mikroskopischer Schrift auf dem Avers in der Ecke oben rechts. Vor vier Jahren kam dieser Schein wieder in meine Casse. Ich ehrte den alten Freund mit dem Worte ‚Willkommen!‘ das ich nebst dem betreffenden Datum in die linke obere Ecke des Revers schrieb, und wies ihm, als würdigem Heckepfennig, einen Platz in meinem Portefeuille an, wo er ungestört liegen geblieben ist bis vor drei Wochen. Sie erinnern sich, daß baar Geld etwas knapp bei mir war, und ich benutzte die Gelegenheit, mich für meine abergläubische Regungen zu strafen, indem ich den Schein zu den übrigen legte.

Diesen Schein nun, dessen Identität ich beschwören kann, hat Herr Redebas am Tage nach der Katastrophe von Brandow als einen Theil der am Mittage fälligen Spielschuld erhalten; Herr Redebas hat das Geld, ohne es weiter anzurühren, in seinem Schranke liegen gehabt, bis er mir gestern eine Zahlung leistete, bei welcher sich eben der Schein befand. Ich fragte Herrn Redebas – ohne ihn übrigens in den Zusammenhang einzuweihen – ob er wohl nötigenfalls diese Angabe beschwören könne; er erwiderte einigermaßen verwundert, aber mit großer Bestimmtheit, daß er jeden Augenblick dazu bereit sein würde.

Brandow hatte bekanntlich hier und dort erzählt, das heißt geflissentlich verbreitet, er habe die Fünftausend, welche er Herrn Redebas am Mittage zahlte, am Vormittage von dem hiesigen Productenhändler Jakob Demminer erhalten als Abschlagszahlung auf Siebentausend, für welche er seinen Weizen an jenen verkauft. Diese Angaben hatten an und für sich nichts Unwahrscheinliches, und da Jakob Demminer in dem Rufe steht, jedes Geschäft zu machen, bei dem es zu verdienen giebt, und wäre es selbst das eines Hehlers, so wäre es ja der Schatten einer Möglichkeit, daß der Herr am Morgen für seinen Weizen dasselbe Geld bekommen, welches der Knecht in der Nacht unserm Freunde geraubt und bei dem braven Jakob, mit dem er vielleicht schon längst in Geschäftsverbindung gestanden, vor der Hand sicher untergebracht zu haben glaubte. Ich sage: es ist der Schatten einer Möglichkeit, denn die Zeit war ein wenig kurz bemessen; indessen wir wissen vorläufig nicht, wo und wie Hinrich Scheel den übrigen Theil der Nacht zugebracht hat, und so hätte es ja sein können.

Indessen der brave Jakob hat dieses Geschäft wenigstens nicht auf seinem weiten Gewissen, aber das Geschäft, welches Brandow mit ihm gemacht haben will, hat ebenfalls nicht stattgefunden. Allerdings ist Brandow an jenem Morgen wieder hier und auch in der dunklen Höhle gewesen, welche Jakob sein Comptoir nennt; er hat auch Geld mit fortgenommen, aber nur zweitausend Thaler, und nicht für den diesjährigen Weizen – welchen er bereits Monate vorher an Jakob verkauft hatte – sondern für den des nächsten Jahres. Er mußte à tout prix verkaufen, um sich über das Geld, das er in dieser Zeit zeigte, ausweisen zu können, und er durfte jede Zahl nennen, ohne zu fürchten, daß der biedere Jakob einem Kunden, mit dem man so vortheilhafte Geschäfte machte, widersprechen würde. Auch zur Entdeckung dieses Stückes hat der Zufall mitgewirkt, in Gestalt eines armen Judenjünglings, der mehrere Jahre bereits bei dem braven Jakob gearbeitet und sich das Vertrauen desselben erworben hatte, bis ihn jetzt plötzlich das Gewissen, oder ich weiß nicht was, treibt, mir sein Herz auszuschütten und mich mit Bitten anzugehen, daß ich ihn aus der Lasterhöhle erlösen soll.

Recapituliren wir: Brandow, der am Tage der Katastrophe notorisch von Geld entblößt war, und bis zum Mittag des nächsten Tages zweitausend einnimmt, bezahlt am Mittag fünftausend an Herrn Redebas auf ein Bret, und bei diesem Gelde befindet sich ein Hundertthalerschein, der in dem Pakete lag, das bei der Katastrophe verschwunden ist.

Verschwunden! weshalb nicht verloren, gefunden, und nur nicht zurückerstattet?

So wäre es freilich auch noch immer gestohlen! aber es ist von vornherein gestohlen und geraubt.

Erinnern Sie sich, daß Sie das Paket in der Rocktasche des Assessors noch gefühlt haben, als Sie von Dollan aufbrachen; daß Sie es in der Schmiede nicht mehr fühlten, und der von Ihnen zugeknöpfte Rock noch zugeknöpft war. Das ist freilich kein stricter Beweis; ja der letztere Umstand scheint im ersten Augenblick gegen meine Annahme zu sprechen. Wie wird sich, könnte man sagen, ein im Uebrigen so schlauer Dieb geflissentlich ein Indicium mehr auf den Hals laden! Aber man kann es ja auch zu schlau anfangen wollen, und man wußte ja nicht, daß Sie das Paket während des Abends im Auge behalten und hernach, als Sie dem Assessor den Rock zuknöpften, sogar unter der Hand gehabt hatten. Der Vertheidiger des Angeklagten wird natürlich die Genauigkeit dieser Angaben bezweifeln; wird – aber wir stehen hier nicht vor Gericht; für mich ist es erwiesen: der Assessor hatte das Geld bei sich, als der Sturz erfolgte, er hatte es nicht mehr, als die beiden Prebrows den Aermsten aufhoben, [767] während Hinrich Scheel mit der Laterne in der Hand dabei stand; das heißt: es ist in der Zwischenzeit geraubt worden.

Von wem?

Ohne Zweifel von eben jenem Hinrich Scheel, aber sehr – sehr wahrscheinlich nicht von Hinrich Scheel allein.

Kann Brandow zugegen gewesen sein?

Er hat es sich keine kleine Mühe kosten lassen, sein Alibi zu beweisen, noch bevor der Beweis von ihm gefordert wurde, und hat die Sache offenbar schlau genug angefangen. Er ist den Weg über Neuenhof, Lankenitz und Faschwitz geritten; das steht fest; die Leute in den Dörfern haben ihn durchjagen hören; er hat sich sogar die Zeit genommen, mit einem und dem andern der ihm Begegnenden zu sprechen. Ist er den ganzen Weg geritten, kann er nicht bei der That zugegen gewesen sein; – auch der beste Reiter auf dem schnellsten Pferde könnte das nicht leisten; – aber wenn er nun nicht den ganzen Weg geritten, wenn er erst vor Neuenhof in denselben eingelenkt, wenn der Gespensterreiter, den Sie im Fieber, über das Moor jagend, gesehen haben wollen, ein wirklicher Reiter in Fleisch und Bein, und wenn dieser Reiter Brandow gewesen wäre?

Sie sagen: Das ist unmöglich. Was ist einem Menschen unmöglich, hinter dem die Furien her sind, wenn er ein Pferd wie den vielbesprochenen Brownlock unter sich hat?

Brandow hat in jener Nacht den Brownlock geritten; der Hausknecht im ‚Fürstenhofe‘ will es beschwören, nachdem er vorgestern den Renner auf seiner Reise nach Sundin bei Tage gesehen. Und wenn ein Mann wie Brandow ein Pferd, das an und für sich ein kleines Vermögen repräsentirt, und auf das er überdies Tausende gewettet, in einer solchen Nacht auf solchen Wegen in solcher Pace reitet, so muß er – es sehr eilig haben.

Er muß es sehr eilig gehabt haben, sonst, lieber Freund – wären Sie nicht mit dem Leben davongekommen. Verschont hat man Sie sicher nicht; wen man erst sechszig Fuß hoch kopfüber hinabstürzen läßt, den macht man auch vollends stumm, wenn man – es nicht sehr eilig hat.

Doch, wie gesagt, das wird auch wohl einem weiseren Richter als dem Justizrath von Zadenig ein Problem bleiben. Der Eine, der dabei gewesen, wird es niemals verrathen; und der Andere – kann es möglicher Weise nicht mehr verrathen.

Ich begegnete Brandow, als ich von B. zurückkam; er kann sehr leicht von meinem Kutscher erfahren haben, daß ich mit dem Justizrathe eine Stunde lang conferirt. Er reitet im Galopp nach Hause; eine Stunde später kommt der Referendar mit dem Gensd’armen. Sie finden Hinrich Scheel nicht mehr, den man während des ganzen Vormittags gesehen, der noch dem Herrn beim Nachhausekommen das Pferd abgenommen hat. Der Herr ist sehr, sehr eifrig besorgt, daß der so plötzlich Vermißte ja gefunden werde; er leitet selbst die Nachforschungen; er –

Ich will diese grauenhafte Vermuthung nicht weiter spinnen; es ist die einzige, die in meiner Zusammenstellung vorkommt; das Andere sind Thatsachen – Thatsachen, die zum Himmel schreien, die nicht ungestraft bleiben dürfen, nicht ungestraft bleiben sollen. Ich weiß, liebster Freund, Sie denken darüber wie ich, wenn auch jede Fiber Ihres Herzens zucken muß, daß Sie, gerade Sie –

Ich komme übermorgen mit meiner Frau nach Sundin. Wir wollen dann weiter sehen, nicht was zu thun ist – darüber kann ja kein Zweifel obwalten; aber das Wie ist allerdings zu überlegen.“

Gotthold steckte den Brief wieder ein und blickte in die trostlose Regenlandschaft hinaus, so starr, daß er kaum den Wagen hörte, der, von Prora herkommend, auf der andern Seite an ihm vorüberjagte. Es war noch eine halbe Stunde bis Prora; aber dem Ungeduldigen dünkte es eine Ewigkeit. Endlich hielt der Wagen vor Wollnow’s Hause.




26.


„Ich lasse Sie so ungern fort,“ sagte Ottilie; „mein Mann muß noch vor Abend zurückkommen. Er wird sehr ungehalten sein, daß ich Sie fortgelassen habe. Und dann, gestehen Sie es doch, lieber Freund: Sie gehen ohne einen bestimmten Plan, ohne einen festen Entschluß, und wollen so einem Manne, wie Brandow, gegenübertreten; das heißt doch, sein Spiel verlieren, ehe man es begonnen hat.“

Ottilie hatte Gotthold’s beide Hände erfaßt, als wollte sie ihn vor der Thür wieder in’s Zimmer ziehen. Gotthold schüttelte den Kopf.

„Sie haben ja Recht,“ sagte er; „aber es giebt Fälle, wo der Andere, der nicht Recht hat, wenigstens sein Recht nicht beweisen kann, dennoch nach seiner Ansicht handeln muß. Ich bin in dem Falle. Ich kann Brandow nicht in das Zuchthaus oder auf das Schaffot liefern; ich kann es nicht –“

„Auch wenn er sonst der Gatte Cäciliens bliebe? Das können Sie ebenso wenig wollen.“

„Gewiß nicht, und deshalb muß eben ein Drittes gefunden werden.“

„Das sich niemals wird finden lassen. Lieber, bester Gotthold, lassen Sie mich Ihnen sagen, was mein Mann, wenn er hier wäre, Ihnen gesagt haben würde: Niemals! Er wird, wenn Sie so, allein, ohne Hülfe, ohne die Häscher und das Gericht hinter sich, kommen, niemals weichen, Sie müßten ihm denn beweisen können, daß Sie ihn ganz und vollständig in der Hand haben, und so steht die Sache nicht. Mein Mann sagte noch gestern Abend: ‚Könnte man ihm den Scheel gegenüberstellen! ohne den Scheel ist doch eigentlich nichts zu machen; aber wo ist der Scheel? Vielleicht auf dem Boden eines der Dollaner Moore.‘ Ach! lieber Freund, bleiben Sie fort von dieser Mördergrube!“

„Und ich sollte sie da lassen?“ rief Gotthold. „Wehe mir, daß ich es bis jetzt gethan, daß ich nicht Alles daran gesetzt habe, sie mit mir fortzunehmen, sie und ihr Kind! denn nur das Kind hat sie ja gehalten, und er würde auch das Kind verkauft haben, hätte ich Kopf und Herz genug gehabt, ihm den rechten Preis zu bieten. Jetzt kann ich ihm nichts mehr bieten, als einen Kampf auf Tod und Leben, aber ich bin gewiß und er weiß recht wohl, daß ich diesmal nicht unterliegen werde. Verzeihen Sie, liebe Freundin, daß ich mich vor Ihnen so in Worten übernehme, wo Handeln sich wahrlich besser ziemte, und – leben Sie wohl!“

Ottilie brach in Thränen aus. „Und Sie,“ rief sie, „lieber, bester Freund! Ach, ja, Sie müssen fort, Sie müssen Alles daran setzen, wenn Sie Cäcilie lieben, und daß Sie sie lieben – ich wußte es ja längst vor heute; und mein guter Emil wußte es, und – und – Emil würde an Ihrer Stelle nicht anders handeln, glauben Sie mir, er mag vorher gesagt haben und hinterher sagen, was er will! Er weiß, was leidenschaftliche Liebe ist; ja, er würde nichts dagegen haben, wenn er wieder achtundzwanzig Jahre und an Ihrer Stelle wäre. Aber ich kann doch nichts dafür, daß ich nicht so schön und so geistreich bin, wie es Ihre liebe selige Mutter war; und daß ich überhaupt vor dreißig Jahren noch gar nicht existirte, und es giebt schließlich auch noch unglücklichere Eheleute, als ihn und mich, und, und – mögen Sie und Ihre Cäcilie nur auch einmal so glücklich werden!“

Sie hatte Gotthold umarmt und herzlich geküßt und stand jetzt am offenen Fenster, ließ sich den Regen in das verweinte Gesicht stäuben und winkte mit dem Taschentuch, während sein Wagen über das holprige Pflaster davonschwankte.

Es war trotz aller Aufenthalte noch ziemlich eine Stunde bis Sonnenuntergang, als Gotthold Prora verließ, und die Pferde griffen noch immer wacker auf; so mußte er vor Einbruch der völligen Dunkelheit in Dollan sein. Er wiederholte sich das mehrmals im Laufe der nächsten Stunde und besann sich dann, weshalb er eigentlich diese Rechnung immer wieder anstellte und was darauf ankomme, ob er vor oder nach Einbruch der Dunkelheit Dollan erreiche. Er konnte sich darauf keine Antwort geben, und während er nach der Antwort suchte, sagte er schon wieder: „Gott sei Dank, ich werde noch vor der Dunkelheit da sein!“ Fingen seine Gedanken sich zu verwirren an? das wäre schlimm; sein Kopf würde wohl heute noch viel auszuhalten haben; und dann schweiften seine besorgten Blicke wieder zu den trüben Wolken empor und über die nassen Stoppelfelder und die schwarzen Aecker und er sagte: „es wird doch schneller dunkel, als ich dachte;“ und, als erheischte die Hartnäckigkeit der Vorstellung eine entsprechende Vorstellung und wäre es auch eine unsinnige, fügte er hinzu: „ich werde sie nicht mehr finden.“

Und nun konnte er die neue Vorstellung nicht wieder loswerden: er werde sie nicht mehr finden! als würde sie sich verstecken [768] bei seinem Kommen und er müßte sie suchen und würde sie nicht finden, weil es zu dunkel war!

Oder war das Alles nur Unsinn, wie er in dem wüsten Kopfe eines Menschen entsteht, der seit Stunden einsam in einer regendunstigen Chaise auf zerfahrener Landstraße gerüttelt wird und in die graue Luft hineinstarrt, die mit jeder Minute grauer und undurchsichtiger wird? War es die schaudervolle Vorstellung einer schaudervollen Möglichkeit? Hinrich Scheel hatte ihm das Pferd abgenommen, als er nach Hause kam, und zwei Stunden später war Hinrich Scheel verschwunden gewesen. Jetzt war er mindestens vier Stunden schon zu Hause; so hatte er doppelt so viel Zeit gehabt.

Gotthold riß das auf der einen Seite noch geschlossene Schutzleder zurück, ihm war, als müßte er ersticken. Endlich! Da dicht vor ihm lag die Schmiede; er würde die wackeren Prebrows sehen, sprechen, sie wohnten so in der Nähe; sie konnten ihm gewiß sagen, daß sie sie noch ganz vor Kurzem gesehen, gesprochen hätten.

Die Schmiede war öde und verlassen; es mußte schon ein paar Stunden her sein, daß der Blasebalg in Bewegung gesetzt war: eine dicke Aschendecke lag über den ausgegangenen Kohlen. Es schien, als ob Vater und Sohn, die das uralte Häuschen allein bewohnten, nur eben so von der Arbeit weggelaufen wären. Auf dem Ambos lag das Stück, an welchem sie zuletzt geschmiedet, Zange und Hämmer daneben auf dem Boden, als hätte man sie eben nur aus der Hand geworfen, um in aller Eile aus der Thür stürzen zu können, die weit offen stand. Der Knecht war sehr ungehalten: eine Feder an dem Wagen war so gut wie gebrochen; er hatte darauf gerechnet, daß sie ihm hier den Schaden zurechtflicken könnten, so ginge es nicht mehr. Gotthold hieß den Burschen langsam nachkommen, er wolle zu Fuß voraus.

Es hätte ihn keine Minute länger geduldet; der Anblick der verlassenen Schmiede hatte die dämonische Angst, die ihn schon auf der ganzen Fahrt gepeinigt, in’s Grenzenlose gesteigert. Er eilte den abwärtsgleitenden Weg über die Haide, des Regens nicht achtend, welchen der Wind ihm bei seinem schnellen Lauf mit doppelter Heftigkeit in’s Gesicht trieb, den Blick immer auf die nächste Hügelwelle gerichtet, die vor ihm lag und die unerreichbar schien. Dann stand er keuchend oben, aber der Blick nach rechts war um nichts freier geworden; ein grauer Nebel zog vom Moore her näher und näher, so nahe schon, daß der schroffe Hang des nächsten Hügels nur noch eben durch den sprühenden Dunst dämmerte und er die Unglücksstätte kaum wieder erkannte. Am Fuße derselben angelangt, erinnerte er sich, daß man unten, wenn man sich hart an dem Rand hielt, zwischen Hügel und Moor durchkommen konnte; so ließ er denn die langgestreckte Höhe selbst links über sich liegen.

Aber indem er sich so nach der Tiefe wandte, gerieth er immer mehr in den Nebel, welcher sich jetzt wie eine grauwogende See über das Moor gebreitet hatte und an der steilen Böschung in Streifen emporwirbelte, der Brandung gleich, welche ein heftiger Wind an den Uferklippen hinaufpeitscht.

Und während nach links die Höhe seinen Blick hemmte und er nach rechts in den grauen Nebel starrte, der ihn kaum erkennen ließ, wohin er den Fuß setzte, stieg mit jedem Schritte jene grauenhafte Angst; ihm war, als müsse sich jeden Augenblick der Nebelvorhang heben, ihn ein schauderhaftes Bild, das er jetzt noch verhüllte, sehen zu lassen; und die Höhe, an der er sich hindrückte, sei nur da, damit er diesem Schauspiel nicht entrinnen könne. Und da war es ja!

Gotthold stand, bebend, mit weit aus den Höhlen getretenen Augen in den Nebel stierend. Es konnte nur eine Ausgeburt seiner bis zum Wahnsinn aufgeregten Phantasie gewesen sein, denn er sah jetzt nichts, gar nichts, und hatte es eben doch ganz deutlich gesehen: vier oder fünf Gestalten, die in einem Kreise umherstanden und mit langen Stangen in dem Moore suchten – Nebelspuk!

Nein, nein, kein Spuk! oder die Gespenster hätten denn sprechen können, mit menschlichen Stimmen, die er ganz deutlich unterschied, wenn er auch die Worte nicht verstehen konnte, und jetzt hörte er auch ein paar Worte: „Hier wär’ es möglich!“

Nein, nicht möglich – es war gewiß; er wußte jetzt, wovor er sich geängstigt hatte.

Im nächsten Moment war er mit einem Sprunge durch das hohe Riedgras, welches an dieser Stelle mit breitem Gürtel den Sumpf umschloß; die Rasendecke hob und senkte sich unter ihm – er merkte es nicht; ein und das andere Mal spritzte unter den eilenden Füßen das Wasser heraus – er achtete es nicht; seine Blicke bohrten in den Nebel nach der Seite, von woher er die Stimmen vernommen und jetzt wieder vernahm und ganz nahe schon; und da tauchten auch die Gestalten abermals auf, die ihm vorhin ein Riß in dem Nebel gezeigt, und jetzt war er bei ihnen: „Vetter Boslaf!“

„Steh’ weiter fern, und ihr Anderen auch! Wir sind hier zuviel; es trägt uns nicht; und ich kann es schon allein.“

Sie traten zurück; der Alte ließ die lange, mit einem eisernen Haken versehene Stange mehrmals vorsichtig durch das Wasser gleiten, welches hier zwischen Binsen und nickendem Gras einen kleinen dunklen Pfuhl gebildet hatte. Dann zog er sie heraus; und gab sie einem der Männer. „Es ist nichts. Das war die letzte Stelle, wir wollen zurück; bleibt genau hinter mir, und auch Du, Gotthold! immer in meinen Fußstapfen.“

Der alte Mann schritt voran, die Büchse auf der Schulter, gleichmäßig langen Jägerschrittes, daß die Andern, unter denen sich auch Clas Prebrow, Jochen’s Bruder, befand, Mühe hatten, hinter ihm zu bleiben. Ein paarmal blieb er stehen; er schien dann den Boden zu prüfen; aber das war immer nur für ein paar Momente. Dann ging es weiter in den Nebel hinein. Die Leute folgten ohne Zaudern; sie wußten, daß sie ruhig folgen konnten, wenn Vetter Boslaf voranging; und da wurde auch der Boden fester und fester, sie waren genau wieder an der Stelle, von der sie vor einer Stunde ausgegangen waren; Vetter Boslaf rief Gotthold an seine Seite.

„Seit wann?“ fragte Gotthold.

„Schon heute Nacht, in der zweiten Morgenstunde; die Hunde sind laut gewesen; ich weiß es erst seit drei Stunden.“

„Und Ihr habt noch Hoffnung?“

Der alte Mann starrte in den Nebel hinein.

„Wir haben sie nicht gefunden,“ sagte er; „so mögen die Andern sie ja auch nicht gefunden haben, und dann wäre noch Hoffnung, trotzdem es wenig wahrscheinlich ist, daß sie in der dunklen Nacht mit dem Kinde weit gekommen sein sollte.“

„Mit dem Kinde,“ rief Gotthold, „mit Gretchen! dann ist Alles gut; sie würde dem Kinde nie ein Leides thun.“

„Ein Leides!“ sagte der alte Mann, „ein Leides! es giebt größere Leiden, als den Tod.“

Gotthold durchzuckte es. Sie hatte sich nicht von dem Kinde trennen wollen; sie hatte um des Kindes willen es tragen zu müssen, tragen zu können geglaubt. Nun war es unerträglich geworden, und sie mußte die Last abwerfen. Was sollte aus Gretchen werden? es giebt schlimmere Leiden als den Tod.

[781]
27.


Sie gingen rasch auf den Hof zu, der alte Boslaf mit langen gleichmäßigen Schritten immer voran, den Blick jetzt auf den Boden gesenkt, jetzt scharf in die Dämmerung hineinlugend; aber er sprach kein Wort, und Gotthold fragte nicht. Dennoch wußte er, ehe man den Hof erreichte – aus einzelnen Bemerkungen der anderen Männer, – daß, als sich gegen Mittag unter den Leuten das Gerücht verbreitete, die Frau und das Kind seien verschwunden – seit dem Morgen, vielleicht schon seit gestern Abend – sogleich die Rede ging, daß sie sich dann das Leben genommen habe. Es hatte es Keiner zuerst, es hatten es eben Alle zugleich gesagt, und daß Einer nach Vetter Boslaf laufen müsse. Vetter Boslaf war denn auch alsbald gekommen – die alte langschäftige Büchse auf der Schulter – und hatte die Leute eingetheilt: Statthalter Möller mit dem einen Trupp über die Felder in den Strandwald, Schmied Prebrow, den man abgeholt, mit dem andern die Haide aufwärts nach den Schanzenbergen, Vetter Boslaf selbst mit dem Rest die Haide abwärts auf das Moor; nun wollten sie Alle auf dem Hof wieder zusammentreffen. Vor zwei Stunden – sie waren noch weiter unten auf dem Moor, es nebelte aber noch nicht so stark, – hätten sie Herrn Brandow zurückkommen und bald wieder wegfahren sehen. Er habe auch gut daran gethan, denn die Leute hätten unter sich ausgemacht, daß der Mörder nicht lebendig wieder vom Hofe solle; an Hinrich Scheel sei nichts gelegen, der sei so schlecht gewesen, wie er selber; aber Frau und Kind – das sei zu arg, und sie Alle hätten ja auch immer gesagt, daß es noch einmal so kommen würde.

Sie hatten es Alle gesagt und hatten es so kommen lassen! Sie hatten es ja nicht verhindern können; aber er! Gotthold meinte, das Herz müsse ihm springen vor Scham und Gram.

Man gelangte auf den Hof, in demselben Moment fast mit den beiden andern Trupps. Sie hätten das ihnen zugewiesene Terrain sorgfältig abgesucht, und nichts gefunden, keine kleinste Spur. Was nun geschehen solle?

Es konnte wenig mehr geschehen. Zwar der Nebel war vorübergezogen, aber die Dämmerung bereits stark hereingebrochen; in einer halben Stunde, höchstens einer Stunde mußte es Nacht sein. Auch waren die Leute, die seit Mittag ununterbrochen in Gestrüpp und Wald, Sturzacker und Moor auf den Beinen waren, sichtlich ermüdet und erschöpft, dennoch waren sie gern bereit, auch noch den Wald nach Dahlitz zu durchsuchen, sobald sie das Vesperbrod verzehrt, das Vetter Boslaf hatte vor das Haus schaffen lassen. Vetter Boslaf aß nichts, trank nichts; er stand, die Arme verschränkt, an den Stamm einer der beiden alten Linden gelehnt und wartete geduldig, bis die Leute wieder bereit sein würden, ihm sein Urenkelkind, die letzte aus seinem Geschlecht, suchen zu helfen, auf dem Grund der Mergelgruben, in der Tiefe der Waldschluchten, oder wohin sie sich sonst geflüchtet, um mit ihrem Kinde zu sterben.

Gotthold war in das Haus getreten, um sich nach Mine umzusehen, einem guten, noch ganz jungen Mädchen, die er manchmal mit Gretchen hatte spielen sehen und die Cäcilien sehr ergeben schien; vielleicht daß er von ihr irgend etwas erfahren konnte, was einen Anhalt gab. Er fand die Kleine in der Küche, wo sie, mit verweinten Augen, der Ausgeberin Butterbrode für die Leute hatte zubereiten helfen. Sie ließ, als sie Gotthold ansichtig wurde, mit einem Freudenschrei das Messer fallen und kam auf ihn zugelaufen; Gotthold hieß sie mit ihm gehen.

Das gute Kind konnte anfangs vor Weinen kaum sprechen. Die Frau sei immer so traurig gewesen in den letzten Wochen, noch viel trauriger als sonst; sie habe beinahe gar nicht mehr gesprochen, kaum noch mit Gretchen, welche sie nie von der Hand gelassen, und mit ihr nur das Allernöthigste. Gestern sei sie noch bis spät in den Abend draußen gewesen, ohne Gretchen, und als sie zurückgekommen, habe sie so bleich und erschöpft ausgesehen, und mit den Augen hätte sie so starr vor sich hingeblickt; aber sie habe sich nicht zu Bett legen wollen, sondern darauf bestanden, daß sie zu ihrer Mutter nach Neuenhof gehe, die das böse Wesen wieder so arg gehabt, und hinzugefügt, daß sie vor Mittag nicht wiederzukommen brauche, und da sei die Frau ja schon wer weiß wie lange fortgewesen. Die Rieke habe es sicher längst gewußt, aber sie habe aus Furcht vor den andern Leuten nichts gesagt, und sich oben versteckt gehalten, bis der Herr zurückgekommen. Der habe sie anfangs arg ausgescholten und mit der Reitpeitsche nach ihr geschlagen; da habe die Rieke geheult und geschrieen, sie wolle es dem Herrn eintränken, und so schlimme Reden geführt, und zuletzt habe sie der Herr in der Kutsche mitgenommen; und ihre liebe, gute Frau habe zu Fuß hinaus gemußt aus dem Hause in tiefer finsterer Nacht, und das liebe, süße Gretchen habe nicht einmal die neuen [782] Stiefeln angehabt, denn sie seien in den Schrank geschlossen gewesen und sie habe ja die Schlüssel in der Tasche gehabt.

Die Kleine fing wieder an zu weinen; Gotthold sagte ihr ein paar Worte, die tröstlich sein sollten, und mußte sich dann abwenden, da der eigne Schmerz ihn zu überwältigen drohte. Das weinende Mädchen hatte ihn so an die sonnigen Tage erinnert, wenn er Cäcilien im Garten aufsuchte und Gretchen zwischen den Blumenbeeten spielte.

Als er wieder vor das Haus trat, waren die Leute mit ihrem Imbiß fertig und bereit abzumarschiren. Schmied Prebrow sollte links, der Statthalter rechts vom Dahlitzer Wege den Wald absuchen; Vetter Boslaf selbst wollte auf dem Wege bleiben. Man brach schon auf, als Gotthold’s Wagen in den Hof schwankte; die Feder war nun vollends gebrochen und von dem einen Rad ging der Reifen los. Vetter Boslaf fragte den Statthalter, ob der alte Wagen von Herrn Wenhof noch da und im Stande sei. Der Wagen war da, konnte in Stand gebracht werden. Dann sollte Clas Prebrow ihn zurecht machen, ein Paar frische Pferde vorlegen und nachkommen. Gotthold blickte den Alten fragend an.

„Ich suche, bis ich sie finde,“ sagte der Alte, den Riemen der Büchse höher auf die Schulter rückend, „und ich werde sie finden – lebendig oder todt; in beiden Fällen werden wir den Wagen brauchen.“

Man kam an den Wald; die Männer hatten sich schon nach rechts und links ausgebreitet und drangen nun hinein.

„Ich bleibe auf dem Wege,“ sagte Vetter Boslaf zu Gotthold, als sie jetzt nebeneinander dahinschritten; „ich kann mich auf meine alten Augen verlassen und ich glaube jetzt fast, sie hat diesen Weg genommen. Sie kam hier am schnellsten in den Wald und gleich hinter dem Walde, auf der Brache rechts ist die große Mergelgrube. Als sie ein Kind war, ertränkte sich eine arme Dirn darin, die ihr Neugeborenes umgebracht hatte.“

Der Alte veränderte den langen gleichmäßigen Schritt nicht, während er so sprach und seine scharfen Augen den in tiefe Furchen zerwühlten Weg absuchten oder über die Büsche und Baumstämme an den Seiten schweiften, zwischen denen – hier in der Tiefe des Waldes – die Nacht bereits finster hervorblickte. Die Leute im Walde riefen sich einander zu, um Fühlung zu behalten; manchmal wurde einer von den Hunden, die man mitgenommen, laut, dann war wieder für einen Moment Alles still; nur der Wind sauste in den mächtigen Kronen und schüttelte die Regentropfen prasselnd durch die Blätter. Dann stand der Alte wohl und horchte und ging weiter, wenn er sich überzeugt, daß die Männer noch Linie hielten und nichts Besonderes sich ereignet hatte.

So kamen sie an den Ausgang des Waldes, dessen dunkler Saum sich nach beiden Seiten endlos in die Dämmerung hinausstreckte. Von den Leuten, die sich nur langsamer durch das Unterholz hatten arbeiten können, war noch keiner zu sehen; Vetter Boslaf deutete nach rechts, wo ein Stück abseits vom Wege auf der Brache ein runder Fleck sich von dem dunkleren Terrain auszeichnete; es war die Mergelgrube, welche der endlose Regen der letzten Tage fast bis an den Rand gefüllt hatte.

Sie gingen über den Wegrain auf die Brache; der Alte schritt wieder voran, aber langsamer als zuvor und er hatte das Haupt tiefer gesenkt, als wollte er jedes Hälmchen des kurzen nassen Grases zählen. Plötzlich blieb er stehen: „Hier!“

Er deutete auf den nassen Boden, in welchem sich, wie auch Gotthold jetzt bemerkte, Fußspuren eingedrückt hatten, eine größere, neben der eine kleinere herlief. Die Spuren kamen vom Wege, den sie eben verlassen, aber waren schon näher dem Walde abgegangen, und liefen auf die Mergelgrube zu, und sie waren unter einem halben rechten Winkel darauf gestoßen. Der alte Jäger und der junge Mann blickten einander an; keiner sprach ein Wort; sie wußten, daß die Entscheidung jetzt gekommen war.

Langsam, vorsichtig folgten sie der Spur, die gleichmäßig vor ihnen fortlief immer auf die Mergelgrube zu, auf deren Wasserfläche sie bereits deutlich die kleinen Furchen sahen, die der rauhe Wind plätschernd gegen den steilen Rand trieb. Nur noch fünfzig Schritte vielleicht, dann war es entschieden.

Gotthold’s starrer Blick war auf das schauderhafte Wasser geheftet, das unheimlich im letzten schwachen Lichte des Abends blinkte; er sah sie am Rande stehen, das Kind an der Hand, hineinstarren –

Die eine Hand des Alten lag auf seiner Schulter, mit der andern deutete er hinab. „Sie hat die Kleine hier auf den Arm genommen.“

Es war nur eine Spur, die größere, und die Spur war tiefer eingedrückt – fünf, zehn, fünfzehn Schritte –

„Steh!“

Der Alte hatte es gerufen und sich, in demselben Moment mit der Hand rückwärts winkend, auf beide Kniee niedergelassen. Die Spur war zertreten, als hätte sie ein paar unentschlossene Schritte hinüber, herüber gemacht, und dann lief die Spur deutlich weiter, aber parallel mit dem Rande der Mergelgrube, und dann wandte sie sich entschieden in der Richtung nach dem Wege zurück und blieb in der Richtung bis an den Rain, von dessen scharfem Rande, als sie mit ihrer Last hinüber auf den Weg schritt, ein Stückchen Rasen abgestoßen war.

Die Beiden standen wieder auf dem Wege; Gotthold war, als ob der Boden unter ihm schwankte; er warf sich an die Brust des alten Mannes, der ihn fest umschlungen hielt.

„Wir dürfen jetzt hoffen, lieber Sohn; aber wir sind noch nicht am Ende.“

„Ich will Alles tragen und wagen, so lange ich noch hoffen darf,“ rief Gotthold, sich aus den Armen des Greises aufrichtend.

Aus dem finstern Walde hervor kamen jetzt einzeln und paarweise dunkle Männergestalten auf die Stelle zu, wo die Beiden standen. Sie hatten nichts gefunden; der Statthalter Möller fragte, ob sie nun noch die Mergelgrube durchsuchen wollten; mehr würden sie heute wohl nicht mehr können; es sei zu dunkel geworden und die Leute todtmüde.

„Aber wenn Herr Wenhof will, wollen wir auch noch,“ sagte Statthalter Möller; „nicht wahr, Leute?“

„Ja, dann wollen wir auch noch,“ erwiderten sie im Chor.

„Ich danke Euch,“ sagte Vetter Boslaf; „Ihr könnt nun nicht mehr helfen; ich will mit dem Herrn hier allein weiter, sobald Clas Prebrow mit dem Wagen kommt, und ich habe jetzt Hoffnung, daß ich mein Urenkelkind am Leben wiederfinde.“

Die Stimme des Alten zitterte, als er die letzten Worte sprach, die Leute blickten ihn verwundert an.

„Ja, mein Urenkelkind,“ hub der Alte wieder an, und seine Stimme war jetzt stark und hatte einen eigenthümlich tiefen, feierlichen Klang; „denn das ist sie – mein und Ulrikens, der Gattin von Adolf Wenhof, Urenkelkind. Ihr habt heute so treu zu mir gestanden, und da kann ich nicht anders, als Euch die Wahrheit sagen. Es lebt Niemand, dem dadurch ein Leids geschieht, aber Euch kann es gut thun, zu wissen, daß man immer die Wahrheit sagen muß, daß ein alter neunzigjähriger Mann sie noch sagen muß, aus keinem andern Grunde, als weil es die Wahrheit ist. Und nun geht nach Hause, Kinder; und laßt Euch nicht verleiten, Rache zu nehmen an Dem, der mein Kind von Haus und Hof getrieben; und laßt auch nicht Euren Zorn an Haus und Hof aus. Es haben bessere Männer vor ihm da gewohnt, und werden nach ihm bessere Männer wohnen; und nun noch einmal: ich danke Euch, Kinder!“

Die Leute hatten schweigend zugehört; Einer und der Andere hatte die Mütze abgenommen; sie wußten nicht recht warum; und als der alte Mann mit Gotthold in die Kutsche stieg, die unterdessen still herangekommen, standen sie Alle mit entblößtem Kopfe herum, und als die Kutsche sich in Bewegung gesetzt und sie selbst den Heimweg antraten, dauerte es lange, bis Einer ein lautes Wort zu sprechen wußte.

Die Kutsche aber fuhr in den dunkeln Abend hinein in der Richtung nach dem Stranddorfe Ralow. Es war ein lieblicher Weg an einem Sommerabende, und Cäcilie war gern mit dem Kinde hier promenirt. Gotthold hatte gemeint, sie wollten diesen Weg nehmen; der Alte war es zufrieden gewesen. „Jetzt kommst Du an die Reihe,“ sagte er. „Wir suchten eine Todte, dazu taugt ein alter Mann; jetzt suchen wir Eine, die lebt, dazu mag ein junges Blut geeigneter sein.“




28.


Zwei Tage später stand des Morgens nach dem zweiten Frühstück vor der Thür seines Hauses Jochen Prebrow und blickte durch ein langes Teleskop, das er mit der linken Hand [783] an die Flaggenstange gedrückt hielt, die vor dem Hause hoch auf dem Sande aufragte, in das Meer hinaus. Man konnte den guten Jochen oft in genau derselben Stellung und Beschäftigung finden. Nicht als ob er auf dem Meere irgend etwas Besonderes gesucht oder zu entdecken gehofft hätte; aber in müßigen Momenten war das Teleskop, welches für gewöhnlich dicht an der Hausthür, im Schutze des weit vorspringenden Daches, auf zwei krummen Riegeln ruhte, eine vortreffliche Unterhaltung, wenn es auch, wie in diesem Augenblicke, schlechterdings nichts Anderes auf dem Meere zu sehen gab, als im Morgenwind lustig tanzende, hier und da schaumgekrönte Wellen.

Aber heute sah der gute Jochen auch nicht einmal die schaumgekrönten Wellen; er sah eben gar nichts; dennoch hatte sein breites Gesicht, als er nach fünf Minuten das Teleskop absetzte und zusammenschob, einen so sorgenvollen Ausdruck, als habe er ein Vollschiff beobachtet, das bei starkem Nordoststurm aus den Wiessower Haken trieb, und sein Nachbar, der Lootsencommandeur Bonsak, habe gesagt, das Schiff sei nicht mehr zu retten.

Und denselben sorgenvollen Ausdruck hatte das volle Gesicht seiner Stine, die eben in der Hausthür erschien und, die beiden sonst so geschäftigen Hände müßig unter der Schürze, in den blauen, mit weißen, glänzenden Wolken bestreuten Morgenhimmel zu starren begann, ohne ihren Jochen, der sechs Schritte vor ihr stand, auch nur zu bemerken.

„Nein, nein!“ seufzte Stine.

„Ja, ja!“ sagte Jochen.

„Jochen, wie Du mich wieder erschreckt hast!“

„Es ist auch schrecklich, wenn man es recht bedenkt,“ sagte Jochen.

Jochen hatte wieder das Teleskop auseinandergeschoben und wollte offenbar seine Beobachtungen von vorhin fortsetzen; aber Stine nahm ihm das Instrument aus den Händen, legte es auf seinen Platz und sagte etwas gereizt: „Was Du nur immer durch das alte Ding zu sehen hast, und ich weiß vor Sorgen nicht, wo mir der Kopf steht.“

„Ja, wenn Du es nicht weißt, Stine!“

„Woher soll ich es wissen? Wofür bist Du denn der Mann, wenn ich armes Wurm Alles wissen soll? Und eben hat sie mich wieder gefragt, ob der Schwede noch nicht da ist. Das arme Mädchen! Auf so einer Nußschale von einer Yacht die weite Reise! Und wer weiß denn, ob Die drüben sie werden haben wollen! Sie sind ja nur noch in viertem und fünftem Gliede miteinander verwandt!“

Stine hatte in großer Erregung, aber mit gesenkter Stimme gesprochen, und sie hatte ihren Jochen bis an die Schlehdornhecke gezogen, die das sandige Gärtchen von der sandigen Dorfstraße trennte. Jochen hatte eine dunkle Empfindung, daß er, als Mann und Gatte und als einziger Gastwirth von Wiessow, etwas sagen müsse, und so sagte er denn: „Stine, Du sollst sehen, da finden wir Beide nicht durch.“

„Jochen, ich hätte nicht gedacht, daß Du so schlecht wärest!“ rief Stine, indem sie, schluchzend und die beiden rothen Hände in die Augen drückend, sich von ihrem Eheherrn wandte und in das Haus zurückging.

Jochen war an der Hecke stehen geblieben und hob die beiden Arme; aber das Teleskop lag ruhig auf seinen Riegeln, und er wagte in Anbetracht seiner Schlechtigkeit nicht, den Sorgenbrecher zu holen. So ließ er denn die Arme wieder sinken und steckte die Hände in die Taschen. Gott sei Dank, da war seine Pfeife! Sie hatte jetzt viele müßige Stunden, Stine konnte das Rauchen gar nicht leiden; und wenn sie ihn jetzt rauchen sähe, wo sie so schon so böse war, würde sie ja wohl gar nicht wieder gut.

Jochen ließ die Pfeife wieder in die Tasche gleiten und starrte auf das schimmernde Meer, wie Jemand, der auch ohne optisches Instrument nur zu deutlich die Unglücksstelle sieht, auf der soeben das prächtigste Schiff mit Mann und Maus untergegangen.

„Guten Morgen, Prebrow!“ sagte eine Stimme in seiner unmittelbaren Nähe.

Jochen wandte seine blauen Augen aus der Ferne langsam zu dem Herrn, der, den Kragen seines Paletot in die Höhe geschlagen, eben mit schnellen Schritten an der Hecke vorüberging.

„Guten Morgen, Herr In–“

„St!“ sagte der Herr, stehen bleibend und den Finger auf den Mund legend.

Jochen nickte, zum Zeichen des Einverständnisses.

„Heute Abend!“ fuhr der Herr fort; „ich sage es Euch, weil, nachdem bis jetzt Alles gut gegangen, doch noch Jemand in der letzten Stunde Verdacht schöpfen und sich bei Euch erkundigen könnte, Ihr kennt mich natürlich nicht.“

„Gott bewahre!“ erwiderte Jochen.

Der Herr nickte und wollte seinen Weg fortsetzen, blieb dann aber wieder stehen und sagte, da ihm der bekümmerte Ausdruck von Jochen’s Gesicht aufgefallen war: „Ihr braucht Euch das nicht zu Herzen zu nehmen, Prebrow; den Rahnkes geschieht recht, ihr Treiben ist eine Schande für Wiessow und die ganze Gegend, und schließlich wird Keiner sein, der nicht froh wäre, daß Ihr die Halunken los seid. Und wenn ich das nächste Mal komme, Prebrow, logire ich natürlich bei Euch; diesmal muß ich Verstecken spielen.“

Der Herr nickte, entfernte sich mit leichten Schritten und trat in das Haus des Lootsencommandeurs, nachdem er sich vorher schnell nach allen Seiten umgesehen hatte.

„Eine verdammte Geschichte,“ murmelte Jochen, ohne genau zu wissen, welche von den beiden er meine, die, so in seinem Hause spielte, oder die andere, von welcher der Herr Steuerinspector eben gesprochen. Es war doch wohl die erste, die zweite ging ihn ja gar nichts an; aber es war doch wieder ein Geheimniß mehr, und er hatte an dem einen schon viel zu viel.

„Guten Morgen, Jochen!“

Diesmal aber bekam Jochen doch einen richtigen Schrecken. Da stand sein Clas-Bruder genau auf derselben Stelle, wo eben der Herr Inspector gestanden.

„Ja, mein Gott, Clas, wo kommst Du her?“ rief er.

„Ja, das sagst Du wohl, Jochen,“ erwiderte Clas.

Die beiden Brüder blickten über die hohe Hecke einander so forschend in die Augen, als ob sie keineswegs von Kindesbeinen an die besten Freunde gewesen.

„Ist Vater todt?“ fragte Jochen langsam.

„Gott soll mich bewahren,“ erwiderte Clas.

„Ist die Schmiede abgebrannt?“

„I, Jochen, wie kannst Du so’n dummes Zeug fragen!“

Die Brücke der Verständigung schien abgebrochen. Die Empfindung, daß die ganze Welt ein einziges dunkles Geheimniß und er der unglückliche Mensch sei, der dies Geheimniß zu hüten habe, bemächtigte sich Jochen’s immer mehr.

„Willst Du nicht hereinkommen, Clas?“ sagte er.

Er mußte es doch sagen; er konnte doch nicht seinen einzigen Bruder, der noch dazu der ältere war, draußen auf der Straße stehen lassen.

Clas Prebrow kam der brüderlichen Einladung, in wie unbrüderlichem Ton dieselbe auch gemacht war, sofort nach, schüttelte Jochen die Hand und sagte, seine Blicke über das Haus gleiten lassend: „Du wohnst hier schön, Jochen.“

Jochen nickte.

„Und hast wohl recht viele Gäste?“

„Was geht Dich das an!“ rief Jochen mit einer Heftigkeit, als gälte es eine schwere Beleidigung zurückzuweisen.

„Nun, ich frage nur so,“ sagte Clas.

„Hier wohnt gar Keiner,“ rief Jochen, „gar kein Mensch!“ und er vertrat dem auf das Haus Zuschreitenden den Weg.

„Das ist ja schön,“ sagte Clas, „dann kann ich nur gleich wieder umkehren und dem alten Herrn Wenhof und Herrn Gotthold sagen, daß sie bei Dir unterkommen werden.“

Jochen stand ganz erstarrt. Was sollte er thun? er hatte zu schweigen versprochen; aber was konnte das Schweigen helfen, wenn der Herr Gotthold geradeswegs in das Haus kam, und der alte Herr dazu, vor dem er einen so heillosen Respect hatte? Wenn ihn der mit den alten hellen Augen ansah, da mußte er ja Alles sagen, und: „Stine, Stine!“ rief Jochen mit einer Stimme, als ob das einzige Gast- und Wirthshaus von Wiessow vom Grunde bis zum Giebel in Flammen stände.

„Jochen, bist Du ganz unklug geworden? denkst Du denn gar nicht –“

Stine, die auf ihres Gatten Zetergeschrei alsbald aus dem Hause gestürzt kam, brach plötzlich ab und starrte ihren Schwager mit offenem Munde und weit aufgerissenen Augen an.

[784] „Siehst Du wohl!“ sagte Jochen mit großer Genugthuung.

„Wo ist er?“ sagte Stine.

Clas Prebrow fühlte, daß seine diplomatische Zurückhaltung der klugen Stine gegenüber nicht mehr angebracht sei, und daß er in diesem Stadium seiner Mission die Maske fallen lassen müsse. So rieb er sich denn vergnügt die großen, harten schwärzlichen Hände, zeigte seine weißen Zähne, wurde dann plötzlich wieder ganz ernsthaft und sagte, indem er seine Blicke über die Fensterreihe der oberen Etage laufen ließ: „Wäre es nicht besser, wenn wir hineingingen?“

Sie gingen hinein und gleich in die kleine Wohnstube, die hinter der großen Gaststube lag und die Stine nur noch für einen Augenblick verließ, um aus dem Schrank der Gaststube eine Flasche Rum und zwei Gläser zu holen, damit die Brüder anstoßen könnten und Clas die Zunge nicht trocken würde, im Fall er viel zu erzählen hätte.

Clas hätte wohl viel zu erzählen gehabt; aber in Erwägung, daß die Herren auf seine Wiederkehr warteten, machte er es kurz.

Sie waren noch am ersten Abend auf die rechte Spur gekommen, hatten sie aber am folgenden Tage wieder verloren, weil die Frau in Gulwitz den Wagen, welchen sie in Ralow genommen, verlassen und zu Fuß weiter gegangen war, um ihre Spur zu verwischen. Das war ihr denn auch so gut gelungen, daß sie ganze vierundzwanzig Stunden brauchten, um gestern Abend spät in Trentow die verlorene wieder zu finden. Nun wäre es ihnen freilich kaum noch zweifelhaft gewesen, wohin sich die Frau gewandt; aber sie hatten schon am Mittag den Wagen und die Pferde bei dem Herrn von Schoritz auf Schoritz, der ein guter Bekannter von Herrn Gotthold sei, stehen lassen, um zu Fuß weiter zu gehen, um Herrn Brandow in die Irre zu führen, im Fall der hinter ihnen her sei; und da hatten sie denn doch in Trentow ein paar Stunden ruhen müssen, und heute kamen sie nun von Trentow und er sei vorausgelaufen, weniger um zu erkunden, ob die Frau hier sei, als um die Schwägerin zu bitten, daß sie die Frau vorbereiten solle, damit sie nicht gar zu sehr erschrecke.

„Ach, du lieber Gott,“ sagte Stine, „das arme, arme Kind! wir haben ihr ja in die Hand versprechen müssen, daß wir sie nicht verrathen wollen!“

„Stine, wir Beide finden da nicht durch!“ sagte Jochen.

Stine hatte im Grunde nie daran gezweifelt; ja sie hatte immerfort gebetet, daß der Himmel ein Einsehen haben und ihnen den Herrn Gotthold schicken möge, bevor es zu spät sei. Sie konnte das nun freilich nicht laut bekennen, mochte aber auch dem Versprechen, das sie Cäcilien gegeben, nicht geradezu untreu werden und fing in dieser ihrer Verlegenheit bitterlich zu weinen an.

Jochen nickte beifällig, als wolle er seiner Stine bezeugen, daß sie jetzt den rechten Gesichtspunkt gefaßt habe; Clas trank sein Glas aus und sagte aufstehend: „In einer Viertelstunde sind wir also hier. Du, Stine, Du bist ja eine so kluge Person, Du wirst Deine Sache schon machen; und Du, Jochen, kannst mit mir kommen.“

Jochen kam mit einer solchen Eilfertigkeit in die Höhe und zur Stube hinaus, daß er sein Glas halbvoll stehen ließ. Stine wollte den Rest wieder in die Flasche gießen, trank ihn aber in ihrer Zerstreuung selbst. Die Augen gingen ihr über: „Wir armen Frauen!“ sagte sie.




29.


Cäcilie war, als Stine sie vorhin verlassen, an dem Bettchen ihres Kindes sitzen geblieben. Gretchen war eingeschlafen; und nun erschien der Mutter das holde kleine Gesicht noch bleicher und die feinen weißen Händchen zuckten manchmal leise. Wenn sie ernstlich krank würde? wenn sie stürbe und all der Graus und all das Herzweh dieser Stunden wäre umsonst erduldet?

Sie drückte die Hände gegen die Schläfe. Niemand, Niemand, der ihr rathen und helfen konnte! Und noch war sie bei Freunden, bei ihrer guten, alten Stine, die sie gestern mit Freudeweinen empfangen, die vor Glück und Jammer über den unerwarteten Besuch sich gar nicht zu fassen vermochte, bei dem wackern Jochen, dessen biedres Gesicht in die Erinnerungen ihrer frischen Jugendspiele freundlich hineinschaute – wie verlassen würde sie sich erst fühlen da drüben in dem fremden Lande! Würde man sie nicht als Abenteurerin ansehen, behandeln? und durfte sie es den Leuten verdenken? Sprach denn nicht Alles gegen sie? konnte sie aller Welt, konnte sie nur einem Menschen ihre jammervolle Geschichte erzählen?

Die wühlende Unruhe trieb sie von ihrem Sitze auf in die Nebenstube an das Fenster. Zwischen den Giebeln der Nachbarhäuser und den weißen Dünen blickte ein großes Stück blauer See herein; auf der Höhe ein blinkendes Segel. Es war ein frisches, farbenkräftiges Bild in dem Rahmen des niedrigen Fensters und sie sah es mit den Augen, mit denen er sie die Natur zu sehen gelehrt hatte; und dann dachte sie daran, daß diese öde Wasserwüste mit dem einsamen Schiff, welches seine einsame Bahn in die unbekannte Ferne zog, für sie, für ihr Kind grauenhafte, erbarmungslose Wirklichkeit war.

Ihr Haupt sank in die Hand; sie vernahm nicht das leise Geräusch vor der Thür und blickte erst auf, als die Thür geöffnet wurde und Stine mit ängstlich spähendem, freudig-verlegenem Ausdruck auf dem vom Weinen gerötheten Gesicht hereintrat und dann nach Jemand sich umschaute, der hinter ihr stand. Eine Ahnung, die ihr das Blut zum Herzen trieb, durchzuckte Cäcilien. Wer konnte die dunkle Gestalt in dem Gange sein, als der Eine, nach dem sie sich so grenzenlos gesehnt, auf dessen Kommen sie geharrt und gehofft hatte, wie der Gläubige auf ein Wunder harrt und hofft. – Nun war er da, weil er sie liebte – und doch und doch! es konnte, es durfte nicht sein; und sie ließ die halberhobenen Arme wieder sinken und ihre zitternden Hände erwiderten nicht den Druck der seinen.

„Wo ist Gretchen?“

Sie traten an das Bett der Kleinen, wohin ihnen die gute Stine vorausgeeilt war. Die blassen Wänglein waren jetzt geröthet, heftiger zuckten die Händchen; Cäciliens banger Blick sagte, was erst über ihre zuckenden Lippen kam, als sie bereits wieder in der Nebenstube waren: „Wenn sie stirbt, ich habe sie doch getödtet.“

„Sie wird nicht sterben,“ erwiderte Gotthold, „aber Du darfst nichts Gewaltsames beschließen; Du darfst nicht allein weiterkämpfen wollen, nicht meine Hülfe verschmähen, wie Du es bis jetzt gethan hast.“

„Damit ich Dich, der Du unschuldig an diesem Elend bist, mit in das Verderben ziehe! ich habe es nur schon zu sehr gethan, aber weiter – nimmermehr!“

„Was nennst Du weiter, Cäcilie? Ich liebe Dich, damit ist Alles gesagt, damit ist ein einziger Kreis um unser Beider Dasein geschlungen. Was könntest Du leiden, was ich nicht mit Dir litte? ja, ist nicht selbst Dein vergangenes Leiden meines geworden? und immer meines gewesen? hat dies Alles nicht als dumpfe, bange Ahnung immerdar um meine Seele gedämmert und mir einen Schleier über das hellste Leben gedeckt? Ja, Cäcilie, – wenn ich das bedenke, ich muß sagen: Gott sei Dank! Gott sei Dank, daß der Schleier zerrissen ist, daß das Leben vor mir liegt, wie es ist, wenn auch Schwierigkeiten und Hindernisse aller Art unsern Weg gänzlich zu versperren drohen. Wir werden sie besiegen. Hätte ich je daran gezweifelt, jetzt zweifle ich nicht mehr, jetzt, wo Du mir zurückgegeben bist.“

Er hatte, neben ihr sitzend, den Mund ihrem Ohr genähert; seine tiefe Stimme wurde fast unhörbar leise, aber sie verstand jede Silbe, und jede Silbe schnitt ihr in’s Herz.

„Mir, Cäcilie, mir! Du hättest nicht Dich und Dein Kind allein, Du hättest auch mich getödtet. Nun, da Dir eine Stimme, die Du ewig heilig halten mußt, an deren Wahrhaftigkeit Du nie und nimmer den leisesten Zweifel haben darfst, zugerufen hat: lebe! so lebst Du eben mir, denn, Cäcilie, Du kannst nicht ohne mich leben.“

„Und nicht mit Dir!“ rief Cäcilie, die Hände ringend. „Nein, sieh mich nicht so fragend vorwurfsvoll an mit Deinen treuen Augen, Du Guter, Lieber! Ich möchte Dir ja Alles sagen, aber ich kann es nicht; vielleicht einer Frau, und der, wenn sie die rechte Frau wäre, brauchte ich es nicht zu sagen, sie würde mich auch so verstehen.“

„Du liebst mich nicht, wie Du den Mann lieben mußt, von dem Du jedes Opfer annehmen könntest, annehmen würdest, weil die Liebe eben kein Opfer kennt, die wahre Liebe, die Alles duldet und Alles leidet; und Deine Liebe ist die wahre nicht!“

Er sagte es ohne Bitterkeit; aber sein Athem ging schwer und seine Lippen zuckten.

[797] „Und habe ich nun nicht Recht, daß ein Mann und auch der feinfühlendste, beste uns nicht verstehen kann?“ erwiderte Cäcilie, sich zu Gotthold beugend und ihm das Haar aus der heißen Stirn streichend. Für einen Moment spielte um ihre feinen Lippen, in ihren dunklen Augen das holdselige Lächeln, von dem Gotthold manchmal träumte, um dann den ganzen Tag, wie von einem Zauber umfangen, weiter zu träumen. Aber nur für einen Moment; dann schwand es und der schwermüthige Ernst von vorhin blickte wieder aus jedem Zuge des schönen Gesichtes und klang wieder aus dem Ton ihrer Stimme.

„Wahre Liebe! Darf eine Frau, die das erlebt, was ich erlebt habe, auch nur die Worte auf ihre Lippen nehmen? Wahre Liebe! Hättest Du es so genannt, wenn ich –“

Sie brach plötzlich ab, stand auf, trat an das Fenster, kam wieder zurück und sagte, vor Gotthold stehen bleibend und die Arme über dem Busen verschränkend: „Wenn ich seiner Habgier noch weiteren Vorschub geleistet, wenn ich mich und mein Kind weiter hätte verkaufen lassen, wenn Du Dein ganzes Vermögen bei Heller und Pfennig hättest hingeben müssen, um uns frei zu kaufen –“

„Das konntest Du und hast es nicht gethan!“ rief Gotthold in schmerzlichster Erregung.

„Ich konnte es und habe es nicht gethan,“ erwiderte Cäcilie; „aber wahrlich nicht, als hätte ich nur für einen Moment gezweifelt, daß Du ohne Zaudern Alles, Alles hergeben würdest; – ein solcher Zweifel ist einer Frau, die sich geliebt weiß, undenkbar, sie würde ja in gleichem Falle für den Geliebten betteln gehen; aber – es ist vergeblich, Gotthold! ich finde die Worte nimmermehr. Ach, des Elendes, das selbst der Wohlthat, sich aussprechen zu dürfen, entbehren, das sich in stummer Qual verzehren muß!“

Sie irrte durch das Gemach, die Hände ringend; Gotthold’s düsterer Blick folgte ihr, wie sie so vor ihm auf- und niederschritt, und ein Gefühl der Bitterkeit stieg in seinem Herzen auf. Es war eine Möglichkeit gewesen, und sie hatte sie nicht ergriffen, und nun war es zu spät!

Er sagte es ihr, und warum es nun zu spät sei, und wie der kleine Rest, der ihm noch von seinem Vermögen blieb, auch wenn er die Ansprüche, die bereits Andere daran hätten, durch den Ertrag seiner Arbeit befriedigen könne, für die Habgier jenes Mannes ein Nichts sei, das er, böte man es ihm, dem Bieter hohnlachend vor die Füße schleudern würde.

Cäcilie hatte, mitten in dem Zimmer stehend, tiefathmend zugehört. „Armer Gotthold!“ sagte sie. „aber für mich – es ist besser so – auch nicht einmal die Versuchung kann jetzt an mich herantreten! und es ist entschieden! Ja, Gotthold, es ist entschieden; es war auch bei ihm vielleicht nur ein Moment der Geldgier, den der tödtliche Haß, mit dem er Dich haßte, längst verschlungen hat. Er läßt mich nicht los; den Tod habe ich nicht gewählt, nicht wählen wollen, so lange nicht die letzte Möglichkeit der Rettung erschöpft war, die Flucht. Laß mich fliehen, Gotthold, bevor auch das zu spät ist; halte mich nicht! Du willst mich retten und treibst mich nur dem Tode in die Arme.“

„Ich halte Dich und will Dich retten, und Dich aus des Todes Armen reißen,“ rief Gotthold, indem er Cäciliens beide Hände ergriff, „Dich und Dein Kind, das Du tödten würdest, wolltest Du es, krank, fiebernd, den Gefahren einer Reise aussetzen, die auch ohne das eine Unmöglichkeit wäre, und eine nutzlose Grausamkeit, denn er würde Dich auch dort und überall zu finden wissen – wenn er will. Dort so gut wie hier, und so darfst Du auch hier nicht bleiben. Du kannst nirgend bleiben, als in meinem Schutz; ich wiederhole es: ich werde Dich schützen. Cäcilie, hast Du denn so gar keinen Glauben an mich, meinen Muth, meine Kraft, meine Einsicht? Und kann ich Dir auch nicht Alles sagen, wie ich Dich zu retten gedenke, retten werde; muß ich Dich bitten, mich schweigend gewähren zu lassen: ist uns Männern denn nicht recht, was euch Frauen billig ist? Giebt es nicht auch für uns Fälle, wo wir handeln, wie es uns die Pflicht und die Ehre gebieten, und wo wir uns doch nur einem Manne anvertrauen können? Und, Cäcilie, wenn ich Dir sage, daß ich mich einem Manne anvertraut habe, zu dem Du von Kindesbeinen an mit tiefer Ehrfurcht hinaufgeschaut hast, ohne zu ahnen, wie Du ihm auch sonst noch die frei gezollte Ehrfurcht schuldig warst, – und dieser Mann meinen Plan, meinen Entschluß billigt und selbst thun wird, was er kann, daß der Plan nicht Plan bleibt, daß der Entschluß zur Ausführung gelangt; – und dieser Mann Dich das mit eigenem Munde versichern wird – Cäcilie, ich hole ihn Dir, den Alten, den Ahnen, und wenn Du vor ihm auf den Knieen liegst und seine Hand auf Deinem Scheitel ruht, und Dir die Vergangenheit, die ehern, unabänderlich scheint wie das Schicksal, wankt und schwankt, so wirst Du vielleicht glauben, daß die Gegenwart nicht unabänderlich ist für den, der lebt und liebt.“

[798] Gotthold war davongeeilt; Cäcilie schaute starren Blickes, von seltsamer Ahnung durchschauert, auf die Thür, durch die er verschwunden. Die Thür öffnete sich wieder, die hohe Gestalt, die hereintrat, mußte das Haupt senken. Und so, das Haupt und den Blick zu ihr gesenkt, kam er auf sie zu. Es durchrieselte sie: so hatte ihr Vater ausgesehen, als er eine Stunde vor seinem Tode sie an sein Lager rief; und da hatte der Vater so dem Bilde des Großvaters geglichen, das in der Wohnstube neben der alten Wanduhr hing – ihre Kniee zitterten, bogen sich, als er jetzt die Hand nach ihr ausstreckte.

Gotthold schloß die Thür. Was zwischen den Beiden gesprochen wurde, mußte für das Ohr eines Dritten Geheimniß sein und bleiben.




30.


Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne zitterten über die erregten Wasser in purpurnen Lichtern, und Purpurlicht zitterte auf den nickenden Gräsern der weiten Marschen, die sich vom westlichen Strand bis zu den Dünen zogen, und flammte an den weißen Dünen empor und umfloß die Gestalten Gotthold’s und Jochen Prebrow’s, welche eben, vom östlichen schmaleren Ufer heraufsteigend, die höchste Höhe erreicht hatten. Gotthold spähte bereits, die Augen mit der Hand schützend, in das Feuermeer, während Jochen noch immer an dem Teleskop hin- und herschob. Endlich hatte er auf dem glitzernden Messing den feinen Strich gefunden. „Hier!“ sagte er, das Instrument dem Gefährten reichend, und fügte dann, wie entschuldigend, hinzu: „Man kann höllisch weit damit sehen.“

„Du guter Kerl!“ erwiderte Gotthold lächelnd.

Jochen zeigte seine weißen Zähne, und dann wurden Beide plötzlich wieder sehr ernst. Gotthold blickte so eifrig durch das Fernrohr, als suchte er wirklich noch nach dem Boot, das bereits vor vier Stunden mit dem günstigsten Winde abgesegelt und jetzt sicher auf der Höhe von Sundin, wenn nicht schon im Hafen war; und Jochen schaute so düster drein, als ob er heute Nachmittag die runden Wangen seiner Stine, welche die Frau durchaus begleiten wollte, zum letzten Mal gesehen habe.

Aber der brave Mensch dachte gar nicht an sich. Er konnte seine Stine schon ein paar Tage und ein paar Wochen, wenn es sein mußte, entbehren; und es ging ihm ja sonst so gut, daß ihm schon mehr als ein Zweifel gekommen war, ob es ihm nicht zu gut gehe; aber sein armer, armer Herr Gotthold! Ach, du lieber Himmel, wie hatten sie sich angesehen, als sie in das Boot steigen wollte, und sie sich auf der Brücke noch einmal die Hände gaben: mit so großen, starren Augen, in denen die hellen Thränen standen! und dann im Boot war sie gleich in die Kajüte gestürzt, in die Stine die Kleine unterdessen gebracht, und war dann – wie nun der Wind in die Segel faßte und das Boot sich neigte – wieder herausgekommen und hatte dagestanden, auf des alten Herrn Arm gelehnt, und hatte mit dem Tuche gewinkt und immerfort mit den großen starren Augen herübergeblickt, obgleich sie gewiß vor allen Thränen nichts sehen konnte!

„Aber das Boot ist so gut, daß es nicht besser sein kann,“ sagte Jochen; „und was mein Schwiegervater ist, der war glücklich, daß es ’mal wieder was für ihn zu thun gab, und„mein Clas-Bruder ist ein höllisch fixer Kerl und so oft in Sundin gewesen! der kann Ihnen Alles gut besorgen: den Wagen an die Brücke, und wo Wollnow wohnt, hat er gesagt, das weiß er auch, und mit dem alten Herrn soll ’mal Einer anbinden, und der Mensch kann doch nicht mehr thun, als er thun kann, und wenn Einer Alles gethan hat, was menschenmöglich ist, dann hat er Alles gethan.“

Jochen holte tief Athem: es war ihm selbst ganz verwunderlich, wie er heute sprechen konnte – seine Stine hätte es nicht besser gekonnt – und Herr Gotthold nickte und sagte gar nichts – was hätte er auch dagegen sagen sollen? – Jochen fuhr in eindringlicherem Tone fort: „Und deshalb müssen Sie auch nicht so traurig sein, Herr Gotthold; denn es ist noch nicht aller Tage Abend und Unverhofft kommt oft, und wenn ein Gaul erst das Gebiß zwischen den Zähnen hat, kann man sich die Arme ausreißen, er geht doch durch, und was so ein Pferd kann, kann ein Mensch auch.“

„Es soll an mir nicht fehlen, Jochen,“ erwiderte Gotthold, „und ich bin auch nicht weiter traurig, denn ich weiß, daß ich es durchfechten werde, wenn es auch, so lange wir den Scheel nicht haben, eine schwierige Sache ist. Aber ich denke, wir bekommen den Burschen noch; wenigstens ist er nicht todt und das ist doch die Hauptsache.“

Jochen Prebrow schüttelte den dicken Kopf. „Eine verdammte Geschichte ist und bleibt es, Herr Gotthold,“ sagte er. „Der alte Schäfer Arent in Goritz will ihn noch vor acht Tagen gesehen haben; – na, kennen kann er ihn ja, denn der Alte ist so lange in Dahlitz gewesen, bis ihn der Hinrich Scheel weggebissen hat, der ja keinem Menschen nichts Gutes gönnt; aber bei Nacht sind alle Katzen grau, und wenn auch – hier herum giebt es gar viele Gelegenheit, in See und über die See zu kommen, nach Schweden oder Mecklenburg und sonst. Deshalb ist es ja gar wohl möglich, daß er sich hierher gewandt hat; aber, daß er noch hier sein sollte, – nein, das glaub’ ich nicht.“

Die Purpurgluthen, die den westlichen Horizont umflammten, waren erloschen, und als sie sich, von dem Kamm der Düne herabsteigend, nach Osten wandten, lag das hier ganz nahe herantretende Meer bis in die weiteste Ferne in schwärzlicher Bläue da, gegen welche der weiße Sand des Ufersaumes seltsam scharf abstach. Nach Norden liefen die Dünenketten, auf deren höchster Höhe sie sich noch befanden, in phantastisch wirrem Durcheinander unabsehbar in die Dämmerung hinaus, hier von Strandhafer und Ginster überwuchert, dort in öder Kahlheit, gerundet, langgestreckt, abgeplattet, in scharfen überhangenden Rändern, einem vom Sturm zerwühlten Meere zu vergleichen, das plötzlich zu Sand erstarrt wäre. Da, wo das Westufer am weitesten vorsprang – Wiessower Ort nannten sie die kurze Landzunge – ragte, dem Auge eben noch sichtbar, ein Dach aus den Dünen hervor, und Jochen Prebrow deutete mit dem Teleskop in diese Richtung.

„Sehen Sie das Haus?“

„Ein Stück davon.“

„Das ist Rahnkes; ich möchte heute nicht in ihrer Haut stecken.“

„Was ist’s damit?“ fragte Gotthold.

„Auch so eine von den guten Gelegenheiten,“ fuhr Jochen fort, unwillkürlich seine Stimme senkend, trotzdem außer den Möven, die unten auf der Brandung flatterten, so weit das Auge reichte, kein lebendes Wesen zu sehen war. „Eigentlich sind sie Fischer, und in der Schwedenzeit hatten sie auch noch Schankgerechtigkeit und sagen, sie hätten sie noch, denn, was unsere Regierung ist, hätte sie ablösen müssen, und das sei nie geschehen. Aber das ist wohl nur so ein Gerede, um einen Grund zu haben, weshalb alle Augenblicke Boote anlaufen von Leuten, die sich auch Fischer nennen, wie die Rahnkes, und ebenso wenig Fischer sind. Es sollen manchmal ein halbes Dutzend auf einmal da sein, sagen die Steuerbeamten, und wenn sie kommen – zu Lande oder zu Wasser –, ist Alles weg, eben ausgelaufen und in die See hinein, hast du nicht gesehen. Sie haben schon Wache gehalten hier in den Dünen, und auf der Höhe gekreuzt Tage lang; aber dann ist nie ein Boot gekommen, außer ein ganz unschuldiges Fischerboot, und die Rahnkes haben dagestanden und gelacht, wenn die Steuerbeamten mit langen Nasen wieder abgezogen sind. Heute Abend sollen sie’s aber ausbaden.“

„Wie so, heute Abend?“

„Ich soll es eigentlich nicht sagen, aber mit Ihnen ist das ja etwas Anderes, und da sind sie ja auch schon. Sehen Sie die drei Segel, die sich da nach Norden herauf kreuzen? Es sind Useliner Fischerboote, und es ist die richtige Zeit und der richtige Cours; aber es sind man keine Fischer drin, sondern Steuerbeamte, die Fischerjacken anhaben und Südwester auf, und wenn sie nahe genug sind, werden sie umlegen und gerade auf den Wiessower Ort zu halten; und im Augenblick, wo sie umlegen, kommen sie Marsch! Marsch! von der Landseite her – ein ganzes Dutzend von der Steuer und Gensd’armen. Ich habe es Alles von dem Herrn Inspector aus Sundin, der schon seit zwei Tagen bei uns in Wiessow ist, und ich bin ein alter Bekannter von ihm, weil ich ihn früher oft gefahren habe, und da hat er es mir gesagt. Sehen Sie, Herr Gotthold, sehen Sie! da geht es los!“

Jochen deutete mit einem bei ihm höchst ungewöhnlichen [799] Eifer auf die drei Fahrzeuge, welche in der That, während sie bisher in großen Abständen hinter einander den Curs nach Norden gehalten hatten, plötzlich Alle auf einmal Re machten und direct auf das Land zu kamen. In demselben Augenblicke aber tauchten hinter dem Wiessower Ort zwei Fahrzeuge, die dort versteckt gelegen haben mußten, auf und es war bald ersichtlich, daß sie zwischen der Küste und den drei Booten nach Norden hin entkommen wollten, während ihnen das vorderste der Boote den Weg abzuschneiden suchte. Aber schon jetzt war es zweifelhaft, ob es seine Absicht erreichen würde, da es bis zu dem Punkte, wo sich die Bahnen schnitten, die längere Strecke zu durchlaufen hatte und die Schmugglerboote mindestens ebenso gut segelten, überdies hart vor dem Winde lagen. Wirklich zeigte denn auch schon nach den nächsten zehn Minuten ein kleines graues Wölkchen, das von dem verfolgenden Boote aufstieg und dem in immer kürzeren Pausen andere und andere graue Wölkchen folgten, daß die Steuerofficianten an dem Gelingen der Jagd zu verzweifeln begannen, und bald bewies das Einstellen des Feuers, daß die Jagd mißlungen war. Die Schmugglerboote erschienen nur noch als Punkte am dunkeln Horizonte; das verfolgende Boot hatte umgelegt und kreuzte nach dem Wiessower Ort zurück, an welchem die beiden anderen mittlerweile längst angekommen waren, „vermuthlich, um mit den von der Landseite Herzueilenden gemeinschaftlich constatiren zu können, daß sie das Nest wieder einmal leer gefunden,“ meinte Gotthold.

„Die verdammten Kerls!“ sagte Jochen Prebrow.

Sie hatten, auf der Spitze einer der höheren Dünen stehend, eifrig das aufregende Schauspiel verfolgt, von welchem jede einzelne Phase den beiden Söhnen der Küste so klar war, als wären sie inmitten der Action gewesen. Dabei hatte ihnen freilich das vortreffliche Fernrohr die wesentlichsten Dienste geleistet; es war von Hand zu Hand gegangen und eben hatte es Gotthold. Er meinte, daß, wenn Jochen’s Angaben richtig wären, sie, wenigstens auf den ferneren Dünen, einzelne Gestalten der Steuerofficianten sehen müßten, und er suchte, langsam von Hügel zu Hügel weiterrückend, das vor ihnen liegende, bereits im Abendgrau versinkende Terrain ab, als er plötzlich einen leisen Ausruf hören ließ. In demselben Moment hatte er aber auch schon das Teleskop sinken lassen und Jochen mit sich fort von der Spitze der Dünen herabgerissen, daß ihre Köpfe hinter dem wehenden langhalmigen Grase versteckt waren.

„Was giebt’s?“

„Hinrich Scheel! ich habe ihn mit vollkommenster Deutlichkeit gesehen. Er stand ungefähr tausend Schritte von uns, oben auf der Düne dort, mit dem Rücken hierher.“

„Wie ist das möglich?“

„Ich weiß es nicht; aber er war es; ich würde ihn unter Tausenden herauskennen; da ist er wieder.“

Aber es war nicht mehr auf derselben Düne, sondern etwas weiter rechts und, wie es Gotthold schien, näher als vorhin; auch stand der Mann, in welchem Jochen ebenfalls durch das Fernrohr Hinrich zu erkennen glaubte, nicht mehr aufrecht, sondern lag hinter dem Dünenrande, ganz in derselben Weise wie die beiden Gefährten, nach der Richtung des Rahnke’schen Hauses spähend, aus welchem er gekommen war. Wenigstens zweifelte Gotthold nicht daran. Die ganze Situation war ihm mit einem Schlage klar. Hinrich Scheel war, so oder so, an der Fortsetzung seiner Flucht verhindert worden und hatte in dem Hause Rahnke’s, das ja nach Jochen’s Schilderung nichts Besseres als eine Diebeshöhle war, eine Unterkunft gefunden, aus welcher ihn eben der Ueberfall der Steuerbeamten vertrieben. Nun hatte er sich vor denselben in die Dünen geworfen und hatte alle Aussicht, zu entkommen, selbst wenn man ihn verfolgte, da die hereinbrechende Nacht und das unendlich zerklüftete Terrain seine Absichten so sehr begünstigten.

Jochen theilte vollständig Gotthold’s Meinung; aber was sollten sie jetzt thun? Abwarten, ob Hinrich, der noch immer unbeweglich auf derselben Stelle lag, seine Flucht in derselben Richtung fortsetzen und ihnen also nahe und näher kommen werde, oder den Versuch machen, sich an ihn, der augenscheinlich von dieser Seite keine Gefahr ahnte, heranzuschleichen? Unsicher war Beides in fast gleichem Maße. Die Dunkelheit nahm jetzt sehr schnell zu; bald konnte, bei der noch immer großen Entfernung, der Mann dort nur noch als ein dunkler Punkt auf dem hellern Sande erscheinen und mußte in kurzer Zeit ganz verschwinden; andererseits brauchte er sich nur einmal umzusehen, wenn sie nicht eben vollständig gedeckt waren, und dann war er sicher in der nächsten Secunde die Düne, auf welcher er lag, hinabgerutscht, und an ein Einholen durfte man selbstverständlich nicht denken.

Gotthold schlug das Herz zum Zerspringen, während er das überdachte und mit Jochen im Flüsterton durchsprach. Hing doch, aller Wahrscheinlichkeit nach, sein und ihr Schicksal davon ab, daß er den Menschen dort in seine Gewalt bekam! Er hatte bis vor wenigen Minuten kaum den Schatten einer Hoffnung gehabt, es werde ihm das jemals gelingen; nun schien ihm ein fast wunderbarer Zufall dazu verhelfen zu wollen. Da war der Mann, hier er mit seinem treuen Jochen, die Entfernung, die sie trennte, so gering, in ein paar Minuten zurückzulegen, und ein Augenaufschlag, ein Windhauch, ein Nichts konnte ihm die Beute entreißen, als hätte er dies Alles nur geträumt, als sei dies Alles nur eine Täuschung seiner aufgeregten Sinne, und er brauche sich nur die Augen zu reiben, und der dunkle Fleck da drüben, der ein Mensch zu sein schien, war verschwunden.

Er war verschwunden. Hatte er die Verfolger von jener Seite auf sich zukommen sehen und seine Flucht fortgesetzt; hatte er gemeint, daß die Luft nun rein sei und er seinen Rückzug antreten könne – die Stelle, wo er eben noch gelegen, war leer. Ein Irrthum war unmöglich; trotz der tiefen Dämmerung setzte sich der Rand der Düne noch scharf genug von dem dunklen Himmel ab. Würde er wieder auftauchen? und dann näher oder ferner?

Ein paar Secunden verrannen, in welchen die Beiden nicht zu athmen wagten. Da! da war er wieder und näher – bedeutend näher; er schien gerade auf sie zuzukommen, und jetzt konnte darüber kein Zweifel mehr sein. In wenigen Minuten hatte sich die Entfernung um die Hälfte verringert; sie wagten schon kaum noch durch das wogende Riedgras zu lugen, so nothwendig es auch war, die Bewegung des Mannes, die ja noch im letzten Augenblicke eine andere Richtung nehmen konnte, zu verfolgen. Und jetzt schlüpfte er durch die Senkung zwischen zwei Hügeln der nächstgelegenen Kette und kam gerade durch die tiefe, von allen Seiten eingeschlossene Mulde auf die Düne zu, hinter deren Rande sie lagen. Es war die höchste in der ganzen Umgebung, und er wollte vermuthlich von derselben herab noch einmal eine kurze Umschau halten, um sich zu vergewissern, daß von keiner Seite mehr Gefahr drohe.

Sie waren ein paar Fuß hinabgeglitten und hatten sich so tief wie möglich in das Riedgras gedrückt. In wenigen Momenten mußte Hinrich Scheel’s Kopf vor ihnen auftauchen; sie hörten deutlich, wie er sich drüben die ziemlich steile Böschung hinaufarbeitete und vor sich hinfluchte, wenn der Sand unter seinen Füßen wegrutschte.

Jetzt.

Sie sprangen empor, hinauf, hinüber. Mit blitzschneller Wendung war Hinrich unter Gotthold’s Händen weggeschlüpft, aber, indem er sich nach links wandte, Jochen gerade in die Arme gelaufen; und die Beiden rutschten, rollten, kugelten, zu einem Knäuel geballt, die Düne hinab, schneller, als Gotthold im Stande war, hinabzuspringen. Jochen hatte ihn mit starken Armen festgepackt; aber er war bei der letzten Umdrehung unten zu liegen gekommen; mit einer verzweifelten Anstrengung hatte sich Hinrich frei gemacht und holte mit dem langen Einschlagmesser, das er aus der Tasche gezogen, zu einem wüthenden Schlage aus, als Gotthold ihm in den erhobenen Arm fiel und das Messer entwand. Da war auch Jochen bereits wieder in die Höhe; Hinrich Scheel lag seinerseits auf dem Dünensande, das Gesicht nach unten, und Jochen kniete auf seinen Schultern, im Begriff, mit einem dünnen Strick, den er aus alter Kutschergewohnheit immer bei sich trug, ihm die Ellenbogen zusammenzuschnüren.

„Wenn Ihr mich bindet, könnt Ihr mich nur gleich zertreten,“ keuchte Hinrich Scheel; „ich stehe nicht auf.“

„Laß ihn los!“ sagte Gotthold.

„Aber das wollen wir wenigstens an uns nehmen,“ sagte Jochen, indem er dem nahe am Boden Liegenden eine Pistole aus der Tasche zog und die Waffe an Gotthold gab. „So!“

Hinrich Scheel stand wieder auf den Füßen. Aus dem wuthverzerrten [800] Gesicht stierten die schielenden Augen gräßlich auf seine Angreifer. Plötzlich zuckte er zurück:

„Sie sind es, Sie!“ rief er. „Was wollen Sie von mir?“




31.


Es lag ein wilder Schrecken in Miene und Geberde des Hinrich, in dem gurgelnden Ton seiner rauhen Stimme.

„Was habt Ihr?“ rief Gotthold, indem er ihn, der noch immer wie erstarrt dastand, derb an der Schulter schüttelte.

Die kräftige Berührung brachte in dem Manne eine seltsame, unheimliche Wirkung hervor. Er reckte die langen Arme zum nächtlichen Himmel empor, indem er dieselben wild schüttelte und auf- und niederzuckte, und dann warf er sich in die Kniee, die Linke in den Sand stemmend und mit der Rechten ein paar Mal wüthend vor sich niederschlagend, als wolle er Jemand, den er an der Kehle hielt, den Garaus machen; und dann stand er wieder da und kreischte, als Antwort auf Gotthold’s Frage:

„Was ich habe? ich wollte, ich hätte ihn!“

„Wen?“

„Er hat gelogen; er hat gesagt, Sie wären todt und sie wollten mir an den Kragen, und lebenslängliches Zuchthaus wäre das Wenigste, und ob ich ihn mit in’s Unglück stürzen wolle, der immer ein so guter Herr gegen mich gewesen; und er wolle mir so viel geben, daß ich Zeit meines Lebens drüben genug hätte. Gab mir aber nur fünfhundert Thaler, als er in der Nacht zu den Hünengräbern kam, wo ich mich versteckt hatte; er habe nicht mehr, keinen Schilling; habe das Andere dem Referendar als Caution geben müssen, daß er sich jeden Augenblick stellen wolle, wenn er vorgefordert würde. Und das war Alles gelogen, nicht wahr, Herr, das war Alles gelogen?“

„Alles,“ sagte Gotthold, „Alles, Wort für Wort.“

„Alles, Wort für Wort!“ wiederholte Hinrich, als könne er es noch immer nicht fassen. „Warum brauchte er zu lügen, ich wäre ja so gegangen, wenn es sein mußte – für ihn; ich hatte es ja für ihn gethan; und wäre mir an dem Geld gelegen gewesen – ich hatte es in der Hand, ich konnte damit machen, was ich wollte, und habe es ihm ausgeliefert. Kein Thaler fehlte daran, das ganze Paket, wie ich es dem Herrn Assessor aus der Tasche gezogen.“

„Ihr hattet es für ihn gethan,“ sagte Gotthold; „hattet Ihr es auch auf seinen Befehl gethan?“

„Auf seinen Befehl?“ erwiderte Hinrich; „so was befiehlt sich auch! ich hab’s gethan, weil – weil – ich weiß nicht, weshalb; aber er ist auf meinem Buckel geritten, bis er seinen Pony bekam, und dann habe ich ihn reiten gelehrt; er hat Alles von mir, Alles; und wenn der Brownlock gewinnt und ihm das Heidengeld einbringt – wem hat er es zu verdanken, als dem Hinrich Scheel?“

Sie schritten, während sie so sprachen, durch die Dünen, Gotthold und Hinrich voran, während Jochen Prebrow hinterherging, aber nicht so weit, daß er nicht mit ein paar Sprüngen zur Hand gewesen wäre, falls es Noth that. Es war sehr dunkel geworden, so dunkel, daß die wilden Kaninchen, welche vor ihren Füßen durch den Strandhafer huschten, kaum noch zu sehen waren und die große ihnen entgegenschwebende Eule erschrocken zur Seite flatterte, als Hinrich jetzt nach einer Pause mit einem wilden Fluche fortfuhr:

„Ich hab’s gethan, weil ich seine Noth kannte. Fünftausend hatte er Mittags an den Herrn Redebas zu zahlen, und wenn er sie nicht zahlte, konnte er von dem Rennen zurückgewiesen werden. Das wußte ich – bin ich doch oft genug dagewesen und kenne es so gut, wie Einer von den Herren – und ich wußte, daß es ihm hinterher recht sein würde, wenn er es auch nicht ausgesprochen und, ich glaube, zuerst gar nicht an das Geld gedacht hat, das der Herr Assessor in der Tasche trug. Ich hatte aber den ganzen Tag daran gedacht und schon, als wir herausfuhren, mir die Stelle darauf angesehen. Sie hatte schon längst übergehangen und der Regen hatte lange Risse gemacht und ich sagte so bei mir: wenn sie heute Abend zurückfahren und man macht es, daß der Wagen da hinaufgeräth, so bricht’s ab und die ganze Geschichte rutscht hinunter; und es ist ein Unglück, das dem besten Kutscher passiren kann in einer Sturmnacht, wie wir sie heute haben werden.“

„Nur daß Ihr leicht die Partie mitmachen konntet!“ sagte Gotthold.

„Sie meinen, wenn ich nicht zur rechnen Zeit vom Wagen kam? Pah, Herr! das ist nicht schwerer, als von einem Pferde, das durchgeht, herabzukommen, wenn man merkt, daß es stürzen muß. Ich war zur rechten Zeit unten, und da brach’s auch schon und es ging hinunter, daß es nur so donnerte und krachte, und dann war es ganz still geworden, blos daß sich noch ein Stück oder zwei loslösten und hinabkollerten, und der Sturm kam über das Moor und heulte und wimmerte; aber das war mir nichts Neues, und unten war es ganz still.

Ich stand oben und sah hinab und fragte mich, wie weit sie wohl gerutscht sein könnten. Wenn der Mergel gut zusammengehalten hatte, war’s bis in’s Moor gegangen und dann, bei der Gewalt und der Schwere, wer weiß wie tief; aber es hatte unterwegs so gepoltert und ich hatte es so im Ohr: die ganze Geschichte müsse auseinandergebrochen sein, und dann konnte auch Alles noch am Rande liegen. Wissen mußte ich doch, wie es stand, und so machte ich mich denn daran, hinunterzuklettern.

Aber es ging nur schwer; ich konnte bei der Dunkelheit die rechten Stellen nicht finden und wäre beinahe selbst hinabgestürzt; endlich kam ich doch unten an.“

„Nun?“

„Nun, da tastete ich denn so herum; der Mond war auch ein bischen herausgekommen, und ich fand bald den Wagen, oder was noch vom Wagen übrig war; Alles kurz und klein, und der eine Gaul lag dabei; der hatte sich das Genick gebrochen und war mausetodt. Dicht bei dem Gaul lag der Herr Assessor, der athmete aber noch, und als ich ihn aus den Rücken drehte, stöhnte und wimmerte er, aber dann zuckte er so ein paar Mal zusammen; ich dachte, es würde auch ohne mich zu Ende gehen, und das Geld hatte ich ihm schon aus der Tasche genommen und den Rock wieder zugeknöpft, damit es so aussehe, als sei er liegen geblieben, wie er hinuntergestürzt.“

„Nach mir suchtet Ihr nicht?“

„Ich suchte schon, aber ich fand Sie nicht; er sagte mir nachher, Sie wären halbwegs liegen geblieben, und dann wurde mir die Zeit lang, wie ich da so im Dunkeln unten am Sumpf herumkrabbelte, und in den Binsen raschelte es und dann fing die andere Mähre, die mit der halben Deichsel losgekommen und auf den Sumpf gelaufen war, das dumme Vieh – ja, das fing zu schreien an; es klingt jämmerlich, wenn so ein Thier, dem’s an’s Leben geht, schreit in seiner Todesangst, und da machte ich, daß ich unten am Rande hin wieder auf’s Trockne kam.“

„Und da war auch schon Herr Brandow da?“

„Woher wissen Sie das?“ fragte Hinrich verwundert.

„Ich meinte nur so.“

„Nein, da war er noch nicht da, aber er kam gleich darauf, und ich war fuchswild, daß er den Brownlock genommen hatte, und was wollte er überhaupt? Das sagte ich ihm auch, und daß er gleich wieder umkehren müsse; aber er wollte ja nicht: sie hätten ihn wegreiten sehen, und was er sagen solle, wo er gewesen sei, wenn es herauskäme? Ich hatte ihm nämlich das Paket geben wollen; aber er hatte es mir aus der Hand gestoßen und so lag es zwischen uns, und ich sagte, da könne es ja da liegen bleiben. ‚Meinetwegen,‘ sagte er, ‚mir ist es nicht um das Geld zu thun gewesen,‘ und dann fragte er, was aus Ihnen geworden. Ich gab kurze Antwort, denn ich ärgerte mich; und da sagte er, ich solle auf der Stelle wieder umkehren und – und – ‚thut’s allein, Herr,‘ sagte ich, ‚ich will nichts weiter damit zu thun haben.‘ Er gab gute Worte, aber ich wollte aus schierer Bosheit nicht; nun kriegte er es wieder mit der Angst, was er angeben solle, wo er während dieser Zeit gewesen? bis ich zu ihm sagte: ‚Da Sie denn doch einmal den Brownlock unter sich haben, Herr, können Sie auch ebenso gut über das Moor reiten, und dann kommen Sie gerade so schnell nach Neuenhof, als wenn Sie von Dollan gleich nach den Herren weggeritten wären; versteht sich, auf dem richtigen Wege.‘ Das sah er denn auch ein; aber er hatte die Courage nicht, trotzdem er zu solchen Dingen Courage genug hat und ich selbst vor seinen eigenen Augen acht Tage vorher über das Moor geritten war, und da sagte ich zu ihm: ‚Dann thun Sie, was Sie wollen; ich muß nun hin und die Prebrows herausklopfen, sonst kriege ich noch alle Schuld;‘ und da ist er [802] doch geritten, und ein Staat war’s, wie er ritt, – ich konnt’s gut sehen, denn der Mond war ganz herausgekommen, – und das helle Wasser spritzte unter den Hufen auf – ja, es war ein Staat, wie er ritt.“

Hinrich ging ein paar Schritte schweigend; plötzlich blieb er stehen:

„Und es ist doch eine Sünde und Schande, wie er mich behandelt hat; Gott soll mich strafen, wenn ich es ihm nicht eintränke! Er hat mir zehn Procent von Allem versprochen, was ihm der Brownlock gewinnt, und er hatte schon Zehntausend in seinem Buch; es können aber leicht noch einmal so viel werden. Und er weiß, wie ich eine von diesen meinen Händen darum geben würde, könnte ich den Brownlock auf der Bahn sehen, und wie sie auf mich zeigen und sagen: ‚Das ist der Hinrich Scheel, der hat ihn trainirt, der versteht’s besser, als all’ die Engländer.‘ Herr, Herr! und das soll ich ihm schenken, daß er mich hier sitzen läßt, in dem Loch bei den Rahnke’s acht Tage lang, und wie ich nach Goritz komme in der Nacht, bevor die Yacht nach Mecklenburg ging, die mich mitnehmen wollte, und ich sollte ihn in den Goritzer Tannen treffen und die Zweitausend bekommen, die er mir versprochen; ja, da war er nicht und dachte wohl: morgen muß er doch fort, ob mit, ob ohne Geld; aber ich will’s ihm eintränken, bei Gott! ich will’s ihm eintränken.“

[815] „Das dürfte Euch mindestens ebenso theuer zu stehen kommen, wie ihm,“ erwiderte Gotthold, „oder glaubt Ihr, die Gerichte werden Euch frei lassen, weil Ihr Alles nur für Euren Herrn gethan habt?“

„Die Gerichte, Herr! Sie wollen mich doch nicht vor’s Gericht bringen?“ rief Hinrich.

„Und wenn ich es thäte, könntet Ihr mir’s verdenken?“

Hinrich war stehen geblieben; aber es gab keine Möglichkeit des Entkommens. Jochen Prebrow’s schwere Hand lag auf seiner Schulter; der Andere hatte vorhin schon die Pistole gespannt, und der lange Lauf derselben blinkte jetzt in dem Licht der ersten Feuerbake, welcher sie sich bereits bis auf eine kurze Entfernung genähert hatten. Ein Ruf mußte die Wächter herbeiziehen, wenn er es auf’s Aeußerste ankommen lassen wollte.

„Ich bin in Ihrer Gewalt, Herr,“ sagte er, „und ich bin es auch nicht. Sie und kein Mensch sollen mich zwingen, vor Gericht zu wiederholen, was ich Ihnen eben erzählt. Ich kann Ihnen ja ein Märchen aufgebunden haben.“

„Die Ausrede würde Euch nicht viel helfen, Hinrich; wir haben die Beweise, daß das Geld nicht verloren, sondern geraubt und in Eures Herrn Hände gekommen ist.“

Und er gab mit wenigen Worten den Inhalt von Wollnow’s Brief, fügte auch hinzu, was er auch jetzt vom alten Boslaf erfahren, daß sie bei dem Suchen auf dem Moor – zur größten Verwunderung der Männer – die Spuren eines flüchtigen Pferdes hunderte von Schritten verfolgt hätten; und wie Hinrich’s Leugnen, gegenüber diesen und den andern bereits feststehenden Thatsachen, wenig verfangen würde.

Hinrich hatte aufmerksam zugehört.

„Ich denke immer noch, Ihr laßt das Gericht bei Seite, Herr,“ sagte er, „es ist eine böse Geschichte, und je weniger davon gesprochen wird, desto besser ist es für – für Alle, die es angeht; aber, wenn es sein muß, nun, Herr, wir armen Menschen haben’s ja nie viel besser als die Hunde, und diese letzten Tage hab’ ich’s noch schlechter gehabt – mir ist es an ein paar Jahren Zuchthaus oder so nichts gelegen, wenn er nur neben mir zu sitzen kommt.“

Es war zu dunkel, als daß Gotthold das grausame Lächeln hätte sehen können, welches bei diesen letzten Worten um die breiten Lippen des Mannes spielte.

„Ich denke, ich kann Euch das Zuchthaus ersparen,“ erwiderte er, „wenn Ihr mir versprechen wollt, keinen Fluchtversuch zu machen und Euch allen meinen Befehlen unbedingt zu fügen. Ich werde Euch nichts Unbilliges ansinnen.“

„Ich weiß es, Herr,“ sagte Hinrich, „und da habt Ihr meine Hand.“

Es war eine eisenharte Hand, die sich in Gotthold’s Hand legte; aber er glaubte an dem nervigen Druck zu fühlen, daß der Mann halten werde, was er versprach.

„So kommt denn,“ sagte er, „und Du, Jochen, führe uns einen Weg, auf dem wir, womöglich von Niemand gesehen, in Dein Haus gelangen.“




32.


„Mein armer lieber Freund! daß uns auch dies noch treffen mußte; es ist wirklich hart. Aber nur nicht verzagen! Gretchen wird wieder gesund und Alles gut werden.“

So sprach Ottilie Wollnow in dem Vorgemach ihrer Sundiner Wohnung leise zu Gotthold, mit dem sie so eben aus dem Zimmer getreten war, in welchem Cäcilie und der alte Boslaf den Fieberschlaf Gretchens bewachten.

„Alles!“ wiederholte Ottilie, als sie bemerkte, daß die tiefe Trauer auf Gotthold’s ausdrucksvollem Gesicht sich nicht erhellen wollte.

„Sie glauben ja selbst nicht daran,“ erwiderte er, Ottiliens Hände dankbar drückend; „wenn das Kind stirbt, so wird Cäcilie, fürchte ich, es nie verwinden, wie sehr, wie ganz auch die Schuld den Elenden trifft; jedenfalls wird es eine jener trauer- und qualvollen Erinnerungen mehr sein, die sie, nach ihrer eigenen Aussage Ihnen gegenüber, auf immer von mir trennen.“

Herr Wollnow trat aus einem Seitengemache, zum Fortgehen bereit, Ottilie begleitete die beiden Freunde bis auf den Hausflur. „Ich wollte, ich könnte mit Euch gehen,“ sagte sie.

„Und das wäre so übel nicht,“ sagte Wollnow, als die beiden Freunde durch die abendlichen Gassen, in welchen heute ein ungewöhnlich reges Leben herrschte, dahinschritten; „haben die Frauen doch, was in solchen Lagen über Berge hilft: die souveräne Leidenschaft, die wir Männer uns glücklich wegraisonnirt haben, ohne uns dafür die souveräne Ruhe zu gewinnen, mit welcher heute Morgen der wunderbare alte Mann dem Brandow [816] gegenüber getreten ist. Ich wollte vorhin in Gegenwart der Frauen nicht davon sprechen. Brandow hat mit dem Scharfsinn, den ihm ja sein Feind lassen muß, vom ersten Augenblick geschlossen, daß Cäcilie sich über kurz oder lang auf ihrer Flucht hierher wenden müsse, falls sie es nicht sofort gethan. Er ist deshalb auf der Stelle umgekehrt und, was die Pferde laufen wollten, hierher gefahren; er muß Ihnen noch vor Prora begegnet sein. Seitdem hat er hier vor meiner Wohnung und vor der Ihrigen auf der Lauer gelegen; ich bewundere die Zähigkeit, mit der er an seiner einmal gefaßten Annahme festgehalten, und die Stirn, mit der er aller Welt erzählt hat, seine Frau sei für ein paar Tage auf Besuch gefahren, und die Komödie, die Vetter Boslaf mit den Leuten gespielt, – das Suchen auf dem Moore, im Walde – sei ein Schelmenstück, für das er den boshaften Alten, mit dem er längst verfeindet, zur Rechenschaft ziehen werde. Im Innern mag er freilich eine Hölle von Angst und Sorge gehabt haben, denn seine Feinde – und er hat deren nicht wenige, die Herren Redebas und von Plüggen voran – ließen es sich eifrigst angelegen sein, die schlimmen und schlimmsten Gerüchte in lebhaftesten Cours zu setzen, und man stand im Renn-Comité bereits auf dem Punkte, officiell eine Erklärung von Brandow zu fordern, als er gestern Abend im Club erzählen konnte, seine Frau sei vor einer halben Stunde angekommen und bei uns abgestiegen. Auch Selliens hätten sich um die Ehre beworben; aber der Assessor sei noch immer nicht ganz wieder hergestellt, und so habe er uns den Vorzug gegeben. Um seinen Aussagen das nöthige Gewicht zu geben, oder – ich weiß nicht, von welchem Teufel der Frechheit getrieben – hatte er, sobald er gestern Abend – ich vermuthe durch Alma Sellien, die unglücklicher Weise gerade bei meiner Frau war – Cäciliens Ankunft erfahren, bei uns geklingelt und sich bei meiner Frau melden lassen. Nun, Ottilie hätte ihn ohne Zweifel gern empfangen, und ihrem Herzen endlich einmal Luft gemacht; aber der alte Herr ist in’s Zimmer getreten und hat meine Frau mit jener vornehmen Höflichkeit, die wir seit zwei Generationen verlernt haben, gebeten, ihn auf eine Minute mit Brandow allein zu lassen. Es hat in der That noch keine Minute gewährt, da ist der alte Herr so ruhig wie immer zu den Damen in’s Zimmer getreten; und der Andere ist die Treppe hinabgestürmt und Cäcilie, die keine Ahnung von dem Attentat gehabt, ist erschrocken gewesen über die Heftigkeit, mit der Jemand die Hausthür zugeworfen. Hier sind wir vor der des ‚Goldenen Löwen‘. Ich bitte, lassen Sie mich hineingehen. Er darf, falls wir ihn ja heute Abend nicht finden sollten, auch nicht erfahren, daß Sie zurück sind.“

Wollnow trat in den Hausflur, durch dessen weitgeöffnete Thorfahrt ein lebhaftes Licht auf die sonst ziemlich dunkle Straße fiel. Es war in Folge der Rennen, die heute ihren Anfang genommen und morgen fortgesetzt werden sollten, ein bedeutender Verkehr in dem großen Hause; Wollnow mußte viel fragen, bevor er eine bestimmte Antwort bekam; Gotthold hatte längere Zeit zu warten. Als er, auf- und niederschreitend, sich wieder etwas weiter von dem Hause entfernt hatte, kam, plötzlich aus dem Dunkel einer Seitengasse auftauchend, eine weibliche Gestalt an ihm vorüber, die dann sofort mit einem leise gesprochenen „Karl!“ sich herum und zu ihm wandte, indem sie dabei den schwarzen Schleier zurückschlug. Gotthold erkannte, trotz des schwachen Lichtes, Alma Sellien.

„Sie irren sich gnädige Frau,“ sagte er.

Auch Alma hatte ihn erkannt; sie war ihrer Sache so sicher gewesen, nun raubte ihr der Schrecken fast die Besinnung; aber nur für einen Augenblick: „Es ist gut, daß es kein Anderer war,“ sagte sie mit einem tiefen Athemzuge, und, als Gotthold keine Antwort gab: „ich habe ihn schon wiederholt gebeten, es Ihnen zu sagen; über kurz oder lang müssen Sie es ja doch erfahren, und für Sie kann es ja nur eine angenehme Nachricht sein; aber er hat immer nicht gewollt.“

„Und aus guten Gründen.“

„Aus welchen Gründen? bitte, bitte, sagen Sie mir Alles!“

„Zu einer andern Zeit und an einem andern Orte; Zeit und Ort dürften jetzt und hier nicht ganz schicklich gewählt sein.“

Wollnow trat aus dem Hause; „auf ein anderes Mal also!“ flüsterte Alma, indem sie den Schleier fallen ließ und in die dunkle Gasse, aus der sie vorhin aufgetaucht war, zurückschlüpfte.

„Wer war denn das?“ fragte Wollnow.

„Dieser Mensch wird noch die halbe Welt mit sich in den Schlamm ziehen,“ rief Gotthold.

„Wo wir ihn längst hätten suchen sollen, wenn wir ihn finden wollten,“ erwiderte Wollnow. „Es war Frau Sellien, nicht wahr? Sie verrathen kein Geheimniß; es war nur für uns eines; hier pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Der Mann macht es uns schließlich leichter, als wir dachten; dennoch ist es ein wundervoll glücklicher Zufall, daß Sie den Hinrich Scheel fingen. Wenn bei dem Burschen nur nicht im letzten Moment sein altes Clangefühl wieder zum Durchbruch kommt.“

„Ich glaube nicht; denn gerade daß Brandow dies Gefühl so brutal verletzt, daß er die Treue, die der Häuptling dem Gefolgmann schuldig ist, so schnöde gebrochen – das eben hat den rohen und in seiner Weise doch ehrlichen Menschen bis auf’s Tiefste erregt und empört. Nein, im Gegentheil: was ich fürchte, ist, daß ihm unser Vorgehen gegen Brandow nicht genügen wird, daß er sich in seiner Weise wird rächen wollen.“

„Und hat er denn so Unrecht?“ erwiderte Wollnow lebhaft, „betrügen wir nicht den Galgen um sein Opfer? Und wenn wir uns damit entschuldigen, daß es Frevel giebt, die kein Paragraph eines Landrechts trifft, und die schlimmer sind, als Mord und Straßenraub: kann Hinrich Scheel nicht dasselbe für sich anführen und verlangen, daß der Treubruch, der an ihm begangen und für dessen Verurtheilung er ganz gewiß keinen ordentlichen Richter findet, nicht ungesühnt bleibe? Aber, verzeihen Sie, lieber Freund, meine unlogische Hartnäckigkeit! ich sehe ja ein, daß die Zukunft mehr als eines guten Menschen von der Heimlichkeit abhängt, mit der wir zu Werke gehen. So mag denn so etwas wie ein Vehmgericht oder Gottesurtheil an die Stelle der öffentlichen Verhandlung treten. Hier sind wir am Clubgebäude. Ich lasse Sie ungern allein; aber ich fühle mit Ihnen, daß Sie dies ohne Secundanten ausfechten müssen.“

Gotthold schritt in dem hellerleuchteten Vorplatze auf und nieder; aus dem Restaurationssaale, in welches ein galonnirter Diener seine Karte getragen, schallte Lärm und Lachen und Gläserklirren; in dem Clubbureau saß der Registrator noch, eifrig schreibend, über seinen Büchern; in der Garderobe hatte man genug zu thun, den beständig kommenden und gehenden Herren die Sachen abzunehmen oder auszuliefern.

Der Diener erschien wieder: Herr Brandow bitte um Entschuldigung, aber er sei gerade sehr dringend beschäftigt; ob die Sache nicht bis morgen Zeit habe?

„Was soll Zeit haben?“ fragte Gustav von Plüggen, der unmittelbar hinter dem Diener aus dem Speisesaale getreten war, und Gotthold mit seiner gewöhnlichen, durch eine Weinlaune noch erhöhten lärmenden Lebhaftigkeit begrüßt hatte. „Was? Brandow dringend beschäftigt? dummes Zeug! dringend! sitzt hinter eine Pulle Sect und schreibt eine dicke Zahl nach der andern in sein verdammtes Wettbuch. Sind ja Alle wie närrisch, trotzdem Redebas und Otto und ich genug abgeredet haben; nach dem, was wir in Dollan gesehen, halte Alles für möglich. Wird gerade so kommen, wie mit dem Hurry-Harry auf dem Derby vor fünf Jahren. Mal in England gewesen? Famoses Land; Weiber, Pferde, Schafe – famos! Alter Witz von mir, der immer jung bleibt. Was ich sagen wollte: Brandow sprechen? Aber warum kommst Du nicht herein? mache mir ein Vergnügen daraus, alten Schulcamerad einzuführen. Berühmter Künstler! he? habe gestern bei dem Präsidenten vom Fürsten Prora, der in Rom Bekanntschaft gemacht und ganz entzückt ist, daß Du in Sundin bist, verteufelte Sachen gehört; soll ja was ganz Famoses sein! Sprach sogar davon, Dich aufzusuchen; merkwürdig! morgen auch auf dem Rennplatz. Apropos! schon Billet? Tribüne A? bitte, keine Umstände, siehst, habe noch ein halbes Dutzend; mache mir Vergnügen daraus! Hier herein!“

Der Diener hatte schon lange den Griff der Thür in der Hand gehabt. – Der Speisesaal war von einer sehr großen Gesellschaft angefüllt – den Clubmitgliedern und ihren Gästen, unter denen die Officiere der Garnison besonders zahlreich vertreten waren. Man saß an verschiedenen Tischen beim Champagner; es ging lebhaft, ja lärmend her; Niemand beachtete die [817] Eingetretenen, auch Brandow nicht, der ganz im Hintergrunde sich eben von der Tafel erhoben zu haben schien und jetzt inmitten einer Gruppe stand, aus der man von allen Seiten auf ihn einsprach, während er, sein Taschenbuch in die Höhe haltend, rief: „Einer nach dem Andern, meine Herren! Einer nach dem Andern! da Sie durchaus die Güte haben wollen, mich zu einem Krösus zu machen. Trutwetter, hundertfünfzig! bitte, setzen Sie Ihren Namen darunter. Hierher, wenn’s beliebt; den Platz habe ich für Kummerrow’s zweihundert reservirt. Doch Pistolen, Baron? nein? o weh! omen in nomine! wer hätte das geglaubt! Weiter! Plüggen? auch Du, Brutus? Was giebt’s? Ein Herr – schon wieder? ich bin sehr beschäftigt! sage dem Herrn –“

Brandow brach jäh ab; er hatte jetzt erst Gotthold bemerkt, der bis jetzt hinter ihm gestanden.

„Ich habe Zeit zu warten, bis Du hier fertig bist.“

„Es dürfte Dir zu lange dauern.“

„Ich habe Zeit.“

Gotthold trat mit einer höflich kühlen Verbeugung aus dem Kreise heraus; Brandow war sehr blaß geworden; er starrte mit düstrer Miene in sein Wettbuch, und die Bleifeder in seiner Hand zitterte. Was hatte die Hartnäckigkeit, mit welcher der Mensch ihn verfolgte, zu bedeuten? Sollte er ihn vor der ganzen Gesellschaft derb abfertigen? aber ohne eine Scene war das unmöglich, und gerade heute Abend konnte eine Scene gefährlich werden.

„Nun, Brandow! ich habe keine Zeit zu warten!“ schrie eine Stimme.

„Rechnen Sie schon zusammen?“ eine zweite.

„Ich muß wirklich erst einmal zusammenrechnen,“ sagte Brandow, das Buch schließend; „Geduld, Ihr Herren, ein paar Minuten nur; es scheint, daß man mir eine Mittheilung von einiger Wichtigkeit zu machen hat. Ich bin im Augenblick wieder hier. Darf ich bitten?“

„Die Mittheilung, die ich zu machen habe, ist in der That von einiger Wichtigkeit, und dürfte sich ohne Zeugen am besten anhören. Es wäre also nur in Deinem Interesse, wenn ich Dich ersuche, dafür Sorge zu tragen, daß wir ungestört bleiben.“

„Hast Du Dir auch überlegt, daß ich jetzt mehr von Dir zu fordern habe, als Du von mir?“

„Ich glaube Alles überlegt zu haben; und das ist wohl mehr, als Du von Dir sagen kannst.“

Sie standen etwas von den Andern entfernt, leise sprechend, und blickten einander in die Augen.

„So komm’!“ sagte Brandow.

„Wer war denn das?“ fragte einer von den Herren, deren eigenhändige Namenszüge Brandow’s Wettbuch zierten.

„Famoser Kerl!“ schrie Gustav von Plüggen. „Alter Schulcamerad von mir; berühmter Maler; gestern beim Präsidenten den ganzen Abend von ihm gesprochen! Protégé vom Fürsten Prora! famoser Kerl! werde mich auch von ihm malen lassen. In England läßt sich jeder Mann von Stande mit allen Lieblingspferden und ‑Hunden und der ganzen übrigen Familie malen. In England gewesen, Kummerrow? famoses Land! Weiber, Pferde, Schafe – Alles famos!“




33.


Sie waren schweigend über den Flur gegangen und schweigend in eines der Zimmer getreten, welche im Clubhause für Privatzwecke der Mitglieder immer reservirt waren und das der Diener auf einen Wink Brandow’s den beiden Herren geöffnet hatte. Eine große Hängelampe, die über einem mit grünem Sammet bedeckten runden Tische hing, erhellte schicklich das Gemach, ein paar Sammet-Fauteuils waren an den Tisch gerückt.

„Ich nehme an, daß wir hier vollkommen ungestört sind,“ sagte Gotthold.

„Und ich, daß die Komödie nicht lange dauert; Du sahst, ich war sehr beschäftigt.“

Brandow hatte, wie mit ungeduldiger Hand, einen der Stühle vom Tische gerückt und sich hineingeworfen; aber es war kein Zufall, daß sein Gesicht dabei in den vollen Schatten gekommen war, während das Licht hell in das Gesicht Gotthold’s fiel.

„Sehr beschäftigt,“ wiederholte Brandow, mit den Fingern auf die Lehne des Stuhles klopfend, „zu beschäftigt, um die Rechenschaft, die ich von Dir – von Euch ist wohl besser gesagt – zu fordern habe, nicht bis morgen verschieben zu müssen. Und wenn Du etwa die – die Stirn haben solltest, mich einschüchtern zu wollen, indem Du das Prävenire spielst, so sage ich Dir: hüte Dich! hütet Euch! Ihr kennt mich doch nur erst halb; meine Geduld ist nicht unerschöpflich, und, wie gern ich auch einen Scandal vermeiden würde und während dieser Tage, offen gestanden, gern vermieden hätte – wenn Ihr mich drängt und es sein muß –, ich bin bereit – jeden Augenblick bereit!“

Brandow hatte in lautem, drohendem Tone gesprochen; aber seine Absicht war offenbar verfehlt. Gotthold’s Auge ruhte so groß auf ihm – mit einem Blicke der Verachtung, wie es ihm vorkam –, er konnte den Blick nicht ertragen und brach plötzlich, im Innern erschrocken, ab, als Gotthold jetzt einen Brief, den er schon vorhin aus der Tasche genommen, ruhig auseinanderschlug.

„Willst Du, bevor Du weiter sprichst, diesen Brief lesen?“

Brandow hatte nicht den Muth, Nein zu sagen.

„Von dem edlen Wollnow, wie mir scheint, an mich über Dich?“

„Von Wollnow, ja, aber an mich und über Dich.“

„Ueber mich, das ist drollig, und noch dazu passabel lang.“

Er hatte ein Gähnen zu fingiren gesucht, während er die Blätter durch die Finger laufen ließ; aber er hatte kaum einen Blick hineingeworfen und die ersten Zeilen gelesen, als er, einem Rasenden gleich, in die Höhe fuhr und, den Brief auf den Tisch schleudernd, rief:

„Das ist infam! Das fordert Blut! Ich will nichts weiter sehen, ich will nichts weiter hören! Ich will nicht das geduldige Opfer einer gemeinen Intrigue sein. Wir werden uns sprechen, mein Herr, wir werden uns sprechen.“

Er irrte rathlos durch das Zimmer, Gotthold war sitzen geblieben.

„Du hast eine Minute Zeit, Dich zu entscheiden, ob Du den Brief lesen willst, oder ob ich ihn dem Grafen Zarrentin bringen soll, ehe ich weitere Schritte thue.“

Brandow blieb stehen. „Also wirklich ein Scandal! Ich dachte mir’s ja. Nun, es verlohnt sich vielleicht der Mühe, zu sehen, wie Ihr es angefangen!“

Er hatte sich wieder in seinen Stuhl geworfen, den Brief ergriffen und weiter zu lesen begonnen mit der Miene eines Mannes, der einen lästigen Bittsteller möglichst schnell abzufertigen wünscht. Ein höhnisches Lächeln spielte um seine Lippen. „Ich habe mich geirrt,“ murmelte er, als ob er mit sich selbst spräche, „das ist einfach lächerlich, complet lächerlich.“

Aber seine Lippen waren blaß; das Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen, und seine Hände zitterten stärker und stärker. Er hatte im Anfange sehr schnell gelesen; aber je weiter er kam, desto länger verweilte er bei jedem einzelnen Satze, ja Worte. Manches schien er zwei- und dreimal zu wägen und zu prüfen; und er war offenbar mit der Lectüre längst zu Ende, als er noch immer zu lesen schien. Endlich hatte sich aus dem fürchterlichen Aufruhr seiner Seele ein Entschluß losgerungen:

„Du wolltest diesen – Brief unserm Vorsitzenden geben,“ sagte er, die Blätter sorgsam zusammenfaltend; „ich habe nichts dagegen; hier! aber unter einer Bedingung.“

Er zog die Hand, mit welcher er Gotthold den Brief hinhielt, wieder zurück.

„Unter der Bedingung, daß ich vorher eine Abschrift von diesem kostbaren Documente nehmen darf, um eine Unterlage für die Verleumdungsklage zu haben, die ich gegen den edlen Schreiber und den zartsinnigen Empfänger dieses Machwerkes anstrengen werde. Einem so überaus billigen Manne, wie Dir, der seine Freunde[WS 4] auf so lächerliche Indicien hin der schwersten Verbrechen zu bezichtigen sich nicht entblödet, wird das ja wohl recht sein.“

„Vollkommen recht,“ erwiderte Gotthold; „Du kannst auch das Original behalten. Der Brief sollte Dich nur mit gewissen Dingen bekannt machen, die mündlich zu referiren mich anwiderte; und so hat er seinen Zweck gethan.“

„Und diese interessante Unterredung[WS 5] wäre zu Ende,“ sagte Brandow, sich erhebend; „ich meine für heute; morgen werden [818] wir uns weiter sprechen; nur dürfte sich dann das Blatt gewendet haben. Wessen ich Dich verklage, sind keine schändlichen Erfindungen, wie die famose Cassenscheingeschichte, oder albernen Hirngespinnste, wie die schauderhafte Ermordung des Hinrich, die Ihr ja wohl mit allen grausigen Details auf den nächsten Jahrmarkt bringen werdet, sondern Thatsachen, positive Thatsachen, – ein herrlicher Commentar zu dem Liede vom braven Manne, der die ihm gebotene Gastfreundschaft zu nichts Besserem zu benutzen weiß, als – wozu Du sie benutzt hast. Auf morgen also!“

Brandow schritt mit einer Handbewegung, die verächtlich sein sollte, nach der Thür; Gotthold trat ihm in den Weg.

„Du wirst Dich wohl noch etwas gedulden, wenn ich Dir sage, daß es sich jetzt und hier um Dein Schicksal für die Zukunft handelt.“

„Um mein Schicksal? Bist Du toll?“

„Entscheide selbst! Hinrich Scheel ist seit gestern Abend von mir in Wiessow, wo er sich versteckt gehalten, aufgefunden, in diesem Augenblicke in meiner Wohnung unter der Bewachung der beiden Brüder Prebrow.“

Brandow taumelte, als hätte ihn eine Kugel getroffen, zurück, bis seine Hand die Lehne des Stuhles gefaßt hatte. So blieb er stehen, Gotthold mit weit aufgerissenen Augen anstierend.

„Hinrich Scheel!“ stammelte er.

„Den Du für immer vom Schauplatz verschwunden wähntest, trotzdem Du leichtsinnig oder knickerig genug gewesen warst, den Helfershelfer nicht einmal gebührend abzulohnen. Jetzt muß ich ihn bewachen lassen, nicht um ihn an der Flucht zu verhindern – er will gar nicht fliehen; er will jede Strafe erdulden, wenn Der, für den er gethan, was er gethan, nur nicht der Strafe entgeht – ich lasse ihn bewachen, einfach, um ihn zu verhindern, daß er diese Strafe in seine eigenen harten, grausamen Hände nimmt.“

Brandow war in dem Stuhl zusammengesunken; sein frecher Muth, seine elastische Kraft schienen ihn gänzlich verlassen zu haben, er sah um zehn Jahre älter aus; aber plötzlich schnellte er wieder empor.

„Pah!“ rief er; „und damit denkt Ihr mich in’s Bockshorn zu jagen! Wenn sich der Schuft, der Hinrich, hat fangen lassen, um so schlimmer für ihn! Was kann es mir schaden? Mein Wort wird hoffentlich nicht weniger schwer wiegen, als das eines schurkischen Knechtes, der so offenbar von meinen Feinden bestochen ist! Wer sich rein weiß von Schuld, legt sich nicht auf’s Bestechen; oder denkt Ihr wirklich, irgend Jemand glauben zu machen, ich hätte den Burschen, könnte mich nach irgend einer Seite auch nur ein Verdacht treffen, laufen lassen, ohne mich seiner Verschwiegenheit so oder so zu versichern? Das ist ja der bare Unsinn! oder werdet Ihr sagen: er hat ihm nichts gegeben, damit, würde er gefangen, Niemand fragen könnte: von wem und wofür hast Du das Geld bekommen? Macht’s unter Euch aus! und macht, was Ihr wollt – ein ehrlicher Mann wie ich lacht Eurer Drohungen.“

Er ging wieder nach der Thür, aber sein Schritt wurde langsamer, je näher er derselben kam; und bevor er sie noch erreicht, wandte er sich auf den Hacken um und kam gerade auf Gotthold zu, ein Lächeln auf den Lippen.

„Lassen wir die tragischen Masken fallen, Gotthold, und sprechen wir als vernünftige Leute: welches sind Deine Bedingungen?“

„Die erste, daß Du Dich unbedingt zu Dem bekennst, dessen Dich der Wollnow’sche Brief beschuldigt. Du weißt, was ich meine.“

„Nicht ganz. Das Bekenntniß gilt nur für Dich?“

„Wenn Du Dich den übrigen Bedingungen fügst, ja.“

„Gut; ich habe also gethan, was ich gethan haben soll. Was nun weiter?“

„Was sich dann von selbst versteht. Die Tochter einer ehrenwerthen Familie kann nicht die Gattin eines Verbrechers und soll nicht die eines Zuchthäuslers sein. Das heißt: Du giebst Deine Zustimmung unverweigerlich zu Allem, was wir – ich meine Herr Bogislaf Wenhof, Wollnow und ich – Dir behufs der Scheidung vorschreiben werden.“

„Und meine Tochter?“

„Beantworte Dir die Frage selbst.“

„Ich liebe das Kind.“

„Du lügst, Brandow; und wäre es möglich, wie es unmöglich ist, Du hättest Dir doch das Recht, sie zu behalten, ja nur in irgend einer Verbindung mit ihr zu bleiben, für immer verscherzt. Ich hoffe, daß sie vergessen wird, daß Du ihr Vater bist.“

„Der ich doch immer bleiben werde, und, mon cher, dies für Dich zweifellos ungemein wohlthuende Bewußtsein soll mein Hochzeitsgeschenk sein; oder wolltet Ihr etwa das so herrlich Begonnene nicht herrlich zu Ende führen?“

„Es handelt sich um Dein Schicksal, nicht um meines.“

„Die mir doch in einer passabel nahen Relation zu stehen scheinen. Oder wolltest Du mir einbilden, daß Du dies Alles um Gotteswillen thust? Pah! lieber Freund, ich dächte, wir kennten uns nicht seit gestern und unsere Wege kreuzen sich hier und jetzt nicht zum ersten Male. Ich habe Dir, Du hast mir im Wege gestanden schon vor den Schulbänken, auf dem Spielplatz, in der Tanzstunde und überall; ich habe Dich aus dem Sattel gehoben damals und Dir einen Denkzettel gegeben, daß Du Dich Dein Lebenlang daran erinnern könntest. Nun ja, Du hast es redlich gethan und dies ist die Revanchepartie. Ich habe sie – durch eine einzige dumme Karte – gleichviel! ich habe sie verloren: ich bin ein zu alter Spieler, um das nicht zu begreifen und mich in mein Schicksal zu finden; aber das Spiel ist noch nicht zu Ende; wir werden uns noch einmal treffen, und wer zuletzt lacht, lacht am besten.“

Die Augen des Mannes sprühten Blitze tödtlichen Hasses, während er mit seinen raschen Schritten an Gotthold vorüber das Gemach auf und nieder maß. Seine spitzen Zähne nagten geschäftig an den blassen Lippen; er zog und zerrte an den Enden seines langen blonden Schnurrbarts, als er jetzt wieder stehen blieb:

„Nur noch eine Frage: Werde ich auch für die Aussteuer zu sorgen haben?“

„Ich weiß nicht, was Du darunter verstehst; ich weiß nur, daß wir die Absicht haben, Dich Deinem Schicksal zu überlassen, sobald Du Deine Schuld – äußerlich wenigstens – abgetragen und Deinen Raub zurückerstattet hast. Du hast morgen eine Chance, es auf einmal zu können. Es ist Spielergeld, aber das geht uns nicht an.“

„Und wenn ich nicht gewinne?“

„So wirst Du arbeiten. Dollan ist Dir auf weitere fünf Jahre in Pacht gegeben; Du kannst, wenn Du willst – und Du wirst wollen müssen – in weniger als der Hälfte der Zeit die Zehntausend abtragen, die ich Dir – es ist beinahe der letzte Rest meines Vermögens – vorschießen werde. Auf jeden Fall wird das Paket morgen Abend auf der Dollaner Haide – gefunden und ist übermorgen in der Klostercasse.“

„Wie Ihr für Euch besorgt seid!“

„Auch für Dich. Wenn wir Dich aus der Heimath trieben, wie Du es verdienst – denn Du bist nicht werth, daß deutsche Männer Herr zu Dir sagen – würdest Du voraussichtlich in kürzester Frist elend zu Grunde gehen. Das will ich nicht, um Deines Kindes willen nicht.“

Brandow wollte in ein höhnisches Gelächter ausbrechen, aber Gotthold’s letzte Worte und der Ton, in welchem er sie gesprochen, schlossen ihm den Mund.

„Du sagtest vorhin, Du liebtest Dein Kind, Brandow, es war eine Lüge; hättest Du es gethan, auch nur ein wenig, Du würdest um seinethalben Dich mindestens vom Verbrechen rein gehalten haben. Du hast niemals Jemand geliebt, außer Dich selbst, mit einer durchaus gemeinen, eitlen, egoistischen Liebe, in der auch keine Spur von Achtung vor dem Heiligen war, das sonst auch rohere Menschen in sich und an sich verehren. Dennoch – obgleich dies meine ehrliche Ansicht ist – ich bin ein Mensch und kann irren: vielleicht rührt es Dich doch, wenn Du hörst, daß Dein Kind krank, sehr krank ist, daß wir ihm möglicherweise nur noch wenige Tage sein junges holdes Leben fristen werden. Es ist entsetzlich, daß ich es sagen muß, aber ich kann Dir die Last nicht erleichtern, die Du auf Dein Gewissen geladen: wenn es stirbt, so hast Du es getödtet.“

„Ich?“ stammelte Brandow; „ich?“

[831] „Ja, Du! der Du ihrer Mutter das Leben unmöglich gemacht hattest,“ entgegnete Gotthold, zu Brandow gewandt. „Oder dachtest Du, der Schlag, den Du auf die Mutter führtest, träfe nicht auch das Kind? an dem schnöden Gift, das Du jener in den Becher des Lebens träuftest, würde sich dieses nicht den Tod trinken? Du kannst es nicht gedacht haben, denn auf diese Liebe von Mutter zu Kind, von Kind zu Mutter hattest Du Deinen ganzen Plan gebaut; Du hast das Band, das Beider Seelen verband, für stark genug gehalten, Dein ganzes Schandgewebe von Lug und Trug, Verrath und Gewaltthat daran zu knüpfen. Noch einmal: wenn es stirbt – Du hast es getödtet. Mache Dir das klar, Mann, wenn Du kannst. Es ist so entsetzlich, daß Alles, was Du sonst gethan, harmlos dagegen ist; es ist so furchtbar, daß Du daran zur Besinnung kommen mußt.“

Gotthold machte ein paar Schritte durch das Gemach; dann blieb er wieder vor seinem Gegner stehen, der, den Kopf in beide Hände gestützt, zusammengesunken dasaß.

„Brandow, sie sagen, als ich damals, von Deiner Klinge niedergeworfen, vor Dir am Boden lag, habest Du noch einmal zugeschlagen. Es ist mir immer unmöglich gewesen, es zu glauben; es wird mir selbst jetzt noch schwer; aber, wie dem sei, ich kann Jemand, der hülflos am Boden liegt, er sei, wer er sei, und habe gethan, was er gethan, nicht den Todesstreich versetzen; aber die Hand kann ich einem Unwürdigen auch nicht reichen, es sei denn, daß er die seine hülfebittend nach mir ausstreckt. Denke daran, Brandow! vielleicht kommt der Moment früher, als Du jetzt für möglich hältst.“

Gotthold hatte das Gemach verlassen; Brandow saß noch in derselben Stellung, in sich zusammengesunken, mit stieren Augen vor sich nieder auf den Teppich blickend. Ein ödes Lächeln irrte durch sein bleiches Gesicht. „Das war eine schöne Predigt,“ murmelte er; „so recht erbaulich! Das hat er von seinem Vater, der Pfaffensohn! Und ich sitze hier, und lasse mich schlecht machen von dem elenden Schwätzer, dem verdammten Heuchler, und schleudere ihm nicht Alles, was er gesagt, zurück in sein scheinheiliges Gesicht! Pah!“

Er sprang auf und irrte durch das Gemach.

„Narretei, und abermals Narretei! Sie hat den Farbenkleckser nicht erst seit heut’ und gestern, sie hat ihn immer geliebt; sie hat es sich nie vergeben können, daß sie sich zu mir herabgelassen, die hoffährtige Prinzeß! Ich wußte es ja seit dem ersten Tage! Und das hätte ich ruhig einstecken sollen? thun sollen, als merkte ich es nicht? zufrieden sein sollen mit den Brocken, die mir hingeworfen wurden? Daß ich ein Narr gewesen wäre! Keiner an meiner Stelle hätte es gethan! und ich habe nur gethan, was Jeder an meiner Stelle gethan hätte! was Tausende thun, die noch nicht einmal meine Entschuldigung haben! Alma wäre schon längst ihrem albernen Manne weggelaufen, wenn ich sie hätte haben wollen, wenn ich nicht immer abgeredet hätte! Aber das wäre ja just das rechte Wasser auf ihre Mühle; läuft doch ihr ganzer Jammer darauf hinaus, daß ich es ihnen nicht leichter gemacht habe. Und hab’s ihnen doch jetzt leicht genug gemacht! Ich Narr, ich Narr! wie hätte ich sie zappeln lassen können, wie könnte ich sie zappeln lassen, wäre es nicht um das verdammte Geld! Sie haben mir den Stein in den Weg geworfen, daß ich darüber stolpern sollte, und ich habe ihnen den Gefallen gethan; und nun stehen sie da und triumphiren!“

Er lief in dem Gemache hin und her, wie ein gefangenes Raubthier.

„Aber es ist noch nicht aller Tage Abend. Es fehlte nicht viel, und ich hätte geflennt über das sentimentale Gerede, als ob Alles die lautere Wahrheit wäre, als ob sie das Kind nicht erzogen hätte, mich zu hassen, als ob es eine Spur von mir hätte, und nicht ebenso gut sein Kind sein könnte, und wahrscheinlich sein würde, wäre er schon damals der edle Hausfreund gewesen, als der er sich jetzt gerirt. Ich habe mich in’s Bockshorn jagen lassen, wie ein dummer Junge. Es kam zu plötzlich; ich war nicht darauf gefaßt; und daß der Hinrich sich wieder eingefunden hat, war ein schändlicher Streich. Wer hätte das denken können, nachdem der Kerl einmal die Dummheit begangen, allen Verdacht auf sich zu laden, und ich ihm hinterher noch die Hölle so heiß gemacht! Er soll es entgelten wenn er mir wieder einmal über den Weg läuft, der Schurke; er soll es entgelten! er und der salbadernde Pfaffensohn, und der alte Schnurrant und der verfluchte Jude und sie – sie –“

Er trat vor den großen Trumeau, der den Fensterpfeiler des Gemaches bedeckte.

„Ich war ihr nicht gut genug; so? Andere denken anders in diesem Punkte. Die Sache ist: ich hatte mich zu billig verkauft. Ein Kerl, wie ich, hätte ganz andere Ansprüche machen können; kann noch jeden Augenblick ganz andere Ansprüche machen, wenn ich auch eben aussehe, wie gestern Abend der Don Juan, als ihn der Teufel holte. Aber es ist nur das grüne Glas und die elende Beleuchtung.“

[832] Ein Klopfen an die Thür unterbrach ihn in seinem finstern Selbstgespräch. Es war ein Diener, der fragen sollte, ob Herr Brandow nicht bald wieder in den Speisesaal komme.

„Sogleich!“ sagte Brandow.

Er warf noch einen Blick in den Spiegel. „Ich sehe am Ende doch jämmerlich aus. Gleichviel! oder um so besser! Sie werden denken, ich ängstige mich für morgen, und desto leichter auf den Leim gehen, die Gimpel! und morgen Mittag habe ich meine Dreißig- oder Vierzigtausend im Beutel und – alles Andere ist nur Tand.“




34.


Der klarste Septembermorgen leuchtete über der alten Hansestadt, auf deren vielgewundenen Straßen es heute noch ganz besonders still war, so still, daß die Dienstmädchen, die müßig in den offenen Hausthüren standen, ungestört hinüber und herüber ihr jammervolles Schicksal beklagen konnten. War es denn nicht auch zu schändlich, an dem zweiten Tage – dem Haupttage, wo alle Welt und selbst der kleine Lehrbursche vom Schuster Bank draußen war – das Haus hüten zu müssen? Und vorhin war der Wagen von Fuhrmann Kopp zum sechsten Mal leer zurückgekommen und hielt jetzt bei Apothekers um die Ecke; aber die Fräulein machten immer einen so schrecklichen Staat und könnten nie fertig werden; es sei eine Sünde und Schande, wenn man bedächte, daß andere ehrliche Mädchen, die den Wagen gewiß nicht warten lassen würden, nicht einmal zu Fuß hinauslaufen dürften; aber wenn die Katze nicht zu Hause sei, tanzten die Mäuse über Tische und Bänke.

Die lustigen Dirnen, die sich einander immer mehr genähert hatten, faßten sich an den Händen und begannen, auf dem holperigen Pflaster aus dem Sonnenschein in den Häuserschatten, aus dem Schatten in den Sonnenschein herumzuwirbeln, und ließen sich dann mit Gekreisch los und flohen jede in ihre Thür, als jetzt aus dem stillen großen Nachbarhause der fremde Herr trat.

Gotthold hatte die ganze Nacht mit Cäcilien und dem alten Boslaf bei Gretchen gewacht, und die gute Stine war ab- und zugegangen. Ein paar Mal hatten sie geglaubt, der letzte Augenblick sei da; aber immer war die kleine röchelnde Brust, die Cäcilie an ihren Busen gedrückt hielt, wieder frei geworden, und sie hatte das holde Geschöpf aus ihren Armen wieder auf das Kissen gleiten lassen können, das kaum weißer war, als das zarte bleiche Gesicht. Nach Mitternacht hatte das Fieber ein wenig nachgelassen, und der Arzt, der am frühen Morgen schon gekommen, hatte gesagt, daß die Gefahr leider noch nicht vorüber sei, ein paar ruhigere Stunden aber in Aussicht ständen, und er dringend bitte, man möge diese Pause benutzen, um sich neue Kraft zu schöpfen, die man ja so nothwendig brauche.

Er hatte dabei den alten Boslaf angesehen; der alte Boslaf hatte freundlich gelächelt und gemeint, der Herr Doctor solle sich nur nicht um ihn sorgen; er sei das Nachtwachen gewohnt, und werde bald vollauf Zeit zum Schlafen haben. Aber Cäcilie, die voll zärtlicher Sorge für den alten Mann war, welchen sie jetzt immer nur Vater nannte, hatte darauf bestanden, daß er sich niederlegte; und auch Gotthold hatte sie fortgeschickt. Sie würde bis Mittag mit Ottilie Wache halten; sollte Gretchens Zustand sich verschlimmern, solle er sofort benachrichtigt werden.

Und da schritt er nun durch die stille Straße nach seiner Wohnung und sah die Mädchen, die lachend auf der stillen Straße tanzten, und sah den Sonnenschein, der um die altersgrauen Giebel so freundlich spielte, und die Schaar weißer Tauben, die unter dem leuchtend blauen Himmel ihre lustigen Kreise zog. Wie war sie so schön, die lichte Welt! wie rein und balsamisch die mildwarme Luft, die er in vollen Zügen einsog! wie schritt er trotz der durchwachten Nacht so leicht dahin! wie pulste ihm trotzalledem das Leben so kräftig in den Adern! und doch sollte das Dunkel siegen und der Tod! Wenn das Kind starb – Gotthold blieb schaudernd stehen – er hatte es so deutlich vor sich gesehen, das dunkle kleine Grab. Aber es war ja nur eben ein trübes Spiel seiner Phantasie; Gretchen lebte ja noch; sie würde genesen, sie hatte sich ja, das zarte Geschöpf, durch diese Schreckensnacht durchgerungen, und er durfte sich wohl sagen, daß er es war, der sie dem Leben wieder gerettet. So mußte sie denn auch ihm leben, mußte mit zarten reinen Händen den Schlußstein fügen in den Bau seines Glückes. War ihm doch bis hierher Alles über Erwarten gelungen! hatte doch selbst der Zufall ihm seine gnädigste Miene gezeigt! Wie hätte er noch vor wenigen Tagen auch nur zu hoffen gewagt, daß ihm der Gegner so schnell, so ganz in seine Hände geliefert werden, und er im Stande sein würde, zu sagen: dies soll geschehen, und so soll es geschehen; so, ohne Lärmen, ohne daß auch nur ein Unbetheiligter davon erfährt! Heute Abend bereits sollte der Unglücksmann nach Dollan zurückkehren, um das Geld, das er geraubt, zu finden, und morgen durch Wollnow an die Klostercasse abliefern zu lassen; und heute Abend sollte auch das Schiff nach England segeln, das seinen Gesellen mitnahm, der freiwillig erklärt hatte, hier sei seines Bleibens doch nicht mehr, und er gehe lieber heute als morgen nach Amerika, zumal wenn ihn die Herren so reichlich aussteuerten, wie sie ihm gesagt, und von ihnen wisse er, daß sie ihre Zusage hielten. So mußte denn binnen vierundzwanzig Stunden spätestens Alles geordnet und geebnet sein zu einer Basis, auf der man ruhig weiterbauen konnte.

Ein schwerer eiliger Schritt, der, in der Nähe seiner Wohnung, durch die menschenleere Gasse ihm entgegenkam, ließ Gotthold vom Boden aufschauen.

„Was giebt es, Jochen?“

„Er ist fort,“ sagte Jochen athemlos, „ich wollte eben zu Ihnen.“

„Seit wann?“

„Es wird schon eine Stunde oder so her sein; er sagte, er sei müde und wolle ein Bischen schlafen, während Clas und ich zu Frau Müller hinabgingen, die uns zum Frühstück eingeladen hatte. Na, Herr Gotthold, und da haben wir denn stillgesessen, und sie hatte eine frische Mettwurst, und wir dachten an nichts Arges, und unterdessen ist der Kerl zwei Stock hoch zum Fenster hinaus in den Garten, der ja an die Stadtmauer stößt, und die Pforte ist nie verschlossen und wir – können wirklich nicht dafür. Wenn ein Mensch einen nicht gerade ansehen kann, wie soll man da einem Menschen ansehen, daß er solche Kniffe im Kopf hat!“

„Eine Stunde, sagtest Du?“

Jochen nickte.

„Wo ist Clas?“

„Nach dem Hafen hinunter; es wäre doch eine Menschenmöglichkeit, daß er schon an Bord gegangen, um sich da ein wenig umzuthun.“

Gotthold schüttelte den Kopf. „Das ist äußerst unwahrscheinlich, nachdem, wie er weiß, Alles verabredet ist.“

„Was sollen wir thun, Herr Gotthold?“

„Lauf’ zu Herrn Wollnow und sag’ ihm, was geschehen, und daß ich zum Rennen hinaus wäre; und komme mir nach, so schnell Du kannst.“

Jochen blickte erstaunt auf. „Ja, wahrhaftig, Herr Gotthold, das wäre eine Menschenmöglichkeit; er hat gestern den ganzen Abend von nichts als dem Rennen gesprochen.“

Gotthold hatte bereits ein paar Schritte gethan, als Jochen hinter ihm herkam.

„Sie sind mir doch nicht bös, Herr Gotthold? und meinem Clas-Bruder?“

„Ihr guten dummen Kerls!“

Jochen sah sehr gerührt aus und wollte ohne Zweifel noch etwas sagen; aber Gotthold drückte ihm die grobe ehrliche Hand und eilte die Straße hinab dem Thor zu, vor welchem in nicht allzuweiter Entfernung von der Stadt der Rennplatz sich befand.

Er kannte den Weg nur aus der Beschreibung, aber derselbe war heute nicht wohl zu verfehlen. Je näher er dem Thore kam, desto zahlreicher wurden die Menschen, welche sich Alle eifrig nach derselben Richtung bewegten; die Vorstadtstraße, die man passiren mußte, hatte ein festliches Gewand angelegt. Die sehr bescheidenen, im Grün der Gärten halb versteckten Landhäuser waren heute mit Kränzen und Teppichen geschmückt; hie und da schauten unter schattigen Bäumen über staubbepuderte Ligusterhecken ein alter Herr oder ein Gärtner oder eine Kinderfrau mit dem Baby auf dem Arm bedauernd oder schadenfroh auf die in der Sonnenhitze Vorübereilenden. Manchmal rasselte auch einer jener langen, mit vier oder sechs Sitzen hintereinander versehener Holsteiner Wagen vorüber; leer, wenn er herein, mit Menschen überfüllt, wenn er hinausfuhr; und zwischen den glücklichen Insassen und den staubgequälten Fußgängern fehlte es selten, hinüber und herüber, an landesüblichen Witzworten.

[833] Gotthold hatte schon viele der Fußgänger überholt und eilte noch immer rastlos weiter. Es war ja freilich kaum zu hoffen, daß er oder Jochen den Mann in einer so großen Masse Volkes finden würden, zumal er sich offenbar nicht würde finden lassen wollen; aber daß sie ihn nur auf der Rennbahn suchen könnten, daran zweifelte er keinen Augenblick; und wie er jetzt auf der Spur des Flüchtlings dahineilte, wurde ihm immer banger um’s Herz, je klarer er sich alle die schlimmen Folgen machte, die nun hereindrohten. War Hinrich geflohen, um nicht wiederzukommen, um wieder der Herr seines Schicksals zu werden, und Brandow erfuhr es rechtzeitig, so würde er Alles zurücknehmen, was er zugegeben; der Kampf begann auf’s Neue, und mit einem Gegner, der nicht mehr überrascht werden konnte; wollte Hinrich nur eine Gelegenheit suchen, sich zu rächen, so war bei der brutalen Energie des Mannes Brandow keinen Augenblick mehr seines Lebens sicher, und zugegeben auch, daß Brandow ganz der Mann war, sich seiner Haut zu wehren, – es war doch Alles in Frage gestellt, was errungen schien, in erster Linie das Geheimniß, in welches das jammervolle Geschick der geliebten Frau einer frech-neugierigen Welt gegenüber sich bis jetzt so glücklich hatte hüllen dürfen.

Und immer schneller eilte Gotthold dahin; hoffend, nun bald sein Ziel erreicht zu haben; aber er bog aus einer der gartenumgebenen Straßen in die andere, die Vorstadt schien kein Ende nehmen zu wollen. Es sei noch eine halbe Stunde bis zum Rennplatz, erwiderte man ihm auf seine Frage.

Ein leichtes, von zwei wundervollen Pferden gezogenes offenes Wägelchen kam hinter ihm her und flog an ihm vorüber; er glaubte, das Gesicht des jungen eleganten Mannes, der den Sitz hinter dem Kutscher inne hatte, schon gesehen zu haben. Der junge Mann wandte sich nach ihm um, klopfte dann eifrig seinem Kutscher mit dem Stöckchen auf die Schulter; der Wagen hielt; der junge Mann sprang heraus und kam im schnellsten Schritte zu Gotthold zurück, mit der Hand winkend und schon von Weitem rufend: „Treffe ich Sie endlich!“

Eine Minute später saß Gotthold an der Seite des jungen Fürsten Prora; die Pferde griffen wieder aus, und bestäubte Fußgänger und Ligusterhecken, Gärten, Villen, Scheunen flogen rechts und links vorüber.

„Sie glauben nicht, wie ich mich freue!“ sagte der Fürst, Gotthold’s Hand noch einmal drückend; „oder Sie werden es glauben müssen, wenn ich Ihnen sage, daß ich eigens um Ihrethalben von Berlin, wo ich mit Schinkel in den wichtigsten Conferenzen über mein neues Waldschloß saß, herüberkomme, um Sie, von dessen Abreise aus Rom mir Graf Ingenheim geschrieben, und dessen Aufenthalt in unserer Gegend man mir aus Prora berichtet, zu suchen, zu sehen, zu sprechen, zu überreden, zu gewinnen – enfin: Sie müssen mir mein Waldschloß al fresco ausmalen. Ich will es; und wenn Ihnen das, wie ich annehme, kein Grund ist, nicht Nein zu sagen: Schinkel selbst will es, und da werden Sie wohl Ja sagen müssen. Er will Sie, niemand Anders als Sie; ‚ich kenne Niemand, von dem ich so überzeugt sein darf, daß ich mich mit ihm verständigen werde,‘ sagte er und war entzückt, als ich ihm sagen konnte, daß ich die Ehre Ihrer persönlichen Bekanntschaft längst gemacht und den köstlichsten Winter in Rom mit Ihnen verlebt habe. Ach, das göttliche Rom! aber Sie Tausendkünstler sollen es mir wiederzaubern, an die Wände meines nordischen Schlosses; in dem Speisesaale will ich nur römische, zum mindesten italienische Landschaften; alle heiter, sonnig, wie Sie sie so köstlich malen können, Sie ernster Mensch; und was die heimischen Landschaften angeht, die wir für den Waffensaal projectirt haben, so will ich Ihnen da gar nicht hineinreden. Das soll Ihnen ganz überlassen bleiben; da können Sie in Melancholie schwelgen trotz dem Dänenprinzen; vor Allem aber sollen Sie Ja sagen – wollen Sie?“

Der lebhafte junge Mann hielt die Hand hin, und ein Schatten flog über sein feines, liebenswürdiges Gesicht, als Gotthold einzuschlagen zögerte. Wie gern, wie freudig wäre er sonst einem so schönen, so ehrenvollen, so bedeutenden Rufe gefolgt, der ihm Alles zu erfüllen versprach, was sein Künstlerherz nur begehren konnte; aber jetzt, aber heute –

„Sie wollen nicht?“ sagte der junge Fürst traurig.

„Ich will, gewiß will ich,“ erwiderte Gotthold, die dargebotene Hand in tiefer Bewegung drückend; „ob ich können werde, das ist die Frage, die ich mir selbst stelle, und die ich in diesem Augenblicke kaum mit Ja zu beantworten vermag. Verzeihen Sie, Durchlaucht, wenn ich in Räthseln spreche; aber es giebt Stunden, Zeiten, wo wir uns nicht selbst gehören, wo wir unter dem Banne eines Schicksals stehen, dessen Gang wir weder beschleunigen, noch aufhalten können, und dessen Entscheidung wir jedenfalls erst abwarten müssen, bevor wir uns selbst frei genug zu irgend einer Entscheidung fühlen dürfen.“

„Ich verstehe Sie gewiß nicht ganz,“ erwiderte der Fürst; „aber ich glaube zu verstehen, daß irgend etwas, das gewiß keine Bagatelle ist, auf Ihnen lastet; daß Sie ein großes Unglück gehabt haben, oder ein großes Unglück fürchten müssen; und da liegt denn die Frage so nahe, daß Sie sie mir verzeihen werden: ist es möglich, daß Ihnen Jemand helfen kann, und kann ich dieser Jemand sein?“

„Ich danke Ihnen, Durchlaucht; aber ich werde es wohl allein durchfechten müssen.“

„So will ich nicht weiter in Sie dringen; aber ich stehe jederzeit zu Diensten, vergessen Sie das nicht.“

Sie waren unterdessen zwischen den Häusern herausgekommen; vor ihnen auf dem unendlichen Wiesenplane in geringer Entfernung lag der Rennplatz mit seinen hohen Tribünen, der kleinen Stadt von Buden und Zelten, den langen Reihen der neben einander aufgefahrenen Wagen, dem dunkeln Gewimmel der schaulustigen Menge. Ein Reiterschwarm sprengte vorüber in sausendem Galopp; einer der Herren zügelte nicht ohne Mühe den schäumenden Renner und kam an den Schlag.

„Wie, Plüggen, Sie nicht dabei?“ rief der Fürst.

„Noch im letzten Augenblick Reugeld bezahlt, Durchlaucht, im letzten Augenblick! Zu sehr überzeugt, daß es heute gerade kommen würde, wie auf dem Derby vor vier Jahren. Mal in – ah, Gotthold, bon jour, bon jour! Dein Freund Brandow macht heut’ ein glänzendes Geschäft, verteufelt glänzend!“

„Wie weit sind sie denn? ich komme doch nicht zu spät?“

„Gott bewahre, Durchlaucht; das heißt, sie müssen in zehn Minuten hier sein. Wollte eben bis zum vorletzten Hinderniß; alle Welt da – furchtbare Spannung. Gerade wie auf dem Derby vor vier Jahren, als der Hurry Harry von Robin Hood aus der Drury-Lane –“

„Dann halten Sie sich nicht auf, Plüggen! à revoir heute Abend; fort!“

Gustav von Plüggen zog, mit einem etwas langen Gesicht, den Hut, warf sein Pferd herum und jagte seinen Gefährten nach.

„Sie kennen also auch diesen Brandow?“ sagte der Fürst. „Schade um den Menschen; hätte, glaube ich, das Zeug zu einem brillanten Reitergeneral gehabt: klarer Kopf, scharfes Auge, nie um Auskunftsmittel verlegen, und dabei persönliche Bravour bis zur Tollkühnheit; so, in diesen zahmen bürgerlichen Verhältnissen, ward aus ihm, fürchte ich, nichts viel Besseres als ein mauvais sujet. Aber schändlich ist es doch, daß sie ihm zum Tort das Stück Sumpfland in die Bahn gezogen haben. Ich höre, es ist nur geschehen, um den anderen Pferden wenigstens eine Chance zu geben, da man allgemein der Ansicht ist, daß ein Pferd von der Schwere des Brownlock das Moor nicht passiren kann.“

„Er wird es passiren, Durchlaucht,“ sagte Gotthold; „Sie können darauf eine Million verwetten.“

„Wie kommt Saul unter die Propheten?“ rief der Fürst lachend. „Seit wann sind wir denn solche Kenner in horse-flesh? da müssen Sie mir zur Seite bleiben und mir als Einbläser dienen, wenn ich, notorischer Dilettant in diesen edeln Künsten, Gefahr laufe, durch die Lücken meiner Einsichten zu brilliren.“

„Ich bin überzeugt, daß Durchlaucht –“

„Sie wollen mich los sein, ich verstehe. Nun, ich bin auch schon sehr zufrieden, daß ich Sie gesehen und gesprochen habe. Ich bleibe noch drei Tage in Sundin, hernach eine Woche in Prora, wo Sie durchaus mein Gast sein müssen, selbst in dem Fall, mit dessen Vorstellung ich mir vorläufig die gute Laune nicht verderben will, daß Sie für mein Waldschloß keinen Pinselstrich malten. Hier wären wir; Sie kommen doch wohl sicher mit hinauf? Man kann die Sache am besten von oben sehen, und Ihnen einen guten Platz zu verschaffen, müssen Sie mir mindestens erlauben.“

Der Wagen hielt. Der Fürst sprang herab und begann, [834] ohne Gotthold’s Antwort abzuwarten, die Treppe der Tribüne hinaufzusteigen. Gotthold mußte dem liebenswürdigen Freunde, der es nicht anders erwartete, folgen; oben würde sich schon leicht Gelegenheit finden, sich ohne Unhöflichkeit zu beurlauben.

Treppe und Tribüne waren überfüllt; aber man beeiferte sich, dem Fürsten, der allgemein beliebt war, Platz zu machen, damit er zu ein paar Sitzen auf der vordersten der Bänke gelangen könne, welche man eigens für ihn und seine Begleitung leer gelassen hatte. „Ich glaube, Sie thun doch am besten, mir zu folgen,“ rief der Fürst, über die Schulter gewandt, lachend Gotthold zu; „Sie sehen, es ist hier wie auch sonst noch auf der Welt des Zeus: Alles weggegeben!“ Aber Gotthold konnte bereits nicht anders, als von der gegebenen Erlaubniß Gebrauch machen. Die schmale Gasse, welche sich in dem Gange zwischen den Sitzreihen für den Fürsten geöffnet, hatte sich längst wieder geschlossen; ja, man drängte noch hinterher, um möglichst in die Nähe des Fürsten zu kommen, und bald sah sich Gotthold umgeben von der glänzendsten Versammlung älterer und jüngerer Damen der Landaristokratie im höchsten Staat, von weißköpfigen alten Edelleuten, besternten Würdenträgern der Civilbehörden, hohen Militärs, Aller Mienen dankbar lächelnd und Alle sich neigend und beugend gegen den jungen Fürsten, der, sich selbst nach allen Seiten neigend und verbeugend, die ihm dargebrachte Huldigung lächelnd entgegennahm.

„Durchlaucht kommt gerade in dem rechten Moment; wir werden sogleich die Ersten dort hinter jener Hügelwelle auftauchen sehen; darf ich Durchlaucht mein Fernrohr anbieten?“ schrie der alte Graf Grieben mit seiner krähenden Stimme.

„Danke, danke; ich möchte Sie nicht berauben, die Sache geht Sie näher an als mich; das Ziel ist doch, wie alle Jahre, hier vor den Tribünen?“

„Ei gewiß, Durchlaucht, da kommen sie!“

Der Fürst hatte nun doch für einen Moment das Fernrohr von dem alten Herrn genommen; auf der Tribüne entstand ein Rauschen und Rascheln, und „da kommen sie!“ – „bitte, sitzen bleiben!“ ertönte es von allen Seiten; und Aller Augen, bewaffnete und unbewaffnete, suchten jetzt nur noch die langgestreckte Hügelwelle, welche Graf Grieben dem Fürsten bezeichnet hatte und auf der jetzt in der That gleichzeitig drei bewegliche Punkte sichtbar wurden, die mit für die gewaltige Entfernung großer Geschwindigkeit den Hügel hinabglitten und bereits wieder in einer Senkung des Terrains verschwunden waren, als auf genau derselben Stelle abermals vier oder fünf bewegliche Punkte erschienen, um ebenso den Hügel hinabzugleiten und in der Terrainsenkung zu verschwinden. Aber das Interesse des Publicums haftete fast ausschließlich an den ersten drei Punkten. Aus der Zeitintervalle zwischen dem Auftauchen dieser und der folgenden vier – von den Nachzüglern ganz zu schweigen – war schon jetzt mit Sicherheit zu schließen, daß nur aus ihnen der Sieger hervorgehen konnte; und obgleich man auch durch das schärfste Glas nur eben constatiren mochte, daß die drei beweglichen Punkte in vollster Carrière daherjagende Reiter seien, nannte man doch bereits mit aller Bestimmtheit zwei Namen; über den dritten Reiter war man zweifelhaft; Einige meinten, es sei Baron Kummerrow auf dem Hengist, während Andere auf des Grafen Zarrentin Rebecca, geritten von dem jüngeren Baron Breesen, wetteten.

„Aber die zwei Anderen, Durchlaucht, die zwei Anderen sind mein Curt und der Karl Brandow!“ schrie, feuerroth vor Aufregung und mit den Händen gesticulirend, der alte Graf Grieben so laut, daß man es auf der ganzen Tribüne hören konnte.

Graf Grieben! Karl Brandow! Wie ein Lauffeuer flogen die Namen von Mund zu Mund die Tribüne hinauf, die Tribüne und die Treppe hinab und lief über die wimmelnde Menge unten, die auf den Fußspitzen stand und die Köpfe reckte: Graf Grieben! Karl Brandow auf dem Brownlock!

Karl Brandow! Es durchschauerte Gotthold seltsam. Das war der Name, der, wie eines bösen Zauberers Wort, sein Leben verödet und verwüstet; der Name, an den sich für ihn so viel schlimmes Gedenken geknüpft hatte von der Jugendzeit her, und der früher und später und nun gar in diesen letzten Tagen ihm der Inbegriff alles Dessen gewesen war, was in dem Labyrinth der Menschenbrust gegen die Götter des Lichts sich aufbäumt und empört. Und hier klang ihm der Name entgegen von allen Lippen: Karl Brandow, Karl Brandow! wie eines Mannes, dessen Nahen schon Heil und Segen ausströmt; und schöne Augen leuchteten und aristokratische Hände bewegten schon ungeduldig die spitzenbesetzten Tüchlein, mit denen sie dem Sieger Willkommen winken wollten. Hatte der Mann, dem so ein ganzes Volk in athemloser Spannung entgegenharrte, vielleicht Recht gegen den einsamen Träumer, wenn er Alles und Jedes daransetzte, sein glänzendes Ziel zu erreichen: Geld und Ehre und Frauengunst? konnte man ihm, der so kühn jedes Hinderniß nahm, zumuthen, daß er sich durch eine fromme Rücksicht aus seiner Bahn lenken ließ? konnte man ihm, der sein Leben unbedenklich in die Schanze schlug, wenn um einen geringeren Preis der Sieg nicht feil war, konnte man es ihm verdenken, wenn er es mit dem Wohl und Wehe, ja mit dem Leben Anderer nicht so genau nahm, wie man es von dem ruhigen Bürger verlangt und verlangen kann?

Solche wunderliche Gedanken schossen durch Gotthold’s Gehirn, während seine Blicke, wie die Blicke aller der Tausende, an der Stelle des Terrains hafteten, welche von den Kundigen in seiner Nähe als diejenige bezeichnet wurde, auf der die Reiter wieder zum Vorschein kommen mußten. Und da waren sie auch schon – jetzt als Reiter auch dem unbewaffneten Auge wohl erkennbar, – und „Graf Grieben und Karl Brandow!“ schallte es von Neuem. Denn nur zwei Reiter tauchten zu gleicher Zeit auf, während der dritte bereits so viel Terrain verloren hatte, daß er volle dreißig Secunden später erschien. Auf ihn war nicht mehr zu rechnen. Bei der rasend schnellen Pace, in welcher die Pferde liefen, konnte eine verlorene Secunde nicht wieder eingebracht werden, geschweige denn die Ewigkeit von dreißig! Es handelte sich nur noch um den Brownlock und die Bessy, die beiden Pferde, auf die man vom ersten Moment an sein Augenmerk gerichtet, auf die man hinüber und herüber bis zum letzten Augenblick ungeheure Summen gewettet. Würde der Brownlock siegen? würde die Bessy es davontragen? Niemand wagte es zu entscheiden, Niemand mehr eine Wette anzubieten oder anzunehmen; man wagte kaum noch zu sprechen, sich zu regen, so hatte die ungeheure Spannung Alle gefesselt. Stand doch die Zunge der Wage, ohne auch nur im Mindesten hinüber und herüber zu schwanken! War die Bessy, wie man allgemein behauptete, das schnellere Pferd, so hatte Brandow’s allbekannte Reitkunst den Unterschied auszugleichen gewußt; Kopf an Kopf – man konnte die mehrfach sich schlängelnde Bahn von der Tribüne aus so deutlich wie die Linie auf einer Landkarte verfolgen – sprangen die Pferde über die viertletzte, die drittletzte, die vorletzte Hürde; Schenkel an Schenkel nahmen die Reiter das letzte Hinderniß, eine sechs Fuß hohe Mauer, daß ein Ruf der Bewunderung durch die wogende Menge brauste. Und dann wieder athemlose Stille. In der nächsten Minute mußte es sich entscheiden. Hinter der letzten Hürde folgte eine Strecke von ungefähr fünfhundert Schritten vollkommen ebenen Terrains; dann kam das durch bewimpelte Stangen ringsum markirte, mehrere Morgen große Moorland. Gewann der Brownlock auf dem ebenen Terrain nicht einen namhaften Vorsprung, so war er verloren, denn die Bessy – das wußte man – ging leicht wie ein Reh über das Moor, und der Brownlock blieb entweder stecken oder mußte einen Umweg machen, der ihm wieder seinen Vorsprung und dann ganz gewiß den Sieg kostete.

Aber der Brownlock gewann keinen Vorsprung, nicht einen Fuß, nicht einen Zoll; Kopf an Kopf jagten sie über die erste Hälfte, und jetzt kam die Bessy vor, eine halbe, eine ganze Pferdelänge, zwei, drei, ein halbes Dutzend Pferdelängen. – Die auf den Brownlock gewettet, wechselten die Farbe, aber auf der Bessy stand die hundertfache Summe; sie warfen sich triumphirende Blicke zu; zu sprechen hatte Keiner die Zeit; schon näherte sich die Bessy dem Rande des Moores: man sah, wie ihr Reiter sich im Sattel wandte, die Entfernung zwischen ihm und dem Nebenbuhler zu taxiren; und jetzt jagte er links ab, am Rande des Moores hin – „famoser Junge,“ schrie der alte Graf Grieben; „breiter, Durchlaucht, breiter da; aber festerer Grund, und hat ja Zeit! Der Brownlock kann’s nicht mehr holen, hurrah!“ rief der enthusiastische alte Herr, seinen Hut schwenkend. Und „Hurrah, hurrah!“ schallte es durch die leicht bewegliche Menge, die eben noch dem Brownlock zugejubelt hatte; „Bessy siegt, Brownlock verliert! Hurrah!“

[847] Plötzlich tiefe Stille, als wäre ein Blitz vor Aller Augen in die Erde geschlagen. Brandow hatte die Stelle erreicht, von der ein paar Secunden vorher Graf Grieben, sicher gemacht durch seines Gegners Zurückbleiben, abgebogen; und mit einem mächtigen Satze war der Brownlock auf dem Moor, ohne nur eines Haares Breite von der geraden Bahn abzuweichen, mitten über den tiefsten, aber auch schmalsten Theil fliegend, mit einer Schnelligkeit, die mit jedem Moment zuzunehmen schien, während der Reiter nicht Peitsche, nicht Sporn brauchte, als ritte er über glattesten Wiesengrund, und jetzt mit der Hand seinem Nebenbuhler winkte, als er an ihm vorbeijagte, daß das Wasser in hellem Strahl hoch aufspritzte.

Und da hatte er auch schon den diesseitigen Rand erreicht und kam die breite gerade Bahn hinauf, welche auf das Ziel vor der Tribüne zuführte, – nicht mehr in der rasenden Carrière, sondern in langgestrecktem Galopp, als wolle er seinen Gegner verhöhnen, der jetzt, nachdem er den festen Grund erreicht, am Siege verzweifelnd, aus der Bahn gebrochen war; schien es doch, als wolle er der Menge Gelegenheit geben, ihm ihre Huldigung darzubringen.

Und „Hurrah Brownlock! Hurrah Brandow!“ riefen sie, und schwenkten die Hüte und Mützen, und der brausende Ruf pflanzte sich fort und schwoll an zu einem donnernden betäubenden Schall, als jetzt der Sieger an den Tribünen vorüber in demselben langgestreckten Galopp durch das Ziel ritt. Alle Welt stand auf den Fußspitzen, die Herren Hurrah rufend, die Damen mit den Tüchern wehend, – und nun drängte Alles die breite Treppe hinunter auf den Plan, um den Sieger und das herrliche Pferd noch näher zu sehen, wenn er jetzt, wie es der Brauch war, zurückkommen und noch einmal, aber im Schritt, an den Tribünen vorüber auf den Sattelplatz reiten würde.

„Hier gilt kein Recht und nur die Stärke siegt,“ sagte der Fürst, der, ebenso wie Gotthold, von der nachdrängenden Menschenwoge die Treppe hinabgeschoben wurde; „die Stärke des Enthusiasmus, der selbst in dem Schwachen mächtig ist. Sehen Sie doch nur, wie heldenmüthig sich jene zarte Dame durch’s Gedränge kämpft. – Ist es Frau Brandow? ich würde ihr dann den Arm anbieten.“

Der blaue Schleier der Dame wehte Gotthold in’s Gesicht und dann sah er Alma Sellien. Sie sah ihn nicht, trotzdem sie unmittelbar neben ihm stand. Das feine blasirte Gesichtchen seltsam verschönert durch ein stolzes Lächeln, die sonst so matten, lässigen blauen Augen strahlend in Freudenfeuer, blickte sie, harrte sie, auf nichts um sie her achtend, dem Geliebten entgegen, dessen unbedeckter Kopf eben über der wogenden Menge sichtbar wurde. Und jetzt tauchten ein paar rothe Schultern auf und verschwanden wieder, um wieder zu erscheinen, und jetzt der herrliche nickende Kopf eines Pferdes, und jetzt der ganze rothbefrackte Reiter. Die, welche in der ersten Reihe des Spaliers standen, waren, den Fürsten erkennend, auf die Seite gewichen, und er und ein paar andere Herren und Damen, unter ihnen Alma Sellien, in den Vordergrund gedrängt worden, während sich vor Gotthold, der gern zurückstand, die Reihen wieder schlossen. Und schon war Brandow, der, den Hut in der Hand, sich nach rechts und links verbeugend, mit einem paar neben ihm hergehenden Freunden plauderte, in ihre unmittelbare Nähe gekommen, als er den Fürsten sah und an dem Arm des Fürsten Alma Sellien. Ein Lächeln der Verwunderung zuckte über sein Gesicht; er warf, Front machend, den Brownlock in kürzester Wendung herum, und neigte sich tief auf den schlanken Hals des Renners. Schnaubend, in den Zügel knirschend, mit den Hufen ungeduldig scharrend und mit den großen feurigen Augen in die Menge blickend, stand das edle Thier. Plötzlich prallte es, wild erschrocken, auf die Seite und stieg dann, als sein Reiter es wieder auf die Stelle zwingen wollte, jäh in die Höhe. „Zurück!“ schrie der Fürst der Menge zu, die, von allen Seiten herandrängend, sich zu einem Knäuel zusammengeballt hatte. Aber, die weiter wegstanden, und denen keine unmittelbare Gefahr drohte, blieben unbeweglich. „Zurück, zurück!“ schrie der Fürst noch einmal; die Damen kreischten; „springen Sie herunter, Brandow!“ riefen die Herren. Aber Brandow schien seine allbewunderte Reitkunst vergessen zu haben. Einige sagten später, er sei vom ersten Moment betäubt gewesen durch einen schweren Schlag, mit welchem der zurückschnellende Kopf des Pferdes seine Stirn getroffen. Während er erfolglos, in unbegreiflich verkehrter Weise mit dem Pferde kämpfte, hatte er die Augen starr auf einen Mann aus dem Volk gerichtet, der irgend wie – es drängte Alles wild durcheinander – auch in die vorderste Reihe gekommen war, und jetzt unmittelbar vor, ja unter das sich bäumende Pferd sprang, die Arme hoch erhoben; man glaubte, er werde das rasende Thier an dem Zügel herunterreißen.

„Lassen Sie mich durch, um Gotteswillen!“ schrie Gotthold.

Er hatte in dem Manne Hinrich Scheel erkannt, trotzdem er nur den viereckigen, mit krausen grauschwarzen Haaren bedeckten Schädel, von dem die Mütze im Gedränge heruntergestoßen war, gesehen; nicht das brutale Gesicht mit den grünlichen Schielaugen, vor deren dämonischer Macht das geängstete [848] Thier sich hoch und höher bäumte, mit den stahlbedeckten Hufen wüthend in die Luft hauend, als möchte es seinen Quäler vernichten. Und jetzt traf einer der stählernen Hufe den Kopf des unheimlichen Mannes; und der Mann, als hätte er eine Kugel durch die Stirn bekommen, brach jäh zusammen; in demselben Moment aber überschlug sich das wieder emporschnellende Pferd, in fürchterlichem Fall den Reiter unter seiner Last begrabend. Angstheulend stob die Menge auseinander.

„Ein Arzt, ein Arzt, ist kein Arzt hier?“

Es war kein Arzt da; es hätte auch kein Arzt helfen können. Der Mann, der dem Pferde hatte in die Zügel fallen wollen, und in welchem jetzt auch Andere Brandow’s früheren Traineur, den steckbrieflich verfolgten Hinrich Scheel erkannten, lag mit zertrümmertem Schädel und fürchterlich verzerrtem Gesicht, aus dem die gebrochenen Augen gräßlich starrten, todt auf dem Rücken; sein Herr lebte noch, aber Gotthold, der ihn in seinen Armen hielt, sah, daß es schnell zu Ende ging. Todesblässe bedeckte die feinen scharfen Züge, seltsam schauerlich glänzten die weißen Zähne aus den blauen Lippen. Und nun flog ein Zucken durch den ganzen Körper; das Haupt sank an Gotthold’s Brust.

„Hier kommt ein Arzt!“ riefen ein paar Stimmen.

„Er findet nichts mehr zu thun,“ murmelte Gotthold, „helfen Sie mir, ihn forttragen.“

Als man ihn aufhob, kreischte eine Dame in blauem Schleier, die mit krampfhaft gefalteten Händen dabei gestanden, laut auf und fiel in Ohnmacht.

Man achtete nicht eben darauf; es waren schon verschiedene Damen in Ohnmacht gefallen.




35.


Ein wunderschöner Herbst mit goldigen, mildwarmen Tagen und sternenklaren Nächten war in’s Land gekommen. Ueberall blühten noch in den Gärten neben den Astern sommerliche Rosen, und nur ganz allmählich färbten sich die Wälder. Es war so still in den Lüften, daß die Sommerfäden kaum von der Stelle rückten, und wenn ein Blatt herab sank, blieb es liegen, wo es den Boden berührt. Die Zugvögel hatten ihre Wanderschaft unterbrochen und in den Hecken, auf den Feldern zirpte und lockte es mit kleinen munteren Stimmchen, während des Abends vom Strande her noch die wilden Schwäne riefen, die sonst um diese Zeit längst auf den mächtigen weißen Schwingen in ihre nordische Heimath entschwebt waren.

Es war ein wunderschöner Herbst, der dem Sommer täuschend ähnlich sah; „aber es ist eben eine Täuschung,“ sagte sich Cäcilie, „der Sommer ist zu Ende; der Winter steht vor der Thür; ich muß mich auf den Winter einrichten.“

Sie war schon seit sechs Wochen in Dollan, das sie nie wieder zu betreten gedacht, nie wieder zu sehen gehofft hatte. Aber die Aerzte hatten dringend gewünscht, daß Gretchen zu ihrer Wiederherstellung von der schweren Krankheit, wenn ein winterlicher Aufenthalt im Süden unthunlich sei, wenigstens die schönen Herbsttage an der See verlebe an einem sonnigen, vor rauheren Winden geschützten Ort; und welcher Ort hätte diesen Anforderungen mehr entsprochen, als das stille, sonnige Dollan? Und wenn es trotzdem ein Opfer für sie war, hierher zurückzukehren, so brachte sie es ohne Zögern gern ihrem Kinde und ihrem alten Vater.

Er hatte so dringend nach Dollan zurückverlangt, als er aus einer tiefen Ohnmacht, welche ihn ein paar Tage nach der Katastrophe auf der Rennbahn mitten im Kreise der Freunde jäh befallen, gegen das Erwarten des Arztes, noch einmal zum Leben erwacht war. „Erfüllen Sie dem alten Manne seinen Wunsch,“ sagte der Arzt, „und thun Sie es schnell; er wird nicht viele Wünsche mehr zu stellen haben. Seine Tage sind gezählt, und da ist es wohl unsere Pflicht, ihm für diese Tage all’ den Sonnenschein zu schaffen, dessen er hier in der Straßen quetschender Enge so schmerzlich entbehrt.“

Und mit tiefer Dankbarkeit begrüßte der alte Mann den Sonnenschein auf seiner Heimathflur. Nicht, als ob er seinen Dank in Worten geäußert hätte! Er sprach auch sonst nur wenig mehr; aber auf seinem blassen stillen Gesicht lag ein so unverkennbarer Ausdruck tiefsten Friedens, und aus seinen milden Augen leuchtete es oft wie frohes Erinnern und um seine Lippen spielte oft ein glückliches Lächeln, während er an Cäciliens Seite, an Cäciliens Arm langsam durch die sonnigen Felder schritt. Oft war er auch – manchmal schon am frühen Morgen – allein ausgegangen, und Cäcilie war um ihn besorgt gewesen und hatte endlich zu bitten gewagt, daß er sie mitnehmen möge, es sei ihr keine Stunde zu früh. Aber der alte Mann hatte ihr die Wangen gestreichelt und gesagt: „Laß mich nur; Du kennst sie ja doch nicht.“

Cäcilie hatte über das sonderbare Wort nachgesonnen und es erst begriffen, als sie einmal von ihrem Fenster aus in der Morgendämmerung den Alten im Garten lange an einem der ältesten Bäume stehen sah – einer Linde, von der die Sage ging, daß Karl der Zwölfte von Schweden schon in ihrem Schatten gesessen –, und dann hatte er mit dem schneeweißen Haupte genickt und mit der Hand gewinkt, wie die Menschen pflegen, wenn sie von Jemand Abschied nehmen. Ja, der alte Mann nahm Abschied, wenn er so allein durch Garten und Feld und Wald und Wiesen streifte – Abschied von den Freunden, Bekannten seiner Jugend: von einem Baume hier, unter dessen Zweigen er von der Geliebten geträumt; von dem Felsen dort, an dessen harte Brust er einst das jammergequälte, jugendstarke Herz gepreßt; von der Wiese, auf der er das wilde Roß getummelt, mit dem er sich die schöne Ulrike von Dahlitz erreiten wollte; von dem Walde, dessen Echo so oft der Knall seiner guten Büchse wachgerufen. Er trug sie jetzt nimmer, die gute Büchse, die ihn sonst auf allen Wegen begleitet; sie lehnte ruhig in der Ecke; er hatte von der treuen Gefährtin für immer Abschied genommen.

Auch nach dem Strandhause lenkte er nie mehr seine Schritte; und als er einst an Cäciliens Seite durch den Wald gewandert war und sie unversehens aus den Bäumen heraus auf die Uferhöhe traten, schien er fast erschrocken, und dann schüttelte er das ehrwürdige Haupt und murmelte: „Das hat mich viele Jahre gekostet, viele, viele Jahre!“ Darauf hatte er mit der Hand eine Bewegung gemacht, als wollte er sagen, daß diese Jahre weggewischt seien von der Tafel seiner Erinnerung.

Vielleicht waren sie es; er erwähnte nie mit einem Worte der unendlichen Zeit, welche er im Strandhause verlebt; aber manchmal fing er an zu erzählen von seinen Jugendjahren – uralte Geschichten, von denen kein Lebender wußte, außer ihm, und dabei konnte er behaglich lachen, und ein andermal rannen ihm die Thränen über die welken, blassen Wangen.

Uralte Geschichten, in denen er Alles wußte, jeden Namen und Vornamen und den Tag und die Stunde, und ob die Sonne geschienen oder der Regen geregnet; aber von dem, was jüngst geschehen war, wußte er nichts, oder verwirrte es in der seltsamsten Weise. So nannte er Cäcilie wiederholt mit dem Namen der Geliebten seiner Jugend: Ulrike; und es war Cäcilie peinlich bis zum Schmerz gewesen, daß er dann und wann von ihrem Gatten sprach, von Gretchens Vater, als von einem geliebten Menschen, nach dem er eine große Sehnsucht empfinde, obgleich er ja erst kürzlich dagewesen, bis sie begriff, daß er Gotthold meine.

Es hatte sie im ersten Moment seltsam berührt; und dann, als der alte Mann wieder darauf zurückkam und so ruhig, als ob es nie anders gewesen sei, nie anders sein könne, ihren Namen mit dem des Geliebten in so innige Verbindung brachte, hatte sie es hingenommen, wie einen holden Traum, den man mit halbgeschlossenen Augen und halbwachen Sinnen träumt, bis sie vor der Gefahr, die in dem Traume lag, erschrocken aufgefahren war. Es durfte, es konnte ja nicht sein! weshalb sich eine Wirklichkeit vorgaukeln, die unmöglich war, eine Zukunft, die niemals kommen konnte!

Und das sagte sie mit einer leidenschaftlichen Heftigkeit und einem Strom von Thränen, mehr zu sich selbst, als mit dem Alten redend, wie er wieder einmal von Gotthold gesprochen, der zu lange ausbleibe, der sie, die sich so nach ihm sehne, das Kind, das so gern mit ihm spiele, zu viel und zu lange allein lasse. Sie sagte ihm, daß sie nicht daran denken dürfe; daß zu viel, zu viel geschehen sei, was sie für immer trenne, und daß sie ihr Blut, wenn es nicht ihrem Kinde und ihrem Vater gehörte, Tropfen um Tropfen für ihn hingeben würde, aber daß sie nie und nimmer seine Gattin sein könne.

Es war im Garten an einem der sommerlich schönen Abende dieses Octobermondes, und der Alte hatte, während sie sprach, tiefernsten Gesichts in den saffranfarbenen Ost geblickt, der durch das bunte Laub der Bäume schimmerte, in welchem auch nicht [849] der leiseste Hauch zu spüren war. „Ja, ja,“ sagte er, „Du hast viel, viel gelitten; aber“ – fügte er nach einer Pause hinzu – „es ist auch schon lange, so lange her. Die Zeit macht Vieles gut, Vieles!“

Er schien in seine Träumereien zu versinken von den Tagen, die nur für ihn kein Nichts waren, die nur für ihn aus dem Lethe auftauchten; dann aber, als sein Blick das stillweinende Antlitz an seiner Seite streifte, strich er sich mit der Hand über Stirn und Augen und sagte hastig, als fürchte er, es wieder zu vergessen:

„Nicht Alles! oder doch langsam, sehr langsam; es können sechszig, siebenzig, ich weiß nicht, wie viele Jahre darüber vergehen; und ganz gut wird es auch da noch nicht, bis man sich ein Herz faßt und es einem Menschen sagt. Ich habe es ihm gesagt, an dem Abende, als ich ihn auf dem Meere gerettet; und es ist so viel Gutes daraus gefolgt, so sehr viel Gutes; mir ist seitdem so leicht im Herzen geworden. Du mußt es auch Jemand sagen, nicht mir; ich vergesse so viel und könnte das auch vergessen. Du mußt es ihm sagen.“

Und als sie am nächsten Abend in demselben Gange des Gartens auf- und niederwandelten und das Abendlicht wieder durch die Zweige schimmerte, blieb er plötzlich stehen und fragte: „Hast Du es ihm gesagt?“ und so fragte er am dritten und vierten Tage und schüttelte immer sorgenvoller das weiße Haupt, als sie mit brennenden Wangen erwidern mußte: „Nein, Vater, ich habe es ihm noch nicht gesagt,“ und bei sich hinzufügte: „und werde es ihm auch nicht sagen, wenn er morgen kommt, und werde es ihm nimmer sagen.“

Gotthold kam, nicht allein. Fürst Prora, bei welchem er wiederum mehrere Tage auf Waldschloß zugebracht, um die Skizzen für den Waffensaal vorzulegen und die Reihenfolge der italienischen Landschaften für den Speisesaal endgültig festzustellen, hatte ihm auf dem Rückwege nach Prora durchaus das Geleit geben wollen, und als er hörte, daß Gotthold unterwegs noch in Dollan vorsprechen müsse, um sich vor seiner Reise nach Italien zu verabschieden, um die Erlaubniß gebeten, ihn auch dorthin begleiten zu dürfen.

„Denn wir sind doch eigentlich,“ sagte der junge Mann, „mag ich nun von Prora oder Waldschloß kommen, Nachbarn, gnädige Frau, und da wäre es längst meine Schuldigkeit gewesen, Ihnen meine Aufwartung zu machen; aber ich will es nur gestehen, daß mich heute noch ein besonderes Interesse herführt. Unser Freund hier hat mir früher schon von dem großen Hünengrabe erzählt, welches Sie in Ihrem Walde haben, und daß es vielleicht das am besten erhaltene auf der ganzen Insel sei. Nun brauchen wir für den Waffensaal durchaus eine Landschaft mit einem Hünengrabe, und als ich ihn an das Dollaner erinnere, sagt der halsstarrige Mensch, das eigne sich nicht. Ich behaupte natürlich, daß wir gar kein anderes brauchen können, sintemalen Dollan, bevor es in Ihre – ich meine die Wenhof’sche – Familie kam – was nun freilich auch bereits, wenn wir den schwedischen Zweig, wie billig, mitrechnen, zweihundert Jahre her ist –, Prora’scher Grund und Boden war, wie der ganze Theil dieser Insel; ja, es hat hier auf der Uferhöhe eine mit hohem Erdwall, Pfahlwerk und Graben umgebene Prora’sche Burg aus der Heidenzeit gelegen, deren Ueberreste in alten Chroniken noch Erwähnung geschieht, und es ist also leicht möglich, ja wahrscheinlich, daß jene Gräber die Gebeine meiner Vorfahren bedecken. Und um eine solche Reminiscenz sollte ich eines Künstlereigensinns wegen gebracht werden? Nimmermehr! Wir haben eine Stunde Zeit, hin und zurück brauche ich, wie ich höre, eine halbe Stunde – bitte, lieber Freund, derangiren Sie sich nicht! Sie sind der Letzte, den ich mitnehme, damit Sie mir durch Ihre Einreden die Stimmung verderben.“

„Ich will Sie gern begleiten,“ sagte der alte Boslaf; „ich bin mit Ihrem Herrn Urgroßvater Durchlaucht oft genug oben gewesen auf der Birsch. Ich bin lange, lange nicht oben gewesen; ich möchte gern noch einmal hinauf.“

Der Fürst blickte den Alten verwundert an; er hatte ihn, von dem ihm Gotthold so Manches erzählt, gleich zu Anfang mit Ehrfurcht begrüßt; aber es wollte ihm wie ein Märchen erscheinen, daß Jemand mit Malte von Prora zusammen auf der Jagd gewesen sein könne, der zu Friedrich des Großen Zeiten lebte und noch vor dem siebenjährigen Kriege von der schwedischen Regierung in einer diplomatischen Mission nach Berlin geschickt wurde.

„Das kann ich unmöglich annehmen,“ sagte er, „unmöglich!“

Aber der Alte schien nicht auf die höfliche Weigerung zu achten; er hatte bereits seinen Stock ergriffen und ging mit langen Schritten voran aus dem Garten, wo dieses Gespräch stattgefunden. Der Fürst beeilte sich lächelnd, ihm zu folgen.

„Durchlaucht verstatten wenigstens, daß wir nachkommen,“ sagte Gotthold.

„Ich bitte darum,“ erwiderte der Fürst, „um des alten Herrn willen, dem meine Gesellschaft auf die Dauer doch nicht genügen möchte,“ und dann, Gotthold noch ein paar Schritte weiter führend, fügte er hinzu; „Wir haben eine Stunde, lassen Sie sie nicht unbenutzt verstreichen. Nachdem ich diese Frau gesehen, verstehe ich, begreife ich Alles, was Sie mir nicht gesagt haben, Sie Verschwiegenster der Menschen. Möge Sie der Gott der verschwiegen Liebenden in seinen gnädigen Schutz nehmen!“

Gotthold schritt langsam zu dem Platze zurück, wo er Cäcilien verlassen und noch in derselben nachdenklichen Stellung stehen sah. Würde sie heute sprechen, würde sie schweigen, wie sie es bisher gethan, ihn schweigend ziehen lassen?

Er trat an sie heran und ergriff ihre herabhängende Hand. „Cäcilie!“

Sie hob langsam die dunkeln Wimpern und sah ihn mit einem Blicke rührender Bitte an.

„Ich soll Dich nicht reden heißen? soll Dich schweigen lassen, Cäcilie? Und doch muß gesprochen sein; so laß es mich für Dich thun. Du könntest es nur einer Frau sagen, und der brauchtest Du es nicht zu sagen: sie würde Dich ohne das verstehen. War es nicht so? Sollte die Liebe weniger hellsehend sein als das Auge einer mitfühlenden Freundin? Ich weiß es nicht; ich kann Dir nur sagen, was ich in Deinem Herzen lese. Und das ist es nun, Cäcilie. Du liebst mich, aber wagst es nicht, Deiner Empfindung frei zu folgen; ja, Du bebst vor dem Gedanken, meine Gattin zu werden, scheu zurück, wie vor einer Versündigung – an wem? Es klingt hart, Cäcilie, und doch muß ich es sagen: an Deinem Stolz. Das ist es, was Du fürchtest, Dich selbst, nicht mich. Du weißt – so sicher, wie dort die Sonne sinkt, um morgen wieder aufzugehen –, daß nie ein Tag kommen wird, nie eine Stunde, wo ich Dir mit einem Worte, einem Blicke einen Vorwurf daraus machen werde, daß Du – unglücklich, so unglücklich grenzenlos gewesen bist; Du weißt, daß ich Dir – wie ich denke – nichts zu vergeben habe. Aber Du, Cäcilie, Du meinst, daß Du es Dir nie wirst vergeben können; Du meinst, daß, weil Du als ein unerfahrenes sechszehnjähriges Mädchen Dich geirrt hast, Reue und Scham Dich verfolgen müßten in alle Zukunft, Reue und Scham Dich aufschrecken würden aus meinen Armen, wenn Du je dem Zuge Deines Herzens gefolgt wärst und Dich in meine Arme geworfen hättest.“

„Und hätte ich nicht Recht, so zu denken, zu fühlen?“ rief Cäcilie, während die Thränen über ihre glühenden Wangen strömten; „könnte ich mir je vergeben, das Weib dieses Mannes geworden zu sein – als sechszehnjähriges, unerfahrenes Mädchen, sagst Du? Ich war so unerfahren nicht; ich war welterfahren genug, um zu begreifen, daß das Leben in dem schönen Schlosse, in dem schattigen Park von Dahlitz glänzender werden dürfte, als das in einer düsteren Landpfarre. Und ich trat das Herz des armen Studenten unter die Füße, obschon eine Stimme, die nie wieder zum Schweigen gekommen ist, mir schon damals zuraunte: es ist der bessere Mann. Das sollte ich mir vergeben? und daß ich ihn mit halbgebrochenem Herzen in die Ferne ziehen ließ, ohne ein Wort des Mitleids, des Trostes für ihn zu haben, froh, daß seine treuen Augen nicht mehr auf mir ruhten, nicht mehr in meiner eitlen Seele lasen? Und nun, da aus meinem hoffährtigen Traume geworden ist, was werden mußte; nun, da ich so grenzenlos elend bin, wie ich es zu werden verdiente, und er zurückkommt und vor mir steht, ein edler, reiner Mann, der mit gerechtem Stolz auf seine keusche, arbeitreiche Vergangenheit blicken darf und mit freudiger Ruhe in seine Zukunft, die sich immer glorreicher entfalten muß – jetzt soll er seinen Siegerschritt hemmen, die so tief Gefallene aufzurichten; ja, was sage ich! soll sie für alle Zukunft an sich fesseln, um sich selbst zu fesseln, um sich die starken, arbeitfrohen Hände zu binden, den stolzen Geist, der immerdar im Höchsten beschäftigt sein soll, hinabzuzwingen zu der ewigen Betrachtung, zu der täglichen, stündlichen Theilnahme eines elenden, selbstverschuldeten Geschickes? [850] Stolz, sagst Du, wäre es, was mich verhindert, das zu thun? Sei es denn Stolz! aber doch nur für Dich, auf Dich! Ach, Gotthold, ich habe ihn nicht erst seit heute, diesen Stolz! ich bin schon stolz auf Dich gewesen, damals, wenn Du mit glänzenden Augen so schön sprechen konntest von Göttern und Helden, und daß der heldenhafte Mensch sich kühn den Göttern vergleichen dürfe; und als ich nach Jahren des Leides hörte, daß Du Dich durch unsägliche Hindernisse, an denen Andere tausendmal zu Grunde gegangen wären, durchgedrungen, und mit einer Schnelligkeit, die ihnen, die Dich nicht kannten, und Deine Kraft und Deinen Fleiß, wunderbar erschien, Dich zu der höchsten Höhe Deiner Kunst emporgeschwungen und der Name des jungen Künstlers nur mit den besten stets genannt wurde – ja, Gotthold, da bin ich stolz gewesen, so stolz und so dankbar! – ich habe gemeint, nun könne ich Alles leichter ertragen, da mein Frevel nicht an Dir heimgesucht, da ich allein zu sühnen hatte, was ich allein verbrochen!“

Sie waren aus den abendlichen Feldern, über denen die Sommerfäden im röthlichen Licht der sinkenden Sonne schwebten, in den stillen dunkelnden Wald getreten. Kein Laut, als das Rascheln der braunen Blätter zu ihren Füßen; und jetzt, als Cäcilie schwieg, der klagende Sang eines einsamen Vögelchens.

Aber Gotthold hörte keine Unterbrechung; ihm war, als ob die klagende Vogelstimme nur den Klaggesang der Menschenstimme weitersinge.

„Allein, allein,“ sagte er, „und immer wieder allein, und so willst Du genesen, armes Weib! Und kann denn der Mensch allein sein? und bist Du denn allein? Gesetzt, ich wäre – was ich nicht bin – der starke Held, der den einsamen Weg durch unendliche Arbeit sich hinaufringt zu dem goldenen Tische des Vaters – ist denn Dein Kind nicht da, dem Du die schöne, sonnige Welt erschließen sollst! Du, die sich verhüllten Hauptes in stummer Verzweiflung vom Leben abwendet? Welche Tugenden willst Du es lehren, die Du selbst so ganz der Freudigkeit ermangelst, in der einzig die Tugenden gedeihen; ja, die Du nicht mehr an die Tugend glaubst, an die beste, die höchste, die aller Tugend Tugend ist, die uns zu Dem macht, was wir sind, die uns zu Menschen macht: an die Liebe? Wer klagt mit dem Vögelchen dort, das, im herbstlichen Land verborgen, verwundet vielleicht und verstümmelt, zurückgeblieben ist, um elend zu verkommen? Keiner seiner Brüder und Schwestern, sein Gatte nicht, seine Kinder nicht – sie sind Alle achtlos fortgezogen und haben es zurückgelassen – allein, allein! Nun wohl, sie folgen dem ehernen Gesetz, das ihr Kommen und Gehen, ihr Leben und ihr Sterben bedingt, und so sündigen sie nicht, können nicht sündigen; aber wir können es und wir sündigen, wenn wir dem Gesetz nicht folgen, das uns regiert, wenn wir der Liebe nicht folgen. Sie ist das allgewaltige Band, das alle Geschlechter der erdgeborenen Menschen von Anfang bis Ende zusammengehalten hat und halten wird; die allmächtige Sonne, vor deren holdem Strahl es wieder lenzen muß auch in dem dunkelsten, trübsten Herzen; und so mit meiner Liebe halte ich Dich, Geliebte, wie Du Dich auch sträubst; durchglühe ich Dein Herz, wie Du es auch vor mir verschließest, denn ich bin mächtiger als Du, daß ich Dir leihen kann von meiner Kraft und dennoch genug behalte für mich und Dich und Dein Kind – unser Kind, Cäcilie!“

Sie war stehen geblieben, an allen Gliedern zitternd; bleich, die dunklen, thränenverschleierten Augen, die gefalteten Hände zu ihm erhebend:

„Erbarmen, Gotthold, Erbarmen! ich kann nicht mehr; ich kann nicht mehr!“

Ein rascher Schritt kam den schmalen Pfad, der zu den Hünengräbern führte, hinab.

„Gott sei Dank! ich wollte Ihnen entgegen; gnädige Frau – ich glaube – ich weiß, Sie sind nicht wie unsere anderen Damen –“

„Er ist todt!“ rief Cäcilie.

„Ich fürchte, wir finden ihn nicht mehr am Leben, wenn er auch noch die Kraft hatte, mich fortzuschicken. Ich ging ungern, aber er verlangte so sehr, so herzlich nach Ihnen, nach Ihnen Beiden.“

Sie liefen den Pfad durch das Unterholz hinauf, die Haidehügel empor, auf das Hünengrab zu, dessen gewaltige Masse sich dunkel von dem hellen Abendhimmel absetzte.

Er saß auf einem moosbewachsenen Stein, den Rücken an einen der größeren Blöcke gelehnt, die Hände im Schooß gefaltet, mit einem wunderbaren Ausdruck tiefsten Friedens auf dem bleichen, ehrwürdigen Gesicht, still in den Abend schauend, der über den Feldern, über den Wäldern, auf der Haide, auf dem Meere verglomm. Cäcilie war zu seinen Füßen in das Haidekraut gesunken, ihre Lippen auf seine erkaltenden Hände drückend

Bei der Berührung flog ein leises Beben durch die Glieder des Sterbenden. Sein Blick wandte sich langsam aus der Weite in die Nähe, und ruhte jetzt auf dem schönen blassen, thränenüberströmten Gesicht vor ihm. Ein seliges Lächeln dämmerte in seinen Zügen auf; „Ulrike!“ flüsterte er. Es kam leise, hörbar kaum über die blassen Lippen, und dann schlossen sich die Lippen und die Augen.

Cäciliens Haupt lag an Gotthold’s Brust; der Fürst, der während der ganzen Scene bescheiden in der Ferne gestanden, hatte sich abgewandt; er blickte mit großen, starren Augen in das Abendgold.




Und das Abendgold verglomm über Feldern und Wäldern und über dem Friedhof zu Rammin, auf dem sie so eben den Ahnen zu seinen Kindern und Kindeskindern gebettet hatten. Es war nur eine kleine, sehr kleine Gemeinde gewesen, die um das Grab gestanden, als man den Sarg hinabgesenkt, und sie hatte eines Priesters nicht bedurft, die Stätte zu weihen, die ihnen fortan heilig war. Dann hatte Frau Wollnow Cäcilie umarmt und ihr in’s Ohr geflüstert: „laß Dich nicht durch eine Philisterseele, die Euch begegnet, aus der Fassung bringen;“ und Cäcilie hatte ihr geantwortet: „sei unbesorgt; ich weiß, was ich thue.“ Und dann hatte Ottilie Gretchen geküßt, und der Fürst und Herr Wollnow hatten mit wenigen herzlichen Worten von Cäcilie Abschied genommen; und das leichte Wägelchen des Fürsten war nach Waldschloß, und die solide Equipage Wollnow’s auf dem Wege nach Prora davongerollt.

Auf dem andern Ende des Dorfes, wo der Weg nach Neuenfähr und weiter nach Sundin geht, hielt ein Reisewagen; und sie gingen jetzt durch das Dorf, Arm in Arm, still, und das Kind lief vor ihnen her und haschte nach den Schwalben, wenn sie allzudicht an ihm vorüberschwebten.

Sonst hatten die Schwalben freie Bahn. Hinauf, hinab zogen sie pfeilschnellen Fluges, jetzt an der Erde hin, jetzt sich hebend in anmuthigen Bogen, gerade aus, im Zickzack, zirpend, zwitschernd, unermüdlich die langen Schwingen regend.

Auch für sie war es wohl der letzte Abend, und morgen waren sie fortgezogen nach Süden, und kamen erst wieder mit dem Frühling.

Gotthold dachte daran; und dann dachte er an jenen Abend, als er durch die leere Dorfstraße ging und der Gesang der Schwalben ihm Thränen der Wehmuth in die Augen trieb, und wie leer sie ihm gewesen war, die Heimath und die ganze schöne Welt, und wie ihm jetzt die ganze schöne Welt wie eine Heimath erschien; und er blickte in das dunkle Auge der geliebten Frau und drückte die warme schmale Hand des Kindes, das sein Kind war, und er wußte jetzt, „was die Schwalbe sang“.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: erkären
  2. Vorlage: Anna
  3. Vorlage: das
  4. Vorlage: Fneunde
  5. Vorlage: Unterrenung