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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[853]

No. 51. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften 5 Ngr.


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)
24. Frühlingsstürme.

In südlichen Ländern erscheint der Frühling als ein lieblicher Knabe, der dem altersschwachen abgelebten Tyrannen Winter seine Macht abschmeichelt und leichten Schrittes an seine Stelle tritt – milde lächelnd der erstarrten Natur die Winterketten löst und Balsam in ihre Wunden träufelt. Ganz anders zeigt sich der Frühling im Norden. Dort ist er kein tändelnder Knabe mehr; bis er dorthin kommt, ist er zum Manne gereift, zum gewaltigen Mann, der den Kampf mit einem Giganten aufnimmt. Wer den furchtbaren nordischen Winter kennt, der allein weiß, welch’ Riesenwerk der Frühling dort zu vollbringen hat, um seine Aufgabe zu erfüllen. – Es ist ein Kampf von Elementen, es ist ein Ringen auf Tod und Leben in der Natur, daß die Erde erzittert – ein Schauspiel, dem das kleine Menschengeschlecht mit Entsetzen beiwohnt. Dem nordischen Frühling schlägt kein träumerisches Mädchenherz entgegen beim melancholischen Geplätscher der aufthauenden Bäche, sein Nahen ist das Nahen eines wilden Eroberers, sein Athem ist Sturm, unter seinen Tritten dröhnt und knirscht die berstende Decke des Eises und der ausbrechende Strom überfluthet brüllend die Gefilde. Zitternd beugt sich der Mensch vor diesem Frühling und flüchtet entsetzt, wenn er ihn anstürmen sieht, im furchtbaren Anlauf die Bollwerke des Winters zertrümmernd, rings um sich her Eisblöcke wegschleudernd und in der Kampfeswuth die Bäume ausreißend, die er belauben sollte. –

„Das Eis kommt,“ schrieen die Bewohner des Lyk-Gestades eines Mittags, als die erste warme Frühlingssonne wieder ihre goldenen Pfeile herabsandte. Diese feinen Geschosse waren als kleine Keile mit ihren scharfen Spitzen in die glitzernde Eisdecke eingedrungen und hatten sie allmählich gelockert, bis plötzlich ein donnerähnlicher Knall erfolgte. Wie Strahlen schossen die Sprünge nach allen Richtungen der Windrose über die glatte Fläche hin und wie ein wilderregtes übervolles Herz gegen die Rippen pocht, so schlug der schwellende Strom gegen die geborstene Decke an, immer stärker, in immer ungeduldigeren Stößen. Allmählich kam diese in Bewegung, bald da bald dort sich spannend und sperrend, hier emporgehoben, dort von den übersprudelnden Wellen hinabgesenkt, brach sie in Stücke, und nun wälzten sich die schäumenden Wogen darüber, darunter hin, in rasender Wuth die abgelösten Blöcke mit sich fortreißend, bis sie an eine Stelle kamem wo das Eis stehen geblieben einen Mauerbogen bildete, unter dem sich die compacte Masse aufstaute zu einem furchtbaren Bollwerk für die dahindrängende Fluth. Geschiebe auf Geschiebe, Block an Block thürmten die Wellen zu einem undurchdringlichen Damm vor sich auf. Wohin sollte sie sich nun ergießen die hochangeschwollene Fluth? Jetzt war der drohende Augenblick da, wo die Brandung mit ihrer vollen Wucht gegen die Dämme, die Deiche anschlug, gebieterisch mit wildem Ungestüm den Ausweg fordernd, brausend und kochend, als brenne ein Feuer unter dem riesigen Kessel und jage den dampfenden Schwall empor aus dem tiefsten Grunde.

Doch die Deiche hielten den ersten Andrang aus, den zähen Widerstand der feinen Weidenwurzeln, welche das Erdreich durchflochten wie eiserne Drähte, vermochte das Wasser nicht zu brechen, die zarten Pflanzen bildeten ein elastisches unzerreißbares Gewebe, stärker als Stahl und Stein; wie die treue stille Ausdauer in der Menschenbrust oft mehr vermag als ein rascher stürmischer Anlauf.

So stieg denn die Fluth empor bis an den Rand des Bettes – zum Ueberfließen!

Rathlos sahen die Strandbewohner des Haasznensees und des Lyk dem entsetzlichen Schauspiel zu. Ein solcher Wasserstand war nie erlebt, wer hätte gedacht, daß die gewaltigen Dämme je zu niedrig werden könnten? In Todesangst riefen die armen Menschen die Nachbargemeinden um Hülfe an, um die Dämme aufzuschütten; von dem Thurme auf Schloß Schornkehmen wallte eine lange schwarze Fahne als Nothzeichen herab; die Schwestern Bella und Wika schickten einen reitenden Boten nach der nächsten Station, um an Alfred zu telegraphiren, und von nah und fern eilten die Gemeinden hülfsbereit herbei. Die armen, von Hunger und Krankheit geschwächten Leute machten sich mit zitternden Händen an’s Werk, um dem Unheil zu wehren. Ohnmächtiges, nutzloses Beginnen! Vor diesem Feinde ließ sich kein Bollwerk mehr aufthürmen, das Stand halten konnte. Jede neuangetriebene Eisscholle konnte es zertrümmern und es kamen ihrer immer mehr und mehr vom Haasznensee daher und stapelten sich auf den ungeheuren Eisberg auf, wie gewaltige Schiefer. Es war, als quöllen alle Wasser der Erde aus den unheimlichen Strudeln des Haasznensees, so unerschöpflich sich immer neugebärend strömte und wallte es von da oben den Lyk herab. –

Egon irrte händeringend in seinen Gemächern hin und her. Das Unglück war für ihn unabsehbar, er besaß nichts als seine Felder und Wiesen jenseits des Sees, und wurden sie überschwemmt, dann war er ein ruinirter Mann. Da trat Schmetthorn herein, verschmitzt lächelnd wie immer. „Das Schütten nützt nichts bei [854] dem Eisgang,“ sagte er, „die nächste beste Eisscholle reißt Alles ein und nun zieht auch noch ein Sturm herauf.“

„Schmetthorn, um Gotteswillen – sag’, was sollen wir thun?“ rief Egon, und der Diener weidete sich an der Angst des Herrn. Die schlaffen Züge des einst so schönen Mannes waren völlig verzerrt, die Kniee schlotterten ihm, die verschwommenen Augen stierten ihn mit einem blöden Ausdruck an.

„Ich weiß einen guten Rath, der ist mehr als einen Batzen werth, aber ich gebe ihn dem Herrn Grafen umsonst aus alter Freundschaft.“

„Nun? Schmetthorn, sprich! Um aller Barmherzigkeit willen – sprich!“

Schmetthorn näherte sich dem Grafen mit widerlicher Vertraulichkeit und flüsterte ihm in’s Ohr: „Da giebt’s nur eine sichere Hülfe: man muß dem Wasser einen Abfluß schaffen, – wir machen einen Durchstich!“

Egon fuhr fast erschrocken zurück. „Einen Durchstich? Wo?“

„Beim Salten!“

„Schmetthorn!“ rief Egon, als könne er die ungeheure Niederträchtigkeit dieses Vorschlags kaum fassen. „Schmetthorn, das wäre ja ein Verbrechen!“

„Nur Nothwehr, Herr Graf! Der Salten verdient’s nicht besser, hat er Sie und mich nicht gemaßregelt, wie ein Polizeibüttel? Nein – da wäre jedes Erbarmen Schwäche.“

„Wenn es aufkäme, bedenke nur!“

„Es kommt nicht auf, ich bürge Ihnen dafür, ich habe einen feinen Plan, lassen Sie nur mich sorgen. Ich möchte so wenig wie Sie in’s Zuchthaus.“

„Woher die Leute nehmen zu solch einem Werk?“

„Wissen Sie nicht, daß in den Wäldern zu Hunderten die Rastenburger Eisenbahnarbeiter herumlungern? Sie sind Alle wüthend auf den Salten, weil er das Betteln verboten hat wegen der Seuche. Die Leute wollen weder nach Hause, noch in die Salten’schen Spitäler, die wollen ihre Freiheit und ihren Schnaps. Sie geben mir hundert Thaler und ein paar Ohm Branntwein mit auf den Weg, und bis heute Abend habe ich sie Alle beisammen. Wir machen den Durchstich noch innerhalb des Waldes, wo uns Niemand sieht, gerade am Ausfluß des Haasznen in den Lyk und machen ihn schräg gen Süden, so daß das Wasser in die Saltenow’sche Niederung abfließen muß.“

„So viele Menschen zu Mitwissern zu machen …“ sagte Egon unschlüssig.

„Wenn wir sie Alle zu Mitschuldigen machen, so müssen sie ja schweigen!“

„Und der Deichwächter?“ fragte Egon.

Schmetthorn grinste pfiffig. „Mit dem will ich schon fertig werden – er ist ja Paula’s Vater, der thut uns nichts!“

Der Plan leuchtete Egon ein, aber er schauderte noch vor der entsetzlichen That. „So viele Leute um Hab und Gut, vielleicht um das Leben bringen …“

Da zog ihn Schmetthorn mit sich die kleine Thurmtreppe auf den Thurm hinauf „Sehen Sie da hinüber,“ rief er. „Wo haben die Leute zuerst angefangen aufzuschütten? Beim lieben Salten! Sehen Sie das reißende geschwollene Wasser, wohin wird es sich nun zunächst ergießen? Ueber unsere Ländereien. Und wir wollen stillhalten wie die Opferlämmer und über uns ergehen lassen, was kommt? wollen den Bettelsack aufbuckeln und in der Salten’schen Suppenanstalt speisen, damit wir einen schlechten Streich weniger auf dem Gewissen haben?“ Er lachte frech. „Als ob es bei uns nicht in Einem hinginge! Schufte sind wir in den Augen ehrlicher Leute ja doch!“

„Schmetthorn, Du bist ein Teufel!“ stöhnte Egon willenlos und geängstigt. „Du hassest den Salten, weil er Dir Dein Wuchergeschäft verdarb, und willst Dich an ihm rächen!“

„Warum nicht gar! Was thue ich ihm denn so Schlimmes? Ich bereite ihm, was uns treffen sollte – und uns träfe es schlimmer, denn Sie werden sehen, dem Salten hilft Jedermann, uns aber Niemand – das ist der Unterschied.“

In diesem Augenblicke fuhr ein Windstoß durch die Wipfel und rüttelte heulend an dem Thurme, auf dem die Beiden standen.

„Das ist Südwestwind; sehen Sie, wie er die Fluth zurückwirft gegen unsere Ufer hin?“

Egon klammerte sich in hülfloser Angst an Schmetthorn. Schlag auf Schlag und Krach auf Krach! Im Walde unter ihnen stürzten die Bäume zusammen, die schlanken Wipfel bogen sich wie Gerten auf und nieder, die Vögel wirbelten wie welke Blätter ohne Ziel und Richtung in der wilden Luftströmung hin und her. Und mit der wachsenden Zerstörung wuchs auch die Wuth der entfesselten Windsbraut. Jetzt fing sich der Sturm in der schwarzen Fahne auf dem Thurme; sie wallte und klatschte und schlug mit den schwarzen Flügeln, sie war ihm ein lustiges Spielzeug. Jauchzend zersplitterte er den Fichtenstamm, an dem sie hing, und schleuderte ihn vom Thurme in die Tiefe nieder, und pfeilschnell flog die Fahne, bald sich senkend und ausbreitend wie ein vom Himmel gefallenes Bahrtuch, bald auffahrend wie ein riesiger Vogel. Immer höher und weiter entschwebte sie, bis sie endlich nur noch als ein langer schwarzer Streifen am Horizonte dahinzog wie ein ungeheurer Strich, den Gott durch die Rechnung der Natur gemacht. Leise wimmernd begann die Glocke des Thurmes zu tönen, von unsichtbarer Sturmeshand in Bewegung gesetzt. Es graute Egon, und er wandte sich, um den wankenden Thurm zu verlassen.

Da packte ihn Schmetthorn bei der Schulter. „Herr, entschließen Sie sich, es wird Abend – wenn ich nicht rasch handeln kann, dann sind wir morgen Bettler. Jeder Augenblick kann uns verderben!“

„Du hast Recht,“ rief der entnervte Mann. „Leben müssen wir. Ich will Dir an Geld geben, was ich noch habe – thu’, was Du willst, nur rette, rette mich!“ Er stieg hinab und gerade zur rechten Zeit; dicht hinter ihm brach das morsche Sparrenwerk mit der Glocke zusammen. Dröhnend stürzte diese herab und zersprang in Stücke. Die alte Familienglocke der Schorns hatte ausgeläutet. –

„Sehen Sie,“ lachte Schmetthorn, „Sie sind noch zu etwas Besserem aufbewahrt!“

„Wer weiß!“ murmelte Egon voll Entsetzen.

„Ah bah –“ tröstete Schmetthorn. „Nur muthig – der liebe Herrgott will noch nicht, daß Sie sterben – sonst hätte er Sie jetzt nicht so sichtbar errettet!“ –

Tiefe Nacht hüllte den Kampf der Elemente ein, ohne ihn zum Schweigen zu bringen. Die Leute hatten einen nothdürftigen Wall längs Alfred’s Gütern errichtet, – um die Schorn’schen Besitzungen kümmerte sich Niemand. Die wenigen Pächter da drüben mochten sich selber helfen. Zuerst mußte Saltenowen und Hermersdorff gerettet sein, denn hier war die meiste Bevölkerung und der meiste Wohlstand. Saltenowen war die Heimath Hunderter braver Familien, die Zuflucht aller Fleißigen und Redlichen.

Es war Mitternacht, man sah nicht die Hand vor den Augen, der Sturm löschte die Fackeln aus, es war unmöglich, weiter zu arbeiten, und die Leute wollten bis zum Tagesgrauen rasten, für das Erste war ja gesorgt. Jetzt aber begann ein seltsames Regen drüben im Walde an der Grenze von Saltenowen. Wer dort in der Gegend noch nicht fest schlief, dem war es, als höre er vom Hause des Deichwächters her ein Wehegeschrei. Doch das Heulen des Sturmes ließ es nicht aufkommen; wenn ein Wind geht, hört man immer gar wunderliche Dinge, und im Walde am Haasznensee war es ja nie geheuer! Es war eine seltsame Nacht! Hin und wieder blitzte ein rother Schein durch das Dickicht der Borken’schen Forst wie ein Irrlicht, um gleich wieder zu verlöschen; formlose Gestalten glitten in der Dunkelheit durch einander; es war ein Graben und Hacken, ein Wühlen und Bohren wie von unzähligen Maulwürfen. Und dabei verrieth kein Laut, kein Wort, daß hier Menschen arbeiteten, verzweifeltes Gesindel, dessen an die Dunkelheit unter der Erde gewöhnte Augen auch durch die wolkendichte schwarze Sturmnacht zu dringen vermochte. Emsig, rathlos hantirte die lichtscheue Schaar mit Schaufeln und Spaten und grub sich durch den mächtigen Wall, den Jahrhunderte gethürmt hatten, hindurch, dem Wasser zu. Unbarmherzig zerrissen die scharfen Eisenzähne das dichte Geflecht der Wurzeln, die dem Damm seinen zähen Widerstand gegeben; mächtig schwangen die Fäuste die Aexte, immer dünner ward die Schutzwehr, die Erde und Wasser von einander trennte. Drei Elemente, Erde, Wasser und Sturm, befehdeten sich und mitten darunter eine mit Gott und der Natur zerfallene Schaar wetterharter Gesellen, geschäftig, in bestialischer Schadenfreude den Ausbruch der Zerstörung noch zu fördern und zu entfesseln.

Rings umher ruhten die friedlichen Ortschaften im tiefen Schlummer aus von den Drangsalen und Entbehrungen des Tages. In den Typhusspitälern von Saltenowen lallten die [855] Kranken sicher geborgen im Schlafe ihre Fieberträume vor sich hin. Lautlos und lebendig glitt beim unsichern Scheine des Nachtlämpchens der barmherzige Bruder, die barmherzige Schwester von einem Bette zum andern, sorglich zu lauschen auf jeden Athemzug in engelhafter Milde, zu trösten und kühlende Arznei darzureichen. Wohl erschreckte sie dann und wann ein Schmettern und Prasseln herabgestürzter Schornsteine und Dachziegel, aber gegen Morgen legte sich der Sturm und Todtenstille breitete sich über die ganze Natur. –

Da plötzlich fuhren die Bewohner der Hütte des Waldsaums oberhalb Saltenowen aus dem Schlafe auf und lauschten. Ein seltsames Geräusch hatte sie geweckt – oder ein böser Traum, der ihnen vorgespiegelt, die Deiche seien gebrochen? Aber das Geräusch dauerte fort und fort. War es der Orkan? Nein, es war ein fernes Donnern, ein Rollen, ein Rauschen, wie wenn ein Gewitter aufzöge. Ein Gewitter jetzt schon im März? Das konnte nicht sein. Die Erde zitterte, als führen schwere Lastwagen vorüber. Näher und näher kam es, das Grauenvolle, Unbegreifliche, – ein Druck, eine Erschütterung ward fühlbar, es mußten sich wuchtige Massen heranwälzen, das Gebälk der schwachen Hütte ächzte leise. Taumelnd vor Entsetzen sprangen die Menschen in der Dunkelheit vom Lager auf, wohin sie traten, wohin sie griffen, – Nässe! Da war nicht Zeit zu überlegen, zu denken, ein Rauschen und Tosen ringsum, als ginge die Welt unter, – ein Stoß von außen an die Wände, ein Stoß von einem scharfen, harten Gegenstande, und jetzt legte sich’s drängend erdrückend um das Haus, der leichte Fußboden begann sich zu heben, das Gebälk zu weichen, ein Krachen, ein Schwanken, das ganze Haus ward aufgelüpft wie ein Schiff, ein leckes, berstendes Schiff – noch ein Ruck, – ein Schrei und es ging aus den Fugen, ein Trümmerhaufen trieb mit der brüllenden Wassermasse dahin und zwischen Balken, Brettern und Eisschollen rangen hülflos Menschen und Thiere mit dem Tode. Weggespült weit und breit die leichten Hütten. Das Auge sah nichts als Wasser in dem dämmernden Zwielicht und das Ohr hörte nichts als Wehgeheul durch das dumpfe Brausen. Zur Wasserwüste waren die Gefilde verwandelt, und immer neue Massen stürzten die Niederung herunter, die gewaltigen Eisschollen als Mauerbrecher mit sich führend und zwischendurch Hausdächer und Balken treibend, an denen sich Männer, Weiber und Kinder angeklammert hatten.

„Der Damm ist gebrochen!“ erscholl weithin der Angstschrei und rüttelte die Schläfer auf und peitschte sie noch schlaftrunken mit Sturmeseile vor dem sturmesschnellen Verhängniß her hinauf auf die Hügel – auf die Bäume, was Füße, was Hände hatte, ja auf die Schultern des Nachbars, wenn nichts Besseres zu erreichen war. Einer riß den Andern nieder, um sich über ihn emporzuschwingen im blinden Triebe der Selbsterhaltung, im erstickenden Schreckensgefühl, denn der Feind war ja schon da, schon hier, schon dort – überall, und bedrängte das arme Leben von allen Seiten – unausweichlich, unentrinnbar – alles Kämpfen war nur noch ein Todeskampf! –

Und weiter, immer weiter ergoß sich der rasende Schwall. Wo noch Zeit war, rissen die Menschen ihre Typhuskranken aus den Lazarethen und schleppten sie mit sich dem Walde zu. „Hinüber nach dem Schornberg auf’s Schloß!“ war die Losung, und sie keuchten mit ihrne Kranken den Hügel hinan, und der feige zitternde Mann da oben auf dem Schlosse sah sie mit Entsetzen nahen und die Pest mit sich schleppen, die er mehr als Alles fürchtete. Das Haar sträubte sich ihm, als sie mit ihren Fäusten an das Thor schlugen, Einlaß für sich und die Typhuskranken begehrend. Wenn sie es wüßten, daß er es war, der das Gräßliche über sie brachte! Es war ihm, als käme mit den sinnlosen fiebernden Schaaren die Rache herangezogen, er sah sie mit dunkeln Flügeln über ihnen schweben, und er hörte wieder das Todtengeläut der zersprungenen Glocke, und die schwarze Fahne kam wieder aus den Lüften herab und senkte sich über ihn, ein schweres weites Leichentuch. Er brach ohnmächtig zusammen. Indessen rüttelten die Leute immer ungestümer an dem verschlossenen Thor und flehten um Obdach für ihre Kranken.

Von Saltenowen herüber erscholl ein Getös, das war die Fabrik, die zusammenstürzte, die Nährmutter der halben Gegend – und Viele stießen ein lautes Wehklagen aus. Da brach sich ein Mädchen vom Walde her Bahn durch den Aufruhr. Mit gelösten Haaren, von Blut überströmt, wie eine fliehende Mänade flog sie mehr, als sie ging, den Berg hinauf. „Schlagt ihm die Thüren ein, hängt ihn!“ schrie sie schon von Weitem mit letzter Kraft und oben angekommen stürzte sie zusammen, aber wie der Schrei einer Möve, die auf ihr Opfer niederstößt, schrillte ihr Ruf „hängt ihn – er hat’s gethan!“ weithin über das Gedräng.

Wer hat’s gethan, was gethan?“ riefen die Leute durcheinander und bemühten sich, das Mädchen aufzurichten. Es war die Tochter des Deichwächters am Haasznensee, ein wildes kraftiges Masurenkind, aber es war wie zerschmettert und von Sinnen, es mußte Uebermenschliches ausgestanden haben. Da plötzlich krachte ein Schuß aus einem Fenster des untern Stockwerks, und die Kugel ging gerade an der Stirn des Mädchens vorbei und warf einen Mann nieder.

„Oho,“ brüllte der Haufe durcheinander, „auf uns schießen? was thun wir Euch denn? wo sollen wir uns denn hin retten in der Sündfluth?“

Ein zweiter Schuß krachte.

Jetzt fuhr das Mädchen in die Höhe. „Ja, schieß’ nur, Du Wolf, Du machst mich doch nicht stumm,“ schrie sie und rettete sich hinter einen Baum, indeß die Leute auseinander gestoben waren.

„Nein, flieht nicht,“ rief sie ihnen athemlos zu, „der Schuß galt nur mir, damit ich’s nicht sagen sollte, aber, wenn’s mein Tod ist, ich sag’s doch. Der Graf und der Verwalter haben mit den Bahnarbeitern den Deich am Haasznensee durchstochen und meinen Vater ermordet.“

Ein unbeschreiblicher Tumult erhob sich.

„Mich hatten sie in der Hütte eingesperrt, aber ich habe Alles gehört, wie sie meinen Vater bereden wollten, und wie sich der Vater zur Wehre setzte und um Hülfe rief, und wie sie ihn todtschlugen! Und ich habe Alles versucht, aber ich brachte die Thür nicht auf, und das Fenster war zu eng. Aber als das Wasser kam und die Hütte wegschwemmte, da riß es mich mit fort und schleuderte mich an einen Baum, daß ich mich anklammern konnte und nach dem Walde fliehen.“

Das Mädchen hatte jedes Wort einzeln herausgestoßen, und jedes war von einem Aufschrei der Menge begleitet worden. Ein Schuß um den andern fiel aus den Fenstern des Schlosses, jetzt ging es um Leben und Tod.

„Paula,“ schrieen die Männer, „kannst Du’s beschwören?“

„Ja, beim Herrn Jesus und beim Botzek und bei allen Heiligen,“ schluchzte das Mädchen und hob die Arme gen Himmel. „Laßt ihn nicht leben, hängt ihn, steinigt ihn, werft ihn in's Wasser – ihn und den Verwalter und mich dazu, – denn der Graf war – mein Liebster.“

Und sie warf sich auf das Gesicht nieder und raufte sich die Haare, das Blut floß ihr aus einer Kopfwunde über die Hände, denn die stürzenden Balken ihrer Hütte hatten sie getroffen, aber sie achtete es nicht, ihr war Schlimmeres geschehen als das.

Wieder krachte es dumpf von Saltenowen herüber, wieder mußte ein Gebäude zusammengebrochen sein, man hörte ganz deutlich das Geschrei der Menschen und Thiere von den Salten’schen Gehöften.

Das war die begleitende Melodie zu dem Klagelied des verzweifelnden Mädchens. Wie ein neuausgebrochener Strom, so schwoll jetzt die Wuth des zu Grunde gerichteten frierenden obdachlosen Volkes gegen den Urheber all’ des Gräßlichen an. Donnernd fielen die schweren Fäuste gegen die Laden des Erdgeschosses. Sie achteten nicht mehr der Flintenschüsse, die auf sie gefeuert wurden, Schulter an Schulter stemmten sie sich gegen das Portal. Denn der Masur ist träge, stumpf und geduldig wie der Stier, aber einmal zum Aeußersten gebracht, nimmt er wie dieser seinen Peiniger auf die Hörner und schleudert ihn in die Luft. – Ein Anlauf, ein zweiter, ein dritter, prasselnd schlug die eichene Thür nach innen zu Boden und darüber hinweg ergoß sich die tödtliche Fluth der Rächer.

„Laßt mich Euch führen, ich kenne hier Wege und Stege!“ schrie Paula, und wie ein Würgengel eilte sie Allen voran die Treppen hinauf, hinter ihr her die tobende Schaar. Selbst die Kranken, die nicht mehr hatten gehen können, rafften sich auf und taumelten mit und die Wuth flammte aus den rothen fieberhaft verzerrten Gesichtern. Schlag auf Schlag fielen die verschlossenen Thüren der Gemächer, eine nach der andern, und nun begann eine Hetze auf die Missethäter so voll grausamer Jagdlust, als gelte es [856] einen Wolf zu erlegen. Von Zimmer zu Zimmer flohen die Gesuchten, immer wieder die Thüren hinter sich verrammelnd, die doch immer wieder gesprengt wurden. Aus dem Erdgeschoß tönte ein Jauchzen und Wiehern herauf. Schmetthorn war gefangen. Aber der Graf hatte sich hinaufgeflüchtet auf den Thurm und dort an das verfallene Sparrwerk der Glockenstube angeklammert wie eine Katze.

„Reißt ihn herunter!“ schrie Paula, und sie ergriffen ihn bei den Beinen und zerrten ihn sich nach die Treppen herab durch alle Stockwerke bis vor das Haus, wo die Weiber zu Furien verwandelt ihre Lumpen vom Leibe rissen, um ihn damit zu knebeln, weil sie keine Stricke hatten.

„Hier ist der Zweite!“ schrieen die Männer drinnen und warfen Schmetthorn heraus in einen Knäuel zusammengeschnürt.

„Paula,“ stöhnte Egon lallend wie ein Blödsinniger und wand sich zu den Füßen des Mädchens, „rette mich, ich gebe Dir Alles, ich mache Dich reich, wenn Du mich rettest!“

Paula schlug eine bittere gellende Lache auf. „Mach’ meinen Vater wieder lebendig, heile seinen zerspaltenen Kopf wieder zusammen, baue die Hütten wieder auf, die das Wasser eingerissen, und hole die Menschen heraus, die darin umgekommen!“

„Paula,“ flehte Egon wimmernd wie ein Kind, „ich nehme Dich zu meiner Frau, wenn Du mir hilfst!“

Egon war aufgesprungen, sie schleuderte ihn mit ihren starken Armen weit von sich mitten unter eine Gruppe Typhuskranker hinein. „Nimm Dir von diesen eine zur Frau, wenn Du heirathen willst,“ kreischte sie mit einer Stimme, die gewohnt war, den Sturm und das Rauschen des Haasznensees zu überschreien. „Die Pest Dir an den Hals, Du bist ein Verfluchter, ich will nichts mehr gemein haben mit Dir!“ Und sie warf sich händeringend vor den Umstehenden auf die Kniee. „Steinigt mich, tretet mich mit Füßen, damit ich’s noch bei Zeiten abbüße, daß ich’s so lange mit Einem hielt, der das gethan. O, ich will’s gut machen, ich will ihn selbst erwürgen mit meinen eigenen Händen, wenn Ihr’s verlangt.“

„Ja, das soll sie!“ schrieen Einige.

„Nein, das soll sie nicht!“ schrieen Andere.

„Wir wollen ihn ersäufen! In eben dem Wasser soll er umkommen, das er über uns losgelassen.“

Ein Beifallssturm erfolgte auf diesen Vorschlag.

„Ja,“ schrie die Mehrzahl, „ersäuft den Hund, er soll auch erfahren, wie Wasser schmeckt.“

„Thut’s nicht selber,“ warnte ein alter Mann, „liefert ihn der Obrigkeit aus.“

„Der Obrigkeit?“ höhnten die Ergrimmten. „Die thut keinem Vornehmen was. Eher reißen wir ihn in Stücke!“

„In’s Wasser mit ihm und seinem Helfershelfer – wir wollen auch einmal Recht üben. Vorwärts!“

„Kommt,“ schrie Paula, „ich will Euch zeigen, wo Ihr ihn am besten hineinwerfen könnt!“

Und im Nu waren die Beiden, Herr und Diener, aneinander gekoppelt und im Sturmschritt ging es mit ihnen durch den Wald dem Haasznensee zu.

Es war inzwischen völlig Tag geworden. Oberhalb des Durchstichs, wo der Strom wie ein Wasserfall aus seinem Bett in die Niederung ausbrach und die Wellen mächtig anschwollen, als müßten sie einen Anlauf nehmen zu dem jähen Sturz in die Tiefe, da machte die Meute Halt. Egon brach bewußtlos zusammen, der Verwalter schrie und bäumte sich wie ein Thier.

„Sollen wir sie voneinander losbinden?“ fragten Einige.

„Nein,“ brüllte der Haufe ungeduldig, „werft sie zusammen hinein!“

Und zwölf gewaltige Fäuste hoben den zuckenden Klumpen auf, schwangen ihn hoch in die Luft und schleuderten ihn weit über das Ufer in das wilde Eistreiben hinaus. Paula warf sich mit verhülltem Gesicht zu Boden. „Hurrah!“ donnerte es aus allen Kehlen. Das Wasser spritzte empor wie der Strahl eines Geisers und überschüttete die Menge mit einem Regen von Gischt. Aechzend und knirschend stürzten die Eisschollen, auf welche die ungeheure Wucht aufgeschlagen, nach in die Tiefe. Aber im nächsten Augenblick spülte sie der Strudel wieder herauf, und an sie festgeklammert hob sich auch der entsetzliche Klumpen noch einmal empor. Die Bande hatten sich soweit gelockert, daß die beiden Männer die Arme regen konnten. Sie trieben mit dem Eise dem Ufer zu.

„Hilf, Herrgott, sie schwimmen!“ schrieen die Rasenden am Strande. „Stoßt sie hinunter, hier sind Ruderstangen!“

Und sie rafften zusammen, was von Stangen und Planken umherlag, und schlugen nach den Ringenden, denen es gelang, die Uferweiden zu erfassen. Noch einmal hob sich Egon mit Schmetthorn empor, wieder stießen sie ihn hinunter. Die Wuth war zum Wahnwitz entfacht und mußte ihr Opfer haben. Da rissen die morschen Fetzen, mit denen die Beiden zusammengekoppelt waren, und Schmetthorn sank – ein dumpfes Gurgeln und er war verschwunden. Egon aber war plötzlich zwischen zwei Eisschollen eingeklemmt, die ihn fast zermalmten, aber auch über Wasser hielten.

„Die Brut kann nicht sterben!“ schrieen die Wüthenden, und wieder versuchten sie ihn vollends hinabzustoßen.

Da erscholl eine Stimme, hell und klar wie das Geläut einer Friedensglocke, und übertönte all’ das Toben, daß es mit einem Male still wurde, als hätte ein Engel vom Himmel Halt geboten.

„Leute,“ rief der Ankömmling von seinem schäumenden Pferde herab, „Leute, wollt Ihr als Mörder enden? Helft diesem Manne heraus, augenblicklich, ich befehle es Euch, und ich denke, Ihr habt es noch nie bereut, wenn Ihr mir gehorchtet.“

„Herr, Ihr wißt nicht –“ schrieen die Leute.

„Alles weiß ich,“ unterbrach sie Alfred. „Er hat mich zu Grunde gerichtet wie Euch! Er ist ein schwerer Verbrecher; aber nicht Ihr dürft ihn strafen – dieser Mann gehört dem Gesetz.“

Die erbitterte Menge begann zu murren.

„Vorwärts,“ befahl Alfred, „reicht ihm die Ruderstangen, rettet ihn; wenn Ihr ihn nicht lebend herausbringt, liefere ich Euch statt seiner an das Militär aus, das ich von Lötzen her entboten habe!“

Das wirkte. Erschrocken gehorchten die Leute. Die Stangen wurden dem Unglücklichen hingestreckt, aber er konnte sie nicht mehr erreichen; die Kräfte hatten ihn verlassen. Es war ein banger Augenblick. Selbst Paula brach in lautes Weinen aus, denn ihre Rache war gesättigt und nun kam mit aller Macht die Reue über sie. Endlich war es gelungen, wenigstens die Eisblöcke, zwischen denen Egon eingekeilt war, näher heranzutreiben, einige Beherzte, Paula mitten darunter, stiegen bis an den Hals in die Brandung hinunter, sie erfaßten Egon an den Schultern und rissen ihn aus der furchtbaren Umarmung mit sich den Damm hinauf. Oben angekommen, blieb der Unglückliche liegen, that einen tiefen Athemzug und ein Strom von Blut schoß ihm aus dem Munde.

(Schluß folgt.)




Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl.
Von unserem Berichterstatter Georg Horn.
Siebenter Brief. Der Abschied des Kaiserreichs.

In den Tagen, in welchen die verehrten Leser der Gartenlaube die Schilderung des bewegten Gehens und Kommens, der stillen Arbeit und der drängenden Geschäfte in den Räumen des Schlosses von Corny lasen, bekam dieser Artikel noch einen glänzenden Schlußsatz durch das Resultat, in dessen Vorbereitungen ich die Leser habe einen Blick werfen lassen, ein Resultat, dem man mit mathematischer Gewißheit mit jedem neuen Tag ein Stück näher kam, durch eine That von weitreichendster Bedeutung, durch die Capitulation von Metz.

Die Kriegsgeschichte kennt kein ähnliches Ereigniß, weder das Alterthum, noch die neuere Zeit. Jenes kannte einem besiegten oder gefangenen Heere gegenüber nur zwei Maßregeln, entweder ließ man die Besiegten über die Klinge springen oder durch das caudinische Joch gehen, und Beides war nur eine um so sicherere

[857]

Im Barackenlager vor Metz.
Nach der Natur aufgenommen von Chr. Sell.

[858] Vernichtung. Was die neuere Geschichte von Uebergabe ganzer Armeen kennt, wie die der Schweden unter Karl dem Zwölften an die Russen, der Engländer in Nordamerika, der Sachsen an Friedrich den Großen; des Generals Fink an die Sachsen und Oesterreicher als Revanche für jene Capitulation bei Pirna, endlich die Capitulation des Generals Mack in Ulm – alle diese Fälle stehen zu dem Factum von Metz in einem liliputanischen Verhältniß, das heißt, der Zahl nach. Aber auch dann noch, wenn man den großen Unterschied zwischen der kolossalen Stärke der heutigen Armeen und der unendlich schwächeren vor hundert bis hundertfünfzig Jahren durch eine Multiplication dieser letzteren durch drei ausgleichen wollte, auch dann noch ergäbe sich kein Resultat, welches dem von Metz an die Seite treten könnte.

Am 27. October wurde im Schlosse von Corny von dem Höchstcommandirenden ein Tagesbefehl ausgegeben, worin es unter Anderm heißt:

„Die Forts werden morgen Mittag zwölf Uhr besetzt, jedes durch zwei Bataillone, einen Zug schwere Batterie ohne Munitionswagen, hundert Mann Artillerie mit zahlreichen Officieren und ein Pionnierdetachement. Zwei Stunden vor der Besetzung – also Vormittags zehn Uhr – sind seitens der vorgenannten Corps je ein Artillerieofficier mit einigen Unterofficieren, sowie ein Ingenieurofficier mit einigen Pionnierunterofficieren in die betreffenden Forts vorauszusenden, welche das Pulvermagazin übernehmen und etwaige Minenleitungen von rückwärts aufsuchen und zerstören.“

So ein einfacher Tagesbefehl an die einzelnen Armeecorps wird zu einem hochbedeutsamen Document der Geschichte. Diese paar Artillerie- und Ingenieurofficiere mit ihren Mannschaften hatten sich durch dieses Commando allein das eiserne Kreuz verdient. Sie waren die Ersten, die nach den Forts gingen mitten hinein unter Tausende und aber Tausene von Soldaten, die sich noch im Besitze ihrer Waffen befanden, deren Disciplin durch das lange Elend gelockert war und die in der Uebergabe der Festung eine Schmach für Frankreich sahen. Aber das Ereigniß von Laon hatte vorsichtig gemacht; ein anderer Befehl lautete: „die französische Besatzung bleibt so lange in den Forts, bis die erwähnte Untersuchung zu Ende ist.“ Geschieht etwas, dann trifft die französischen Truppen das gleiche Schicksal; hätte man den Preußen eine Luftfahrt durch irgend eine Minenexplosion zugedacht, so wären die Franzosen ohne Zweifel bei der Partie gewesen und mit in die Luft gegangen. Es ging aber Alles gut ab; die Officiere fanden keine Minen, auch kein Pulver; was davon nicht verschossen, war anstatt des Salzes verwandt worden; sie fanden nur geleerte Magazine, auch mit dem besten Fernrohr der Welt hätte man in denselben nicht eine Speckseite mehr entdecken können; die Kriegscasse war vorher unter die Officiere und Mannschaften vertheilt worden. Trotz alledem hatte dieses Commando für die Betreffenden seine Gefahren; es gehörte Muth und Entschlossenheit dazu, sie konnten unter Umständen hier einem viel sicherern Tode entgegengehen, als wenn sie unter dem Hagel der Kugeln und Granaten standen.

Denn daß die Generale nicht mehr Herren der Situation ihren Truppen gegenüber waren, bewies die Verschwörung, von der ich in meinem letzten Artikel sprach; diese bestand in der That. Als einige Tage vor der Capitulation in der Stadt ein Aufstand entstanden war, und der Festungscommandant demselben mit aller Energie begegnen wollte, verweigerten die Officiere und Mannschaften von ihrer Waffe Gebrauch zu machen.

„Ich war von Schreck erfüllt, als ich sah, mit wie wenigen Truppen die Preußen von den Forts Besitz nahmen,“ sagte einer der französischen Generale zu einem unserer Stabsofficiere.

„Warum? Glauben Sie, wir hätten Furcht?“

„O Pardon! Wir haben Sie in dieser Beziehung zur Genüge kennen gelernt. Nein, das nicht, aber wer hätte Ihnen dafür gestanden, daß die Verschwörer trotz aller Verträge, die gerade sie verabscheuten, in Anbetracht Ihrer Minderheit einen Handstreich versuchten? Glauben Sie mir, wir hatten alle Fäden der Verschwörung in der Hand, alle Corps waren darein verwickelt, nur nicht das Gardecorps, mit Ausnahme eines einzigen Oberstlieutenants. Wenn die Sache so ruhig abging, wie man es nur wünschen konnte, so war das nur in der Voraussicht der Verschworenen geschehen, daß Sie mit größeren Truppenmassen kommen würden. Und jetzt haben Sie Jene durch Ihren Muth verblüfft.“

Derselbe Officier, gegen welchen der Franzose diese Aeußerungen machte, hatte den Auftrag, „des Hauses Schlüssel“ zu verlangen. Der Maire der Stadt überlieferte ihm die Schlüssel zu den fünf Thoren der Stadt – frühere Jahrhunderte hatten dieselben geschmiedet, die Zeit hatte ihren ehrwürdigen Rost dazu gegeben. Um sie in der Tasche zu tragen, dazu waren sie ein wenig zu gewichtig, darum wurde für dieselben auch ein Etui gemacht, in diesem wurden sie dem Generalfeldmarschall Prinz Friedrich Karl übergeben. Gegenwärtig sind sie mit den Fahnen nach Berlin gesandt und dort in dem Zeughaus niedergelegt worden. Der Maire war bei der Uebergabe der Symbole des Besitzes der Stadt und Festung Metz so gerührt, daß Thränen ihm fast die Stimme erstickten.

„Ich begreife Ihren Schmerz, Herr Maire,“ sagte der erwähnte Officier, dessen Hände die Schlüssel empfingen, „und würdige ihn; in ihm drückt sich derselbe nationale Schmerz aus, wie unsere Großeltern ihn bei der Uebergabe von Magdeburg im Jahre 1806 empfunden haben. Mein alter Vater, erinnere ich mich, der als Officier Friedrich Wilhelm’s des Dritten in der Schlacht von Jena lebensgefährlich verwundet wurde, betrachtete bis zu seinem Tode den Tag der Uebergabe der Festung Magdeburg, der letzten Festung Preußens, als einen Tag stiller und tiefer Trauer. Die Königin Louise, die Märtyrin auf dem Throne, die Großmutter des Mannes, für den ich diese Schlüssel übernehme, ist am gebrochenen Herzen über den Fall Magdeburgs gestorben. Die Geschichte der Völker nimmt und giebt Revanche – ich nehme diese Schlüssel von Metz als eine Ausgleichung für Magdeburg.“

„O mein Herr – ich verstehe. Es bleibt mir nur noch übrig, für unsere arme Stadt, die schon so viel gelitten hat, um Schonung, um Rücksicht zu bitten.“

„Sie dürfen sich jedes Entgegenkommens unserer Seite für versichert halten.“

„Die Verhältnisse sind so schwierig – die Gährung der Bevölkerung unverkennbar. Man sagt sich nicht, wir sind besiegt - man sagt sich, wir sind verkauft –“

Der Officier zuckte die Achseln. „So lange man sich an einen solchen eiteln Vorwand festklammert, Herr Maire,“ sagte er, „so lange ist auch keine Rettung für Frankreich. Wir haben es uns 1806 gesagt, daß wir besiegt sind, wir haben an unsere Brust geschlagen und uns selbst angeklagt. Und das war der Anfang des Weges, der uns hierher geführt hat. Im Uebrigen hoffen wir, daß in der Stadt keinerlei Excesse vorfallen; von unserer Seite wird Alles gethan werden, um diesen vorzubeugen, thun Sie, mein Herr Maire, das Ihrige. Sagen Sie den Einwohnern, daß wir für alle Fälle vorgesehen sind – die Kanonen der Forts sind alle nach der Stadt gerichtet.“

„Wir wissen es, wir haben es gesehen,“ war die Antwort des Vorstandes der Stadtgemeinde, der sich damit entfernte.

An demselben Tage hatte derselbe Officier eine ähnliche Unterhandlung mit dem Festungscommandanten, dem General Coffinières. Die Fahnen und Standarten sollten herausgegeben werden. Der General machte erst Ausflüchte; es seien leider die meisten von den Soldaten verbrannt oder vernichtet worden; dann aber auf das Andringen des Beantragten und auf den Hinweis der Convention, daß keinerlei Kriegsmaterial der Vernichtung anheimgegeben werden dürfe, gab er die Auskunft, daß dieselben in dem und dem Zimmer des Arsenals in einem Burean verborgen seien. Er habe sie am Tage vor der Uebergabe den Regimentern abnehmen, mit einer Leinwandhülle umwickeln und sie dorthin stellen lassen. Er sei dabei von der stillen Hoffnung geleitet worden, daß man der Fahnen und Siegeszeichen der Armee vergessen und ihn der traurigen Nothwendigkeit überheben würde, dieselben zu überliefern. Man hätte sie später wohl gefunden.

Es waren sechsundfünfzig Fahnen und Standarten, Tricoloren, blau-weiß-roth, mit gelben Kronen, Lorbeerkränzen und dem Buchstaben N gar reich verziert. So sehr zersetzt manche auch waren, und wenn auch viele darunter in den Namen Marengo bis Solferino die Kriegsgeschichte Frankreichs vom ersten Napoleon an bis heute in goldenen Lettern trugen, so wäre es dennoch ungerechtfertigt, anzunehmen, daß dies wirklich die alten historischen Waffenzeichen Frankreichs wären. Diese sind längst dahin. Wie in jeder Armee, so werden auch in der französischen die Fahnen und Standarten nach einer gewissen Reihe von Jahren erneuert; so sind auch die in Metz vorgefundenen neueren Datums, aber neu geschmückt mit den [859] unvergeßlichen Namen der historischen Waffenthaten, welche die betreffenden Regimenter von dem Gründer des ersten Kaiserreichs an verrichtet haben.

Ich hätte nicht an Stelle des Generallieutenants von Kummer, des neuernannten Commandanten von Metz, sein mögen. Der sehr verdiente General, der sich mit seiner braven Landwehrdivision soviel unter den Mauern der Forts von Metz hatte herumschlagen müssen, war einer der ersten Preußen in der Stadt; er kam kurz nach dem Ausmarsche der Franzosen eingeritten, ehe noch unsere Bataillone einmarschirt waren, nur von einigen Adjutanten begleitet. In der Stadt waren fast nur französische Soldaten zu sehen, die sich auf den Straßen drängten. Die Einwohner wagten sich nur erst ganz vereinzelt hervor. Der ganze weite Hof vor dem Hôtel de l’Europe, das durch einen Vorgarten und ein Gitterthor von der Straße abgeschlossen ist, war von Officieren aller Waffengattungen und Grade angefüllt. Jeder von ihnen war in diesem Augenblicke nur mit drei Fragen beschäftigt: „Wie und wann komme ich aus Metz? Wo komme ich hin? Wie wird es mir dort gehen?“ Alle Bande der Cameradschaft, der Gemeinsamkeit waren zerrissen; der Egoismus, der durch den Krieg so sehr geschärft war, drängte sich in seiner unverhülltesten Gestalt hervor. Einer trachtete über die Leiche des Andern hinweg zu seinem Ziele zu gelangen – das war ein buntes Gewimmel, ein nervöses und zuckendes Bewegen, ein aufgeregtes und lautes Peroriren, eine gespannte Erwartung auf den neuen Commandanten, den General de Chagrin, wie mich ein Franzose nach ihm fragte. Wahrscheinlich hatte man diesem den Namen übersetzt.

Es waren an sechstausend Officiere, über fünfzig Generale und drei Marschälle, denen ihr Aufenthalt in Deutschland angewiesen werden mußte, und von diesen hatte jeder einen Lieblingswunsch und mancher sogar deren mehrere. Der Eine wollte nach Aachen, weil man dort noch Französisch spräche und er sich mit dem Deutschen nicht herumzuplagen brauche und weil Aachen nicht in Preußen läge; ein Anderer nach Stuttgart, weil dahin seine Frau und Kinder nicht so weit zu reisen brauchten und man dort nicht wie in Preußen Bier zu trinken brauche, ein Getränk, das er verabscheue; ein Dritter wünschte seinen Aufenthalt in Offenbach zu nehmen, weil das die Geburtsstadt „du charmant musicien“ sei und er doch Menschen zu finden hoffe, die ebenso amüsant seien wie die Melodien seines Lieblingscomponisten; nach Wiesbaden und Baden-Baden wünschten die Meisten dirigirt zu werden, Viele auch nach Frankfurt am Main, weil es dort viele reiche Leute und hübsche Mädchen gäbe; aber über die Mainlinie wollte so leicht Keiner, wenigstens verlangte kein Einziger nach Spandau gebracht zu werden; denn dieser Ort sowie Potsdam gilt den Franzosen als der Inbegriff aller „terreur prussienne“. Sollten aber wirklich Rothhosen dorthin gebracht werden, dann bin ich gewiß, sie werden diese „terre maudite“ so reizend finden und werden deren Bewohner so lieb gewinnen, daß sie sich dort niederlassen, Bürger werden und um Aufnahme in einen Gesangverein nachsuchen. Und doch Einer, ein langer, schlanker Mensch mit einem gelben Wachsteint, schwarzem Barte und großen unternehmenden Augen – wenn ich nicht irre, wurde er mir als Husarenofficier bezeichnet –, der wollte nach Stettin gebracht werden. Nun ist dieses Verlangen zwar nicht etwas so Besonderes; bei einem Franzosen jedoch mußte ein solcher Wunsch immerhin auffallen, und der Officier konnte sich auch nicht enthalten, dem jungen Franzosen sein Erstaunen zu äußern.

„Ich will arbeiten lernen,“ versetzte dieser, den Kopf stolz und energisch zuriickwerfend. „Ich will Kaufmann werden, mein Vater ist ein großer Grundbesitzer in der Nähe von Bordeaux, und ein Weinhändler aus Stettin kam in jedem Jahre, ihm die Ernte abzukaufen. Daher kenne ich den Namen Stettin und weiß, daß es ein großer Handelsplatz ist.“

„Mein Herr,“ versetzte der preußische Ossteier, „erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Hand reiche, das ist ehrenhaft, das flößt mir nach dem Meisten, was ich hier gehört habe, vor Ihnen die größte Achtung ein. Verlassen Sie sich darauf, Ihr Wunsch soll, soweit ich es vermag, berücksichtigt werden.“

Bekanntlich wurden die Marschälle auf ihren Wunsch nach Kassel dirigirt. Einem viel genannten General mußte erst von einem preußischen Officier die Reiseroute dahin auf der Karte nachgewiesen werden, und Ersterer freute sich ungemein, daß Kassel nur etwa eine Stunde von Wiesbaden liege.

„Bitte, mein General, von Wiesbaden fahren Sie noch etwa sechs Stunden auf der Bahn bis Kassel, so lange etwa, als Sie von Saarbrücken zurück nach Metz gebraucht haben.“

„Ah, mais non! Wie ist das möglich? Hier liegt es doch ganz nahe von Mainz.“

„Ja, wenn Sie Castel meinen, das wohl, aber Kassel und Castel – das ist zweierlei.“

Am ersten November konnte man auf dem Bahnhofe von Metz von zwei zu zwei Stunden die deutschen Schaffner die Züge für die abreisenden Marschälle, für die Generalcommandeure der Corps und der Divisionen ausrufen hören; die Namen waren eine Geschichte des zweiten Kaiserreichs Napoleon’s des Dritten. Der zweite December, der Krimkrieg, Italien, Cochinchina und Mexico – alle diese Erinnerungen wurden in der Bahnhofshalle von Metz von deutschen Zungen aufgerufen, und die Aufgerufenen traten auf die Einladung eines preußischen Stabsofficiers, des Oberst Kurth, auf den Perron und nahmen in den Waggons Platz.

Als der Zug abfahren sollte, kam ein Divisionsgeneral auf den genannten Officier zu und bat ihn, zu erlauben, daß zwei in tiefe Trauer gekleidete Damen auf dem Perron zugelassen würden. Die eine derselben war etwa fünfzig Jahre alt und zeigte jene Würde, welche älteren Damen aus der guten Gesellschaft Frankreichs eigen zu sein pflegt; die andere war jung, elegant und schön wie ein Traum des Paradieses; beide Damen zeigten unverkennbare Aehnlichkeit miteinander.

Es war die Marschallin Niel mit ihrer Tochter, einer Gräfin ***; die Mutter und die Tochter wollten dem Sohne, dem Bruder vor seiner Abreise noch Adieu sagen.

Die Gemahlin und die Tochter des Mannes, des einzigen in Frankreich, der vielleicht General Moltke’s ebenbürtiger Gegner gewesen wäre – hier an diesem Orte! Sie waren in einer Ambulance thätig gewesen und in Metz eingeschlossen worden. Da sie nach der Capitulation bei der alle Quartiere mit Officieren und Soldaten belegt wurden, keine Wohnung finden konnten, waren sie die ganze vergangene Nacht auf dem Straßentrottoir auf und nieder gegangen und vor Anstrengung und Hunger so erschöpft, daß Oberst Kurth den beiden Damen aus dem Vorrathe des Banquiers Wolf aus Hamburg, der mit einem Eiszuge nach Metz gekommen war, Wein und kaltes Fleisch holen mußte.

Die Marschälle von Frankreich scheinen allesammt junge, reizende Frauen zu haben; die Marschallin Mac Mahon ist eine allerliebste Erscheinung, ebenso rühmt man die Schönheit der Gemahlin Bazaine’s, auch die Marschallin Caurobert kann man eine schöne Frau nennen, sie war auf dem Bahnhofe, als der Zug ihres Gemahls abfuhr; es war eine Scene, die zu Thränen rühren konnte, wenn man sah, mit welcher innigen, zärtlichen Liebe der alternde Mann und diese blühende Frau aneinander hingen, wie tief der Schmerz der Trennung in Beider Herzen wurzelte.

In dem Augenblicke, wo der Zug sich in Bewegung setzen sollte, drängte sich ein Civilist durch die Menge, übergab dem Oberst Kurth einen Brief und war verschwunden. Der Empfänger öffnete den Brief und las:

„Lassen Sie den Zug nicht abgehen; man führt Böses gegen die Marschälle und Generale im Sinne; vor Nancy sind die Schienen aufgerissen.“

Wer war der Schreiber dieser Zeilen? Woher hatte er die Nachricht? Was hatte man gegen die Abreisenden vor? Wo war der Ueberbringer? Er war fort – verschwunden, und jetzt ertönte das Zeichen zur Abfahrt. Sollte man den Zug auf Grund dieser Zeilen nicht zurückhalten? Oder führte man gegen die Reisenden vielleicht in Metz noch etwas im Schilde – wollte man die Abreise absichtlich verzögern? Nein! der Zug soll gehen, aber der elektrische Funke soll ihm vorausfliegen und von Bahnhof zu Bahnhof die größte Vorsicht empfehlen. In zwei Stunden konnte der Zug in Nancy sein – bange Erwartung bis dahin, endlich nach drei Stunden kam eine Depesche zurück,, sie war aus Nancy und lautete: „Alles in Ordnung gewesen, kein Unfall!“ Die Abreise des zweiten Kaiserreichs aus Frankreich war also glücklich von Statten gegangen.




[860]
Zum Gedächtniß des Meisters.[1]

Männerstolz vor Königsthronen –
Brüder, gält es Gut und Blut
Dem Verdienste seine Kronen, –
Untergang der Lügenbrut.

L. v. Beethoven


Was ist es, das uns mit einem so besonderen Gefühle der Verehrung ergreift, wenn wir den Namen Beethoven hören? Ist’s der hohe Genius, der selbst dem Laien aus den Sonaten und symphonischen Schöpfungen des Meisters entgegenhallt, oder ist’s nicht vielmehr die Ahnung, daß ihre Klänge aus der tiefsten Brust des Menschen stammen, und zwar eines Menschen, den das Schicksal im Innersten traf, und der Alles, was wir fühlen und leben, reiner und tiefer fühlte und lebte, als wir?

Selbst der Fremde, wenn er in Wien auf dem Graben in dem vielfarbigen Gedränge diesen zwar von Gestalt nicht großen, aber in seiner gedrungenen Kraft imponirenden Mann mit der vorwärtsstrebenden Haltung und dem hochaufgerichteten Kopfe vorübergehen sah, ward auf ihn aufmerksam und mußte wohl gar eine Weile stehen bleiben und ihm nachschauen. Es muß ein eigener Schein von seinem Wesen ausgegangen sein, der schon die Mitlebenden in solcher Weise fesselte. In seinem Schaffen und in der inneren Erscheinung seines Wesen aber tritt uns ein Mensch entgegen, von dem wir deutlich fühlen, daß er nur groß ward, indem er die Aufgaben des Lebens ernst nahm und vor Allem es sich zur Pflicht machte, „nicht für sich, sondern für Andere zu leben!“ -

Was Beethoven von Natur auszeichnete, war nicht allein eine ganz ungewöhnliche physische und geistige Kraft; sondern auf dieser Grundlage war ihm von Haus aus auch eine ganz besondere Willenskraft eigen. Sie war ein Erbtheil seiner niederdeutschen Herkunft und artete freilich, namentlich in späteren Jahren, manchmal in das Uebermaß eines starren Eigensinns aus, aber sie war es doch, was mit jedem Lebensjahre und stets entschiedeneren Richtung auf höhere Ziele mehr ihm die Fähigkeit verlieh, seine hohen Zwecke auch wirklich zu erreichen. Und wahrlich, wenn je ein großer Mann, so hatte Beethoven diese Charakterkraft nothwendig, um wirklich groß, nein, um nur überhaupt etwas im Leben zu werden. Denn ungünstiger, ja mehr widriger Unfälle voll kann man sich kaum einen Lebensgang denken, als den Beethoven’s. Es war, als wolle das Schicksal, durch das außerordentliche Maß dieser Kraft zum Kampfe herausgefordert, dieselbe nun auch zeitlebens reizen und prüfen, um sie erst recht zu stählen.

Schon seiner künstlerischen Begabung ging ein wenig genügender und wechselvoller Jugendunterricht zur Seite. Freilich, an seinem Großvater, dem kurkölnischen Baßsänger und „Capellenmeister“ in Bonn, hatte er in erster Kindheit einen echten Mann und tüchtigen Künstler kennen gelernt, und manch anderes schöne Bild in Kunst und Leben sollte ihm auch später noch in dieser seiner Vaterstadt entgegentreten. Allein sein Vater, der ebenfalls zugleich sein erster Lehrer war, that durch sein schroffes Verfahren eher Alles, um den Sohn von der Kunst zu entfernen, als seine Neigung zu derselben zu erhöhen. Er selbst war nur ein mittelmäßiger Musiker, Tenorist in der kurfürstlichen Capelle und nicht entfernt so wie der alte „Capellenmeister“, von dem Bestreben beseelt, etwas Rechtes aus sich zu machen. Denn leider hatte er von seiner Mutter eine traurige Neigung zum Trunk ererbt, die jene Frau in ihren alten Tagen in klösterliche Pension und ihn selbst am Ende gar von Amt und Brod brachte. So sann er auch darauf, als er des ältesten Sohnes reiche Begabung bemerkte, ihn gleich dem kleinen Mozart, der nicht lange vorher auch in Bonn seine Wundergaben producirt hatte, möglichst bald ebenfalls zu einem „Wunderkinde“ auszubilden, und dann nach seinem „flüchtigen Geiste“ vielleicht selbst mit ihm in der Welt umherzureisen. Der kleine Ludwig wurde also streng sowohl zum Clavierspiel wie zur Violine angehalten, und Cäcilia Fischer, seine Hausgenossin in den Knabenjahren, sah ihn im Geiste noch nach mehr als fünzig Jahren, „wie er auf einem Bänkchen vor dem Claviere stand, woran die unerbittliche Strenge seines Vaters ihn schon so früh festbannte, ja wie er dabei Thränen vergoß!“

Das war allerdings nicht sehr geeignet, Liebe zur Kunst zu erwecken, und manch Anderem hätte solche Jugenderfahrung wohl gar die Sache verleidet. Jedoch seine musikalische Neigung wie seine sittliche Kraft sollten noch härteren Prüfungen entgegengehen. Und wenn auch unter den folgenden Lehrern in Bonn der Unterricht wenigstens sein Strenges und Drückendes verlor, so muß man doch sagen, er entsprach in keinem Falle dem Maß von Beethoven’s Begabung. Ja selbst als später der alte „Papa Haydn“ und der gelehrte Contrapunctist Albrechtsberger in Wien seine Lehrer wurden, war bereits durch den Gang seines Lebens sein inneres Wesen zu einer solchen Selbstständigkeit gediehen, daß die Dinge, die er hier lernen konnte, für den Ausdruck seiner Empfindungen kaum noch hinreichten und also auch hier mit eigener Kraft nach den eigenen Mitteln der Darstellung gesucht werden mußte.

Inzwischen versank der Vater stets mehr in Verkommenheit und stürzte damit die Familie in Noth. Nachdem der Sohn von einer Reise nach Wien im Frühjahr 1787, wohin kurfürstliche Gunst ihn zum Unterricht bei Mozart gesandt hatte, durch die Nachricht von Erkrankung seiner Mutter vor der Zeit zurückgerufen worden, und dann die herzensgute Frau bald auch wirklich gestorben war, fiel auf seine noch nicht siebzehnjährigen Schultern die Pflicht, einen ganzen Hausstand zu erhalten, und obendrein, als der Vater schließlich pensionirt worden, die beiden jüngeren Söhne ganz zu erziehen.

Wo blieb da die Aufgabe seines Genius, wo die Pflicht gegen die Ausbildung seines Talentes, von dem ein echter Künstler wohl fühlt, daß es ihm nicht zu Genuß und Spiel verliehen worden, aber auch nicht dazu, um es im gewöhnlichsten Tagestreiben verkümmern zu lassen! Allein er ruhte dennoch nicht, bis auch diese Pflicht erfüllt war. Redlich drängte er die jugendlich überquellende Schaffenskraft zurück und sorgte, im täglichen Dienst der Hofcapelle und des Theaters oder durch Stundengehen, für die Bedürfnisse daheim. Erst als hier die Aufgabe ganz gelöst war, und der eine der Brüder als Apothekerlehrling, der andere als Musiklehrer versorgt waren, gedachte unser Meister von Neuem auch seiner höheren Pflichten, und wußte es nun im Herbst 1792 [861] dahin zu bringen, daß ihn sein Kurfürst abermals nach Wien sandte, um dort die letzte Ausbildung zu gewinnen.

Hier nun allerdings schwamm er nach langer schmerzlicher Bedrängung und Beengung zum ersten Male wieder auf offenem Meere, und es ist eine Freude, zu schauen, wie sein Genius in der Freiheit sich tummelt auf dem Felde eines künstlerischen Schaffens, auf dem soeben noch Gluck und Mozart gewirkt hatten und Joseph Haydn noch fleißig fortwirkte. Lebhaft und reich, wie ein langverhaltener Strom, dringt es aus seinem Innern hervor, und mit Recht hat man sein Erstaunen darüber ausgesprochen, wie es nur möglich sei, überhaupt so viel zu schreiben, als in den ersten fünf Jahren des Wiener Aufenthalts Beethoven componirt hat. Auch der materielle Gewinn mangelte zunächst nicht, weil die neuen vornehmen Gönner manch’ reiche Spende boten.

Diese übersprudelnde Kraftfülle ist denn auch der Haupteindruck seines damaligen Schaffens, das in der Sonate pathétique fast ungebändigt dahinbraust und mit unwiderstehlichem Drange auch uns ergreift. Noch ist trotz allem Druck und bitterm Erleben sein Wesen nicht in den Dienst der allgemeinen Lebenszwecke gebannt. Noch stürmt es manchmal sogar in trotzigem Ungestüm dahin und genießt rücksichtslos oder doch gleichgültig gegen sich wie gegen die Welt und Umgebung einzig des freien Spiels seiner in allen Welten umherschweifenden Phantasie.

So kommt er auch eines Tages von einem seiner gewohnten Spaziergänge in der Umgebung Wiens erhitzt in die engen Gassen der Stadt zurück und wirft in dem großen kühlen Zimmer, wie die Häuser der innern Stadt sie haben, nach seiner Art sogleich die Oberkleider ab, um durch nichts in der Ausarbeitung der draußen gesammelten Schätze gehindert zu sein. Eine heftige Erkältung war die natürliche Folge, und zum Schrecken zeigt sich bald, daß die Erkrankung gar auf denjenigen Sinn gefallen ist, den er nach seiner eigenen Versicherung in einer seltenen Vollkommenheit besaß – auf das Gehör! – Ja, von da an war der „Dämon in seinen Ohren“ und blieb da sitzen zeitlebens. Denn theils unrichtige Behandlung, mehr aber wohl die fortgesetzte eigene Unachtsamkeit, die bei dem Drang seiner Arbeit vielleicht zu begreifen ist, ließen das Uebel bald tiefer einreißen und allmählich unheilbar werden, so daß in den letzten Lebensjahren fast einzig schriftlich, das heißt durch die „Conversationshefte“ mit einem Künstler zu verkehren war, dem doch das Gehör das unentbehrlichste Organ seines Schaffens zu sein scheint.

Schreckliches Leid! Schwerster Schicksalsschlag gerade für diesen Mann, der obendrein schon als Knabe „nicht viel auf Cameraden oder auf Gesellschaft gehalten hatte“ und jetzt bald auf’s Tiefste vereinsamen sollte! – So begreifen wir, daß er schon wenige Jahre nachher, als kein Mittel mehr das Leiden bannen wollte, einem Jugendfreunde zuruft: „Ich habe schon oft – mein Dasein verflucht!“ und daß er, wie mehr als eine Stelle seiner Briefe verräth, in den ersten Jahren dieses Leidens mehrmals nahe an der Grenze des Abgrunds vorüberschritt, von dem es keine Rückkehr giebt. So ging er einmal in der sommerlichen Landschaft um Wien mit seinem Schüler Ferdinand Ries spazieren, und dieser machte ihn auf einen Hirten aufmerksam, der auf einer Flöte aus Fliederholz recht artig blies. Der arme Taube konnte wohl eine halbe Stunde hindurch gar nichts hören und wurde, obwohl Ries ihm wiederholt versicherte, auch er höre nichts mehr, was indeß nicht der Fall war, nachher außerordentlich still und finster. Es mache dieses kleine Erlebniß auf ihn den schrecklichsten Eindruck, er selbst schreibt davon später in dem bekannten „Heiligenstädter Testament“, das sich mit wenigen anderen Papieren in seinem Nachlasse fand: „Solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig und ich endigte selbst mein Leben. Nur die Kunst, sie hielt mich zurück. Ach, es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das Alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte.“

Es war nur natürlich, daß er in seinem jetzigen mit innigem Verlangen danach umschaute, wie er wenigstens in seinem Privatleben jenes Glück oder doch das persönliche Behagen gewinnen könne, das die Welt ihm nicht mehr zu bieten vermochte. Welche Seligkeit mußte also über ihn kommen, als er eben in dieser Zeit auch wirklich ein Wesen fand, das sein Herz und seine Kunst zugleich verstand.

Die sechszehnjährige braunlockige Gräfin Giulietta Guicciardi war die liebend verstehende Seele, die den unglücklichen Mann aus der Pein der grenzenlosen mitleidenswerthen Vereinsamung erretten wollte und, wie aus seinem Briefe an sie, der mit den Worten beginnt: „Mein Engel! Mein Alles! Mein Ich!“ zu ersehen ist, allen Ernstes ihm die Hand für’s Leben zu reichen gedachte. Schon hatte „das liebe zauberische Mädchen, das mich liebt und das ich liebe“, sein Leben wieder etwas angenehmer gemacht und er ging wieder mehr unter Menschen: „Es sind seit zwei Jahren wieder einige selige Augenblicke, und es ist das erste Mal, daß ich fühle, daß Heirathen glücklich machen könnte.“ Und besäßen wir auch nicht diese Aueßerungen – es würde uns das der gräflichen Geliebten mit den schwärmerisch dunkeln Augen öffentlich gewidmete Gedicht seines liebebewegten Herzens, die unter dem freilich willkürlich erfundenen Namen „Mondscheinsonate“ allbekannte Cismollsonate (Opus 37, II) zur Genüge davon unterrichten, was damals in der Brust des weltstürmenden Titanen und doch so tief bedürftigen Menschenbildes vorging.

Allein auch dieses Glück ging bald genug in Scherben. Aus bisher unergründeten Ursachen, bei denen aber wohl der damals besonders große Standesunterschied der beiden Liebenden die ausschlaggebende gewesen ist, ward das Verhältniß jählings und, wie aus Beethoven’s späterem Benehmen hervorgeht, ohne Schuld von seiner Seite abgebrochen. Denn als Giulietta mehr als zwanzig Jahre später, nachdem sie längst die Frau des Grafen Gallenberg war, der doch auch nur „Compositeur“ und obendrein von Balletmusik war, nach Wien zurückkehrte und den ergrauten tauben Meister, wie er selbst im Conversationsheft von 1823 aufschreibt, weinend aufsuchte, hat er sie zurückgewiesen. „Und wenn ich hätte meine Lebenskraft mit dem Leben (d. h. mit dem Glück des Lebens) so hingeben wollen, was wäre für das Edle, Bessere geblieben?“ schließt er die kurze Mittheilung über dieses schmerzlichste Begebniß seines Lebens.

Wir haben aber noch andere Zeugnisse darüber, wie sehr seine Seele damals von Gram erfüllt war. Und wenn er auch nach seiner großen Art endlich in sich selbst Herr über denselben ward und das für ihn doppelt herbe Erlebniß weiblicher Untreue sogar – im „Fidelio“ – zu einem verklärten Bilde ehelicher Treue umzubilden wußte, so sagen uns doch sowohl die tiefbewegte Claviersonate in D moll (Opus 31, II) und mehr noch die leidenschaftlich stürmende Sonate in F moll (Opus 57), der man im richtigen Gefühl ihres Inhalts den Namen „Appassionata“ verliehen hat, daß mindestens dieser Kampf ihm nicht leicht geworden.

Für ihn selbst begann aber mit diesem letzten tief einschneidenden Erlebniß überhaupt ein gewisser Verzicht auf äußeres oder doch zunächst auf häusliches Glück. „Resignation“ und „Geduld“, sie wollte er jetzt „zu seines Lebens Führerinnen wählen“ und einzig seinem Schaffen leben. Jedoch noch oftmals naht sich ihm gleich einer himmlischen Erscheinung, die wenigstens für Momente schönste Hoffnung gewährt, die bald nähere, bald fernere Aussicht auf eine dauernde Herzensverbindung, und die Worte, welche er um das Jahr 1807 in sein Tagebuch schrieb, „als die M. vorbeifuhr und es schien, als blickte sie auf mich“, diese Worte: „Nur Liebe, ja nur sie vermag dir ein glückliches Leben zu geben. O Gott, laß mich sie, jene endlich finden, die mich in Tugend bestärkt, die nur erlaubt mein ist!“ – sie bekunden, daß die Sehnsucht nach jenem natürlichsten und reichsten Erdenglück, das uns beschieden, auch in seinem Herzen unerstorben geblieben war. Und selbst noch als ein guter Vierziger legte er in vertraulicher Stunde einem lebenserfahrenen Manne gegenüber das Geständniß ab, daß er „unglücklich liebe und eine Dame kennen gelernt habe, mit welcher sich zu verbinden er für das größte Glück seines Lebens halte; es sei freilich nicht daran zu denken, fast Unmöglichkeit, eine Chimäre; dennoch sei es jetzt noch wie am ersten Tage und er habe es nicht aus dem Gemüth bringen können“. Aller Vermuthungen nach aber war jene „M.“ die geistvolle südlich glühende Therese Malfatti von Wien und die andere Dame das liebenswürdige Fräulein Amalie Seebald aus Berlin, die er im Sommer 1812 in Teplitz kennen und lieben gelernt hatte.

Wenn wir uns aber jetzt zu der Frage wenden, was all diese Erlebnisse für Beethoven’s Entwicklung und also für sein Schaffen bedeuten, so bethätigt sich hier nur von Neuem das alte Wort: „Wen Got lieb hat, den züchtiget er!“ Denn gewiß wäre ohne diese Begegnisse Beethoven nicht zu jener so ungewöhnlichen Vertiefung seines Wesens und zu der idealen Auffassung des Lebens gekommen, die uns heute in ihm einen wahren Herzenskündiger [862] und Freudenbringer erschauen läßt. War es schon die Kunst gewesen, die ihn vor dem letzten erschreckenden Schritte der Selbstvernichtung bewahrt hatte, so blieb auch sie es, die ihm nicht blos Linderung der Leiden, sondern unvergleichliche Freuden schuf. Die Kunst war es aber auch, die ihm wieder manches helfend liebende Gemüth zuführte, vorab jene so höchst musikalische und liebliche junge Gräfin Marie Erdödy, geb. Nitzky aus Ungarn, in deren Hause und bei deren Kindern er in Wien viel jener Güte und zarten Theilnahme fand, deren er so sehr bedurfte. Und war es nicht sie, diese „treueste Freundin“, die einst, als seit Tagen das Zimmer des Unglücklichen sich nicht geöffnet hatte und nicht Speise und Trank zu ihm gekommen war, so daß in der mit des Meisters Leid wohlvertrauten Freundin der nur zu gegründete Verdacht entstand, er wolle sich den Tod durch Hunger geben – war es nicht diese „liebe Gräfin Marie“, die mit thränender Bitte an seiner verriegelten Thür hing und nicht nachließ, als bis endlich, endlich zunächst ein Laut des Lebens ertönte und dann schließlich geöffnet ward? – Das ihr kurz darauf gewidmete Trio in D dur (Opus 70, I) kündet uns im ersten Satze sowohl den heldenmüthigen und doch fast verzagenden Kampf gegen das Geschick und in dem Adagio das wahrhaft herzzernagende sinnumdunkelnde Leid, um dessen willen er sich vor der Zeit in die Oede des Todes zu versenken gedachte.

Denn was an Glück und Freude auch diesem Manne und zwar auch ungemischter als Anderen vorbehalten war, es wurde ihm vor Allem hier zu Theil, und zwar sowohl in dem weihevollen Genusse des stillen Schaffens wie in der festlich erregten Theilname und lauten Anerkennung der öffentlichen Aufführungen. Ja, kein Künstler je konnte sich größerer Ruhmeserfolge getrösten als unser Beethoven. Und diese öffentlichen Erfolge seines Schaffens und die allgemeine Verehrung, die er als Mensch erfuhr, waren wohl reicher Ersatz für das, was ihm das Privatleben entzog oder vorenthielt. Das große Concert im November 1814, das gar einen Theil der Festlichkeiten des Wiener Congresses ausmachte und bei dem die „Schlacht von Vittoria“ und die A dur-Symphonie die Hauptrolle spielten, zeigte ihm in dem begeisterten Beifall eines fast sechstausendköpfigen Publicums, das zudem die geistige Bildung Europas vertrat, zuerst seine ganze eigene Bedeutung. Im Jahre 1824 aber, als selbst dem genußsüchtigen Wiener der Rossini-Taumel zu arg ward und man den ergrauten Altmeister deutscher Tonkunst anging, einmal wieder das ernsterhabene Antlitz seiner Muse zu zeigen, gewann die Aufführung eines Theils der großen Messe in D und der Neunten Symphonie eine Aufnahme, die voll Begeisterung war und schließlich in eine allgemeine Scene der Rührung ausbrach, als der taube Meister, der am Dirigentenpulte stehend nicht einmal das Tosen des Beifalls hinter sich vernommen hatte, von der später so berühmten Sängerin Karoline Unger umgedreht und auf die jubelnde Menge aufmerksam gemacht ward. „Kein Auge fast blieb das trocken,“ heißt es von diesem Vorfalle, „und Beethoven selbst stand endlich von Rührung ergriffen mit nassen Augen da. Es war ein wahrhaft goldener Lohn und ein kühlender Balsam für die Wunden, die das Leben ihm geschlagen.“

Wir hörten schon, wie er im „Fidelio“ die weibliche Treue geschildert hat. Aehnlich suchte er in seiner dritten Symphonie, die ebendarum Eroica heißt, dem großen geschichtlichen Thun seiner Tage und namentlich dem mächtigen Helden derselben, dem Consul Napoleon Bonaparte, nach seiner Weise einen künstlerischen Ausdruck zu geben. General Bernadotte, später König von Schweden, hatte bereits im Jahre 1798 ihn aufgefordert, dem großen General der Republik ein musikalisches Denkmal zu setzen, und es trüge vielleicht auch heute den Namen „Napoleon-Symphonie“, wenn nicht auch Beethoven eine unüberwindliche Abneigung gegen den einstigen Freiheitsbringer ergriffen hätte, sobald derselbe sich die kaiserliche Tyrannenkrone aufsetzte. Aber mochte das Titelblatt des Werkes bei dieser Nachricht mit Zorneswuth zerrissen, den Heldenschritt jener großen Zeit und das eine neue Welt gebärende Wühlen derselben bewahrte uns dasselbe dennoch auf.

Von den geschichtlichen Vorgängen mehr und mehr unbefriedigt wandte sich des Meisters Sinn dann zunächst den großen inneren Processen zu, in welche seit der Reformation die Menschheit wieder eingetreten war; er componirte die C moll-Symphonie, über deren Bedeutung befragt er selbst einmal geantwortet hat: „So klopft das Schicksal an die Pforte!“ – es entstand die schöne Pastoral-Symphonie, wo er mit den einfachen Worten der eigenen Erlebung schildert, wie er im Tempel der Natur und einfacher Menschen den Frieden der Seele und „der wahren Freude innigen Wiederhall“ gefunden habe, den er im Leben überall vergeblich gesucht hatte. Jetzt aber verliert er diese Spur nicht wieder und seine Seele hört nicht mehr auf, nach der Lösung der Räthsel unserer Brust zu streben.

Selbst seine Lectüre spiegelt dieses ernste Zusammenfassen seines Gemüthes wieder. Ein damals sehr beliebtes protestantisches Erbauungsbuch, „Chr. Sturm’s Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung“, das sich den für Beethoven’s lebhaften Natursinn so besonders willkommenen Zweck gesetzt, „die Natur zu einer Schule für das Herz zu machen,“ füllt durch Jahre manche arbeitsruhige Stunde aus, und die Auszüge, die er sich daraus in seinen Tagebüchern und sonst wo gemacht und die nebst anderen Stellen aus seiner Lectüre, als Shakespeare, Homer, Herder, Schiller, Goethe und den Alten, vor Kurzem von dem Verfasser dieser Zeilen als Festschrift unter dem Titel „Beethoven's Brevier“ (Leipzig, E. J. Günther) veröffentlicht und so dem allgemeinen Interesse zugänglich gemacht worden sind, bekunden ganz diesen betrachtenden Sinn. Ja, als besonders der schmerzliche Tod seines jüngsten Bruders Karl im Jahre 1815 und die mit so viel Leid verbundene Annahme des unglückseligen „Neffen“ seine Seele noch empfindsamer und eines dauernden Trostes bedürftig gemacht haben, hören wir ihn oft mit der ganzen Energie seines Herzens nach höherem Rath rufen, und wahrhaft erschütternd klingt das Wort im Tagebuch von 1817: „Hart ist der Zustand jetzt für dich! Doch der droben, o, er ist, und ohne ihn ist nichts!“

Umsomehr mußte es ihm erwünscht kommen, daß gerade damals die Einführung des Erzherzogs Rudolph in seine neue Würde den Anlaß bot, auch diese Gefühle einmal mit aller Kraft zusammenzufassen. „Opfere noch einmal alle Kleinigkeiten des Lebens. O Gott über Alles!“ rief er sich zu, als er jetzt die Composition desjenigen Werkes begann, das er später selbst als sein vollendetstes bezeichnete, – die Missa solemnis. „Von Herzen kam’s, möge es wieder zu Herzen gehen!“ schrieb er auf das erste Blatt, und fast vier Jahre wirkte er an diesem Wundergewebe, bei dem er manchmal in einem Zustande „völliger Erdentrücktheit“ sich befand, wie er früher niemals an ihm gesehen worden. Er strebte im tiefsten Innern darnach, zunächst sich selbst den ersehnten Frieden zu geben und diesen Gewinn dann auch Anderen zu verschaffen.

Und daß er den Kreislauf menschlicher Empfindungen mit Schiller’s Ode „An die Freude“ abschließt, bestätigt uns ganz den innerlich harmonischen und beglückten Zustand seines eigenen Gemüthes. Schöner ist denn auch das Lied von der Freude, jenes „Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!“ niemals gesungen worden, als von diesem Mann, der doch mehr von ihrem Leid, als von ihrer Wonne zu kosten bekommen hatte!

So reiht sich denn dieses Schaffen eines Heros der Musik nach seinem Sinn und Gehalt wie nach seiner künstlerischen Vollendung an das Schaffen all’ unserer Großen auf andern Gebieten, an Schiller’s herrliche Dramen und Goethe’s Faust unmittelbar und würdig an und verkündet das alte Evangelium der Menschheit in neuer beglückender Form. Darum auch war sie für Beethoven selbst ein Heiligthum, seine Kunst. Er fühlte sich als ihren Priester und erachtete gar „ihre Offenbarungen höher, als was Worte sagen“. Dieses Bewußtsein, wie er selbst es bescheiden genug ausdrückte, „einigen Einfluß auf seine Zeit geübt zu haben,“ war es denn auch, was ihn so oft über sein eigenes Mißgeschick „zu den Sternen“, das heißt, zu jenem Born der Freude geführt hatte, der in der Betrachtung des ewigen Laufs der Dinge quillt – und was ihn auch auf dem langen letzten Krankenlager dem Tode mit wahrhaft sokratischer Weisheit und wahrer Seelenruhe entgegen sehen ließ.

Jetzt aber begreifen wir auch, warum unwillkürlich Verehrung uns erfaßt, wenn wir den Namen dieses großen Meisters aussprechen hören: er war einer der Deuter und Propheten unseres Seelenlebens, wie sie von Zeit zu Zeit zu uns kommen, um Noth und Qual der bedürftigen Menschheit zu stillen. Und er ward dies, weil er mit echt männlichem Muthe die Bedrängnisse des Lebens in sein Inneres aufnahm und sie mit eigener Kraft zu tilgen suchte. Dadurch aber lehrte er uns auch von Neuem an uns selbst und an die Kraft des eigenen Herzens glauben, und [863] darum scheucht uns nicht der fast dämonisch wilde und dunkel ernste Blick, der aus dem Auge seines mächtigen umwallten Hauptes hervorblitzt. Denn um den Mund spielt ihm zugleich jener Zug unerschöpflicher Freundschaft und Güte, der allen denen eigen ist, die das Menschliche in seinem Grunde erfaßten und der allgemeinen Bedürftigkeit unseres Geschlechts nicht Spott, sondern das aufrichtigste Mitgefühl schenkten. Wir glauben gern, was uns berichtet wird, daß, wenn über das Gesicht des großen vielgeprüften Mannes ein Lächeln zog, es gewesen sei, als wenn durch dunkles Gewittergewölk mit lichtem Himmelsschein die Sonne blickt.

Und dieses Gefühl, hier einem wahren Künstler und einem Manne gegenüberzustehen, der seinem Geschlecht über manche Stunde der Trübsal hinweg und vielleicht gar überhaupt um eine Stufe der Entwicklung weiter geholfen und ihm sein eigenes Wesen neu entschlossen hat, – dieses Gefühl ist es, was uns in dem jetzigen Moment seiner Säcularfeier und selbst in schwerer Kriegeszeit mit doppelter Gewalt ergreift und uns vernehmlich zuruft, seiner nun auch mit aller Kraft der Hingebung an seine großen Ziele und mit aller Weihe der Erhebung zu gedenken – des großen Meisters der Töne Ludwig van Beethoven!
Ludwig Nohl.





Von der blutigsten Stätte vor Paris.

Brief und Illustration von F. W. Heine.

Ihrem neulich geäußerten Wunsche gemäß und nachdem ich die Erlaubniß aus dem Hauptquartier der Maasarmee erhalten, trat ich meine Rundreise von Montfermeil im weiten Bogen durch die nordöstlichsten Theile unserer Belagerungsarmee, das heißt durch das zwölfte Armeecorps und das Gardecorps bis zum vierten Armeecorps, nach Margency, dem Hauptquartier des Kronprinzen von Sachsen, an. Das geschah am Sonnabend, den 29. October, also an demselben Tage, an welchem der mörderische Kampf von le Bourget vorbereitet wurde. Schon am 20. Septbr. hatte nämlich das Garde-Grenadier-Regiment Königin Elisabeth dieses Dorf im ersten Anlauf und ohne große Opfer genommen. Dasselbe liegt an der großen Straße von Compiègne nach Paris, etwas über fünf Viertel Stunden vom Mauergürtel der Hauptstadt entfernt, folglich noch unter ihren und der dortigen Forts Kanonen; namentlich ist es den Forts von St. Denis und dem von Aubervilliers und den nahen Feldschanzen stark ausgesetzt. Trotzdem hielten sich dort die Vorposten der zweiten Gardedivision. Die Feldwache hatte etwa dreitausend Schritte nördlich von le Bourget ihre Baracken aus den Trümmern der wenigen Häuser von Pont-Iblon an dem Moréebache errichtet, über welchen hier der hohe Straßendamm die zum Theil überschwemmte Niederung durch eine Brücke verbindet. Eine starke Barricade auf diesem Damme und fünfhundert Schritte weiter rückwärts an beiden Seiten der Straße geschützte Batterien und Schützengräben sollten dem Feinde jeden Durchbruchsversuch auf diese Straße verleiden.

Als Mittelpunkt zwischen noch vier anderen stark besetzten Punkten, den Dörfern Dugny und Blanc-Mesnil, welche von den Preußen, und Drancy und la Courneuve, welche von den Franzosen gehalten wurden, bildete nun le Bourget einen Zankapfel, der täglich im Preise stieg, obgleich die preußische Bedeckung für denselben nie über eine Compagnie betrug. Da brachen die Franzosen am Siebenundzwanzigsten aus Fort Aubervilliers und den genannten Dörfern in mächtigen Colonnen gegen le Bourget vor, trieben die schwache Besatzung nach Pont-Iblon zurück und benutzten sofort alle Vortheile des wie zur Vertheidigung geschaffenen Orts. Rings von Park- und Gartenmauern umschlossen, die man mit Schießscharten versah, hatte es nur vier Zugänge, zur Hauptstraße, die breit und stattlich sich die Chaussee entlang von Nord nach Süd erstreckt, und zur Seitengasse, die jene quer durchschneidet. Diese Ausgänge schützten vier Steinbarricaden, schloßartige Gebäude bei den Eingängen der Hauptstraße wurden ebenfalls zur Vertheidigung eingerichtet, und fünftausend Mann Infanterie mit einer Mitrailleusen-Batterie vollendeten hier die Herstellung eines neuen Außenwerks der Pariser Befestigungen.

In Aulnay erzählten mir Leute der sächsischen Garde, daß in der vergangenen Nacht vor le Bourget abermals schwer gekämpft worden sei. Wie ich später erfuhr, hatte ein Bataillon vom Garde-Grenadierregiment Franz das Dorf überrumpeln wollen, aber mit nicht geringem Verlust (sechzig Todte und Verwundete) sich zurückziehen müssen; man erwartete nun für die nächste Zeit die Erstürmung dieses wichtigen Punktes durch die preußische Garde. Und kaum hatte ich die Hälfte des Wegs von Aulnay nach Gonesse zurückgelegt, als mir das Vorspiel dazu in die Ohren brauste: Kanonen- und Gewehrfeuer aus le Bourget, das von unseren Geschützen bei le Blanc Mesnil und Dugny eifrig erwidert wurde. In aller Unschuld war ich wieder einmal in das unfreundliche Bereich der Geschosse gekommen; kaum tausend Schritte unter meinem Wege sah ich Bomben und Granaten crepiren und dazwischen pfiffen die Kugeln, mit welchen die Vorposten sich dann und wann einen Gruß zuschickten.

Ich eilte nun nach Montmorency, wo ich übernachtete, und gelangte am folgenden Tage, dem Dreißigsten, durch Regen und aufgeweichten Weg nach Margency. Hier traf ich den Maler Beck, und durch ihn erhielt ich die erste Nachricht von dem großen Kampfe dieses Tages vor und in le Bourget. Unsere Aufregung war groß. Wir bestellten einen zweispännigen Wagen für den nächsten Morgen und fuhren im ersten Grauen der Dämmerung ab. Es war ein schauriges Wetter, Nebel, Regen, Alles grau in grau ringsumher.

Schon bei Gonesse begegneten uns ganze Wagencolonnen von Verwundeten, Franzosen wie Preußen. Auch mancher Gefangenentransport zog an uns vorüber. Bei der oben genannten Batterie und den Schützengräben vor dem Moréebache machten wir Halt, ließen hier den Wagen zurück und marschirten im dichten feinen Regen und auf dem lehmigen Boden, eng in den Mantel gewickelt und die Sturmriemen herunter, vorwärts. Bei hellem Himmel ist von hier die Aussicht beachtenswerth. Die Landstraße senkt sich sanft nach der Moréebrücke von Iblon hinunter und steigt jenseits gleicherweise bis le Bourget wieder hinauf; der ausgetretene Bach durchzieht das baumlose Acker- und Wiesland wie ein breiter Strom, während das Dorf festungsartig mit seinen hohen, zum Theil bethürmten Steingebäuden uns entgegentrotzt. Den Hintergrund bilden die beiden vielgenannten Vertheidigungshöhen von Paris, der Montmartre und Fort Valerien, von unseren Soldaten „Bullerian“ genannt; links vom Montmartre ragt aus dem Pariser Häusermeere die Notre-Dame und links vom Valerien der Triumphbogen hervor, und rechts erhebt sich St. Denis mit seinen Forts. Gewiß ein reiches Bild, aber die nächste Nähe verwischte es uns bald. Wir waren bei der Iblonbrücke angekommen und sahen, nachdem wir den Verhau (die Barricade) hinter uns hatten, vor uns zur Linken und Rechten die Todten in Haufen liegen, und noch immer begegneten uns Grenadiere der Garde mit Schubkarren, auf welchen ihre kalten Cameraden lagen. Auf diesem Wege erfuhren wir von den noch immer über den entsetzlichen Straßenkampf furchtbar erbitterten Männern den Verlauf der gestrigen Waffenthat.

Die ganze zweite Gardedivision, Artillerie, Cavallerie und Infanterie, war zu diesem Waffengange aufgeboten: die Regimenter „Elisabeth“, „Augusta“, „Franz“ und „Alexander“ und das Garde-Schützenbataillon marschirten in drei Colonnen gegen das Dorf, während im Centrum hinter Iblon die Artillerie auffuhr und die Cavallerie die äußersten Flanken deckte. Die Artillerie eröffnete um halb acht Uhr mit einem Hagel von Granaten den Kampf, und sofort krachte es auf allen Forts und Schanzen der Franzosen, so daß über hundert Geschütze diesen Sonntag begrüßten. Nach einer halben Stunde schwiegen unsere Geschütze, um nicht den eigenen Leuten gefährlich zu werden, die, die aufgelösten Schützenlinien voran, in drei Colonnen zum Angriff auf des Feindes feste Stellung hinter den Mauern und Barricaden vorgerückt waren. Trotz des furchtbaren Feuers aus jeder Mauerluke, jedem Fenster, Giebel und Thurm drangen die Bataillone, ohne einen Schuß zu thun, vor, mit fliegenden Fahnen, die Regimentsmusik mit den Klängen der „Wacht am Rhein“, die Regiments- und Bataillonsführer sämmtlich zu Fuß und nur der Divisionsgeneral v. Budritzki und der Brigadecommandeur Oberst v. Kanitz mit ihren Adjutanten zu Pferde, bis auf hundert Schritt vor den Feind. Dann mit


[864]

General von Budritzki nimmt, mit der Fahne in der Hand, die Barricade vor le Bourget.
Originalzeichnung von unserem Feldmaler F. W. Heine.

[865]

Straßenkampf in le Bourget.
Originalzeichnung von unserem Feldmaler F. W. Heine.

einem Schlage Schweigen der Musik, das Sturmhurrah der Soldaten und vorwärts gegen die feuersprühenden Mauern und Barricaden!

Aber vergeblich war aller Männermuth gegen eine solche Deckung des Feindes. Die Todten lagen in Haufen vor der Barricade. Da, nur zehn Schritte vor der Steinmasse, gehorchten sie kaltblütig wie auf der Parade dem Commando der Führer, schwenkten links und rechts ab, um den Feind von der Flanke zu packen. Die linkshin dem Feuer der Barricade Entkommenen fanden endlich einen Thorweg, die Pionniere brachen mit den Aexten Bahn, der Hof ward genommen, der Giebel des Hauses eingeschlagen, die Unseren drangen ein und eröffneten von oben den Häuserkampf, aus den Hintergebäuden in die vorderen vordringend, während in den unteren Räumen noch die Franzosen [866] auf die Straße schossen. Bajonnet und Kolben arbeiten von oben herab, Haus um Haus vorwärts, bis nach entsetzlichem Blutvergießen die ganze linke Häuserreihe und damit das halbe Dorf erobert war.

Gleich im ersten Hof fiel der Oberst des Augusta-Regiments, Graf Waldersee. Man erzählt, durch Verrath. Aus einem Fenster winkten Franzosen mit weißen Tüchern, und als der Oberst auf dieses Zeichen der Ergebung näher getreten, sei er unter ihren Kugeln zusammengestürzt. „Grüßen Sie meine arme Frau!“ waren die letzten Worte, als er in den Armen der Seinen den Geist aufgab. Zu gleicher Zeit stob ein graubärtiger französischer Capitain händeringend aus einem Hause und bat um sein Leben, weil er Frau und Kinder habe.

Während dieser Häuserkampf noch tobte, begann der Angriff auf die Barricade von Neuem, und zwar durch die zweite Compagnie Füsiliere und das zweite Bataillon vom Elisabeth-Regiment unter Oberst v. Zaluskowski. Hier siegte die Begeisterung für die Fahne durch den höchsten persönlichen Muth. Der Fähndrich und nach ihm der Gefreite Karfunkelstein mit dem Eisernen Kreuz fallen mit der Fahne in der Hand, schon wanken die Kämpfer, trotz des Opfertodes, dem mehrere Officiere sich auf der Barricade preisgeben, – da eilt der alte Generallieutenant v. Budritzki, der Divisionscommandeur, heran zu Fuß, denn das Pferd ist ihm unterm Leibe erschossen, und den Säbel schwingend rafft er die Fahne vom Boden auf und stürmt mit dem Rufe „Helft, Leute! Vorwärts!“ voran. Da war kein Zögern und Halten mehr, die Barricade fiel, aber mit ihr noch mancher brave Jüngling und Mann und zuerst der Oberst v. Zaluskowski, der Führer dieser Sturmschaar.

Zu dem Kampf in den Häusern und Höfen kam nun der auf der Straße, auf welcher den Unsrigen die Granaten der Forts und die Kugeln der Mitrailleusen entgegen sausten; und nun öffneten sich auch Fenster und Thüren, Dach- und Kellerluken zum Feuer gegen die Preußen, die wiederum mit Aexten, Kolben, Säbeln und Bajonneten die Häuser öffneten, um die Gegner auf die Straße herauszuziehen. An den Häuserwänden sich hindrückend suchten die Grenadiere die Gewehrläufe der Franzosen zu packen, oder sie schossen und stachen in jede Oeffnung hinein, die ihnen erreichbar war. Besonders heftig war das Ringen in der Nähe der Kirche, wo aus zwei großen Häusern mit fürchterlichster Erbitterung auf die Unseren geschossen wurde, bis es gelang, ein Thor einzubrechen und in’s Innere zu stürmen. Da begann ein entsetzliches Gemetzel mit den kurzen Säbelklingen oder dem Kolben und der blutigen Faust. Hier gab’s keinen Pardon mehr. An einem Hause war deutsch mit schwarzer Kreide angeschrieben: „Die Preußen sind feige Hunde, wir schießen sie Alle todt!“ Von der Besatzung desselben blieb ebenfalls Niemand übrig. Em anderes Haus trug in französischer Sprache die Aufschrift mit rother Kreide: „Ihr Teufels-Preußen, ihr werdet nicht alle eure Frauen wiedersehen!“ So tobte sich ohnmächtige Rachgier aus.

Auch die andere Häuserreihe des Dorfes mußte Haus um Haus erobert werden, obgleich die Blutarbeit dadurch etwas erleichtert ward, daß aus den eroberten Häusern zur Linken gleich auf die gegenüberstehenden in derselben Straße zur Rechten geschossen werden konnte. Die französische Artillerie der Forts und Schanzen hatte bis diesen Augenblick rücksichtslos, ob die Ihren selbst darunter leiden mochten, nach le Bourget hineingeschossen; sie stellte ihr Feuer ein, als die langen Reihen der französischen Gefangenen im Freien nordwärts sichtbar wurden und die Mitrailleusen in eiligster Flucht aus le Bourget nach Süden abfuhren. Um drei Uhr war der Sieg entschieden, – aber um welchen Preis!

Da standen wir vor der blutigen Barricade, – welch ein Anblick! Nicht in Reihen, in Haufen lagen die preußischen Grenadiere da, und wie hatte der Tod sie gebettet! Viele lagen mit dem Gesicht in dem schlammigen Boden, die Beine im Todesschmerz zusammengezogen, andere auf dem Rücken, die Arme steif emporgestreckt und die glasigen Augen weit offen. Einer lag da mit gefalteten Händen, als sei er erst mit einem Gebet für seine Lieben heimgegangen. Andere waren gräßlich verstümmelt, je nachdem Eisen oder Blei die Wunden geschlagen.

Nicht etwa besser sah es in der großen Hauptstraße aus; ich mußte unwillkürlich an Leipzig nach seinem Hagelwetter von 1860 denken, nur daß hier Axt und Kolben, Granaten und Gewehrkugeln noch ein Uebriges in der Zerstörung geleistet. Unmassen von Waffen jeder Art bedeckten Fahr- und Fußweg, und die Leichen lagen dazwischen; die meisten waren dem Bajonnet oder dem Kolben erlegen, so daß oft Blut und Gehirn an den Wänden klebte. Auch die Gefahr war noch nicht vorüber, denn immer noch wurden versteckte Franzosen aus Kellern und Böden hervorgezogen, und noch Mancher setzte sich gegen die Gefangenschaft zur Wehr. Dennoch verließen wir den Ort erst, nachdem wir selbst seine unheimlichsten Plätze aufgesucht und nach Befinden skizzirt hatten. Wie sehr ich auch in diesen Feldzugsmonaten an schauderhafte Bilder gewöhnt worden bin, – schwerer brachte ich keines aus meinen Gedanken am Tage und aus meinen Träumen bei Nacht los, als die von dieser blutigsten Stätte vor Paris.




Hermann.
Novelle von C. Werner.
(Fortsetzung.)


Hermann hielt inne und fuhr mit der Hand über die mit kaltem Schweiß bedeckte Stirn, es war augenscheinlich eine furchtbare Tortur, die er sich mit dieser Erzählung auferlegte, aber Gertrud machte keinen Versuch, sie ihm zu erleichtern, das „starre Pflichtgefühl“ des Vaters schien sich auf die Tochter vererbt zu haben, sie hörte regungslos zu. Nach einigen Secunden fuhr der Graf mit einem schweren Aufathmen fort: „Mich hatte das Entsetzen gelähmt, ich war keines Lautes fähig. Ich sah meinen Vater die Thür öffnen und nach Hülfe rufen, sah meine Mutter hereinstürzen – Was später geschah, wissen Sie. Es gelang, die Schuld auf den Todten zu wälzen –“

„O ja, es gelang!“ unterbrach sie ihn schneidend. „Die einzige Stimme, die sich für die Wahrheit erhob, die Anklage der Wittwe, wurde als ‚schandbare Verleumdung eines hochgeachteten Mannes‘ zu Boden getreten. Graf Arnau beschwor ja seine Aussage –“

„Gertrud!“

Es offenbarte sich eine so furchtbare innere Qual in diesem Ausruf, daß Gertrud in der That nicht vollendete.

„Sie müssen es mir schon verzeihen, Herr Graf, wenn mich bei der Erinnerung die Bitterkeit übermannt, wir haben zu schwer und zu lange darunter gelitten. Unser kleines Vermögen, das der Vater zur Sicherung seiner Stellung deponirt hatte, verfiel natürlich, die Mutter sah sich, gänzlich mittellos, gezwungen, Hülfe bei wohlhabenden Verwandten in W. zu suchen. Wir fanden dort eben nur Schutz vor dem Hunger und auch den nur unter einer harten Bedingung. Unsere Verwandten waren unbescholtene, streng rechtliche Bürgersleute, sie wollten einen Namen nicht unter sich dulden, der als der eines Diebes und Betrügers in den Zeitungen stand. Meine Mutter mußte sich entschließen, ihren Familiennamen wieder anzunehmen, sie that es, um ihr erst wenige Monate altes Kind nicht dem Mangel preiszugeben. Verschwiegen blieb unser Unglück deshalb doch nicht, die ganze Stadt kannte es – wir sind verfehmt gewesen, seit ich denken kann.

Es schien in der That, als ob mit diesen Erinnerungen all der jahrelang genährte Haß und Groll in dem Mädchen wieder lebendig werde, jedes Wort ihrer Erzählung ward zu einer leidenschaftlichen Anklage. Hermann hatte in finsterem Schweigen zugehört, jetzt sagte er mit einer Art von bitterer Resignation:

„Es steht noch die Frage, wer von uns Beiden mehr unter dem Verbrechen gelitten hat. Ihre Jugend mag bitter gewesen sein – die meinige war entsetzlich. Meine Mutter starb wenige Monate nach jener unseligen That, mein Vater nahm im folgenden Jahre seinen Abschied. Niemand vermochte es zu begreifen, daß er seinen einzigen Sohn und Erben mit kaum verhehltem, und in Momenten der Erregung, mit ganz offenbarem Haß behandelte, während er es doch hartnäckig verweigerte, sich auch nur auf Stunden von ihm zu trennen. Es wußte ja Niemand, [867] daß er in ihm den Zeugen seines Verbrechens hütete und endlich davor zitterte, sein Geheimniß auf die Verschwiegenheit eines Kindes gebaut zu sehen. Vielleicht ahnen Sie, welches das Loos dieses Kindes an seiner Seite war! Hätte sich meine Großmutter nicht bisweilen schützend zwischen uns gestellt, es hätte ein Unglück gegeben. Sie war es, die damals mit ihrem ganzen Vermögen, mit all ihrem Einfluß in die Schranken trat, um den drohenden Ruin und die demselben unvermeidlich folgende Entdeckung der Wahrheit von uns abzuwenden, die später, nach dem Tode meines Vaters, während einer zehnjährigen Vormundschaft die zerrütteten Verhältnisse allmählich ordnete, so daß ich mich wieder zu den Reichen zählen kann. Muß ich Ihnen erst sagen, Gertrud, welch ein Fluch mir dieser Reichthum gewesen ist? Ich konnte die unterschlagene Summe nicht ersetzen, ohne Verdacht zu erregen, aber ich konnte mich auf Umwegen der Hinterlassenen des Unglücklichen annehmen. Seit meiner Mündigkeit habe ich nicht aufgehört, ihre Spur zu suchen, habe alle nur möglichen Quellen benutzt – es war umsonst. Ich suchte die Wittwe und das Kind Brand’s, und ahnte nicht, wie nahe mir das letztere war. Gertrud! das Schicksal hat uns auf seltsame Weise zusammengeführt – geschah es wirklich nur, damit wir uns auf Tod und Leben bekämpfen sollten? –“

Seine Stimme sank bei den letzten Worten wieder zu jenen weichen innigen Lauten, die sie schon einmal aus seinem Munde vernommen, und wie damals schien das ganze Wesen des Mädchens darunter zu erbeben, aber sie kannte jetzt die Gefahr und floh sie.

„Nicht diesen Ton, Graf Arnau – ich bitte Sie – lassen Sie uns bei der Sache bleiben.“

Er neigte stumm das Haupt.

„Mein Vater hatte bei Ablieferung der fraglichen Gelder eine Quittung von der Hand seines Chefs, Ihres Vaters, empfangen. Wußten Sie darum?“

„Nein. Aber mein Vater leitete selbst die Beschlagnahme der Papiere des Rentmeisters. Er wird sie vernichtet haben.“

„Sie ward nicht vernichtet. Ein Zufall hielt sie jahrelang verborgen. Sie ist in meinen Händen!“

In sprachlosem Entsetzen fuhr Hermann zurück, in demselben Augenblick ward die Portiere von einander gerissen und die Präsidentin stand im Zimmer.

„Sie lügen, Mademoiselle! Das ist unmöglich, das kann nicht sein!“

Gertrud hatte sich überrascht, aber nicht erschreckt umgewandt, sie begegnete fest den drohenden Blicken der alten Frau. „Ich lüge nicht. Ich wiederhole es, die Quittung ist gefunden, ist seit einer Stunde in meinem Besitz.“

Inzwischen hatte Hermann sich wieder gefaßt, er raffte all seine Energie noch einmal zusammen. „Sie tragen das Papier bei sich? Darf ich es sehen?“

Sie erschrak bei der Zumuthung und legte unwillkürlich beide Hände wie schützend auf die Brust. Er lächelte bitter.

„Fürchten Sie einen erneuten Diebstahl? Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß das Blatt unverletzt in Ihre Hände zurückgelangt.“

Langsam zog Gertrud das Papier hervor und reichte es ihm hin; er schlug es auseinander, die Blicke der Präsidentin hingen in athemloser Spannung an seinen Zügen. Niemand sprach während der folgenden Secunden, aber der Graf stützte sich schwer und schwerer auf den Tisch, sein Antlitz war geisterbleich; mit abgewandtem Gesicht gab er endlich, ohne ein Wort zu sprechen, das Blatt zurück, warf sich in den Sessel und legte die Hand über die Augen.

Die Präsidentin wußte genug. „Mademoiselle“ – es war vergebens, daß sie ihrer Stimme Festigkeit zu geben versuchte, sie zitterte hörbar – „Mademoiselle, Sie können und werden keinen Gebrauch von diesem Documente machen, es klagt einen Todten an.“

Gertrud richtete sich finster empor; sobald ein Dritter in die Unterredung eintrat, hatte sie ihren vollen Muth wieder. „Meinen Sie, Frau Präsidentin? Aber dieser Todte starb als ein hochgeachteter ehrenwerther Mann, und mein Vater liegt entehrt und beschimpft in der Gruft des Selbstmörders. Meinen Sie, die Tochter würde anstehen, ihn zu rächen?“

„Bauen Sie nicht zu fest auf dies Papier, unsere Gerichte verfahren nicht gegen Verstorbene, und was die Ueberlebenden betrifft – wir sind zu jedem Opfer, zu jedem Ersatz bereit, der nur in den Grenzen der Möglichkeit –“ sie schwieg plötzlich, die so energische Frau senkte fast scheu das Auge vor dem Blicke Gertrud’s. „Hüten Sie sich, Mademoiselle!“ rief sie in ausbrechendem Grimme, „hüten Sie sich, uns auf’s Aeußerste zu treiben. Noch ist die Familie des Grafen Arnau mächtig und einflußreich genug, und sie wird Alles daran setzen, wenn es ihre Ehre gilt. Wagen Sie es nicht, das Papier dort aus den Händen zu geben, das Verderben könnte auf Sie selbst zurückfallen.“

Ein Ausdruck unendlicher Verachtung zuckte um die Lippen des Mädchens. „Ich will doch abwarten, ob es dieser mächtigen einflußreichen Familie zum zweiten Male gelingt, der Gerechtigkeit in’s Gesicht zu schlagen; ich will sehen, ob die Gerichte des Landes es wagen, mich abzuweisen, wenn ich mit diesem Beweise vor sie hintrete. Sparen Sie Ihre Worte, Frau Präsidentin. Was ich zu fürchten hatte, ward überwunden, ehe ich hierher kam; jetzt kann mich nichts mehr beirren.“

Sie hatte mit kalter unbewegter Festigkeit gesprochen; wenn ihre Züge vorhin starr waren, so schienen sie jetzt völlig versteint; der einzige Ausdruck in ihnen war der einer furchtbaren Entschlossenheit. Die Präsidentin sah, daß hier nichts mehr zu erreichen war; sie stellte sich vor den Ausgang, ihn mit ihrem Leibe deckend.

„Nun denn, Hermann, so wahre Du Deine und unser Aller Ehre! Es muß sein!“

Ihr Blick, mehr noch als ihre Worte, forderte den Grafen auf, sich mit Gewalt in Besitz des verhängnißvollen Papiers zu setzen.

Hermann hatte sich erhoben, auch er schien einen letzten Entschluß gefaßt zu haben, aber mit einer Handbewegung wies er die Zumuthung seiner Großmutter zurück und ging auf Gertrud zu, die fest und furchtlos dastand.

„Gertrud!“

Sie schauerte leise zusammen, aber sie gab ihre entschlossene Haltung nicht auf.

„Ich habe kein Recht, Schonung von Ihnen zu verlangen. Thun Sie, was Ihr Gewissen Sie heißt. Sie können keine Klage gegen Grafen Arnau erheben, er ist todt; aber Sie können auf Grund dieses Documentes das Ihnen widerrechtlich entzogene Vermögen öffentlich zurückfordern und dadurch den Namen Ihres Vaters von dem Makel reinigen, während Sie den meinigen an den Pranger stellen.“

Seinen Worten gegenüber hielt die Entschlossenheit Gertrud’s nicht so unbedingt Stand, sie senkte das Haupt.

„Ich – weiß es.“

„Sie wissen es! Wohlan, so wissen Sie auch, daß ich alsdann verloren bin. Ich habe versucht, in angestrengter Thätigkeit den Fluch zu vergessen, dessen Erbe ich geworden bin. Ich hatte Vieles erreicht und hoffte Alles von meiner Laufbahn; das ist zu Ende in dem Augenblicke, wo die öffentliche Schande mich erreicht. Weder meine Stellung, noch meine Beziehungen zum Fürstenhause können davor bestehen; ich muß sie lösen, um hinfort in der Dunkelheit und Thatenlosigkeit einen entehrten Namen zu verbergen. Für eine Natur wie die meinige heißt das den Untergang aussprechen. Gertrud, die Macht und das Recht dazu liegt in Ihren Händen. Sie üben nur Wiedervergeltung; – wenn Sie es können, so vernichten Sie mich.“

Ein Aufstöhnen entrang sich der Brust des gequälten Mädchens; sie wollte fliehen, aber der Bann seines Auges, seiner Stimme hielt sie willenlos gefesselt. Er stand vor ihr, ohne Bitte, aber auch ohne Vorwurf, nur sein Auge brannte in leidenschaftlicher Unruhe, es tauchte tief, tief in das ihrige, als wolle und müsse er jetzt bis auf den Grund ihrer Seele schauen.

„Gertrud! Es gilt die Ehre Ihres Vaters, und es gilt mein Verderben – vernichten Sie mich!“

Die Arme des Mädchens sanken schlaff hernieder, mit einem herzzerreißenden Ausdruck hob sie, wie um Erbarmen flehend, den Blick zu ihm, er traf den seinigen, eine Secunde verfloß, eine Ewigkeit für die Beiden, dann plötzlich faßte Gertrud mit beiden Händen krampfhaft das verhängnißvolle Blatt - es flog zerrissen zu seinen Füßen. –

Die Präsidentin stand sprachlos; sie hatte die letzte Scene zwischen den Beiden, Hermann’s unbegreifliches Benehmen, nicht verstanden, erst als sie sah, wie er das Mädchen stürmisch in seine Arme zog, ward ihr die Wahrheit klar. Die stolze alte Frau wankte und stützte sich auf einen Sessel, das war zu viel in einer einzigen Stunde.

[868] Inzwischen lag Gertrud halbohnmächtig in den Armen Hermann’s, der sich mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit zu ihr hinabbeugte, wie ihn die Großmutter noch niemals in seinen kalten, festen Zügen gesehen hatte. Die so heiß verlangte Gewißheit war ihm ja nun geworden, er wußte jetzt auch, für wen sie gestern gezittert.

Aber das energische Mädchen unterlag nur wenige Minuten der furchtbaren Aufregung, sie richtete sich empor und machte sich von seinen Armen los.

„Sie sind gerettet, Graf Arnau. – Leben Sie wohl!“

Er stand wie vom Donner gerührt. „Gertrud, um Gotteswillen, was soll das?“

„Ich verlasse das Haus noch in dieser Stunde. Halten Sie mich nicht zurück, es muß sein.“

„Und meinst Du wirklich,“ rief Hermann, „ich werde Dich gehen lassen? O, jetzt schreckt mich Deine Unbegreiflichkeit nicht mehr. Mit diesem Opfer hast Du mir ein Recht auf Dich gegeben, ich werde es zu behaupten wissen.“

Gertrud sah ihn einen Moment mit tiefem Ernste an.

„Nein,“ sagte sie dann, „mit diesem Opfer habe ich jedes Band zwischen uns auf immer zerrissen. Das Geschehene existirt nicht für die Welt, und die Tochter des Betrügers Brand kann niemals die Gattin des Grafen Arnau sein.“

Er nahm sanft ihre beiden Hände. „Gertrud, nicht diese Bitterkeit. Traust Du mir nicht die Kraft zu, mein Weib gegen das Vorurtheil zu schützen?“

„Ihr Weib vielleicht, aber nicht sich selbst. Mein wahrer Name kann nicht verschwiegen bleiben, sobald ich aus der Abhängigkeit und Verborgenheit hervortrete, und ich habe lange genug in aristokratischen Familien gelebt, um zu wissen, wie man dort über solche Punkte denkt. Man würde Ihnen die bürgerliche Gattin kaum verzeihen, die beschimpfte nie. Sie würden den fortwährenden Anfeindungen erliegen, und schließlich doch das so sehr gehaßte Dunkel des Privatlebens aufsuchen müssen – um meinetwillen.“

Die Präsidentin, die bisher wie vernichtet dagestanden, athmete wieder auf bei diesen Worten, deren Wirkung auf ihren Enkel ihr nicht entging. Er mochte wohl selbst die unumstößliche Wahrheit derselben empfinden, aber noch sträubte er sich dagegen.

„Gertrud, wir können in dieser Stunde, unter dem Einfluß dieser Aufregung, keinen endgültigen Entschluß über unsere Zukunft fassen. Versprechen Sie mir später –“

„Nicht später,“ unterbrach sie ihn fest, „jetzt muß das Wort der Trennung ausgesprochen werden. Graf Arnau, Sie kennen die Verhältnisse unseres Landes und Hofes besser als jeder Andere – antworten Sie mir! Kann Ihr Einfluß, Ihre Laufbahn noch ferner bestehen, wenn Sie mit dem gesammten Adel und dem Fürstenhause brechen?“

Der Graf sah zu Boden, er hatte keine Antwort.

„Ich wußte es! Und nun hören Sie mein letztes Wort. Ich will das schwere Opfer nicht umsonst gebracht haben, und deshalb kann ich unter den einmal bestehenden Verhältnissen nie Ihr Weib werden. Versuchen Sie nicht, mich aufzufinden oder umzustimmen, es würde vergebens sein. Ich rette mit diesem Entschluß Ihre Zukunft und diese wiegt bei einer Natur wie die Ihrige wohl die Liebe eines Weibes auf. Leben Sie wohl!“

Es klang doch eine unendliche Bitterkeit aus den letzten Worten, aber sie ließ ihm keine Zeit zur Erwiderung, sondern schritt hochaufgerichtet nach der Thür; hier aber trat ihr die Präsidentin entgegen. Sie reichte ihr wortlos, aber in tiefster innerster Bewegung beide Hände. Nur einen Moment lang legte Gertrud die ihrige hinein, dann verschwand sie im anstoßenden Zimmer.

Die Präsidentin trat zu ihrem Enkel und legte die Hand auf seine Schulter. „Danke es der Hochherzigkeit des Mädchens, Hermann, daß sie Dich vor einer Thorheit bewahrte, an der Du Dein Lebenlang zu büßen hättest. Sie rettete Dich und uns Alle!“

Der Graf antwortete nicht, er blickte unverwandt nach der Thür, die sich hinter Gertrud geschlossen hatte.

Die Präsidentin beugte sich nieder und hob sorgfältig jeden einzelnen Fetzen des zerrissenen Papiers vom Boden auf, dann zündete sie ein Licht an und hielt die Stücke über die Flamme. Sie loderten auf, und als das letzte in Staub und Asche niedersank, athmete die alte Frau tief auf. „Gott sei Dank! Jetzt ist das Unheil zu Ende!“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Die Kinder-Christgaben für Elsaß-Lothringen sind, im Verhältniß zu den vielen Ansprüchen unserer schweren Zeit, reichlich und rührend schön geflossen. „Unsern kleinen deutschen Schwestern und Brüdern in Elsaß und Lothringen zur Weihnachtsfreude etc.“ – „Lieber Onkel Keil! Sei so gut und besorge diese drei Thaler mit zu Deiner Bescheerung für die armen Kinder in Elsaß und Lothringen. Mit herzlichem Gruß verbleihen wir Deine Dich liebenden Max, Otto und Anna W… in Langensalza.“ – „Sparbüchsen hat kein einziges Kind in unserer Schule, denn unser Gebirgsdorf ist arm, – aber gesammelt haben wir doch und schicken es Ihnen für unsere kleinen Brüder und Schwestern überm Rhein etc.“ – „Beifolgend schicke ich Ihnen meine ganze Sparbüchse für die lieben Kinder in Elsaß und Lothringen. Es grüßt Sie herzlich Ihr Johannes, neun Jahr alt etc.“ – „Zum heiligen Christfest für die kleinen Elsasser und Lothringer schicken Ihnen ihre Sparpfennige Hermann und Gertrud aus Prag etc.“ – „Beifolgend siebenzig Thaler, Erlös einer von uns veranstalteten Handarbeitslotterie, als Weihnachtsgabe für die armen Straßburger Kinder, die durch den Krieg verwaist sind. Mehrere junge Mädchen in Ostpreußen“ – Das sind nur einige der vielen Zuschriften mit den Christfestgaben, – aber sie reden lauter, als der größte Zeitungsartikel für das Herz unserer Jugend. Ein so aufgefaßtes Liebeswerk ist beharrlicher Natur und wird auch Haß und Widerwillen, die sich ihm entgegenstellen könnten, endlich überwinden.




Kleiner Briefkasten.

R. in Hamm. Ihnen sowohl wie allen übrigen Subscribenten der „Neuen Gedichte“ von Emil Rittershaus die Mittheilung, daß sofort nach dem Friedensschlusse die durch den Krieg unterbrochene Herausgabe jenes Buches erfolgen soll. Der Dichter wird dieser Sammlung auch die patriotischen Gedichte aus dem Jahre 1870 hinzufügen und hat trotz mehrfacher Anerbietungen auf die Separat-Ausgabe der Kriegslieder verzichtet, um den Subscribenten einen Ersatz für das verzögerte Erscheinen zu bieten und in den „Neuen Gedichten“ ein vollständiges Bild seines dichterischen Schaffens in den letzten Jahrzehnten zu geben.

Dr. F. Schlimm genug, wenn selbst Berliner Blätter über die Ausrüstung preußischer Soldaten so schlecht unterrichtet sind, daß sie in Form von Belehrung Irrthümer aller Art zu Tage fördern Wenn z. B. das „Berliner Fremdenblatt“ Nr. 293 behauptet, das Sell’sche Bild in Nr. 47 der Gartenlaube sei falsch, da die Kürassiere niemals Lanzen geführt, so hätte das genannte Blatt vorher die Auskunft des ersten besten Unterofficiers einholen sollen, der es sofort überzeugt haben würde, daß in der preußischen Armee die sogenannten „Landwehrreiter“ in Kürassierrock und Küraßhelm, aber ohne Küraß, allerdings Lanzen führen, das Sell'sche Bild also ganz richtig war, wie denn von einem so tüchtigen Maler und Kenner der preußischen Armee, wie Sell, derartige Schnitzer überhaupt nicht zu befürchten sind.

Fräulein S. in Berlin. Sowohl Marlitt wie der Verfasser des „Hermann“, C. Werner, arbeiten an größeren Erzählungen, die im Laufe des nächsten Jahrgangs erscheinen werden. Sie werden sich schon nächstens überzeugen, daß die besten Kräfte der deutschen Novellistik für den kommenden Jahrgang der Gartenlaube Beiträge liefern.

M. in M. Mit Recht ertönt überall das Lob der wackeren preußischen Ulanen. Wenn aber in den Zeitungsberichten von den Thaten der Ulanen überhaupt die Rede ist, so dürfen Sie noch nicht den Schluß ziehen, daß es nur preußische Ulanen waren, welche die kühnen Reiterstückchen ausführten. Die bairischen Ulanen z. B. wurden von Marsal bis Paris stets als die äußerste Vorhut verwendet, und sie waren es auch, die zuerst in Nogent, Nangis, Provins, Morment, Melun etc. einrückten, nicht die preußischen.

H. F. in Hainfeld. Daß Sie dem Jahre 1866 und seinen Einquartierungen eine so treue Erinnerung bewahren, spricht für Ihr Herz. Aber daß die Gartenlaube Erkundigungen einziehen soll, ob jene Herren „den Kampf gegen Frankreich mitgemacht, und ob selbe lebend diesem entsetzlichen Massacre entgingen“ – das scheint uns doch allzu viel verlangt. So gern wir auch sonst allen, auch den zartesten Wünschen unserer freundlichen Leserinnen nachkommen, so dürfte uns doch einem solchen Verlangen gegenüber, das gewiß in kürzester Frist reichliche Nachahmung finden würde, Zeit und Raum in gleichem Maße mangeln.

A. M. Z. Wir bitten Sie, über Ihre Novelle zu verfügen.



Nicht zu übersehen!
Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, die Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung.

Geschmackvolle Decken zum Einbinden der Gartenlaube sind durch alle Buchhandlungen auch zum Jahrgang 1870 zu
den billigen Preise von 13 Ngr. zu beziehen.
Die Verlagshandlung.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. - Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir glauben unsere Leser an dieser Stelle daran erinnern zu dürfen, daß wir eingehende biographische Mittheilungen über Beethoven bereits in Nr. 29 des Jahrgangs 1862 aus der Feder J. C. Lobe’s und ein größeres Portrait des Meisters mit begleitendem Text erst im vorigen Jahre in Nr. 41 gebracht haben.
    Die Redaction.