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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[681]

No. 41.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Sühne durchs Leben.

Von Gottfried Kinkel.
(Fortsetzung.)


Der Capitain stand vornüber gebückt, die Augen zur Erde geschlagen, sprachlos. Aber als fühlte er die Blicke der Versammlung wie Stiche, die in sein Inneres drangen, richtete er sich stramm und militärisch auf, sah schweigend umher und sprach mit fester Stimme „Ich fürchte das Gericht des wahrhaftigen Gottes und will nicht Schuld mit Schuld gut machen. Nachbarn, ich habe daheim einen Mann ermordet, und wenn Ihr mein Leben seither unter Euch für keine Buße haltet, so wählt mich nicht zum Diener der Gerechtigkeit!“

Die Worte waren fest und klar gesprochen. Aber wie der schon ergrauende Mann die Angesichter um sich weiß werden und die Nachbarn aus seiner Nähe zurücktreten sah, da durchfuhr ein Zittern seinen kraftvollen Bau. Aloys faßte ihn unter den Arm; er wandte sich nach der Thür und wankte mit dem Knaben seinem Hause zu. In das Meeting war keine Ordnung mehr zu bringen, Jeder sprach mit seinem Nachbar, ein Redner hätte keine Hörer mehr gefunden. Der Präsident bedeckte sein Haupt und erklärte die Wahlversammlung auf morgen früh neun Uhr vertagt. –

Als der Capitain mit Aloys in sein Haus trat, war es später Abend und Zeit zum Nachtessen. Die älteste Tochter trat ihm freundlich entgegen und setzte ihm den Stuhl an den Tisch. In das friedliche Haus war die Schreckenskunde noch nicht gedrungen, und daß der Vater oft ernst und still dasaß, waren die beiden Kinder gewohnt. Er aß und trank nicht, die Kinder endeten das Mahl, die kleinen Mädchen küßten ihn und gingen zu Bett. Als aber Aloys ihm die Hand zum Nachtgruß bot, sagte er leise: „Geh’ Du nicht schlafen, sondern wenn Alles im Hause zur Ruhe ist, da komm’ zu mir hier in die untere Stube, ich habe mit Dir zu reden.“

Aloys nahm das Licht schweigend vom Kaminsims und ging hinter den anderen Kindern die Treppe hinauf.

Der Capitain trat an das Brett über der Thür, langte die Bibel herunter und legte sie auf den Tisch. Sie schlug sich von selbst auf an einer Stelle, wo beide Blattseiten rechts und links vom Gebrauch gebräunt und von Thränenspuren befleckt waren. In mancher Nacht hatte er Einen Vers, der auf diesem Blatte stand, aufgeschlagen und aus ihm Schmerz und Trost gesogen.

Als Katholik geboren und wenig mit der Bibel bekannt, hatte er in Amerika sie schätzen gelernt. Der Yankee nimmt in die Hinterwälder seine Axt, seine Büchse und seine Bibel mit. Das Alte Testament im Leben der Patriarchen hat Vieles, was in den Urzuständen der neuen Ansiedlungen sein Spiegelbild findet.

Auch heute brannten die Augen des gebeugten Mannes sich auf den Einen Vers ein; er faßte die Bibel mit der Hand und legte den Finger unter den Vers, als wollte er sich sinnlich versichern, daß dessen tröstender Inhalt ihm nicht zerrinnen könne und wirklich in Gottes Wort stehe. Es war das tiefe Wort des Propheten: „Der Herr hat nicht Lust am Tode des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe.“

Der Mann las den Vers murmelnd; er las ihn noch einmal; er las ihn zum dritten Male mit lauter Stimme; dann legte er Hände und Haupt auf die Bibel, und die Spannung seiner Seele löste sich in Thränen, welche die alten Thränenspuren im Buche auffrischten. Jetzt schlug die Schwarzwälder Uhr auf dem Kamin zehn; der hölzerne Vogel auf ihr schwang seine Flügel, und gleichgültig, wie bei allem Schmerz und aller Lust seiner Hausgenossen, schrie er sein lustiges Kukuk. Aloys kam die Treppe herunter, der Mann hob den Kopf von der Bibel und betete leise. „Herr, sei mit mir in dieser Stunde.“

„Setz’ Dich!“ sagte er zu dem eintretenden Sohn.

„Nein,“ antwortete Aloys, „laßt mich stehen vor Euch, weil Ihr redet!“

Er lehnte sich gegen den Tisch und schlug die Ellenbogen übereinander, ruhig abwartend, was der Vater ihm zu sagen hätte.

„Aloys,“ sprach dieser, „die Stunde zwischen Dir und mir ist eher gekommen, als ich dachte. Wenn Du achtzehn Jahre alt wärst, da wollte ich reden. Jetzt muß es gleich geschehen nach dem, was Du heute vernommen hast.“

„Redet, Vater!“ sagte der junge Mann.

„Du weißt, wir stammen von der Ahr. Ich war ein Bauernknecht im obern Thal, nicht besser und nicht schlechter als ein Anderer. Meine Herren sind aber immer mit mir zufrieden gewesen, und die Feldarbeit habe ich ordentlich gelernt. Hernach habe ich Preuß werden müssen und in Köln, zwei Jahre bei der Infanterie gestanden, das dritte Jahr hatte ich Urlaub und kam mit dreiundzwanzig Jahren in’s Dorf zurück. Auch als Soldat bin ich immer ein ordentlicher Mensch gewesen. Ich hatte mir als Knecht ein Stück Geld zurückgelegt und hoffte mit der Zeit so viel zu verdienen, daß ich ein Fleckchen Land kaufen und für mich pflanzen könnte.

Damals lernte ich Deine Mutter kennen, die uns vor vier Jahren gestorben ist. Du hast sie wohl nur noch in Erinnerung, wie sie schon hinfällig und schwach vom kalten Fieber war. [682] Dazumal war sie ein schönes braunes Mädchen, feiner anzusehen als die anderen Dirnen von den Dörfern. Sie war auch ein armes Kind wie ich, dazu eine Waise, und diente bei einem Verwandten als Wirthschafterin. Obwohl ich dazumal ein blöder und gar nicht geschickter Mensch war, hatte sie mich herzlich lieb. Auch sie sparte von ihrem Lohne und wir meinten in ein paar Jahren unser eigen Heimwesen anfangen zu können. Wenn das so fortging, so wäre ich heute höchstens ein armes Bäuerchen im Ahrthal mit Einer Kuh; aber freilich,“ fügte er hinzu, und eine Thräne kam ihm in’s Auge, „dann würde wohl Deine Mutter uns noch leben.

Inzwischen kamen die Jahre vor der großen Revolution von 1848. Es waren böse Zeiten für die armen Weinbauer auf der Ahr. Die Lese war mehrmals schlecht, die kleinen Leute kamen aus den Schulden gar nicht mehr heraus und mußten am Ende verkaufen. Aus unserer Gegend wanderten Viele nach Amerika; von diesen kamen bald Briefe, die uns die Augen öffneten. Die Menschen fingen auch bei uns nachzudenken an. Was arme Leute waren wie ich, die hofften, wenn einmal eine Revolution käme, würde es ihnen besser gehen als vorher. Der lange Militärdienst sollte aufhören, der unser Einem die bestem Jahre zum Erwerb wegstiehlt; die Moststeuer wollte man abgeschafft haben, damit man an den Rebbergen mehr verdiente, und die Leute dachten, es sollte bald drüben so werden wie hier in Amerika, daß Alle gleich wären und auch ein armer Mann es zu etwas bringen könnte. Ich war mit Leib und Seele bei der Sache, hielt mich Sonntags im Wirthshause zu den demokratischen Führern und half auch die Anderen überzeugen. Was ich damals gemeint habe, meine ich auch heute noch, und darum bin ich hier gegen die Sclavenbarone, wie ich dort gegen die Adeligen war.

Nun mußte ich im Herbst als Landwehrmann zur Uebung eintreten. Ich war Knecht bei einem reichen Bauern und dachte an kein Verändern. Aber meinem Herrn setzten bei einer Versammlung des landwirthschaftlichen Vereins ein paar Rittergutsbesitzer und Beamte beim Weine zu. Ich sei ein Communist, sagten sie, der vor dem Eigenthume keinen Respect habe, und mit so Einem fahre man auf einem Bauernhof auf die Länge nicht gut. Als ich heimkam, fand ich einen andern Knecht in meiner Arbeit. Mein Herr kündigte mir wohl nicht, aber ich sah, daß ich unwerth geworden war und überflüssig, und ich suchte mir freiwillig einen andern Dienst.

Dabei ging’s mir aber schlecht. Auch die anderen reichen Eigenthümer wollten keinen Knecht, der beim Landrath übel angeschrieben stand. Ich bekam nur bei einem Bauer, der selbst arm war, einen schlechten Dienst. Das hätte ich schon ausgehalten und auf die Revolution gewartet, die ja auch bald gekommen ist, aber Eins schnitt mir tief in’s Herz: Deine Mutter war nicht mehr zu mir, wie sie zuvor gewesen.

Es lebte damals in unserer Gegend ein Mensch aus der Provinz Posen, er war aber ein richtiger Deutscher; der hatte sein Lebenlang im Herrendienste gestanden und war immer auf den großen Gütern gewesen, wie man sie drüben in den östlichen Provinzen hat. Jetzt war er Jäger und Reitknecht bei einem reichen Rittergutsbesitzer in der Eifel und dachte wie so Mancher: ‚Weß Brod ich ess’, deß Lied ich sing’.‘ Von Anfang an, da er aus Ostpreußen herüber kam, war er gegen die Bauern spöttisch und feindselig gewesen. Er hütete die Forsten seines Herrn und war den Waldfrevlern hart und streng. Früher hatte eine arme Frau in der Herrschaftswaldung wohl Holz lesen und Streu sammeln dürfen, er aber wollte das nicht mehr leiden. Auf den Dörfern erzählte man von ein paar Mädchen, er hätte sie freigegeben, weil sie in ihrer Angst ihm mehr zugelassen hätten, als ein Mädchen einem Manne zulassen soll. Am meisten aber haßte man ihn wegen einer andern Sache. In unserer Kreisstadt, wo die Leute unseres Schlages auch fest zusammenhielten, wohnten zwei Männer, die wir als unsere Führer ansahen. Der eine war ein pensionirter Beamter aus der französischen Zeit her, der andere ein Handwerksgesell, der bei den Vereinen in der Schweiz gewesen war. Diese hatten einmal im Wirthshause stark über den König, die Junker und das Militärwesen gesprochen, und das war verrathen worden. Ein Gerichtsschreiber, der im Stillen zu uns hielt, that es uns zu wissen, daß die Beiden sollten verhaftet werden. Man hätte sie dann nicht vor die Geschworenen, sondern klüglich vor das Zuchtpolizeigericht gestellt und auf ein paar Jahre Gefängniß verurtheilt. Wir flüchteten sie noch an dem Abend, wo wir davon hörten, in den Wald, dann kamen die Steckbriefe ihnen nach, und sie haben sich nachher durch die Eifel nach der französischen Grenze durchgeschlagen. Da hatte nun der Fritz, wie man nachher erfuhr, Tag und Nacht die Wälder mit dem Hunde nach ihnen abgesucht, um sie einzufangen und der Polizei zu überliefern.

Natürlich, das verziehen wir ihm nicht, ich und alle jungen Leute von unserer Partei. Aber es war ihm schwer etwas anzuhaben; denn das muß ich sagen, es war ein stattlicher und in seiner Art auch ein tüchtiger Mensch, und wenn er so auf einem Prachtroß seines Herrn, das er eben zuritt, auf der Kirmeß in irgend einem Dorfe herangesprengt kam, da konnte man wohl begreifen, warum die Mädchen so gern mit ihm tanzten.“

Als der Capitain so sprach, sah Aloys mit blitzenden Augen und gehobenem Haupte in das vor ihm brennende Licht. Der Erzähler aber bemerkte es nicht, denn er hatte die Hände auf seine Kniee gelegt, den Kopf über den Schooß gesenkt und redete fort, ohne den Knaben anzublicken.

„Bei einer solchen Kirmeß war es, daß ich zuerst merkte, was vorging. Ich war ja ein armer Bauernknecht, er hatte an Lohn und Ansehen dreimal mehr als ich, und sein Herr, hieß es, wollte ihn zum Verwalter über das ganze Rittergut setzen. Deine Mutter tanzte oft und willig mit ihm, und in ihren Augen stand es geschrieben, daß sie ihn gern hatte.

Was nun folgte, mag ich nicht erzählen. Oft noch traf ich Deine Mutter auf dem Felde, wenn die Mädchen oder Schnitter ihre Mittagsruhe hielten. Ich habe ihr zugeredet, habe ihr die Mädchen als Warnung vorgehalten, die Fritz schon unglücklich gemacht hatte – aber es war umsonst. Es giebt Männer, Aloys, die sind, als verständen sie die Hexerei, und die Weiber könnten ihnen nicht widerstehen. Sie sagte mir zuletzt, daß sie mich nicht mehr wollte, und daß sie den Fritz heirathen würde, wenn er erst Verwalter geworden wäre.

Aloys, Du bist ein junger Bursch, und wie weh es einem Manne thut, wenn ein Mädchen ihm die Treue bricht und so an einen feindseligen Menschen sich hängt, das kannst Du noch nicht fassen. Aber dann der Spott der andern Bursche, wenn man Sonntags einmal auf die Kegelbahn geht, und daß man zu dem Spott schweigen muß –“

„Doch,“ sagte Aloys, „das verstehe ich.“

„Also es wanderten zu der Zeit viele Leute nach Amerika. Jedem, der den Kopf etwas höher trug, machten sie ohnehin das Lebens sauer. Ich entschloß mich kurz und gut, auch zu thun wie die Anderen. Einen Auswanderungspaß konnten sie mir nicht abschlagen, da ich meine Militärpflicht abgeleistet hatte; Geld für die Reise hatte ich mir genug gespart. Beim Agenten kaufte ich mir einen Platz auf einem Schiffe, das von Antwerpen abging. Ich hatte bis zur Abfahrt aus dem Hafen noch vier Tage Zeit, aber es ließ mir keine Ruhe mehr. Ein Camerad nahm meine Kiste nach Antwerpen mit; ich wollte in Köln noch Bekannte besuchen, die ich dort von der Militärzeit hatte, und machte mich zu Fuß durch die Eifel dahin auf. Es war ein Sonntagmorgen, nach der Kirche, die jungen Bursche gaben mir noch bis auf’s nächste Oertchen das Geleit und tranken da mit mir den Abschied.

Nun weiß ich noch ganz genau das Dorf und das kleine Wirthshaus drei Stunden von Köln, wo ich Abends einkehrte. Die Leute kannten mich dort; als Militär war ich hier immer durchgekommen, wenn ich auf Urlaub nach Hause ging. Alles war noch auf den Feldern, ich ließ mir ein Glas Bier geben und saß ganz allein in der Wirthsstube. Mein Gemüth war schrecklich düster. Ich wußte, daß Fritz glücklich war, ich fürchtete nur, daß er mit Deiner Mutter es nicht ehrlich meinte, denn die Welt lag vor ihm, und sie war ja ein armes Mädchen. Aber im Zorn meines Herzens war ich fortgegangen, ohne sie noch einmal zu sehen, ohne ihr Adieu zu sagen. Wenn ich sie nur noch ein einziges Mal vor dem Menschen warnen könnte, sagte ich zu mir selbst. Das brannte mir auf der Seele. Schlafen, das spürte ich, hätte ich die Nacht doch nicht können. Der Mond ging hell und schön auf: ich bezahlte mein Bier, als die Leute vom Feld in’s Haus kamen, und weil ich mich schämte zurückzulaufen, sagte ich der Wirthin, ich wolle die Nacht noch auf Köln und morgen mit der Eisenbahn an’s Meer. Als ich aber vor’s Dorf kam, ging ich durch Heckenwege zurück, Alles war jetzt am Nachtessen, [683] ich begegnete keiner Seele und schlug die Straße nach heim ein. Deine Mutter würde Morgens früh auf der Wiese das Heu wenden, das wußte ich, denn sie hatten den Samstag gemäht. Dort konnte ich sie allein treffen. Für mich hoffte ich nichts mehr, aber ich wollte ihr noch gerade in’s Gewissen reden, daß sie sich behütete – und dann fort, fort auf immer, in die neue Welt!

Es kam aber anders. Ich lief durch die Nacht schneller heim, als ich selber wußte. Der Mond ging unter, ich sah den Morgenstern über meinem Dorfe stehen, als ich von der Eifel in’s Ahrthal hinabstieg. Jetzt erkannte ich im Sternenschein das Haus, wo Deine Mutter wohnte, erkannte ihr Fenster – und in dem Fenster brannte ein Licht.

Sie ist wach, und er ist bei ihr, rief ich aus in wilder Wuth. Aber wenn das ist, so will ich’s wissen, und er soll mir Rede stehen!

Ich stieg vollends in’s Thal hinab und legte mich unter einen Hollunderbusch auf die Lauer, wo ich das Fenster und die Hinterthür des Hauses recht im Auge hatte. Mir war zu Muth nicht wie einem Menschen, sondern wie einem wilden Thier. Ich hatte Deine Mutter immer so in Ehren gehalten, ich hätte nicht daran gedacht, etwas von ihr zu begehren, denn ich meinte, sie sollte als ehrliches Mädchen meine Frau werden. Und nun dieser Bösewicht!

Langsam fing es zu dämmern an, die Sterne verblichen. Es steht mir noch vor den Augen, wie die hohen grauen Felsenspitzen umher hell wurden. Da bewegte sich das Licht im Fenster, ich sah es die Treppe hinabgehen. Die Thür that sich auf, das Mädchen trat heraus, sah sich rechts und links vorsichtig um, und dann schritt Einer hinter ihr auf die Straße. Ja, er war es. Sie redeten noch zusammen, ich aber sprang hinter meinem Hollunder her in’s Gras und lief einen steilen Wiesenweg, wo ich jeden Schritt und Tritt kannte, den Berg hinan. Niemand konnte meine Fußtritte in dem gemähten Heu hören. Ich wußte die Stelle, wo er oben auf dem Berg durchkommen würde, um nach Hause auf’s Rittergut zu gehen.

Im Ahrthal, Aloys, ist’s nicht so eben und flach wie hier auf der Prairie; scharfe Felsgräte trennen die Thäler, über diese Gräte ziehen sich die Fußsteige von einer Ortschaft zur andern, unten im Thal geht die Fahrstraße. Da, wo ich hinauflief, steht oben auf der Schärfe des Grates ein hölzernes Kreuz; die Felsplatte läßt nur für ein paar Menschen Platz zwischen dem Kreuz und dem jähen Abhang daneben, wo unten dann die Weinberge vom Thal aufsteigen. Der Fels fällt wohl fünfzig Fuß jäh in diese Weinberge ab. Auf den Grat führen von beiden Seiten steile Felsenstege, die da und dort zu Treppen ausgehauen sind.

Als ich beim Kreuz anlangte, war es droben schon ziemlich hell. Ich hörte Fritz hinter mir langsamer hinaufsteigen, man konnte zuletzt jeden Fußtritt auf dem harten Gestein vernehmen. Er pfiff sich die Melodie des Liedes:

Geh Du nur immer hin,
Wo Du gewesen hast,
Und binde Deinen Gaul
An einen dürren Ast!

Das verdroß nach noch mehr. Hätte er gesungen oder in der Freude seines Herzens gejuchzt, das hätte mich weniger geärgert; aber daß er von der Anna kam und dann so leichtfertig pfiff und ein Schelmenlied pfiff, das machte mich wüthend. Jetzt kam er die letzten jähen Treppen herauf und sah mich auf einmal am Kreuz stehen. Er fuhr zusammen, hielt an und rief: ‚Wer da so früh?‘

‚Ich bin’s,‘ sagte ich, ‚und wer hier zu fragen hat, bin ich. Sage Du mir, wo Du herkommst zu dieser frühen Zeit?‘

‚Conrad?‘ sagte er. ‚Ich meinte, Du schwämmest schon den Rhein hinunter. Was willst Du noch hier?‘

‚Dich finden.‘ rief ich, ‚und Dich fragen will ich, was Du bei der Anna zu suchen hast!‘

‚Was geht Dich die Anna an?‘ fragte er spöttisch. ‚Hast Du doch das Feld bei ihr geräumt, und das war sehr weise von Dir, denn alle Bursche im Dorf wissen, daß sie Dich hat laufen lassen. Gieb Raum, ich habe mit Dir nichts zu schaffen.‘

‚Aber ich mit Dir, Du Bösewicht! Andere Mädchen hast Du unglücklich gemacht, die Anna sollst Du nicht unglücklich machen!‘

‚Aus dem Weg, Bauer!‘ sagte er. ‚Nimm Dich in Acht vor mir, ich nehme es mit Dreien von Dir auf.‘

‚Das wird sich finden, Du Polizeiknecht. Höre mich an, und wenn Du einen braven Blutstropfen im Leib hast, steh’ mir Rede. Ich will die Anna nicht, ich möchte sie auch gar nicht mehr, nun sie Dich Nachts in’s Haus gelassen hat, und wer weiß wie oft schon. Aber lieb habe ich sie gehabt, und leid thut sie mir noch. Sage mir als ein ehrlicher Kerl, willst Du sie heirathen?‘

‚Dummer Bauernbub,‘ rief er mir entgegen, ‚was hast Du mich in die Kinderlehr’ zu nehmen? Das Mädel ist mein jetzt, und was ich mit ihr anfange, geht Niemanden was an, als sie und mich. Mach’, daß Du fortkommst, oder Du sollst an mich glauben lernen.‘

Er schritt auf mich zu und packte mich an der Brust. Ich fühlte einen starken Stoß gegen die Stirn und taumelte nach dem Abgrund zu. Aber ich hielt auch ihn fest, und wir begannen zu ringen. Er war wohl stärker als ich, aber ich war rasend vor Zorn und Rachsucht. Ich faßte ihn beim Hals; er ließ mich von der Brust los, um nach meiner Hand zu greifen, die ihm den Athem zuschnürte. Da schwang ich ihn herum, und er flog über den Felsrand. Aber fallen hörte ich ihn nicht. Ich sprang an den Rand und sah, wie er sich mit Einer Hand an einem Büschel Gras hielt. Da faßte mich der Teufel: ich gab der Hand einen heftigen Fußtritt, und mit einem heisern Schrei rollte er den Abhang hinunter. Ich hörte ihn noch einmal auf den Fels aufschlagen, dann krachten tief unten ein paar Weinbergstangen. In der Einen Secunde war ich ein Mörder geworden und hatte zuvor nicht daran gedacht.“

Der Capitain hielt inne in Schmerz und Erschöpfung. Aloys ging an den Wandschrank und holte eine Flasche Wein. Er schenkte ein Glas ein und sagte: „Trinkt und faßt Euch! Ihr braucht es.“

Der Capitain trank und schwieg lange. „Ich danke Dir,“ sagte er tonlos.

„Du mußt nun Alles hören,“ fuhr er fort. „Gott ist mein Zeuge, ich dachte in dem Augenblick nicht an mich! Ich sprang an dem jähen Felsen hinab, um ihm zu helfen, wenn es möglich wäre. Ich weiß heute noch nicht, wie ich hinunter gekommen bin; am folgenden Morgen hatte ich beide Hände inwendig voll eitriger Schrunden. Unten in den Reben war es noch dunkel, ich fand ihn nicht gleich, aber ich ließ nicht nach, bis ich ihn wohl fünfzehn Schritt vom Fuß des Felsens liegen sah: so weit war er im Schwung in den Weinberg hinabgestürzt. Ich befühlte ihn, er war schon todt. Es dämmerte jetzt auch hell genug, um Alles zu sehen. Er sah gräßlich aus. Die Hirnschale war hinten fort vom Schlag auf den Stein, und wie er herabkam, war er auf einen spitzen Weinpfahl gestürzt, der war ihm durch und durch gegangen und dann zerbrochen, das blutige Stück stak ihm noch im Leibe. Rundum war eine rothe Lache und das Blut tröpfelte noch aus Einer Ader auf die halbreifen Trauben und die gelben Weinblätter. Das Gesicht war verzerrt von Ingrimm und Todesnoth, und mit beiden Händen hatte er tief in die Schollen gegriffen und Erde gefaßt, als wollte er sie noch auf seinen Mörder schleudern. Aber in meinem Herzen schwand aller Haß, ich glaube, ich hätte in dem Augenblick gar mein eignes Leben hingegeben, wenn ich ihn hätte retten können.

Lange aber konnte ich den entsetzlichen Anblick nicht ertragen. Es wurde heller und heller um mich her, eine furchtbare Angst ergriff mich. Ich lief durch die Weinberge unten ins Thal, auf die große Straße – da stand ich, zweifelnd wohin. Ich konnte mich westlich in die Wälder schlagen, die belgische Grenze zu Fuß erreichen und dann mit der Eisenbahn nach Antwerpen fahren. Aber sicherer wandte ich den Verdacht ab, wenn ich mich noch in Köln bei den Bekannten zeigte, denn man wußte ja im Dorfe, daß ich über Köln reisen wollte. Also faßte ich mir Muth, eilte die Straße hinab, und wie es Tag wurde, schlug ich mich auf Waldwegen geradewegs an den Rhein. Dort traf ich das erste Dampfboot, das Morgens von Koblenz abgeht, und war fünf Stunden nach meiner That schon in Köln. Ich eilte gleich zu meinen Bekannten, sagte ihnen, daß ich die Nacht durch gewandert sei, und ging des Abends mit meinem Auswandererbillet auf der Eisenbahn nach Antwerpen ab. Die Weinberge waren damals schon wegen der Traubenhut gesperrt, Niemand betrat sie. Ich habe nachher erfahren, daß man die Leiche erst acht Tage später, als ich längst auf der See war, in den Reben gefunden hat. [684] Es hatte geregnet, man konnte rundum keine Spur mehr sehen, daß ich drunten bei der Leiche gewesen war. Es ließ sich glauben, daß er aus Versehen in der Nacht hätte stürzen können, auch wußte man, daß ihn alle junge Bursche haßten, und nach meiner Abreise war er ja noch gesehen worden. Ich konnte hoffen, daß mich kein Verdacht treffen würde.

Als ich in New-York ankam, merkte ich bald, daß man unter den Amerikanern es zu nichts bringt, wenn man nicht englisch kann. Ich suchte also unter die Deutschen zu kommen und ging nach dem Staate Ohio. In Cincinnati traf ich einen Deutschen aus Pennsylvanien, dessen Vorväter schon vor hundertfünfzig Jahren eingewandert waren. Der gefiel mir, er redete mich, wie sie drüben in Pennsylvanien thun, gleich mit Du an; nur das ärgerte mich, daß er mir immer sagte: ‚Wir Pennsylvanier sind Deutsche, Du bist kein Deutscher, Du bist nur ein Deutschländer!‘ Aber wir kamen doch bald miteinander zurecht. Er hatte im Herzen von Ohio, mitten zwischen Cincinnati und Cleveland, eine junge Farm mit noch viel Urwald gekauft und dingte mich als ‚Help‘, wie die Amerikaner sagen. Ich bekam sogleich sechsmal soviel Lohn, als ich auf der Ahr verdiente. Er verstand sein Geschäft eben wie ein deutscher Pennsylvanier, und bei ihm lernte ich, wie und warum man in Amerika das Feld und das Vieh anders behandelt und behandeln muß, als bei uns drüben in Deutschland. Das Eine Jahr bei meinem Meister hat mir hernach mehr genutzt, als alle meine Arbeit für Andere drüben. Man lebte da ganz einsam im Walde, sah keinen Menschen und konnte, auch wenn man es gewollt hätte, kein Geld ausgeben. Ich hatte noch erspartes Geld von heim genug; als am Ende des Jahres mein Herr seine Frucht verkaufte und mir meinen Lohn gab, war ich reicher, als ich selber geträumt hatte.

Drinnen aber in meinem Gemüth – da ging es schlimmer und schlimmer. Anfangs dachte ich oftmals, sie könnten mich doch noch am Ende finden. Nachts träumte mir wohl, es käme aus dem Wald auf die Pflanzung heraus eine Abtheilung meiner Cameraden vom Militär, sie rissen mich vom Pflug, legten mir Handschellen an und schleppten mich nach Europa zurück. Doch schwand diese Angst bald: meinen Namen hatte ich zur Vorsicht verändert, meinem Paß an einem sichern Ort im Stall gut versteckt, auch ließ ich mir den Bart wachsen. Und wenn wirklich drüben ein Verdacht auf mich gefallen war, wie hätten sie meine Spur finden können unter den Millionen von Deutschen in der weiten Union und bis in die tiefen Wälder hinein?

Also das drückte mich nicht mehr; aber je mehr ich des Lebens mich sicher glaubte, desto mehr fühlte ich, daß dieses Leben mir nichts mehr werth war.

Mein Herr und ich waren anfangs auf der Farm mit dem Vieh ganz allein; später lebte noch ein Negerjunge bei uns, den sein Herr in Kentucky schlecht behandelte; er war entlaufen und hatte sich in einer dunklen Nacht auf einem Kahn über den Ohio gerudert. Er kam bettelnd auf die Farm, mein Herr nahm ihn aus Barmherzigkeit auf, und er war gut zu brauchen, denn er kochte ganz ordentlich, molk die Milchkuh und hielt die Wirthschaft sauber. Von ihm habe ich erfahren, wie es drunten in dem Süden hergeht, und darum habe ich immer wider die Sclaverei geredet und gethan. Der Negerbub blieb fast immer daheim bei den Hausgeschäften, wenn wir Männer auf dem Feld arbeiteten oder den Wald aushieben. Letzteres fiel mir am meisten zu, und zwischen den hohen schönen Bäumen, wie sie in Ohio wachsen, war ich tagelang mit meiner Holzaxt ganz allein. Sieh, Aloys, wenn ein Mensch, der so einen Stein, wie ich, auf dem Gewissen hat, unter andern Menschen lebt und seine Herzensangst wegreden kann, das geht noch; aber allein sein in der Wildniß mit dem eignen verzagenden Herzen und, wie geschrieben steht, mit allen den Gedanken, die sich unter einander entschuldigen und verklagen, das ist nicht auszuhalten. Es giebt keine Gespenster, das glaube ich fest, und wer todt ist, kömmt auch als Geist nicht wieder, aber drinnen in Herz und Hirn leben sie fort, die Todten, und das ist schlimmer, als wenn sie in eigner sichtbarer Gestalt kämen mit dem Leichenhemd, und man könnte ihnen entgegentreten mit dem lebendigen Lebensblut in den Adern. So stieg auch mir jener schreckliche Todte aus meinem eignen Innern immer wieder empor. Wenn Abends in der Dämmerung ein Eichhorn vom Baum in’s Moos sprang, wenn ein Reh durch’s Unterholz setzte oder ein Steinbeißer durch die dürren Blätter schlüpfte, so zitterte ich; am schrecklichsten aber war der hohe Mittag im Sommer, wo Alles in der Natur eine Stunde ruht, wo selbst die Mücken unter den Blättern rasten und kein Laub noch Halm sich regt. Dann wollte auch ich rasten nach der Mahlzeit und eine Stunde schlafen, aber es ging nicht, denn in dieser Stille malte mir die Einbildung wieder den todten blassen Mann mit der tröpfelnden Ader, als sähe ich ihn vor mir, und die furchtbare Minute des Ringens und den Einen unbarmherzigen Fußtritt, der mich zum Mörder gemacht hatte. Dann sprang ich auf und schrie vor entsetzlicher Angst laut in den stillen Wald hinein, um nur wieder eine Stimme zu hören in dem gespenstigen Schweigen!

Dieser Sommer entschied über mein Schicksal. Aus dem Katechismus kannte ich die Lehre, daß, wer Blut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden, und der Pfarrer hatte uns Beispiele von Mördern erzählt, die sich freiwillig dem Richter angaben, nur um die Seelenpein los zu werden. Wir Kinder glaubten diese Geschichten nicht – jetzt wurden sie mir alle lebendig. Gott, so meinte ich, der für die Sünden der Welt seinen Sohn opferte, verlangte ein Sühnopfer für alles Menschenblut. Wenn diesem Gesetz genügt ist, kommt wieder Frieden in’s Menschenherz. Meine Träume wurden ruhiger: ich sah mich vor dem Schwurgerichte in Köln, Alles von meiner Seele wälzend, was mich drückte; ich fühlte, wie sie mich auf’s Brett schnallten und unter’s Fallbeil schoben – ich empfand den Schnitt des Beiles und zuckte nicht mehr dabei. Immer mehr gewöhnte ich mich an diesen Gedanken, er wurde mir vertraut in seiner Schauerlichkeit, und zuletzt siegte er im Kampfe meiner Seele vollständig. Als die Ernte vorbei war, nahm ich den Lohn von meinem Herrn, suchte meinen Paß aus dem Versteck, fuhr nach New-York und nahm auf dem Paketboot Passage nach Antwerpen.

Wieder kehrte ich in dem kleinen Wirthshaus unweit Köln ein, diesmal für die Nacht. Am Morgen ging ich ab, um Mittags in mein Dorf zu kommen und auf dem Amt mich anzugeben. An der Stelle meines Verbrechens ging ich scheu vorüber, das Kreuz stand noch auf dem Felsengrat wie das Jahr vorher, die Weinberge hatten wieder ihre gelben Blätter, die Trauben färbten sich wie damals. Ich sah, daß auf der Wiese wiederum das zweite Heu geschnitten war, und quer durch die Wiese schritt ich zu meinem Dorf hinunter, wie hundertmal zuvor.

Es war gerade in der Underzeit, die Mäher saßen mit den Mädchen im Heu, manche hielten den Mittagsschlaf. Ich kannte die Meisten und grüßte im Vorübergehen. Sie sahen neugierig und lachend auf meinen hinterwälderlichen Blanketrock, aber aus der Art des Wiedergrüßens konnte ich abnehmen, daß keiner mich mehr erkannte. Die Arbeit in der gesunden wilden Waldluft hatte mich breitschultriger gemacht, und weil ich trotz allem inwendigen Leid in Amerika gelernt hatte, was ein Mann werth ist, schritt ich strammer und stracker daher, auch machte der Bart mich unkenntlich.

Das Dorf lag jetzt hart unter mir, in einer Viertelstunde war mein Schicksal entschieden.

Da sah ich in einem kleinen eingehegten Wieschen unter einem schattigen Birnbaum eine Person auf einem Haufen Heu sitzen und einem Wickelkind schenken. Das Wieschen kannte ich, es gehörte einer ganz armen alten Frau im Dorf, die nur ein Stückchen Krautland bei ihrem Häuschen und eine Geis im Stall hatte, die sie von dieser Wiese nährte. Aber die Person war nicht die alte Frau, sondern Jemand ganz anderes. Ich trat an den Zaun, wo ich ihr Angesicht von der Seite sehen konnte. O, es war sehr blaß und kränklich, dies Angesicht – aber durch all die Verwüstung hindurch erkannte ich die Augen, ist denen einst alle meine Lust gewesen war. Das Herz that mir einen Freudensprung; ohne daß ich es wollte, rief ich leis über die Hecke hinüber: ‚Anna!‘ Sie sah sich erschreckt um, sie erkannte mich an der Stimme, dann wandte sie ihre Augen auf’s Kind und fing bitterlich zu weinen an.

Ich glaube, Aloys, daß der barmherzige Gott das willige Opfer meines Lebens angesehen hat, als hätte ich es wirklich dargebracht, und wie er den Engel dem Abraham schickte, daß er seinen Sohn nicht tödtete, so hat er mir als Engel dazumal die Anna über den Weg geführt. Denn nun sollst Du es wissen, Aloys – das Wickelkind warst Du, und der Mann, den ich getödtet hatte, war Dein Vater!“

(Schluß folgt.)
[685]

In der Galerie. Originalzeichnung von C. Böker in Düsseldorf.

[686]

In der Galerie.
Von Hermann Oelschläger.


Auf mich, den Erfahrenen, liebliches Kind,
Auf den Rath hör’, den ich ertheile:
Entflieh’ dem Verderben, enteile geschwind –
Der Knabe vor Dir – Du siehst Dich ja blind –
Gott Amor ist’s mit dem Pfeile.

Gott Amor, der kleine, der schelmische Held,
Der listigste aller Verschwörer,
Der scheu seit Jahrtausenden ringsum die Welt
Beglückt und betrügt, je nachdem’s ihm gefällt,
Der Herzen- und Seelenbethörer.

Du lächelst? Du glaubst mir nicht an die Gefahr?
Du meinst, ich scherze und spiele?
O warte Du nur noch ein winziges Jahr,
Dann schwirrt schon der Pfeil – Du nimmst ihn kaum wahr
Und sicher doch eilt er zum Ziele.

Er trifft und er bohrt sich im Busen Dir ein
Und wühlt Dir im innersten Herzen,
Du lachst und Du weinst, Du willst Dich befrei’n
Und drückst Dir den Pfeil nur stets tiefer hinein,
Du zitterst in wonnigen Schmerzen.

Vorbei ist der kindische Zeitvertreib –
Wenn der Seele Schwingen sich regen,
Reifst Du zur Jungfrau, reifst Du zum Weib,
In heimlicher Sehnsucht drängt Dein Leib
Dem bräutlichen Kusse entgegen.

Das ist Gott Amor, der fürstliche Held,
Mit seinem klingenden Pfeile,
Das Kind, der Erlöser, der Herrscher der Welt –
Nimm Dich in Acht: wenn der Bogen ihm schnellt,
Dann sei Dir’s zum Glück und zum Heile.

Doch Dir lächelt der Gott; drum sei auch nicht bang,
Und glaub’ an der Liebenden Orden,
Werde, wenn schwirrend der Pfeil Dir erklang,
So glücklich wie der, der die Verse hier sang,
Glücklich durch Liebe geworden.




Ein Weiser aus dem Morgenlande.


Die Gartenlaube hat schon so manchen Kämpfer für Freiheit und Wahrheit aus alter und neuer Zeit, aus der Nähe und aus der Ferne dem deutschen Volke vorgeführt, darum darf hier wohl auch eines Mannes erwähnt werden, der im fernen Osten für die höchsten Güter der Menschheit streitet und arbeitet, des indischen Philosophen und Reformers Baboo Keschub Chunder Sen.

Das Christenthum findet bekanntlich in Indien trotz der zahlreichen Missionäre, die die Europäer ausschicken, und der Unsummen von Geld, das die Missionsfreunde aufwenden, äußerst wenig Anklang. Die Ursachen sind verschiedene. Es ist einmal das beschränkte dogmatisch-pietistische Christenthum, das in unseren Missionsanstalten den Leuten eingetrichtert wird, in Indien wie in Europa nur geeignet, auf jeden vernünftigen Menschen eine abstoßende Wirkung auszuüben. Ferner mußte das Christenthum, das die ersten christlichen Beherrscher und Eroberer Indiens praktisch bethätigten, in den Eingeborenen die Ueberzeugung erwecken, daß Christenthum identisch sei mit Meineid, Habsucht, Wollust, Grausamkeit. Was Wunder, wenn sich die höheren Classen gegen fremde Cultureinflüsse sträuben. In neuerer Zeit hat sich die Sache jedoch wesentlich gebessert. Durch Gründung von niederen und höheren Schulen hat die englische Regierung europäische Bildung in die weitesten Kreise geleitet, die indische Nation beginnt von ihrem jahrtausendelangen Schlaf zu erstehen und ein merkwürdiges Leben beginnt überall sich zu regen, das eine bedeutende Zukunft verspricht. In Reden, Zeitschriften und Büchern giebt das „junge Indien“ sein Bestreben kund, auf Grundlage der europäischen Cultur eine indische nationale Wissenschaft und Religion zu gründen. Der Anstoß zu diesen Bestrebungen datirt sich auf ungefähr fünfzig Jahre zurück. Um diese Zeit kamen in Calcutta zwei Männer zusammen, denen die Hebung Indiens am Herzen lag, der Engländer David Hare und der europäisch gebildete Hindu Rajah Ram-Mohun-Roy. Der Erstere war von dem Plane beseelt, das Land durch Schulen und Collegien zu reformiren, der Letztere meinte, daß Schulen und Collegien nicht genügen, sondern daß der Einfluß eines reineren Glaubens nothwendig sei. Das Resultat dieser Berathungen war, daß, während einerseits ein Hinducollegium errichtet wurde, dem mit der Zeit ähnliche Einrichtungen folgten, andererseits die Brahmo-Somaj oder die indische Kirche mit dem Glauben an einen Gott entstand. Der Zweck ihres Gründers Ram-Mohun-Roy, den man schon den indischen Luther genannt hat, war der: die ursprüngliche reine Hindureligion wieder in’s Leben zu rufen. Die Reform sollte also wie beim deutschen Protestantismus zunächst reine Restauration des Ursprünglichen sein und zwar in engem Anschluß an die alten heiligen Schriften, die Vedas. Durch zahlreiche Citate aus diesen alten Hinduschriften gelang es dem Gründer der Brahmo-Somaj, eine große Anzahl seiner Landsleute davon zu überzeugen, daß der echte Hinduismus nicht mit den späteren Puranas zusammenfalle, welche Abgötterei und Aberglauben lehren, sondern daß derselbe nichts Anderes meine, als Verehrung des einen wahren Gottes.

Trotz aller Verfolgungen und aller priesterlichen Bannflüche schritt Ram-Mohun-Roy immer weiter auf der Bahn der Reform. Ja er wagte es sogar, dergestalt mit allen indischen Traditionen zu brechen, daß er eine Reise in das von ihm so hoch verehrte England unternahm. Leider verhinderte ihn der Tod, zurückzukehren und sein Werk zu vollführen.

Der Prophetenmantel der Brahmo-Kirche fiel nun auf die Schultern eines jungen Gelehrten, der das Werk noch über die Grenzen, die ihm sein Gründer gesetzt, hinausführen sollte, und dies ist eben Baboo-Keschub-Chunder-Sen. Mit ihm trat der indische Protestantismus in sein kritisches, rationelles Stadium. Die Lehre von der Unfehlbarkeit der heiligen Schriften (Veden) wurde aufgegeben. Sen erkannte bald, daß die Veden in Verbindung mit manchen schönen Wahrheiten auch einige der schlimmsten Formen von Naturdienst, einige absurde Lehren und Gebräuche enthalten. Und statt, wie es so viele deutsche Theologen prakticiren, durch geschickte Erklärung alles Anstößige hinwegzudeuteln, hatte der junge Hindu soviel moralischen Muth und soviel Wahrheitssinn, um offen mit der Autorität der heiligen Bücher zu brechen. Trotz der unvermeidlichen Folge, daß sie damit die Sympathie eines großen Theils ihrer Landsleute verloren, ließen die Brahmoisten doch die Veden ganz und gar in den Hintergrund treten und ergriffen die kühnere Position als reine philosophische Gottbekenner (Theisten). Zugleich gingen sie zum Angriff gegen den Hinduismus mit allen seinen moralischen und socialen Uebeln über. Auf das Entschiedenste wurde insbesondere mit der Kaste gebrochen. Oeffentlich speisen Leute aller Kasten zusammen, mancher Bramine hat schon ein Weib aus der niedrigen Kaste der Sudras genommen und umgekehrt. Auch die Wiederverheirathung von Wittwen wird befördert. In Calcutta und Umgegend, bald noch in ferneren Theilen Indiens erheben sich zahlreiche Gotteshäuser, in welchen diese reine dogmenlose Religion der Gottes- und Menschenliebe gepredigt wird. Zum Entsetzen der altgläubigen Hindus haben auch die Frauen das Recht, an diesem Gottesdienste theilzunehmen. Ueberhaupt haben die Brahmoisten gleich von Anfang an erkannt, daß sociale und religiöse Reformen hauptsächlich durch Bildung und Hebung des weiblichen Geschlechtes bewerkstelligt werden müssen.

Die englische Regierung leistet dieser Bewegung jeden möglichen Vorschub; der frühere Gouverneur Lord Lawrence stand in intimem Verkehr mit Chunder Sen, und er war es auch, der denselben zu einem Besuche in England veranlaßte. Derselbe fand im vorigen Jahre statt und hat in England großes Aufsehen erregt.

Am 12. April 1870 wurde der indische Reformator in stattlicher Versammlung begrüßt. Geistliche der verschiedenen Kirchen, politische und wissenschaftliche Größen waren zahlreich [687] vertreten. Andere hatten ihre Sympathien schriftlich erklärt, zum Beispiel der Herzog von Argyll, Trevelyan, Stuart Mill, Grant Duff, Max Müller. Der gelehrte und liberale Decan der Westminsterabtei Dr. Stanley eröffnete die Versammlung mit einer glänzenden Rede, in welcher er insbesondere den indischen Gast aufforderte, sich nicht an der Mannigfaltigkeit der englischen Kirchen und ihrer Benennungen zu stoßen, sondern die Idee des allgemeinen Christenthums, das unabhängig von den verschiedenen Differenzen sei, zu erfassen. Das Christenthum eines Bacon[WS 1], Shakespeare, Walter Scott brauche keine speciellen Vorschriften, kein specielles Bekenntniß, um es zu empfehlen. Und was die einzelnen Kirchen betreffe, so sei jede nur in dem Grade groß und achtungswerth, als sie im Stande sei, das Große und Achtungswerthe an anderen Kirchen anzuerkennen. (Worte, die sich unsere deutschen Kirchenlichter auch etwas merken dürften.)

Chunder Sen trat nun selber auf und sprach zunächst seine Anerkennung der Verdienste der britischen Regierung im Namen von hundertachtzig Millionen seiner Landsleute aus. „Als Indien daniedergesunken lag im Schmutze des Götzendienstes und des Aberglaubens, als muhamedanische Unterdrückung und Mißregierung beinahe den letzten Funken von Hoffnung in den Herzen der Eingeborenen erstickt hatte, als die Priester übermäßig mächtig waren und in ihren Triumphen schwelgten über der niedergetretenen Menschheit – da sandte Gott in seiner Gnade die britische Nation, um Indien zu erlösen. England klopfte an die Thore Indiens und rief: ‚Edle Schwester, stehe auf, du hast schon zu lange geschlafen!‘ … Ein Strom öffnete sich, der England und Indien intellectuel, social, moralisch und religiös verband, und alle die hohen und freien Ideen des Westens kamen durch diesen Canal nach dem Osten. Eine wunderbare Aenderung bereitet sich vor. Ihr sehet eine neue Nation sich erheben mit neuen Bestrebungen, Zielen, Speculationen. Euer Shakespeare, Milton, Newton sind nun auch die Unsrigen geworden. Wir können nun mit Euch sympathisiren in all Euren reingeistigen Bestrebungen.“

Zuletzt kam Sen auch auf die Stellung seiner Partei zum Christenthum zu sprechen. Er sprach seinen Dank gegen die Missionäre dafür aus, daß sie sein Volk mit der Bibel bekannt gemacht, ein Buch, das er so hoch schätze wie die heiligen Schriften des eigenen Volkes. Das Christenthum selbst, so manche Vorurtheile ihm auch noch entgegenstehen, erwerbe sich immer höhere Achtung. Der Ursprung desselben sei ein orientalischer gewesen, darum fühle sich der indische Geist ihm verwandt. „Indien wird, das glaube ich fest, einst den Geist Christi aufnehmen. Aber ich kann nicht dasselbe sagen in Betreff der Lehren und Dogmen, die Ihr Indien dargeboten. Schon die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Kirchen und Secten richtet Verwirrung an. Wenn ein Hindu auch zu einer dieser Parteien übergetreten ist, so kommt er mit dem Missionär einer andern Kirche in Berührung, und seine Ansicht wird wieder schwankend … Was dagegen die centralen Lebenswahrheiten betrifft, die Christus verkündete: ‚du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüth‘, und ‚du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst‘, so wird es keinen Mann in ganz Indien geben, der auch nur für einen Augenblick seine Zustimmung zu solchen Lehren verweigern würde … Schickt uns daher statt Missionären, die endlose unverständliche Dogmen predigen, vielmehr Männer und Frauen, die durch ein edles christliches Leben einen heilsamen Einfluß auf die ganze Umgebung bilden und die schädlichen Beispiele so vieler Namenchristen abschwächen.“ Zum Schlusse erklärte er, daß er nach England gekommen, nicht um die Lehren des Christenthums kennen zu lernen, sondern wirkliches christliches Leben, den Geist christlicher Menschenliebe und Aufopferung zu studiren. Es sei seine Ueberzeugung, daß England eine große Nation geworden nicht allein durch Handel und Gewerbe, sondern durch den heiligen Einfluß einer Leben gebenden Religion. Ferner sei er hierher gekommen, um einigen Beschwerden seines Volkes abzuhelfen. „Ich hoffe, Ihr werdet meine demüthige Fürsprache für mein theures Vaterland erhören – für das Land, das immer das reichhaltige Thema von Philosophen, Alterthumsforschern, Dichtern, Theologen und Novellisten gewesen, das die Bewunderung aller Jahrhunderte erregt hat, das Land unerschöpflicher physischer und geistiger Hülfsquellen, das Land zahlloser Racen und Stämme, endlos verschiedener Sprachen und Religionen, Sitten und Gebräuche; das Land, wo der übersinnlichste Pantheismus (der Glaube, daß die Welt, das Weltall, selbst die Gottheit sei), der reinste Monotheismus (Ein-Gottglaube) und das riesenhafteste System von Abgötterei zusammen regieren, das Land, das sich einer uralten hohen Civilisation rühmt und das bestimmt ist, eine noch ruhmvollere Zukunft zu haben … Ich wünsche nicht den oberflächlichen Schimmer der Civilisation, die Formalitäten äußerer Bildung, laßt mich eindringen in die innersten Tiefen Eurer Herzen. Gebt mir etwas Edleres als Annoncen, die für den Fremden quälende Proben Eures äußern Wohlstandes, sind … Bringt mir Euren ganzen Enthusiasmus entgegen für das große Werk der Wiedergeburt Indiens.“

Diese herzliche sympathische Aufnahme wurde denn auch Sen in großartigstem Maße zu Theil. Geistliche der verschiedensten Kirchen stellten mit einer in Deutschland unbekannten Liberalität ihm ihre Kanzeln zur Verfügung, alle philanthropischen, gelehrten, religiösen Vereine luden ihn zu ihren Jahresfesten, die Städte Englands und Schottlands wetteiferten miteinander um die Ehre seines Besuchs. Da er bei all diesen Gelegenheiten zu sprechen hatte, so wurde seine Gesundheit so angegriffen, daß er sich einige Zeit an die schottischen Seen zurückziehen mußte. Er hatte im Sinn, im Herbst durch Frankreich, Deutschland und Italien nach Hause zu reisen, allein des ausgebrochenen Kriegs wegen sah er sich genöthigt, auf diesen Plan zu verzichten. Am 12. September 1870 wurde die officielle Abschiedsfeierlichkeit gehalten, die trotz der Reise- und Badesaison zahlreich besucht war. Männliche und weibliche Redner sprachen dem scheidenden Gaste ihren Dank und ihre Sympathien aus und forderten ihn auf, zu berichten, welchen Eindruck England auf ihn gemacht.

Sen begann zunächst mit einigen Aeußerlichkeiten: „Das Erste, was mir in die Augen fiel, war der Glanz Eurer Kaufläden; ihre Menge erregte mein Staunen. Ich dachte, die Engländer müssen eine Nation von Krämern sein, und wenn Jedermann verkauft, wo sind dann die Käufer? Sodann beunruhigte mich die emsige Thätigkeit des Engländers. John Bull’s Leben scheint sich in seiner rechten Hand zu concentriren. Er arbeitet und arbeitet und kann nicht leben für etwas wie Betrachtung und Nachdenken. Er ist wie Hamlet’s Geist, hier, dort, überall, immer sich herumbewegend. Ein englisches Diner ferner kommt mir vor wie eine Jagdpartie, und was mich in dieser Anschauungsweise bestätigt, ist die Thatsache, daß Damen immer vorher den Schutz von Herren suchen, ehe sie in den Speisesaal treten, falls etwa ein Unfall sich ereignen sollte. Dann gehen sie einher, bewaffnet mit Löffeln, Gabeln und Messern, um die Vögel unter dem Himmel, die Thiere der Wildniß und die Fische des Meeres, die auf dem Tische versammelt sind, anzugreifen. Ich schauderte am ganzen Leibe, als ich diese ungeheuern Stücke englischen Roastbeefs sah. Endlich noch zwei Worte über Damenkleidung. Vielleicht will John Bull das nicht dulden, aber ich gehöre zu Denen, die glücklicher oder unglücklicher Weise nicht an die Unfehlbarkeit eines Mannes oder eines Weibes glauben. Die Modedame ist wirklich ein eigenthümliches Geschöpf. Ich hoffe, sie wird niemals in Indien erscheinen. Besonders sind es zwei Dinge, gegen die ich Einwendungen habe: Kopf und Schwanz. In diesen Tagen, wo überall eine große und ernste Agitation für die Rechte der Frauen sich erhebt, da solltet Ihr Herren vortreten und sagen: ‚Frauen haben kein Recht, mehr Raum einzunehmen als Männer‘. Es ist factisch, daß eine civilisirte und feine Dame des Westens fünfmal so viel Raum einnimmt als ein Herr. Das schöne Geschlecht sollte billig sein. Und was den Kopf betrifft, so glaubte ich anfangs, daß das Haar auf den Köpfen der Frauen in England und in europäischen Ländern überhaupt weit länger sei als auf den Köpfen der indischen Frauen. Aber ich habe mir sagen lassen, daß unter diesen kolossalen Haarpyramiden ein Geheimniß steckt, das keine nähere Untersuchung leiden kann. Ich meine, gebildete und verständige Frauen der Gegenwart könnten künftighin eine bessere Probe von der Fruchtbarkeit ihres Gehirns geben …

Mit Ueberraschung bemerkte ich eine Institution, die ich in diesem Lande nicht erwartete – die Kaste. Eure reichen Leute sind Braminen und Eure Armen sind Pariahs. Betrübt hat es mich ferner, daß Eure Regierung die zwei größten socialen Uebel der Gegenwart, Trunkenheit und Prostitution, indirect, wenn nicht gar direct durch gesetzgeberische Acte ermuthigt.“

Dagegen drückte Sen seine Bewunderung aus, die ihm die großartige Wohlthätigkeit Londons und das glückliche englische [688] Familienleben eingeflößt. Auch die Macht der öffentlichen Meinung betrachtete er als großen Segen und drückte die Hoffnung aus, daß Indien bald etwas Derartiges bekommen werde.

Am ausführlichsten sprach er sich über das religiöse Leben Englands aus. Das englische Christenthum sei zu sectirerisch, zu engherzig. „Sind denn die Wasser des ewigen Lebens von so geringer Quantität, daß man die Canäle, durch welche sie fließen, erst enge machen muß, damit sie tief werden? Oft ergötzte mich die patronisirende Weise, mit der Engländer und Engländerinnen mit mir sprachen. Von dem winzigen Fluß, der Themse heißt, sagten sie: ‚das ist unser Strom‘, Maulwurfshügel nannten sie Berge. In Indien giebt es große Berge und den mächtigen Ganges, und als ich in dieses Land kam, da war ich darauf gefaßt, winzige Gegenstände zu sehen. Die Häuser fand ich sehr klein und ich bemerkte mit Schrecken, daß die Häuser für die Seele noch viel kleiner sind. Meinungsverschiedenheiten sind unvermeidlich, wo Leben herrscht, aber gegen den Geist der Antipathie und des Antagonismus (des Widerstrebens und Widerstreitens) protestire ich. Das christliche Leben Englands ist ferner mehr materieller als geistiger Natur. Ueberall herrscht das Streben Gott außen zu finden in Formen, Ceremonien, Dogmen; daß der Geist geistige Nahrung braucht, bedenkt man zu wenig.“ Die einzelnen christlichen Lehren besprechend, so erklärte er sich mit der Idee Gottes als des Vaters einig. Was Christus betreffe, so muß er mit Bedauern wahrnehmen, daß derselbe nicht die rechte Verehrung finde. Man habe ihn vergöttert, ihm Ehren erwiesen, gegen die er selbst protestirt haben würde, aber die Ehre, die er wünschte, habe er nicht erhalten, nämlich die, daß er übergehe in Fleisch und Blut seiner Jünger und Nachfolger. Christus habe den Seinigen seinen Geist verheißen; von der Erfüllung dieser Verheißung sei bis jetzt wenig zu sehn. Und doch sei der wahre Christus nicht der, der vor achtzehnhundert Jahren gelebt, nicht der Christus des populären Glaubens, sondern eben der Geist. Die Christen verehren Gott nicht im Geist und als Geist, sie beten vielmehr eine Incarnation (einen Fleisch oder Mensch gewordenen Geist) an. Gott brauche kein Fleisch, um sich zu offenbaren, da er ja allgegenwärtig das ganze Universum erfülle. „Christus identificirte den Geist der Wahrheit in sich mit Gott, er wollte nicht seinen Willen thun, sondern den Gottes. Der Hindu, sofern er an Gott glaubt, ist er ein Christ. Wenn Reinheit, Wahrheit, Keuschheit, Entsagung, Selbstverleugnung christliche Tugenden sind, so ist überall, wo sie sich finden, Christenthum, ob ihr Träger nun Christ, Hindu oder Muhamedaner genannt wird. Daher kommt es, daß manche Hindus weit bessere Christen sind, als die, welche diesen Namen führen … Das Resultat meines Besuches in England ist, daß, wie ich als Hindu hierher kam, ich als befestigter Hindu zurückkehre. Ich habe nicht eine Lehre angenommen, die nicht vorher schon in meinem Geist vorhanden gewesen. Ich habe viel gelernt, aber alles zur Bestätigung meiner Ansichten von Gott … Mein Land habe ich immer mehr lieben gelernt. Englischer Patriotismus hat wie durch Electricität auch meinen Patriotismus entflammt. Aber zugleich bin ich ein Weltbürger und kann sagen, daß England ebenso meines Vaters Haus ist als Indien. Nun scheide ich von Euch, aber mein Herz wird immer bei Euch sein. England, mit all Deinen Fehlern bist Du mir doch immer theuer!“

Chunder Sen hat Schreiber Dieses versichert, daß er beabsichtigt, in einigen Jahren auch Deutschland zu besuchen, für das er seiner Philosophen wegen eine große Zuneigung habe. Wird wohl sein Urtheil über unsere socialen und religiösen Zustände erfreulicher lauten? Wenn die Vertreter der katholischen Kirche eine Lehre, die sie vor einem Jahre in den schärfsten Ausdrücken verdammten, heute mit Gewaltmaßregeln ausbreiten, wenn die protestantischen Päpste einen tüchtigen Geistlichen in Nassau absetzen, weil er in einem Formular ein paar Worte änderte, wenn die höchste Behörde der protestantischen Kirche in Berlin Erlasse ergehen läßt, die vom Judenthume in einer Weise sprechen, wie man’s im Mittelalter gewohnt war: dann hat wahrlich keine der deutschen Kirchen Grund, sich ihres Christenthums sonderlich zu rühmen. Absurde Dogmen, Fanatismus, Bornirtheit, Ketzerrichterei, Feindschaft gegen die Wissenschaft, Versuche zur Volksverdummung werden in dem Hindu einen eigenthümlichen Begriff von dem „Lande der Dichter und Denker“ erwecken. Am Ende könnte er versucht sein, kritische Einwürfe zu machen gegen die bisherige Annahme, daß in diesem Lande Kant seine „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Schleiermacher seine „Reden über die Religion“ und Goethe seinen „ Faust“ geschrieben. – Hoffen wir, daß bis zu seiner Ankunft auch unsere kirchlichen Zustände sich soweit gebessert haben, daß wir uns derselben nicht mehr zu schämen brauchen. Inzwischen wünschen wir dem Reformationswerke des morgenländischen Weisen das beste Gedeihen.




Bilder von der deutschen Landstraße.[1]
3. Kleine Leute.
I.
Der Aristokrat auf der Landstraße und der Handwerksbursch. – Der commis voyageur einst und jetzt. – Ein Leipziger Banquier und ein Meßfremder im Rosenthale. – Das ehemalige Reisen zur Handelsmesse und die Meßgeschenke. – Die Botenfrau und Thurn und Taxis. – Die prosaischen Briefträger der Neuzeit und der Dichter Chamisso. – Rheinische Erfrischungsgefäße und Leute von der Rhön. – Die bairischen „Ganzen“ und „Halben“. – Annexionssüchtige Tischler in Baiern. – Die deutsche Marseillaise. – Feuerleute aus Neustadt am Rennstiege. – Der Schwammklopfer und der Herzog von Hildburghausen.


Nur der große, sofort in die Augen fallende Verkehr ist den Eisenbahnen geworden; ein Theil des kleineren und stilleren Verkehrslebens, das Anhaltepunkte von Ort zu Ort sucht und findet, zieht auch jetzt noch auf der alten Landstraße weiter, zum Theil selbst parallel mit dem Schienenwege.

„Aristokratie muß sein!“ Folglich auch auf der Landstraße unter der Menge von sogenannten kleinen Leuten, die hier an unserem Blicke vorüberziehen. Auf der Landstraße wird die Aristokratie repräsentirt durch eine gewisse Kategorie der Species des modernen Commis voyageur, wobei wir uns also ausdrücklich dagegen verwahren, als ob wir diese Herren zu den „kleinen Leuten“ zählten oder sämmtliche in eine einzige Classe zusammenzuwerfen gesonnen wären. Man hört zwar an manchen Orten und selbst aus dem geschäftlichen Stile der Herren Principale heraus immer noch den mehr als anstößigen Ausdruck „Reisender“. Es wird aber hohe Zeit, diese durchaus unpassende Bezeichnung endlich fallen zu lassen, weil außerdem der Handwerksbursch, der heutzutage meist auch in nicht viel mehr Häusern zuspricht, als mancher Commis voyageur, genöthigt wird, sein „Entschuldigen Sie, ein Reisender!“ mit einer anderen Wendung zu vertauschen. Eingewickelt in den obligaten, oft nur auf einige Wochen erborgten Pelz, den Schnarr- und Knebelbart zwar mit Aufopferung von Zeit und „Mitteln“, doch zur eigenen hohen Befriedigung in die vollendetsten martialischen Wölbungen und Linien gezogen, sitzt er, unser Reisender, unnahbar und selbstgenugsam in die Wolken einer echten Havanna gehüllt, – denn nur eine solche raucht er, – in dem neuaufgeputzten Reisewagen seines „Hauses“ oder auch in dem gemietheten Gefährte eines Hauderers, der gegen ein nicht zu hohes Trinkgeld gern seinen eigenen Rock auf einige Wochen in den Kleiderschrank hängt, um den wohlbetreßten, mit Aufwand von Putzpulver in seinen Knöpfen funkelnden und außerdem mit einigen Quadratfuß rothen Tuches eingefaßten Rock des „Burschen“ anzuziehen. Mit welchem Avec der Reisende in dem kleinen Landstädtchen aussteigt, wenn der Kellner in Gestalt eines Hausknechts den Chaisenschlag öffnet! So etwas will gründlich erlernt sein. „Jott bewahre! Des is man Routine, weiter nischt!“

Das ihm angeborene aristokratische Naturell documentirt unser Herr Reisender ferner durch die Art, mit welcher er auch dem kleinsten Krämer in dem unbedeutendsten Orte heutzutage die Artikel, in denen er „macht“, zu offeriren und auch ohne [689] Bestellung, ja oft trotz der ausdrücklichen Erklärung, daß man seine Waaren unter allen Umständen nicht brauchen könne, an den Hals zu werfen pflegt. An manchen Tagen findet eine förmliche Hetze unter den Herren Reisenden statt, so daß der Kaufmann, der von ihnen heimgesucht wird, froh ist, wenn die Sonne hinter die Berge steigt, um des überaus lästigen und zudringlichen Volkes endlich los zu werden. Aber siehe! Der gute Mann hat sich getäuscht: der geschäftliche Anstand ist bereits so weit abhanden gekommen, daß der am Tage bereits genug Geplagte auch noch „bei Licht“ heimgesucht wird. Das einzige, immerhin noch sehr zweifelhafte Auskunftsmittel besteht alsdann in dem freundlichen Bedauern der Frau Principalin: „Mein Mann ist verreist!“ wobei sie sich mit dem Rücken gegen die Glasthür stellt, die vom Laden in das Wohnzimmer oder das kleine Schreibstübchen führt, um die Ehehälfte gehörig zu decken. „Verfluchter Keeerl! schon wieder nich zu Hause! Na, den kriege ich schon noch!“ Und wie im Sturm, den todtmüden, mit Musterballen und Koffern schwerbeladenen Lohnbedienten oder „Burschen“ zur Seite, geht’s auf ein neues Opfer los.

Man hört nicht selten behaupten, es habe sich mit der Zeit viel Krankheitsstoff in dem Institute der Herren Reisenden – – doch wo gerathe ich hin! Wenn man weder Doctor der Philosophie, noch Doctor der Medicin ist, soll man von solchen Sachen nicht reden. Dabei fällt mir aber eine Geschichte ein, die, wenn sie auch wohl manchem unserer Leser schon bekannt, doch um so mehr werth, weil sie wahr ist.

Es war zur Zeit der Leipziger Michaelismesse, als der Chef eines reichen Leipziger Bankgeschäfts am späten Nachmittage einen Gang durch das Rosenthal machte. Bei der Umbiegung einer Ecke vernimmt er plötzlich eine menschliche Stimme, die in kurzen abgerissenen Sätzen und in wehmuthsvollem, fast schmerzlichem Tone ein Selbstgespräch hält. „Wie viel ließe sich verdienen! – Hätte ich meiner Frau gefolgt! – Die besten Werdauer (Tuche) um fünfundzwanzig Groschen, und der Jahrmarkt vor der Thür!“ – Als sich der Bankier näherte, gewahrte er einen schlichten, noch ziemlich jungen Mann am Wege sitzen, den er auf den ersten Blick für einen Meßfremden halten mußte, und welcher eben im Begriff war, seine aus Brod und Wurst bestehende Mahlzeit in ihren Ueberresten in Papier einzuwickeln und in die Rocktasche zu bergen. „Nur nicht gleich verzagen!“ rief der Bankier, der sich mit dem unterdessen aufgestandenen Fremden in ein Gespräch einließ, „vielleicht läßt sich Hülfe schaffen!“ – „Ach, da ist gar nicht d’ran zu denken!“ fiel ihm der Fremde in das Wort, „ich kenne hier Niemanden; ich hätte aber noch hundertfünfzig Thaler zusammenmachen können; meine Frau wollte es auch; aber wer konnte voraussehen, daß die Messe bei den jetzigen hohen Wollpreisen so günstig ausfallen würde! Und ganz bloß mag man sich auch nicht geben. Ich bin ein junger Anfänger und lasse auf drei Stühlen arbeiten und habe auch einen kleinen Laden. Aber in acht Tagen haben wir Jahrmarkt, wo ich achtzig bis neunzig Thaler lösen kann; ich hätte mir wieder helfen können! Nun ist’s zu spät.“ – „Vielleicht nicht,“ nahm der Bankier den Fremden bei der Hand, „kommen Sie morgen früh acht Uhr in die K.-Straße, Nr. …, da wird sich, denke ich, die Sache schon machen lassen.“

Am andern Morgen trat der Fremde wirklich in das Comptoir des ihm bezeichneten Hauses ein. Man richtete nur die Frage an ihn, woher er sei, wie er heiße und wo er logire, und bat ihn, ein wenig zu warten, bis Herr *** käme. Nach Verlauf von zehn Minuten erschien in der Thür des Nebenzimmers der Herr von gestern; er winkte dem Fremden, näher zu kommen, und richtete die Frage an ihn, wie viel er zu seinen weiteren Einkäufen noch nöthig habe.

„Hundert Thaler wären ausreichend!“ entgegnete der Gefragte.

„Hier, ich gebe Ihnen bis zur nächsten Messe ohne Zinsvergütung dreihundert Thaler. Machen Sie gute Geschäfte! Guten Morgen!“

Der Fremde, ein Herr F. aus G., jetzt Besitzer eines großen Geschäfts, kam noch oft zur Leipziger Messe und blieb ein schlichter einfacher Mann auch dann noch, als sich, seine Einkäufe nicht mehr nach Hunderten, sondern längst nach Tausenden von Thalern berechneten.

Das geschah zu jener Zeit, als die Krämer- und Handelsleute ihre Geschäftsreisen noch zu Fuße oder höchstens zu Pferde zurücklegten. Vor dem „Musterreiter“ lag der schwere Mantelsack auf dem kräftigen Gaule. Zu beiden Seiten des Sattels erblickte man geladene Pistolen zum Schutze des Reisenden und seines Geldes, das – in groben Münzsorten bestehend – in der lose um den Leib geschnallten oder auch in den Mantelsack eingewickelten Geldkatze geborgen war.

Auch die Handelsmessen wurden in früherer Zeit von den Geschäftsleuten meist zu Fuße besucht; denn die Postkutsche kam zu theuer, und die Omnibusse gehören erst der späteren Zeit an, in welcher Chausseen entstanden waren. Da sah man ganze Karawanen in angestrengten Märschen den Meßstädten zupilgern. Häufig mußte Nachts mit einer Streu vorlieb genommen werden, denn die Wirthshausbetten konnten die Menge der Meßreisenden nicht fassen. Zu dem an sich schon schweren Gepäck nahm man wohl auch noch so viel Proviant von zu Hause mit, als man bis zur Zurückkunft nöthig zu haben glaubte, weil man bestrebt war, die Reisekosten auf das geringste Maß zurückzuführen. Von jenen luxuriösen und theilweise theuren Meßgeschenken wie sie die Braut oder die Frau und selbst die Kinder des von der Messe heimkehrenden Kaufmanns in unseren Tagen erwarten, wußte man in früherer Zeit ebenfalls nichts. Da wurden oft nur drei oder vier Dreier aufgewandt, um vom Zuckerbäcker ein paar Schächtelchen zu kaufen. Und wie glücklich waren die Beschenkten, wenn sie sich im Besitze einiger Zuckerstückchen sahen, die in der oder jener Meßstadt – dem Wunderlande früherer Zeiten – eingekauft worden waren! –

Ein sehr altes und darum in gewisser Hinsicht fast ehrwürdiges Institut der alten deutschen Landstraße war jene ambulante Post, deren gesammtes Beamten- und Dienstpersonal mit Einschluß der Beförderungsmittel in einer „Botenfrau“ oder in einem „Botenmanne“ bestand. So viele Vorzüge unser heutiges Post- und Telegraphenwesen der früheren Zeit gegenüber auch haben mag, Eines hatte das Botenwesen – das übrigens hier und da von Magistratswegen geordnet war und noch ist – doch voraus: man konnte seine Nachrichten mündlich befördern, so daß man der Mühe des Schreibens überhoben war. Nur äußerst selten nahm eine solche Depesche im Gedächtniß der Botenfrau eine andere Gestalt an, geschweige denn daß eine mündlich mitgegebene Bestellung gänzlich verloren gegangen wäre, denn im äußersten Falle erschien sie dem Botenweibe gewiß wieder – im Traume. Dazu kam, daß die Botin wohl auch verstand, Miene und Ton Derjenigen nachzuahmen, welche ihr mündliche Nachrichten anvertraut hatten, und daß man noch tausend andere Fragen thun durfte, die von der Uebermittlerin einer Depesche gern und willig beantwortet wurden.

Kein Wunder, wenn sich zwischen den mit einander verkehrenden Familien und einzelnen Personen durch das Mittel der Botenfrau Vieles schneller und leichter in Ordnung bringen ließ, als heute durch kurze telegraphische Depeschen oder gar durch lange versiegelte Schreibebriefe, wie sie die Post verlangt. Selbstverständlich war die Botin ja auch eine Vertrauensperson der mit einander mündlich Correspondirenden, und noch heute muß ihr nachgerühmt werden, daß sie an Allem, was sie in den Familien ihrer Kundschaft vermittelte, und an diesen überhaupt den lebendigsten Antheil nahm. Da konnte man nöthigenfalls sein Herz ausschütten, wenn die Botenfrau endlich kam, und seine Neugierde stillen. Aber diese prosaischen Briefträger der Neuzeit, – die wissen nichts, und selbst wenn sie etwas wissen, wie benehmen sie sich! – „Lieber Briefträger! Wissen Sie nicht, wo – –“ „Nä, ich weeß gar nischt, ’n Morgen!“ Und im nächsten Augenblicke rennt er schon wieder unten auf der Straße weiter.

Es giebt deshalb auch jener Beschluß Mancherlei zu bedenken, wonach die Frauenzimmer von der Besorgung des Telegraphenwesens ausgeschlossen sein sollen. Als ob nicht Jahrhunderte lange Erfahrungen für die Verschwiegenheit, die Ehrlichkeit, die Pünktlichkeit, die Ordnung und geschäftliche Gewandtheit der Frauen in dem alten Institute der Botenweiber vor uns lägen! – Wenn Thurn und Taxissche Postgäule auch in Schnee- und Sturmwetter stecken blieben, das unverdrossene Botenweib – spät zwar kam sie, doch sie kam. Und was die Stärke des Gedächtnisses anlangte, so bin ich gewiß, daß heut zu Tage fünf Postbeamte alle fünf oder vielmehr sechs Sinne (den Postsinn eingeschlossen) zusammen nehmen müßten, um in dieser Hinsicht auch mit nur einem Botenweibe von ehemals einen Vergleich [690] auszuhalten. Man glaube es nur, sie hatte keine Zeit zu verschwatzen; denn unterwegs mußten die Bestellungen repetirt werden, um jegliche Unordnung zu vermeiden, und am Orte selbst angekommen, galt es die kürzesten Wege rasch zu finden und die Bestellungen schnell zu erledigen und für Alle – wie es das Geschäft erfordert – ein freundliches Wort übrig zu behalten. Es hat auch Niemand eine Botenfrau jemals gesehen, auf deren Stirne nicht vorwiegend der Ernst und die Besonnenheit sich gespiegelt hätten. Ich begreife darum unsern Chamisso auch heute noch nicht, warum er sein herrliches Gedicht dem Waschweibe und nicht vielmehr dem Botenweibe gesungen hat.

Doch auch von ihr, dem braven Botenweibe, müssen wir Abschied nehmen. „Denn hier,“ an der deutschen Landstraße – heißt es in Schiller’s Tell, „ist keine Heimath, – Jeder treibt sich an dem Andern rasch und fremd vorüber und fraget nicht nach seinem Schmerz.“

Da fährt ein kleiner Wagen vorüber. An der kleinen Deichsel zieht mit kräftigen Händen ein sonnengebräunter Mann in blasser Blouse, den an seiner Seite den schweren Wagen mitziehenden Hund von Zeit zu Zeit mit ermunterndem Blick und Wort anregend. Hinten am Wagen schiebt das Weib des Mannes, ein kleines Kind auf dem linken Arme tragend, während ein kaum fünfjähriges Mädchen, das sich am Kleide der Mutter festhält, nur mit Mühe nachkeucht. Die Tracht der Leute sagt uns, daß sie „auf der Rhön“ zu Hause sind, wo Jahr aus Jahr ein gar viele Familien sich aufmachen müssen, um ehrlicher Weise ein Stückchen Brod anderwärts zu verdienen; denn die Rhön birgt in ihren Bergen zum Theil die bitterste Armuth. Das über hohe Reife gespannte graue kleine Plantuch des Wägelchens ist vorn zurückgeschlagen und läßt uns den Inhalt desselben erkennen. Wer hätte sie nicht lieb gewonnen, jene rheinischen Erfrischungsgefäße, jene steinernen Flaschen, Krüge, Einmachgefäße, die wie auf dem Rheine so auch auf dem Maine weit verladen und dann auf Wägelchen – wie wir eben jetzt vor uns sehen – „in’s Land“ gebracht werden. Das sind jene bairischen „Halben“ und „Ganzen“, jene „Hafele“, die uns mit ihren Verzierungen, den Kreuzen, Sternen, Lilien etc. so seltsam anschauen, daß wir uns unwillkürlich ist das Mittelalter versetzt glauben, wenn wir, an die modernen prosaischen norddeutschen Seidel und Gläser gewöhnt, im „ Baierlande“ eine Bierhalle betreten. Noch Anderes hilft dazu, uns hier auf einige Augenblicke rücksichtlich der Zeit, ist der wir leben, zu täuschen. Die stramme Kellnerin, die zehn bis zwölf nicht leere, sondern gefüllte und noch dazu mit schweren zinnernen Deckeln beschlagene „Ganze“ mit einem Male herbeigetragen bringt, scheint uns eher in die Zeit der eisernen Arm- und Bein-, als in diejenige der Eisenbahn-Schienen zu gehören. Wie es in einem solchen bairischen Locale von allen Ständen hin und her wogt! Daran sind lediglich die bösen Tischler schuld; denn diese fertigen in Baiern für die Bierhallen lieber annexionssüchtige lange Tafeln als kleine viereckige Separattischchen – die Undankbaren, die doch ihren Namen dem Tische verdanken! Und wie voll klingt es dann im Chore, wenn nach Vertilgung der kunstgerecht zubereiteten Rettige und bei frischem „Anstiche“ die „Ganzen“ und „Halben“ mit kräftiger Hand erhoben werden, und aus tausend Kehlen der männliche Gesang der deutschen Marseillaise ertönt:

„Freund, ich bin zufrieden,
Geh’ es, wie es will!“ etc.

„Ich bin aus der Neustadt, kaufen Sie mir ab, lieber Herr! Bessern Schwamm haben Sie noch nicht gekauft!“ Und nun folgt eine ganze Reihe von stereotypen Redensarten zum Lobe des angebotenen Stückchen Feuerschwammes in jenem gedehnten, fast singenden Tone, wie er dem uns eben begegnenden Bewohner der Neustadt am Rennstiege auf dem Thüringerwalde eigen ist. Ehe wir’s uns versehen, wird uns auch wohl ein Stückchen brennender Schwamm unter die Nase gehalten. Es ist ein naives, gutmüthig keckes und doch zugleich unternehmendes Völkchen, das in dem genannten Orte seit wohl hundertundfünfzig Jahren seinen hauptsächlichen Unterhalt durch die Bereitung und den Vertrieb des Feuerschwamms suchte und bis ist die neuere Zeit auch fand. Der rothe Feuerschwamm wird von den Karpathen und aus Schweden bezogen, da derselbe in den Buchenwaldungen der Umgegend von „Schwamm-Neustadt“, namentlich in neuerer Zeit, nur spärlich gefunden wird. Nachdem man ihn mehrmals in Wasser eingeweicht und gehörig geklopft hat, wird er in einer Beize gekocht und hierauf durch Riffeln nochmals umgearbeitet und in den Handel gebracht. Es gab und giebt zum Theil noch Schwammhändler in Neustadt am Rennstiege, welche Niederlagen ihres Artikels in fast allen größeren Handelsplätzen Deutschlands und selbst der Nachbarländer unterhalten.

Die Erfindung der Schwefelhölzer aber versetzte dem alten blühenden Geschäfte plötzlich einen empfindlichen Schlag, und man berechnet, daß gegenwärtig von jenen bedeutenden Massen von Feuerschwamm, welche Neustadt am Rennstiege früher ausführte, kaum noch der fünfte Theil verfertigt wird. Die Neustädter aber ließen sich nicht aus der Fassung bringen. „Gut,“ sagten sie, „wenn Ihr unsern Schwamm nicht mehr haben wollt, so machen wir Euch Streichhölzer, wir bleiben gute Freunde!“ – Es sind nun einmal geschworene Feuerleute. Und so ziehen sie denn in allen Gegenden Deutschlands von Haus zu Haus und auf allen Jahrmärkten umher, um ihre Waaren an den Mann zu bringen, und kehren oft erst nach vielen Monaten „in die Neustadt“ zurück. Nur zur Kirchweihzeit finden sich so ziemlich Alle, wenn irgend möglich und nicht vielleicht ein böser Advocat einen dummen Wechselproceß eingeleitet hat, in der lieben Heimath wieder zusammen. Denn dem Neustädter passirt oft ohne seine geringste Schuld ein böser Streich, der ihn in Verlegenheit bringen kann. Das war auch schon früher der Fall. Zum Beweis hierfür diene folgende Mittheilung, die aus authentischen Quellen geschöpft ist.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts hatte ein Jäger zur Anzeige gebracht, daß ein Neustädter Schwammklopfer als Wilddieb einen stattlichen Hirsch erlegt habe. Das Amt erkannte gegen den gerade auf Reisen abwesenden Schwammhändler auf acht Wochen Gefängniß. Wie aber stellte sich die Sache später heraus?

Der Neustädter ging getrost zu seinem Fürsten – denn mit einem guten Gewissen braucht man keine Furcht vor Menschen zu haben – und sagte: „Gnädigster Herr! Da hat der dumme Jager eine Anzeig’ gegen mich gemacht, daß ich soll acht Wochen sitz’. Ich hatt’ doch ein geladenes Gewehr im Haus’ und wollt’s draußen vor’m Dorf abschieß’. Und wie ich losdrücken wollt’, da kam mit einem Mal ein ganz gewaltiger Hirsch daher gefahren, daß ich nur so zuschießen mocht’. Ich dacht’ aber: Nee, der is zu gut für dich, der is für deinen gnädigsten Landesvater! Und hab’ nich geschossen. Und wie ich noch e Weil da gestanden hatt’ und wollt’ mei Gewehr nun ruhig abschieß’ und hat’s auch schon an den Backen gebracht, kam auf einmal wieder ein ganz großes Thier daher gerannt, daß ich fast erschrock und abgeschossen hätt’. Ich sagt’ aber zu mir: Nee, der is zwar nich so groß, wie der vorige Hirsch, aber für dich is er doch zu gut, der is für deine gnädigste Landesmutter! Und hab’ wieder nich geschossen. Und wie ich so noch e Weil dagestanden hatt’ und wollt’ mei Flinten nun endlich doch abschieß’, da kam mir von der Seite her nur so e ganz klein’s verkrüppeltes Ding von ein’m Hirsch gerade accurat vor’s Gewehr gelaufen, daß ich dacht: Nee, der is zu schlecht für deinen gnädigsten Landesvater und auch zu schlecht für deine gnädigste Landesmutter, den können’s nich gebrauchen! Und wie ich losdrück’, kommt der Jager accurat dazu. Und da soll ich acht Wochen sitz’! Is das Recht?“

In Folge der originellen Vertheidigung entließ der Fürst unsern Neustädter mit dem Bescheide, daß in Zukunft „die ganz kleinen und verkrüppelten Dinger von Hirschen“ – dem Erbprinzen gehören sollten, und der böse Jäger hatte das Nachsehen.

Auch der Schwammhändler „aus der Neustadt“ hat uns schon längst wieder verlassen und zieht fröhlich und getrost auf der Landstraße weiter, so daß wir nur noch seinen mittelst Armbändern auf dem Rücken befestigten gelben Ranzen von Weitem erkennen. Da – um die Ecke herum – bietet sich uns schon wieder ein anderes und nicht weniger interessantes Bild. Doch davon ein anderes Mal!
August Topf.



[691]

Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


17.

Ja, es mußte dem Buchhalter gelungen sein, Herrn Claudius auf das Tiefste zu verletzen. Nach einem blitzähnlichen Aufzucken blieb dessen schlanke Gestalt in starrer Ueberraschung stehen und sah dem Dahinschreitenden nach, bis er im Gebüsch verschwunden war.

Ich wollte diesen Augenblick benutzen, um fortzuschlüpfen, allein bei dem leisen Geräusch, das meine Bewegung verursachte, wandte sich Herr Claudius nach mir um.

„Bleiben Sie noch!“ sagte er und streckte den Arm zurückhaltend gegen mich. „Der alte Mann war in großer Aufregung, ich möchte nicht, daß Sie ihm in diesem Augenblicke noch einmal begegneten.“

Er sprach so freundlich und gelassen wie immer. … Sollte ich in diesem Moment des Alleinseins ihm beichten, wie es sich mit dem Spuk in der Beletage der Karolinenlust verhielt? … Nein, ich hatte kein Vertrauen zu ihm, ich fühlte mich bis in mein warm schlagendes Herz hinein erkältet in seiner Nähe. So rückhaltlos meine ganze Seele Charlotte zugeflogen war, so wenig sympathisirte ich mit diesem Manne der kalten Berechnung – sein eigenthümlich gehaltenes Thun und Wesen, das weder bei sich selbst, noch bei Anderen ein Zuviel zuließ, stieß mich entschieden zurück. Er hatte zwar eben noch im Sinne der christlichen Liebe gesprochen – bei jedem Anderen würde ich die Worte auf innere Herzenswärme zurückgeführt haben, von seinen Lippen klangen sie mir nur als die Rüge eines leidenschaftslosen klaren Verstandesmenschen. Er hatte mich in Schutz genommen; allein, so kindisch und urtheilslos ich auch war, ich sagte mir doch, daß das nur geschehen sei, um die Uebergriffe seines Untergebenen abzuwehren. … Ich war eine viel zu beeiferte und enthusiastische Schülerin Charlottens, um nicht bei jeder Begegnung mit diesem Manne ihres Urteils über ihn eingedenk zu sein.

Jetzt gehorchte ich ihm aber und wartete geduldig, bis wir die dröhnenden Schritte des Buchhalters nicht mehr hören würden. Mechanisch schob ich den Sand des Weges mit der Fußspitze zusammen – der plumpe Schuh in seiner ganzen Häßlichkeit kam zum Vorschein; das alterirte mich gar nicht – es war ja nur Herr Claudius, der neben mir stand, und dessen Blick darauf fiel.

„Ich will gehen und die Thür wieder schließen,“ unterbrach ich das momentane Schweigen, mir fiel plötzlich ein, daß sie ja noch weit offen stand. … Ich wollle ihn um Verzeihung bitten, aber ich brachte es nicht über die Lippen.

„So kommen Sie,“ sagte er. „Ich begreife nicht, wie Sie mit Ihren kleinen Händen das alte seit Jahren verrostete Schloß haben öffnen können.“

„Das Kind –“ sagte ich und mußte bei dem Gedanken an das liebliche kleine Geschöpf lächeln – „ich wollte durchaus das Kind nahe sehen und die Leute, die so glücklich zusammen sind. Ich habe nie gewußt, wie es ist, wenn die Eltern ihre kleinen Kinder so sehr lieb haben.“

„Wie ist es Ihnen denn möglich gewesen, in das fremde Familienleben hineinzusehen?“

Ich deutete unbefangen nach dem Wipfel der Ulme, unter der wir eben hinschritten. „Da droben hab’ ich gesessen.“

Er lächelte verstohlen, und trotz der Brille sah ich, daß seine Augen an meiner linken Seite niederglitten; unwillkürlich folgte ihnen mein Blick – o weh! die rachsüchtige Ulme hatte mir ein weitklaffendes und so regelrechtes Dreieck auf meinen schwarzen Staatsrock gezeichnet, als habe sie das Winkelmaß dazu genommen.

Ich fühlte, daß ich feuerroth wurde, und wenn es auch nur Herr Claudius war, ich schämte mich doch.

„O Gott – Ilse!“ mehr brachte ich nicht heraus.

„Seien Sie ruhig, Frau Ilse darf nicht schelten – das leiden wir nicht!“ sagte er freundlich, aber auch in so protegirendem Tone, als spräche er zu dem kleinen Gretchen und das verdroß mich – so kinderklein und hülfsbedürftig war ich doch wahrhaftig nicht. … In diesem Augenblick fiel es mir so recht auf, wie ganz anders doch Dagobert war. Er behandelte mich, besonders seit er wußte, daß ich bei Hofe vorgestellt werden sollte, als völlig erwachsene Dame. „Frau Ilse hat übrigens bereits für Ersatz gesorgt,“ sagte er weiter. „Sie hat mir gestern eine Summe Geldes abverlangt zu einer Hoftoilette für Sie. … Bei dieser Gelegenheit muß ich Sie aber auf Etwas aufmerksam machen. So lange die Frau dableibt, mag sie dergleichen Angelegenheiten in den Händen behalten, später jedoch werde ich Sie bitten müssen, sich direct an mich zu wenden.“

„Muß das sein?“ fragte ich, ohne meinen Verdruß zu verbergen.

„Ja, das muß sein, Fräulein von Sassen – es ist der Ordnung wegen.“

„Nun, da hat meine liebe Großmutter doch Recht gehabt, wenn sie das Geld nicht leiden konnte. … Gott, was für Umstände, wenn solch ein paar Thaler von einer Hand in die andere gehen!“

Er sah mich lächelnd von der Seite an. „Ich werde Ihnen die Sache so leicht wie möglich machen,“ sagte er gütig.

„Aber ich muß doch um jeden Groschen in Ihr dunkles Zimmer kommen?“

„Das freilich. … Ist Ihnen denn dies Zimmer so schrecklich?“

„Das ganze Vorderhaus ist ja so kalt und grabesdunkel … wie es nur Charlotte und Fräulein Fliedner drin aushalten? … Ich stürbe vor Angst und Beklemmung!“ – Ich legte unwillkürlich beide Hände auf die Brust.

„Das schlimme alte Haus – es hat schon einmal ein Frauenleben gefährdet!“ meinte er schwach lächelnd. „Und nun ist es wohl auch schuld, daß es Ihnen bei uns nicht gefällt?“

„O, den Blumengarten hab’ ich sehr lieb!“ versetzte ich rasch, ohne seine Frage direct zu beantworten. „Er kommt mir vor wie ein ganzes Buch voll Wunder- und Zaubergeschichten! Ich muß manchmal die Augen rasch schließen und Hände und Füße festhalten, sonst – würfe ich mich unversehens mitten in solch ein Blumenbeet hinein!“

„Das thun Sie doch,“ sagte er in seiner freundlichen Gelassenheit.

Ich sah ihn überrascht an. „Na, da würden Sie doch schön schelten,“ fuhr es mir heraus. „Wie viel Bouquetgroschen gingen Ihnen da verloren! … O Gott, und wie viel Samendüten!“

Er wandte sich ab, schloß die Thür zu, vor der wir standen, und zog den Schlüssel aus dem Schloß.

„Diese Bouquetgroschen-Weisheit haben Sie wohl aus demselben Munde, der Ihnen bereits von der Hinterstube erzählt hat?“ fragte er, nachdem er den Schlüssel in die Tasche gesteckt hatte.

Ich schwieg – Dagobert’s Namen konnte ich unmöglich aussprechen, von ihm hatte ich ja diese „Weisheit“, wie es Herr Claudius mit einem ganz leisen Anflug von Bitterkeit nannte. Er drang nicht weiter in mich.

„Aber die Karolinenlust und der Wald, gefallen sie Ihnen denn gar nicht?“ fragte er.

„Es ist ganz schön hier –“

„Allein lange nicht so schön, wie in der Haide – nicht wahr?“

„Das weiß ich nicht – aber – ich habe heftige Sehnsucht nach dem Dierkhof! Ich leide oft schrecktich und ängstige mich, daß ich mir die Stirn an den vielen Bäumen einstoßen könnte.“ Die Klage trat mir fast unwillkürlich auf die Lippen. … Das hatte mich noch Niemand im Hause gefragt, sie setzten ohne Zweifel Alle voraus, daß der Tausch ein überwiegend vortheilhafter für mich sei.

„Armes Kind!“ sagte er, – nein, nein, das war keine Theilnahme! – Die Natur hatte ihm nur eine so weiche Stimme gegeben.

Wir betraten eben das Parterre seitwärts der Karolinenlust. Da stand der alte Erdmann, der neulich Ilse und mir den Eintritt in das Vorderhaus verwehrt hatte. Er hielt eine Mulde im linken Arm und streute unermüdlich Futter für das Geflügel auf den Kies. Herr Claudius schritt rasch auf ihn zu und hielt die Rechte zurück, die eben wieder einen Körnerregen hinwerfen wollte.

„Sie füttern viel zu verschwenderisch, Erdmann,“ sagte er. „Gehen Sie da hinein in den Busch, überall keimen die Körner, die die Thiere mit dem besten Willen nicht bewältigen können; ich habe es eben mit großem Mißfallen bemerkt.“ – Er griff in die Mulde und ließ die Körner durch seine schlanken Finger laufen. [692] „Das ist ja der reine Weizen – Erdmann, da muß ich schelten! Sie wissen, daß mir eine solche achtlose Verschwendung ein Gräuel ist. Bei uns kommt das Getreide nutzlos um, und manches arme Kind sehnt sich vergeblich nach einer Semmel.“

Eine förmliche Erbitterung überkam mich – wie doch dieser Mann seinen Geiz zu beschönigen verstand! Er schalt nicht, weil ihm in dem verschwenderisch hingeworfenen Weizen ein paar Groschen verloren gingen – Gott bewahre! Die Semmel wurde beklagt, die für ein hungriges Kind aus den Körnern möglicherweise hätte gebacken werden können.

Der alte Erdmann entschuldigte sich damit, daß auch nicht ein Körnchen Gerste mehr im Hause gewesen sei. Er zog wie ein schuldbeladener Sünder den Kopf zwischen die Schultern und suchte eiligst das rettende Bosquet zu gewinnen. … Hu, diese abscheulichen blauen Gläser, wie sie ihm nachfunkelten! Ich mochte sie aber auch gar nicht mehr ansehen. Ich wandte das Gesicht weg; meine Hände griffen in das nächste Gebüsch und zupften und zausten an den Blättern und streuten sie achtlos über den Kies hin.

„Was hat Ihnen denn der arme Chocoladenstrauch gethan?“ fragte Herrn Claudius’ Stimme neben mir wieder so sanft und gleichmüthig, als sei sie es gar nicht gewesen, die eben noch gescholten. „Denken Sie einmal, wenn nun doch in den muthwillig und nutzlos abgerissenen Blättern ein klein wenig von dem Heimweh lebte, das Sie quält –“

Ich bückte mich, las schleunigst die Blätter vom Boden auf, schichtete sie übereinander und legte sie auf den kühlen Rasen, dicht neben den Hauptstamm des Strauches, indem ich einen dickbelaubten Zweig über sie hinbog. „Nun sterben sie doch wenigstens in der Heimath,“ sagte ich und sah wider Willen in die Brillengläser hinein.

„Werden Sie es hier aushalten können?“ fragte er.

„Ich muß wohl – ich soll ja gebildet werden, und dazu gehören zwei Jahre“ – ich faltete unwillkürlich und seufzend die Hände – „zwei lange Jahre! … Aber es hilft nichts, ich weiß nun auch selbst, daß ich lernen muß – ich bin doch zu entsetzlich unwissend in der Haide geblieben! … Das kleine Gretchen da drüben weiß ja mehr als ich!“

Er lachte leise auf. „Nöthig ist Ihnen diese Lehr- und Leidenszeit freilich, wenn ich bedenke, wie sauer es Ihrer kleinen Hand wird, den eigenen Namen zu schreiben,“ sagte er. „In zwei Jahren können Sie viel lernen; aber Ihr Vater und vielleicht auch Andere werden wünschen, daß Sie Manches nicht in Ihre junge Seele aufnehmen, was die Welt, und vor Allem das Leben in einer Residenz, lehrt und verlangt. … Frau Ilse hat mich gestern ersucht, Ihr Thun und Treiben zu überwachen.“

Ein jäher Schreck durchfuhr mich – das litt ich nicht! Dagegen wehrte ich mich aus Leibeskräften! Freiwillig begab ich mich ganz gewiß nicht in das unerträgliche Joch, unter dem Dagobert und Charlotte schmachteten! Seltsam aber war es doch, daß ich nicht den Muth fand, ihm diesen meinen festen Entschluß ungescheut in das Gesicht zu sagen.


Streifzüge eines Feldmalers.  Nr. 1.  Der Humor vor Metz.
Von Chr. Sell in Düsseldorf.

[693]

Streifzüge eines Feldmalers. Nr. 2. Vor Metz – im Regen und ohne Humor.
Von Chr. Sell in Düsseldorf.

[694] „Ich weiß nicht, was Ilse einfällt – das hat ja Fräulein Fliedner längst übernommen und Charlotte auch,“ sagte ich zögernd. „Und Charlotte habe ich so sehr lieb, ihr werde ich ganz gewiß gehorchen.“

„Das soll eben vermieden werden,“ versetzte er ernst. „In Fräulein Fliedner’s Händen sind Sie gut aufgehoben. Charlotte dagegen hat noch viel zu viel mit sich selbst zu thun, als daß sie die Verantwortlichkeit für Ihren Bildungsgang übernehmen dürfte. … Wenn ich ihren unumschränkten Einfluß auf ein unerfahrenes Gemüth zulassen sollte, dann müßte sie in allen Stücken ein Vorbild sein können – davon ist sie jedoch weit entfernt. … Charlotte ist im Grunde eine edle Natur, aber sie hat Schlacken in ihrer Seele – ich weiß es, ich werde oft genug warnend und verbietend zwischen Sie Beide treten müssen.“

Hätte je ein Funken von Sympathie für diesen Mann in mir gelebt, bei seinem letzten, so rücksichtslos unumwundenen Ausspruch wäre er erloschen. Er rächte sich in diesem Augenblick bitter für Charlottens Plauderei hinsichtlich der Hinterstube – ich wußte es wohl – das war wieder einmal die hinterlistige Art und Weise der Revanche, die Dagobert so tief erbitterte … Und zu Allem gab mich Ilse diesem steifen, eingerosteten Zahlenmenschen ohne Weiteres in die Hände. Er steckte mich zwischen vier Wände, ließ mich lernen, sprach von den mir am meisten verhaßten Schreibübungen, und in Alles, was ich that, guckten die verabscheuten Brillengläser.

Wir waren während dem in die Halle getreten und standen vor dem Corridor, in den die Thür meines Zimmers mündete. Herr Claudius nahm die Brille ab und steckte sie in die Tasche. … Und wenn es auch nur Herr Claudius war und ich ihn nicht leiden konnte, auffallend schöne Augen hatte er doch – es ging mir genau so mit ihnen wie mit dem wolkenlosen Mittagshimmel; er sieht sanft und harmlos mild aus, und wenn man fest hineinsehen will, da senken sich die Lider tief vor dem Sonnenfeuer, das ihn durchglüht.

Jetzt schwieg ich beklommen – die Brillengläser waren mein Bollwerk gewesen; mit ihnen floh mein Muth und verkroch sich in dem allerentferntesten Winkel meiner Seele. Da kreischte draußen der Kies unter Menschentritten, die sich dem Hause näherten.

„Na, das nehmen Sie mir aber nicht übel, Fräulein!“ hörte ich Ilse schon von ferne sagen. „Das ist mir ja eine gräuliche Mode! … So ’ne junge hübsche Dame, und raucht wie ein Schornstein!“

„Ach, Sie haben nur Angst, daß Ihnen der Tabaksrauch die brillanten Pensées auf Ihrem Hute verderben könnte, Frau Ilse!“ lachte Charlotte.

„Dummes Zeug – fällt mir nicht ein! Aber das sage ich Ihnen, wenn ich mir dächte, daß das Kind je solch ein Papier zwischen ihre kleinen Zähne steckte – ich packte auf der Stelle mit ihr ein –“

Sie verstummte; denn sie war auf die Schwelle getreten und stand vor uns. Charlotte, die neben ihr erschien, hatte eine Papiercigarre zwischen den kirschrothen Lippen, und ihr lachendes Gesicht verschwand hinter einer dicken Rauchwolke, die sie, jedenfalls Ilse zum Trotz, kräftig ausgestoßen hatte. Bei Herrn Claudius’ Anblick fuhr sie aber doch sichtlich frappirt zurück, sie wurde feuerroth und nahm schleunigst die Cigarre aus dem Munde. Ihr Anblick reizte mich zum Lachen, und die Leichtigkeit und Grazie, mit der sie die Cigarre handhabte, machte sie mir nur um so interessanter.

Herr Claudius schien sie gar nicht zu bemerken.

„Sie haben Recht – leiden Sie das nicht, Frau Ilse!“ sagte er gelassen. „Ihrem Hute wird der Tabaksrauch nicht schaden, aber den milden keuschen Glanz der Weiblichkeit überzieht er mit einem häßlichen Ruß.“

Charlotte schleuderte mit einer heftigen Bewegung die Cigarre hinüber in den Teich.

„Hast Du die Einladungen besorgt, Charlotte?“ fragte er so ruhig, als sähe er die Leidenschaft nicht, die ihr in den Fingern zuckte und aus den Augen flammte.

„Noch nicht – Erdmann wird sie gegen Abend forttragen –“

„Dann vergiß nicht, Helldorf eine Karte zu schicken.“

„Helldorf, Onkel?“ fragte sie stockend, als traue sie ihren Ohren nicht; eine hohe Gluth überflog ihre Wangen.

„Ja, er soll morgen mit uns essen – hast Du etwas einzuwenden gegen meine Anordnung?“

„Das weniger – aber neu ist sie mir,“ versetzte sie zögernd.

Er zuckte leicht die Achseln, zog den Hut höflich vor uns und stieg die Treppe hinauf; er ging nicht in das Bibliothekzimmer – ich hörte, wie er droben eine Thür aufschloß.

„Steht denn die Welt plötzlich auf dem Kopfe?“ fragte Charlotte, die bewegungslos, mit niedergesunkenen Armen stehen geblieben war und den Schritten des Hinaufsteigenden gelauscht hatte, bis das Zufallen der Thür herunterklang. „Na, gnade Gott, das wird eine allerliebste Geschichte geben! … Ich will Hans heißen, wenn uns Eckhof morgen die Suppe nicht versalzt!“

„I, was hat sich denn der alte Buchhalter um die Küche zu kümmern!“ rief Ilse ärgerlich – der unermüdliche Morgen- und Abendsänger hatte es bei ihr gründlich verdorben.

„Liebe Frau Ilse,“ lachte Charlotte, „ich will Ihnen einmal etwas sagen. … An dem Geschäftshimmel der Firma Claudius kreist eine Nebensonne, und das ist Herr Eckhof. Onkel Erich thut freilich, was er will; allein er respectirt den hochweisen Rath und die Wünsche des Herrn Buchhalters in einer Weise, daß die bescheidene Nebensonne thatsächlich regiert. … Nun ist Eckchof Helldorf’s Todtfeind, ob mit Recht oder Unrecht, das weiß ich nicht, geht mich auch auf der Gotteswelt nichts an und ist mir schließlich sehr egal, denn ich kenne den – Menschen nicht, rein gar nicht! Ich weiß nur, daß Helldorf bis zu dieser Stunde mit keinem Fuß die Gesellschaftsräume im Hause Claudius betreten hat, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es Herr Eckhof nicht wünscht. … Morgen nun soll er plötzlich an einem Diner theilnehmen, das Onkel Erich zwei angesehenen amerikanischen Geschäftsfreunden giebt – Eckhof wird wüthen und mit Tractätchenschwung das Gericht des Herrn herabbeschwören – denn das ist eine Auszeichnung für Helldorf, wie sie der Onkel sonst nur hochehrwürdigen Glatzen oder weltberühmten Firmen gönnt. … Ich sage Ihnen ja, die Welt steht auf dem Kopfe, und es soll mich gar nicht wundern, wenn die steinernen Männer dort,“ sie zeigte nach der Gruppe inmitten des Teiches, „aufstehen, ihre Reverenz machen und uns versichern, daß wir schöne Mädchen sind!“

Ich mußte lachen, und auch Ilse schmunzelte wider Willen.

„Was thut denn Herr Claudius im oberen Stockwerk?“ fragte ich – es wollte mir durchaus nicht in den Kopf, ja, ich ärgerte mich darüber, daß „der Krämer“, wie ihn mein Vater nannte, das Reich der Wissenschaft betrat.

„Er kramt jedenfalls zwischen seinen Fernrohren. … Haben Sie denn die zwei Auswüchse auf der Karolinenlust noch nicht gesehen? Der eine bildet die Kuppel im Antikencabinet und den anderen hat sich der Onkel zur Sternwarte eingerichtet. … Nicht wahr, das sieht aus, als hätte auch er höhere Interessen? Glauben Sie’s um Gotteswillen nicht – die Beschäftigung läuft ganz auf Eines hinaus, er zählt droben am Himmel die blanken Goldstücke, wie die Thaler auf dem großen Comptoir-Zahltisch.“

Sie griff in die Tasche und zog ein kleines, schmales Paquet hervor. „Und nun, weshalb ich gekommen bin, Hier sind die Strümpfe – ein Dutzend – die ich für Sie aus R. verschrieben habe – sie sind eben eingetroffen, und morgen bringt auch die Schneiderin den Anzug.“

„Lassen Sie sich doch nicht anführen, Fräulein; das ist doch sein Lebtag kein Dutzend!“ rief Ilse und wog das Päckchen auf ihrer breiten Hand; es hatte genau den Umfang wie ein einziges Paar der berühmten Haidschnuckenstrümpfe. Sie schlug das umhüllende Papier zurück, ein wunderfeines, zartes Spitzengewebe quoll heraus.

„So – na, das ist ja recht schön!“ sagte sie grimmig. „Da kann die Kleine auch in K. halb barfuß laufen. … Das sind mir ja recht vornehme Dinger, die kommen nie auf die Wäschleine – nach dem ersten Spaziergang fliegen sie in die Lumpenkiste. … O weh, meiner armen Frau ihr Geld!“

Sie schritt spornstreichs nach dem Wohnzimmer.

„Lassen Sie sich nicht irre machen, Kleine,“ sagte Charlotte in ihrem bestimmtesten Ton. „Ich trage Jahr aus, Jahr ein keine anderen, und wenn zehnmal Fräulein Fliedner über diese sogenannte Verschwendung ihre kleine Nase rümpft. … Ich habe nun einmal eine empfindlich feine Pariser Haut, und Sie müssen Ihrer Stellung Rechnung tragen, und damit Basta!“

Sie huschte fort, und ich ging mit etwas ängstlichem Herzen [695] Ilse nach. Sie hatte Hut und Gesangbuch abgelegt, und stand eben mit dunkelgeröthetem Gesicht vor dem Blumentisch in meinem Zimmer. Er sah schlecht und vernachlässigt aus. Ich hatte die Blumen von vornherein mit ungünstigen Augen angesehen und begoß sie nicht, obgleich mir Ilse streng dieses Geschäft zugewiesen hatte. Jetzt hingen die prachtvollen Blüthen verschmachtend die Kelche nieder.

Ilse sagte kein Wort und zeigte nur mit dem Finger auf mein Werk, und da kam der Widerspruchsgeist und Trotz über mich.

„Ei, was geht mich denn der Tisch an?“ sagte ich grollend. „Ich sehe gar nicht ein, weshalb ich mich mit den Blumen abquälen soll. Ich habe sie ja gar nicht von Herrn Claudius verlangt – weshalb stellt er sie denn durchaus in mein Zimmer! Nun mag er sie auch pflegen lassen!“

„So ist’s recht – es wird ja immer schöner!“ sagte sie mit tonloser Stimme. „Spitzen an den Füßen und ein undankbares Herz. Lenore, auf den Dierkhof kommst Du nicht wieder zurück, und – ich will Dich auch gar nicht haben!“

Ich schrie laut auf und warf mich an ihre Brust – ihre Stimme hatte mir wie ein Dolch das Herz zerschnitten.

„Täubchen hat Dich die Großmutter genannt,“ fuhr sie unerbittlich fort; „ein schönes Täubchen! … Wenn sie’s nur gewußt hätte, was in Dir steckt, da würde sie Dich wohl –“

„Teufel genannt haben,“ ergänzte ich zornig und tief erbittert gegen mich selbst. „Ja, ja, Ilse, das bin ich – ich habe ein böses, schwarzes Herz; aber ich hab’s ja gar nicht gewußt, und nun überrumpelt es mich immer.“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Schwarzes Brett für die deutsche Volksschule. Nr 1. Eine Lehrerwohnung. Im Kreise Rössel des preußischen Regierungsbezirks Königsberg liegt ein Dorf Willims, welches vor den Typhuszeiten gegen dreihundertachtzig Einwohner zählte. Man wird wohl annehmen müssen, daß die Gemeinde zu den armen gehört, um nur einigermaßen die Möglichkeit von Vorgängen zu begreifen, wie wir sie leider von dort zu erzählen haben.

Der Lehrer dieses Dorfes hatte dreiunddreißig Jahre lang sein Amt verwaltet und in diesem ganzen Menschenalter mit den Bewohnern in Frieden gelebt. Das Einzige, was diesem Frieden Gefahr drohte, war der Zustand des Schulhauses, das einer Erweiterung dringend bedurft hätte; nach der in deutschen Landen nur allzubekannten Weise verschob die Gemeinde diese Reparatur von Jahr zu Jahr, indem sie jede neue Mahnung der Behörde mit einem neuen Versprechen abfertigte; der Lehrer hatte dabei nichts zu thun, als der endlichen Entwickelung der Dinge mit unsäglicher Geduld entgegen zu harren.

Da, im Frühling 1866, kurz vor dem Ausbruch des deutschen Kriegs, geht dem Dorfe die geschärfte Weisung zu, den Erweiterungsbau sofort in Angriff zu nehmen, und von diesem Augenblick an verfolgt die sämmtliche Bauernschaft den armen Lehrer mit dem bittersten Haß. Die Väter und Mütter dieser Gemeinde fragten nicht darnach, in welcher Spelunke ihre Kinder unterrichtet werden und ob sie dabei an ihrer Gesundheit einbüßen; in den vielen Männern und Frauen, welche bei diesem Lehrer in die Schule gegangen waren, regt sich kein Funken Dank- oder Achtungsgefühl, – der Lehrer ist daran schuld, daß die Gemeinde bauen muß – das genügt vollauf zu einem ganz gehörigen Haß, und damit derselbe auch als vollkommen berechtigt erscheine, erklärte man den Lehrer, ohne allen Grund, für die alleinige Triebfeder der entschiedenen obrigkeitlichen Anordnung.

Der Bau begann. Es zeigte sich sogleich, daß die äußerste, vielleicht nothgedrungene Sparsamkeit, aber leider auch die äußerste Gehässigkeit ihn leitete. Anstatt das alte Schulhaus zu erweitern, riß man es nieder, verschüttete dabei den Keller, ohne einen neuen herzustellen, und benutzte das obrigkeitlich vorgeschriebene Gebälke, das nur für die Erweiterung berechnet war, zur Aufrichtung eines neuen Hauses. Statt einer Vergrößerung des Wohn- und Schulraums hatte man glücklich das Gegentheil bewirkt. Aber das war nicht genug. Das Haus muß ein Meisterstück der Baukunst sein, wie wir aus dem Gutachten eines königlichen Kreis-Baumeisters entnehmen. „Die ganze Bauausführung,“ heißt es darin, „ist schlecht, und es ist unbegreiflich, wie der betreffende Schulinspector es hat anordnen können, daß der Lehrer dieses in jeder Beziehung unbewohnbare Haus hat beziehen müssen. Das Schulgebäude ist aus Füllholz erbaut. Die Füllhölzer bestehen aus dreizölligen Bohlen, welche nicht einmal vollkantig beschlagen sind, sondern die obere und untere Kante haben durchschnittlich nur einen Zoll Wandstärke. Die Fugen sind nothdürftig mit Moos verstopft und hie und da mit einem Mörtel aus Lehm und Kalk verstrichen. Bei der Besichtigung des Gebäudes fand ich, daß die Füllholzwände sich mehrere Zoll gesenkt und zwischen den Balken sich Oeffnungen gebildet hatten, durch welche die Witterung unbehindert in die Wohnräume dringen kann. In diesem Hause nun, welches frei auf einer Anhöhe im Dorfe liegt und dessen Wände überhaupt gar keinen Schutz gegen das Eindringen der Kälte gewähren, ist der Lehrer gezwungen worden, den Winter mit seiner Familie zu leben und außerdem noch den erforderlichen Unterricht zu ertheilen.“ Soweit der königliche Kreis-Baumeister.

Wir haben den Mann der Behörde als Zeugen aufgeführt, da die Erzählung des unglücklichen Lehrers selbst uns unglaubhaft erschien. Es ist wirklich so: der Herr Pfarrer der Ortschaft hat den Lehrer gezwungen, zu harter Winterszeit in diese Baracke einzuziehen, ohne Rücksicht auf das Weib, ohne Erbarmen mit den Kindern des Lehrers und mit den Schulkindern.

Es kam nun, wie es kommen mußte. Weder der Gemeinde noch dem Localschulinspector kam es in den Sinn, daß in diesem Windfange von Wohnung und Schulraum alles Heizen mehr den Vögeln auf dem Dache als den armen Menschen drinnen zu Gute kam und daß das Schul-Deputatholz unter solchen Umständen unmöglich auch den ganzen Winter ausreichen konnte. Der Vorrath war auch bald genug erschöpft. Niemand kümmerte sich darum. Wollte der Schullehrer nicht mit den Seinigen erfrieren – denn die Schulkinder konnten im schlimmsten Falle daheim am elterlichen Ofen bleiben –, so mußte er selbst für Feuerung sorgen. Das that er denn auch. In all seiner Armuth kaufte er fünfzehn Klaftern Holz, er verbrannte wirklich den Rest seines Vermögens und mußte doch Tag und Nacht mit den Seinigen fast erfrieren. Dazu trat die Noth der Nahrung. Die Gemeinde hatte ihn des Kellers beraubt, und nun stahl man ihm noch seine letzten Kartoffeln. Es ging nun an’s Verkaufen von Wirthschaftssachen, natürlich um Spottpreise, denn er konnte sie ja nur im Dorfe selbst losschlagen, und das Alles nur um den Hunger zu stillen. Endlich warf die fortwährende Erkältung die ganze Familie auf’s Krankenlager; um Hülfsmittel herbeizuschaffen, wurde das Letzte geopfert, ja nun begannen und mehrten sich in dem Hause des Jammers und Elends und der härtesten Entbehrungen auch noch die Schulden, vor denen der arme Mann in seinem langen Lehrer-Martyrium sich immer nach Möglichkeit verwahrt hatte.

Wir dürfen wohl glauben, daß der Schullehrer seine Lage nicht stillschweigend ertrug, sondern daß er um Abhülfe sich an alle in dieser Angelegenheit competenten Behörden gewandt. Auch sehen wir einigen Erfolg, welcher mit dem Gutachten des königlichen Kreis-Baumeisters in Zusammenhang steht. Derselbe trug nämlich, kraft seines Befundes des unbewohnbaren und nicht einmal „mit einer erforderlichen Küche“ versehenen Hauses, darauf an, daß die Schulgemeinde gezwungen werde, an Stelle des schlechten Schulhauses ein neues und bewohnbares Gebäude zu bauen und für den Lehrer sofort eine gesunde und bewohnbare Wohnung zu verschaffen. „Mir ist es unbegreiflich,“ schließt der würdige Mann, „daß von Seiten des betreffenden Herrn Schulinspectors nichts veranlaßt worden ist, um dem Lehrer und seiner Familie eine bewohnbare Wohnung zu verschaffen. Schleunige Hülfe ist dringend geboten, und ich erlaube mir schließlich die ganz gehorsamste Bitte, den armen und hart behandelten Lehrer hochgeneigtest unterstützen zu wollen, damit es demselben möglich werde, die Nachtheile, die derselbe an seinem Körper durch die schlechte und ungesunde Wohnung erlitten hat, wieder zu beseitigen.“

Wir haben es hier nur mit Thatsachen zu thun und sind ebendeshalb wohl berechtigt, den bezüglichen Erlaß des Oberpräsidenten der Provinz Preußen vom achtundzwanzigsten Juni 1867 an den Lehrer wörtlich mitzutheilen. Er lautet:

„In Folge Ihrer Vorstellungen vom zweiundzwanzigsten Mai c. und vom dritten dieses Monats eröffne ich Ihnen unter Rückgabe des eingereichten ärztlichen Attestes, daß die hiesige königliche Regierung, nach dem Ergebnisse der durch den Kreisbaubeamten vorgenommenen Untersuchung des dortigen Schulhauses, der Schulgemeinde die sofortige Beschaffung eines geeigneten Interimslocals an Stelle Ihrer gegenwärtigen ungesunden Wohnung aufgetragen und den Herrn Kreislandrath mit der Ausführung dieser Maßregel beauftragt hat. Ebenso ist der Schulgemeinde aufgegeben worden, an Stelle des bisherigen, völlig mangelhaft und verfehlt erbauten Schulhauses ein dem Bedürfniß genügendes herzustellen.“

Und nun hat wohl alle Noth ein Ende? – Nein! Nun sollte sie erst ihren höchsten Grad erreichen.

Um dem anbefohlenen Abbruch des Schulhauses zu entgehen, verfiel man auf den Plan, sich lieber des Schullehrers selbst zu entledigen; – ein neuer, jüngerer Lehrer müsse ja mit dem Urwaldblockhaus zufrieden sein. Zu diesem Behufe vereinigte sich sogar der geistliche Schulinspector mit der Gemeinde gegen den armen, verlassenen, durch Frost, Hunger und alle erdenklichen Kränkungen bis zu völliger körperlicher und selbst geistiger Schwäche heruntergekommenen Mann. – Zwei Tage vor dem mitgetheilten Oberpräsidialerlaß war, und zwar auf die persönliche Bitte des Lehrers, ein königlicher Regierungsrath in das Dorf gekommen, um an Ort und Stelle die Lage der Sache zu untersuchen. Es ist eine alte Erfahrung, daß, wer oft klagt, in den Verdacht kommt, ohne Ursache oder zu viel zu klagen. Den Gegnern des Lehrers scheint es gelungen zu sein, denselben in einem solchen Bilde dem untersuchenden Herrn darzustellen. Die Anzweifelung der vollkommenen Wahrheit seiner Aussagen, die der Lehrer im Beisein seiner Gegner von Seiten des Herrn Regierungsraths erfuhr, mußte aber, wie der zerrüttete Organismus des in solcher Weise Gedrangsalten es kaum anders ermöglichte, ihm den Ausdruck höchster Erbitterung über seine Behandlung von Seiten der Gemeinde und selbst des Herrn Schulinspectors auf die zitternden Lippen zwingen, – und damit hatte er eines der schwersten Verbrechen in seiner Stellung begangen: eine Beleidigung seines amtlich Vorgesetzten. Der Herr Regierungsrath verfehlte auch nicht, den Uebelthäter in seiner Jammergestalt vor der ganzen Gemeinde für einen unmoralischen Menschen zu erklären, und ihn mit Cassation zu bedrohen.

Die nächste Folge dieses Erfolges der Regierungsinspection war die von der Gemeinde beabsichtigte: die Bauangelegenheit verlor sich in den [696] Hintergrund, während die Krankheiten, Leiden und Mißhandlungen des Lehrers, ja die gänzliche Vernichtung seines Hausstandes und seines Familienlebens, für böswillige Erfindungen und Uebertreibungen galten.

Das Eintreffen des Oberpräsidialerlasses änderte darin nichts, als daß später dem Lehrer zwar eine Interimswohnung, aber kein Schullocal angewiesen wurde. Das verdorbene Schulhaus blieb trotzig stehen, und erst als abermals die rauhe Jahreszeit da war, nahm man es wieder in Arbeit: man bekleidete die Füllholzwände mit all ihren Ritzen und Löchern mit einem Lehmanwurf, und zwar, wohl der Billigkeit wegen, nur von innen. Und kaum hatte man die letzte Kelle dieses triefenden Lehmes an die Wand geworfen, so wollte man, ohne nur die äußere Abtrocknung abzuwarten, den Lehrer zwingen, mit Weib und Kindern da hinein zu ziehen. Sie Alle waren noch nicht genesen von den Leiden des letzten Winters, und nun sollte der letzte Rest von Gesundheit gar auf das Spiel gesetzt werden. Der Lehrer verweigerte den Einzug und bat um Aufschub desselben wenigstens auf so lange, bis der Lehmanwurf völlig ausgetrocknet sei. Da trieb man die Gausamkeit gegen die Familie so weit, Thür und Fenster aus der Interimswohnung fortzunehmen! Trotz alledem zog es der Lehrer vor, mit den Seinen sieben Tage lang ohne Thür und Fenster zu wohnen, als in die nasse Lehmhütte einzuziehen. Und als er nun völlig erkrankte und unfähig wurde, noch Schule zu halten, verweigerte der Pfarrer ihm die Erlaubniß, einen Hülfslehrer auf eigene Kosten zu bestellen.

Ob durch die mündlichen Aeußerungen bei der Anwesenheit des Herrn Regierungsraths, oder ob durch spätere schriftliche Kundgebungen veranlaßt, muß hier unerörtert bleiben kurz, eine Anklage auf Beleidigung vorgesetzter Behörden hatte endlich die Amtsenthebung und Pensionirung des Lehrers zur Folge – und damit würde dieses Drama von einer Lehrerwohnung geschlossen sein, wenn der gewesene Lehrer mit den Seinen nicht noch am Leben wäre.

Und an welchem Leben! Er selbst ist aus diesem Drama mit einem siechen Körper hervorgegangen, der ihn zu jedem andern Broderwerb unfähig macht: er fühlt sich an Körper und Geist, an Vermögen und gutem Namen völlig zu Grunde gerichtet – ein Gegenstand des Spottes im Orte seiner langen Lehrerthätigkeit, und höchstens des unfruchtbaren Mitleids bei wenigen Einsichtsvollen. Nicht viel gesünder, wie er, sind die übrigen Glieder seiner Familie davon gekommen, ja eine Tochter verdankt der schrecklichen Wohnung eine unheilbare Krankheit, die ihr für’s ganze Leben keine andere Aussicht eröffnet, als diejenige, welche die öffentliche Armenpflege bietet! – Und all’ dieser Hülflosigkeit soll fortan eine jährliche Einnahme von vierzig Thalern Pension abhelfen. Die Familie besteht aus fünf Personen – da kommen denn zur Bestreitung von Wohnung, Kleidung und Nahrung pro Kopf und Tag gerade acht Pfennige heraus.

So stand es mit diesem Lehrer bis vor unserm letzten großen Krieg; was seitdem aus ihm und den Seinen geworden, ist uns unbekannt.

Fr. Hfm.

Aus den Streifzügen eines Feldmalers. I. und II. Sie haben einmal, schreibt uns der Maler Christian Sell – es ist nun bald ein Jahr – in der Gartenlaube von mir drei Zeichnungen gebracht, deren zwei ihre Motive der Umgegend von Metz aus der Zeit der Belagerung entnommen hatten, und haben dem dazu gehörigen Artikel die Ueberschrift gegeben: „Streifzüge eines Feldmalers“. Das ist nun, wie gesagt, ein Jahr, die kriegerischen Bilder und die noch mehr kriegerischen Artikel haben, Gott sei es gedankt, einer friedlicheren Stimmung Platz gemacht, und wie – der Vergleich möge gestattet sein – auf den Feldern, über die im vorigen Jahre der Kriegsgott verheerend hinfuhr, sie mit heißem Blute tränkend, heuer schon wieder die goldene Saat der Garben und das Blättergrün der Reben wogte, so sind auch die Columnen der Journale in diesem Jahre wieder von den anmuthigsten Genre-Darstellungen und Bildern des Friedens erfüllt.

Wie aber andere Maler, so habe auch ich noch gar mancherlei Blätter in meiner Mappe liegen, und gar manche Skizze, die seiner Zeit nur auf das Flüchtigste zu Papier gebracht werden konnte, möchte es doch verdienen, auch heute noch ausgeführt und veröffentlicht zu werden. Ein geordneter Zusammenhang wird sich in den einzelnen Bildern und in den einzelnen Artikeln freilich nur schwer herstellen lassen: es sind auch heute nur „Streifzüge eines Feldmalers“, der, wie Sie und Ihre Leser schon längst ja wissen, sich geraume Zeit vor Metz bei der Cernirungsarmee herumgetrieben und dann auch in den Ardennen und im Juragebirge, gar mancherlei Interessantes gesehen hat.

Darf ich nun aus meiner Kriegsmappe noch das Eine und Andere herausgreifen, so beginne ich heute füglich mit Metz, dem ja schon früher die meisten meiner Zeichnungen und Skizzen gegolten haben. Ich erinnere mich jener Zeit auch noch mit ganz besonderer Genugthuung; denn – die Tage von Orleans und die Kämpfe bei Belfort waren ja viel später – schon hier konnte man die bewundernswerthe Ausdauer des deutschen Soldaten im Ertragen riesenhafter und andauernder Strapazen erkennen. Im Anfange waren die Aufgaben der Cernirung wohl nur leichte und man stand den etwaigen Ausfallgelüsten der eingeschlossenen Armee Bazaine’s mit einem Muthe gegenüber, so heiter, wie der Himmel war, der über uns lachte. Das war zu Anfang September. Als aber später die Herbststürme kamen und der aschgraue Himmel viele Tage und Nächte lang seine unerbittlichen Schleußen geöffnet hielt, als Pferde und Reiter und Fußvolk bis über die Knöchel im unergründlichen Morast wateten, um nur Augenblicke lang auf dem durchweichten Stroh eine elende Lagerstätte zu finden, als der Wind eisigkalt durch die pechschwarzen Nächte über die Stoppeln und Felder und über die verwüsteten Dörfer hinsauste, und als es gerade um jene Zeit galt, die Augen doppelt offen zu halten, in Sturm und Regen nicht mit der Wimper zu zucken und in der halb erstarrten Hand immer noch seines Gewehres sicher zu sein – da kostete es wohl manchem Braven alle Anstrengung, sich von der Last der Beschwerden nicht ducken zu lassen und immer des hohen Zieles eingedenk zu sein, zu dessen Gewinnung er hier auf Posten stand.

Aus jenen so grundverschiedenen Tagen nun sind meine beiden heutigen Bilder entnommen, aus der, wenn ich so sagen darf, heitern und aus der ernsten Zeit der Cernirung – blutige Köpfe gab es freilich auch in jener und gar Mancher hatte trotz des blauen Himmels und trotz des goldenen Sonnenscheins alle Ursache, sich jede Heiterkeit schließlich doch vergehen zu lassen. Dafür sorgten schon die kleineren Ausfälle und die selbst damals ununterbrochenen Scharmützel der Vorposten in ausreichendem Maße.

Die Leser der Gartenlaube erinnern sich, wie ich, von Sedan über St. Privat la Montagne, wo ich die zerstörte Kirche zeichnete, nach Marly sur Seille zog, einem kleinen Dorfe südlich von Metz und zwischen diesem und Schloß Corny, dem Hauptquartiere des Prinzen Friedrich Karl, unmittelbar an der Cernirungslinie gelegen. Dort nahm ich ein Bild von der Wache im Dorfe auf, das Sie bald nachher gebracht haben, und marschirte nach einem sehr unruhigen Nachtquartier im Schlosse Montbel – der Leser wird sich meiner Skizze vielleicht noch erinnern – nach Mercy le Haut, das, gleichfalls in der Cernirungslinie gelegen, vielleicht nur achthundert Schritte von den äußersten feindlichen Vorposten entfernt war, Angesichts des Forts St. Quelen, dessen tiefe Kanonenbrummer – die Franzosen schossen ja unaufhörlich, um, wie es schien, bis zur unvermeidlichen Uebergabe ihr Pulver los zu werden – wohl noch Manchem von der Cernirungsarmee im Gedächtnisse sind. Damals sah ich nun bei einem Infanterievorposten den heitern Scherz, welchen das eine meiner Bilder darstellt.

Die Leute hatten versucht, sich die Langeweile durch eine improvisirte Schanze und durch Herstellung eines Geschützes zu vertreiben, dessen Rohr zwar des äußern Glanzes entbehrte, das aber dennoch in gewisser Entfernung einem wirklichen Geschütze auf das Täuschendste glich. Es war aus der Hälfte eines zerbrochenen Karrens und einem Baumstamm zusammengesetzt, während als Protze eine Liebesgabenkiste dienen mußte, die vermuthlich eben erst ihres willkommenen Inhalts entleert worden war. Dahinter lagerten unsere Soldaten und es war hier eines der wenigen Male, daß ich dieselben Karten spielen sah. Warum sie dieses in der heimathlichen Garnison doch geradezu unentbehrliche Spiel im Felde so gänzlich vernachlässigten, weiß ich nicht. Daß ihnen die Karten fehlten, ist doch kaum anzunehmen; oder war ihnen die Situation zu ernst? Vielleicht weiß ein Anderer die Antwort.

Mein zweites Bild kann füglich als Gegenstück zu dem eben geschilderten dienen; es ist der ernsten, ja schauerlichen Zeit der Cernirung entnommen, den letzten Tagen derselben, 21. oder 22. October, als man noch allgemein an eine letzte Anstrengung, an einen verzweifelten Ausfall Bazaine’s glaubte. Unsere braven Soldaten mußten deshalb in allen Positionen bei Tag und Nacht unter strömendem Regen, bis über die Knöchel im Wasser stehend, bei ihren Geschützen oder Gewehren zubringen. Welches Lager ihrer nach der Ablösung harrte, habe ich schon oben gesagt. Die Batterie, welche mir zur Aufnahme meines Bildes diente, war die fünfte von der vierzehnten Division. Ich fror während des Zeichnens ganz erbärmlich und der mir befreundete Hauptmann lud mich ein, mir die steifgewordenen Finger wieder am Feuer zu erwärmen, das man im Wind und Regen mit Noth und Mühe brennend erhielt. Die Soldaten zeigten zwar keinen heitern, aber einen festen, gesetzten und durch keine Unbilden erschütterten Muth. Am 27. October endlich schlug auch für sie die Stunde der Erlösung; an diesem Tage, spät Abends, ward die Capitulation von Metz unterzeichnet.


Abendwanderung nach einem Dichterschlößchen. Drei Tage hindurch hatten kürzlich die Volksschullehrer Thüringens im Vereine mit freisinnigen Geistlichen, mit Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen des Landes zur Gründung eines thüringischen Lehrerbundes in dem lieblichen Arnstadt getagt. Es war ein von ernstem Schwunge beseeltes und doch gar frisches und fröhliches Fest. Als aber endlich am späten Abend des 27. September dem herzlichen Beieinander die Abschiedsstunde geschlagen hatte, zuckte mit einem Male ein Gedanke durch die erregte Versammlung, der Allen so nahe gelegen und doch erst in diesem Augenblicke zu gemeinsamem Ausdrucke gekommen war. Man erinnerte sich, daß man Arnstadt nicht verlassen dürfe, ohne einem Gefühle der Verehrung genügt und eine Pflicht dankbarer Pietät erfüllt zu haben. Zu einem langen Ueberlegen und Arrangiren war keine Zeit. Bald sahen die überraschten Bewohner des Ortes auf der Straße einen fast unabsehbar langen Zug sich ordnen und im Scheine schnell herbeigeschaffter bunter Laternen einer benachbarten Höhe entgegenziehen. Unzählige schlossen mit neugieriger Theilnahme sich an und es lag etwas eigenthümlich Feierliches in der schweigenden und leisen Geräuschlosigkeit, mit welcher diese große Menschenmenge sich in stiller Abendstunde bergan bewegte.

Schon nach kurzer Wanderung war das Ziel erreicht, man stand vor dem anmuthigen Bergschlößchen, dem überaus traulichen Heim, das jetzt die beliebte Erzählerin der Gartenlaube, die kranke Dichterin der „Goldelse“ und des „Geheimniß der alten Mamsell“ auf einem der wonnigsten Aussichtspunkte ihres schönen Heimathsortes sich gegründet hat. Ihr galt die Huldigung, mit welcher so viele Lehrer und Lehrerinnen aus allen Theilen des Thüringerlandes ihr erstes Vereinigungsfest beschließen wollten. Nachdem man ohne Mühe das Schlafzimmer der Gefeierten erkundet, tönte bald unter den Fenstern desselben vielstimmiger Männergesang, anerkennungsvolle Rede und begeistertes Hochrufen der imposanten Versammlung in die lauwarme Herbstnacht hinaus. Es war ein unbeschreiblich poesievoller Moment, eine ebenso einfache als ergreifende Scene, und der Schreiber dieser Zeilen schätzt sich glücklich, zufällig Zeuge derselben gewesen zu sein. Eine Hoffnung Vieler, die Dichterin von Angesicht zu sehen, konnte freilich nicht in Erfüllung gehen. Sie war an dem Tage besonders leidend gewesen und hatte schon frühzeitig die Ruhe gesucht.
A. Fr.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. S. Jahrg. 1864, Nr. 17, 44, 47 und 49.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Baco