Textdaten
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Autor: E. Werner
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Titel: Hermann
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 45–52, S. 741–744, 757–760, 773–776, 793–797, 813–816, 833-836, 866–868, 882–884
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[741]
Hermann.
Novelle von C. Werner.

„Aber Doctor, sagen Sie doch ums Himmelswillen, was ist eigentlich an der Sache?“

„Die ganze Stadt spricht bereits davon, und wir wissen noch immer nichts Bestimmtes!“

„Doctor, ich bitte Sie; es ist ja unmöglich, es kann ja nicht sein!“

Der, an den alle diese Fragen und Ausrufungen gerichtet waren, stieß ärgerlich seinen Stock gegen den Fußboden und erwiderte in ziemlich trockenem Tone: „Was Sie für möglich oder nicht möglich halten, meine Herren, weiß ich nicht; das Factum ist, daß in der Casse die Summe von zwanzigtausend Thalern fehlt und daß der Rentmeister Brand sich heute Morgen erschossen hat. Suchen Sie sich selbst den Zusammenhang zwischen den beiden Thatsachen.“

Die sämmtlichen Beamten des fürstlichen Rentamtes umstanden mit bleichen entsetzten Gesichtern den ersten Arzt der Stadt, aus dessen Munde sie soeben die Bestätigung eines Gerüchtes erhielten, das bereits seit mehreren Stunden die ganze kleine Residenz in Aufregung brachte.

„Also wirklich? Und man sagt, das Unglück sei in der Wohnung des Grafen Arnau geschehen!“

„In seinem Arbeitszimmer! Der Graf hegte schon seit mehreren Tagen Verdacht gegen den Rentmeister und ließ ihn heute Morgen deshalb zu sich rufen. Er stellte ihn zur Rede und sagte ihm schließlich das Verbrechen auf den Kopf zu. Brand wollte anfangs leugnen, gestand aber endlich und bat um Schonung, die ihm natürlich nicht gewährt werden konnte; als der Graf nach der Klingel greift, um ihn verhaften zu lassen, zieht er ein Pistol hervor und erschießt sich vor den Augen Seiner Excellenz.“

„Wissen Sie den Hergang durch Seine Excellenz selbst?“ fragte einer von den älteren Beamten.

„Aus seinem eigenen Munde.“

„So?“

„Wie meinen Sie?“ fragte der Arzt, verwundert über den eigenthümlichen Ton dieses „So?“

„O, nichts! Ich kann nur den Gedanken nicht fassen. daß der Rentmeister ein Betrüger sein soll. Brand, der Pünktlichste, Gewissenhafteste von Allen, der nicht die kleinste Unregelmäßigkeit im Amte geduldet hätte –“

„Sie sehen, wie der Schein trügt. Gerade diese so sehr zur Schau getragene Gewissenhaftigkeit mußte den Deckmantel für seine Schurkerei abgeben.“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Und dennoch – es kann nicht sein. Ich hätte jeden Andern eher dessen fähig gehalten, jeden, nur Brand nicht! Ist es denn sicher erwiesen, daß –“

Der Doctor machte eine ungeduldige Bewegung. „Mein lieber Weiß, ich bin kein Criminalbeamter. Die Untersuchung wird jedenfalls das Nähere ergeben; vorläufig hat man die sämmtlichen Papiere des Verstorbenen, hier wie in seiner Wohnung, mit Beschlag belegt, und Graf Arnau hat, wie ich höre, persönlich die Durchsicht übernommen – aber meine Zeit ist gemessen, ich muß zu der Gräfin.“

„Mein Gott, die arme Frau!“ mischte sich einer der anderen Herren in’s Gespräch. „Wie geht es ihr?“

Der Arzt zuckte mit ernster Miene die Achseln „Schlecht! wie das leider nicht anders zu erwarten stand. Solch ein Vorfall im eigenen Hause kann schon Gesunde krank machen, und wenn man sich im vorletzten Stadium der Schwindsucht befindet und sorgfältig vor jeder Aufregung gehütet werden muß, kann er den Tod geben. Ich muß jedenfalls noch einmal nach ihr sehen. Adieu, meine Herren!“

Er nahm Hut und Stock und verließ mit kurzem Gruße das Bureau des Rentamtes, wo die Unterredung stattgefunden, um sich nach dem Hause des Kammerherrn Grafen Arnau zu begeben, das in unmittelbarer Nähe des fürstlichen Schlosses lag.

Im Salon der großen, prachtvoll eingerichteten Wohnung befanden sich zwei Damen, die Gemahlin des Grafen und ihre Mutter, die verwittwete Präsidentin von Sternfeld, welche von ihren in der Nähe gelegenen Gütern zum Besuch der Tochter in die Stadt gekommen und erst vor einer Viertelstunde eingetroffen war. Beim ersten Anblick hätte wohl Niemand die beiden Frauen für Mutter und Tochter gehalten, denn es herrschte auch nicht die geringste Aehnlichkeit zwischen ihnen. Die Präsidentin war eine Frau von etwa fünfzig Jahren, eine nicht allzu große, aber kräftige Gestalt, mit Zügen, die wohl niemals schön gewesen, aber noch jetzt bedeutend waren durch einen hervorstechenden Ausdruck von Energie und Festigkeit. Es lag wenig Anziehendes und vor allen Dingen wenig Weibliches in diesem scharf und fest gezeichneten Antlitz, und ihm entsprach das ganze Auftreten. Haltung, Sprache, Alles war kurz, entschieden und befehlend wie bei Jemandem, der in seiner Umgebung an unbedingtes Herrschen gewöhnt ist. Die Gräfin dagegen war eine junge, noch immer schöne Frau, obgleich ihr Aeußeres nur zu deutlich die verheerenden Spuren eines schweren körperlichen Leidens verrieth. Die zarte, [742] gebeugte Gestalt, das milde blasse Antlitz, die sanfte leise Sprache; das Alles bildete den schärfsten Contrast zu der Erscheinung der Mutter.

Den Gegenstand des Gespräches der beiden Damen bildete natürlich das schreckliche Ereigniß des Morgens. Die Gräfin hatte es soeben mit erneuter Aufregung erzählt; ihre Augen zeigten die Spuren frisch vergossener Thränen, und auf den bleichen Wangen brannten zwei fieberrothe Flecken. Die Präsidentin besaß augenscheinlich stärkere Nerven als ihre Tochter; die leidenschaftliche Erzählung derselben schien bei ihr nur einen sehr geringen Eindruck hervorgebracht zu haben. Für sie lag das Peinliche des Vorfalls hauptsächlich darin, daß er sich gerade in der gräflichen Wohnung ereignet hatte.

„Nun, ich will aber doch hoffen, daß man Dir die Sache mit der nöthigen Schonung mitgetheilt hat?“

Die Gräfin schüttelte leise den Kopf. „O Mama, das war nicht möglich! Ich hörte im Cabinet meines Mannes einen Schuß fallen; ich fliege tödtlich erschreckt den Corridor entlang und erreiche in dem Augenblicke die Thür, als Adalbert sie öffnet. Er eilte an mir vorüber, um Hülfe herbeizurufen, und –“

„Und gab Dich einem Anblick preis, der Dir in Deinem leidenden Zustande hätte tödtlich werden können?“ unterbrach sie die Präsidentin mit dem heftigsten Unwillen. „In der That eine unbegreifliche Rücksichtslosigkeit!“

„Mein Gott, Adalbert war selbst so verstört, so außer sich, wie ich ihn nie gesehen. Er hatte alle Fassung verloren, und ich begreife das nur zu sehr. War er es doch, der, wenn auch wider seinen Willen, den Unglücklichen zu jenem verzweifelten Schritte trieb.“

„Dein Mann that nur seine Pflicht,“ erklärte die Präsidentin entschieden, „und der Betrüger erlitt die verdiente Strafe. Er hat sich wenigstens der öffentlichen Schande, aber leider damit auch jeder Rechenschaft entzogen.“

„Aber er hinterläßt Familie, eine Frau und ein Kind von wenig Monaten, ein kleines Mädchen, glaube ich.“

„Das ist traurig; aber besser, daß sie den Mann und Vater todt als im Zuchthause wissen. Nimm den Vorfall nicht so schwer, Ottilie, er steht leider nicht vereinzelt da. Es ist nicht das erste Mal, daß ein ungetreuer Beamter auf solche Weise der Gerechtigkeit vorgreift. Wenn er nur einigen Charakter besaß, so blieb ihm nach erfolgter Entdeckung kaum etwas Anderes übrig.“

Die Gräfin seufzte. Sie hatte augenscheinlich nicht Philosophie genug, das Schreckliche, das sich fast unter ihren Augen ereignete, so leicht bei Seite zu schieben wie ihre Mutter, die jetzt abbrechend fragte: „Wo ist Adalbert?“

„Ich habe ihn noch nicht wiedergesehen. Er leitet selbst die Beschlagnahme der Papiere des Rentmeisters und wird wohl noch mit der Untersuchung beschäftigt sein.“

„Und Hermann? Weshalb kommt er mir nicht wie sonst entgegen?“

Bevor noch die Gräfin antworten konnte, bewegten sich die Falten der Portiere, die den Eingang in’s Nebenzimmer verdeckte, und ein etwa achtjähriger Knabe kam zum Vorschein. Der kleine Graf Arnau war ein kräftiges, aber ziemlich unschönes Kind, das wenig oder gar keine Aehnlichkeit mit der Mutter, dafür aber eine desto größere mit der Großmutter zeigte. Es war derselbe Schnitt des Gesichtes, dieselbe hohe breite Stirn, derselbe scharfe klare Blick, und um den kleinen Mund legten sich bereits die ersten Linien jenes energischen Zuges, der das Antlitz der Präsidentin zugleich so abstoßend und so bedeutend machte. Ob der Knabe immer so blaß aussah wie in diesem Augenblicke, oder ob auch er unter dem Einflusse des Schreckens stand, den der Vorfall des heutigen Morgens im ganzen Hause verbreitet – er lief nicht fröhlich auf die Großmutter zu, sondern ging langsam, fast scheu zu ihrem Sitze und legte stumm die Arme um ihren Hals.

„Wie, Hermann,“ fragte diese mit äußerster Befremdung, „Du warst im Nebenzimmer und kamst nicht zum Vorschein? Was soll das heißen? Seit wann giebst Du Dich, hinter den Vorhängen versteckt, mit Lauschen ab ?“

Der ernste, aber vielleicht nicht allzustreng gemeinte Vorwurf äußerte eine seltsame Wirkung auf den Knaben. Er schrak zusammen bei den letzten Worten und eine jähe Röthe färbte sein eben noch so blasses Gesicht; dabei richtete sich sein Auge mit so angstvollem Ausdrucke auf die Großmutter, daß diese unwillkürlich milder gestimmt fragte: „Aber was hast Du denn heute, Kind? Bist Du auf einmal scheu und furchtsam geworden?“

„Das arme Kind ist noch so erschrocken,“ nahm die Gräfin begütigend das Wort. „Es war im Cabinet plötzlich an meiner Seite und mußte, wie ich selbst, den ganzen furchtbaren Anblick ertragen. Nicht wahr, Hermann, Du hörtest auch den Schuß aus dem Zimmer des Papa und bist mir nachgeeilt?“

Der Knabe antwortete nicht; er verbarg sein Gesicht am Halse der Großmutter, und diese fühlte, wie sein ganzer kleiner Körper in ihren Armen bebte. Die Präsidentin war jedoch nicht die Frau, solche Empfindsamkeit bei ihrem Enkel zu dulden, sie hob beinahe unsanft seinen Kopf empor.

„Das hätte ich in der That von Hermann nicht erwartet. Wenn seine arme kranke Mama durch solch’ einen Schrecken noch kränker wird, so ist das leider nur natürlich; wenn aber ein Knabe der einst ein Mann werden will, noch stundenlang nachher zittert, weil er einen Schuß gehört und eine Leiche gesehen hat, so ist das ein Zeichen von Schwäche und Weichlichkeit, der man bei Zeiten mit aller Energie entgegentreten muß.“

Die scharfen, mit vollster Strenge gesprochenen Worte verletzten den Knaben augenscheinlich auf’s Tiefste. Es lag durchaus keine Furcht und Angst mehr, wohl aber ein entschiedener Trotz in der heftigen Bewegung, mit der er sich plötzlich von der Großmutter losmachte. Mit blitzenden Augen und der Miene tiefster Gekränktheit öffnete er den Mund, wie zur heftigen Gegenrede, da fiel sein Blick auf die Mutter, und eine eigenthümliche Veränderung ging in dem Gesichte des Kindes vor. Die kleinen Lippen preßten sich so fest aufeinander, als wollten sie mit Gewalt jedes Wort zurückdrängen, der Trotz verschwand aus seinen Zügen, die plötzlich einen Ausdruck von Entschlossenheit zeigten, die weit über sein Alter hinausging und die Aehnlichkeit mit der Präsidentin stärker als je hervortreten ließ; er senkte den Kopf und ließ stumm den Vorwurf über sich ergehen.

Die Präsidentin schüttelte den Kopf und wollte eben ihrer Befremdung über dies räthselhafte Benehmen Worte geben, als der Doctor gemeldet ward. Die Gräfin, welche der Mutter durchaus nicht zeigen wollte, wie furchtbar angegriffen sie in der That war, erhob sich anscheinend mühelos und ging ohne alle Unterstützung in’s Nebenzimmer; die ärztliche Visite war nicht von langer Dauer, nach einer Abwesenheit von kaum zehn Minuten kehrte sie in den Salon zurück.

Die Präsidentin saß noch an derselben Stelle wie vorhin, aber sie hatte den Kopf tief zu dem kleinen Hermann herabgebeugt, der neben ihr auf dem Sopha kniete und die Arme um ihren Hals geschlungen hatte. Beim Eintritt der Gräfin schreckten Großmutter und Enkel gleichzeitig zusammen, die erstere legte mit einer hastigen Bewegung ihre Hand auf den Mund des Kindes und, den Kopf emporrichtend, wendete sie sich langsam nach der Tochter um.

„Um Gotteswillen, Mama, was ist Dir?“ rief diese, auf’s Aeußerste erschreckt.

Das Antlitz der Präsidentin war todtenbleich, und der Ausdruck desselben rechtfertigte nur zu sehr die angstvolle Frage; sie versuchte zu antworten, aber die bebenden Lippen schienen ihr den Dienst zu versagen, eine stumm abwehrende Bewegung mit der Hand war die einzige Antwort.

Die Gräfin griff nach der Klingel. „Dir ist nicht wohl, ich will die Jungfer rufen, sie soll sogleich –“

„Bleib’! Ich will Niemand!“ herrschte ihr die Präsidentin beinahe rauh entgegen. Die energische Frau war bereits der Schwäche Herr geworden, obgleich die Farbe noch immer nicht in ihr Gesicht zurückkehrte, und die Lippen noch bebten, als sie ruhiger, aber tonlos hinzusetzte: „Es ist Nichts! Ein plötzlicher Schwindel, er geht bereits vorüber.“

Gräfin Ottilie hatte die Mutter in ihrer eisernen Gesundheit noch nie einer körperlichen Schwäche unterliegen sehen, um so mehr ängstigte sie dieser plötzliche Anfall.

„Willst Du nicht lieber Dein Zimmer aufsuchen?“ fragte sie besorgt. „Die lange Fahrt hat Dich angegriffen. Bleib’ zurück Hermann, Du siehst ja, daß Großmama unwohl ist.“

Mit einer beinahe krampfhaften Bewegung zog die Präsidentin den Knaben an sich. „Hermann geht mit mir! Ich wünsche ihn um mich zu haben. Beunruhige Dich nicht, Ottilie, ich wiederhole Dir, daß der Schwindel vorüber ist. Du bedarfst der Ruhe [743] und Erholung jedenfalls mehr als ich, und deshalb werde ich Hermann mit mir nehmen, er stört Dich nur mit seinem Geplauder.“

Die Anordnung war in so entschiedenem Tone ausgesprochen, daß die Gräfin, welche überhaupt nicht gewohnt war, der Mutter einen Widerspruch entgegenzusetzen, keine Einwendung wagte, sie fügte sich schweigend, wenn auch mit unverhehlter Besorgniß.

Die arme Frau sollte im Laufe des Tages, der so schrecklich für sie begonnen, noch Manches erfahren, was ihr dunkel und räthselhaft blieb. Die Präsidentin ließ sich bei Tische entschuldigen, sie war noch nicht völlig wohl, verweigerte aber auf’s Entschiedenste, den Besuch des Arztes anzunehmen, und ließ dagegen ihren Schwiegersohn ersuchen, sich nach Tische auf einige Minuten zu ihr zu verfügen. Der Graf, auf’s Tiefste verstimmt durch das Ereigniß des Morgens, durch die zahllosen unangenehmen Amtsgeschäfte, die sich für ihn daraus ergaben, und überhaupt in sehr ungeduldiger reizbarer Laune, folgte sichtlich ungern dieser Einladung, um so mehr war die Gräfin erstaunt, daß er so lange bei ihrer Mutter verweilte. Ueber eine Stunde dauerte die Unterredung, von deren Inhalt sie kein Wort erfuhr, denn während der ganzen Zeit blieb die Thür, selbst das Vorzimmer geschlossen. Als Resultat dieses Gespräches aber kündigte die Präsidentin der Tochter an, daß sie schon morgen wieder abzureisen gedenke, und beabsichtige, ihren Enkel, den sie die ganze Zeit über nicht einen Moment von sich gelassen, mit nach ihren Gütern zu nehmen. Sie behauptete, die Lebhaftigkeit des Knaben störe und beunruhige die Mutter, von der man ihn eine Zeit lang trennen müsse, damit sie sich völlig ungestört von ihrer jetzigen Aufregung erholen könne. Der Graf schloß sich dieser Meinung seiner Schwiegermutter mit vollster Entschiedenheit an, Ottilie aber erschrak und sträubte sich heftig gegen diese Zumuthung. Sie wollte ihren Sohn, ihr einziges, mit krankhafter Zärtlichkeit geliebtes Kind nicht von sich lassen, sie nannte es eine grausame Fürsorge, ihr den einzigen Trost in den langen schweren Tagen der Krankheit zu rauben, umsonst – Mutter und Gatte, sonst stets zur Nachgiebigkeit gegen die Leidende geneigt, bestanden diesmal mit einer seltsamen unbegreiflichen Härte auf ihrem Willen, und die Gräfin, schwach, unselbstständig, und von jeher an die Bevormundung leider gewöhnt, mußte endlich nachgeben.

Am anderen Morgen stand in der That der Reisewagen vor der Thür. Ottilie regte sich bei dem halb erzwungenen Abschiede von ihrem Sohne bis zur äußersten Heftigkeit auf, in Thränen zerstiebend nahm sie ihn immer wieder in die Arme, aber auch jetzt verleugnete der Knabe seine eigenthümliche Natur nicht. Wohl zuckte es bisweilen wie ein unterdrücktes Weinen um den kleinen Mund, aber keine Thräne kam in seine Augen, blaß und stumm ließ er sich all’ die Liebkosungen gefallen, bis der Graf endlich ungeduldig ward und ihn aus den Armen seiner Gemahlin nahm. Er führte ihn zur Großmutter und beugte sich dann nieder, um ihm den Abschiedskuß zu geben, stieß aber hier plötzlich auf eine ganz unvermuthete, energische Weigerung des Knaben. Es lag ein unverhülltes Grauen, ja ein förmlicher Abscheu in dem jähen Zurückweichen, womit er sich der väterlichen Liebkosung entzog, und diese Bewegung entging dem Grafen keineswegs. Eine dunkelrothe Wolke stieg auf seiner Stirn empor, ohne ein Wort zu sagen, faßte er die beiden Hände des Kindes, preßte sie fest in die seinigen, und zog es so, dem Anschein nach sanft, in Wirklichkeit aber gewaltsam an sich. Diesmal widerstrebte Hermann nicht, er ließ auch keinen Laut des Schmerzes hören, obgleich der heftige Druck der väterlichen Hand ihm nothwendig wehe thun mußte, aber er biß die kleinen Zähne fest aufeinander, und sein Gesicht nahm einen solchen Ausdruck finsteren Trotzes an, daß der Vater ihn plötzlich losließ und von sich schob. Der Blick aber, der den Knaben dabei traf, war so furchtbar drohend, daß die Präsidentin unwillkürlich die Arme schützend um ihren Enkel legte.

„Adalbert!“

Er wendete sich rasch ab, der ganze Zwischenfall dauerte übrigens nur wenige Secunden und war von Keinem, außer den Betheiligten, bemerkt worden. Die Gräfin lag noch schluchzend im Sopha, und als der Diener eintrat, lächelte der Graf bereits wieder und bot seiner Schwiegermutter den Arm.

„Beruhige Dich, Ottilie! Wir übergeben Hermann ja nur den Händen seiner Großmutter, wo er sicher aufgehoben ist.“

Er legte einen eigenthümlich schweren Ton auf die an sich so harmlosen Worte, und sein Auge streifte dabei das der Präsidentin, die den Blick kalt und fest zurückgab.

„Seien Sie ohne Sorge, Adalbert,“ entgegnete sie kurz, „was ich in meine Obhut nehme, dafür pflege ich einzustehen“ –

Wenige Minuten später saßen die Reisenden im Wagen; der Graf, der sie bis hinab begleitet hatte, verbeugte sich und trat vom Schlage zurück, am Fenster oben erschien das verweinte Antlitz der Gräfin, die ihnen Lebewohl nachwinkte. Als der Wagen zum Thore hinausrollte, athmete die Präsidentin tief auf und zog ihren Enkel mit einer Heftigkeit in die Arme, als habe sie das Kind soeben einer Gefahr entrissen, dieses aber verbarg seinen Kopf an ihrer Schulter, und zum ersten Male während ihres ganzen Zusammenseins brach es in ein lautes bitterliches Weinen aus. –

Das Verbrechen und der darauf folgende Selbstmord des Rentmeisters Brand hatte begreiflicherweise die ganze kleine Residenz, wo nur selten etwas Ungewöhnliches geschah, in Aufruhr gebracht. Der Vorfall erregte um so größeres Aufsehen als der Ausspruch jenes alten Beamten dem Doctor gegenüber die allgemeine Meinung repräsentirte. Man hätte jeden Anderen eher eines solchen Verbrechens fähig gehalten, Jeden, nur Brand nicht, der überall als einer der tüchtigsten und fähigsten Beamten, als ein Muster von Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit galt. Gerade diese Eigenschaften, oder vielmehr die unnachsichtliche Strenge, mit der er die eigene Pünktlichkeit auch von Anderen verlangte, und jede noch so kleine Unregelmäßigkeit im Amte rügte, hatten ihm, zumal bei seinen Untergebenen, manchen Feind geschaffen, aber Niemand hätte es gewagt, ihm die unbedingteste Achtung zu versagen – und nun sollte dieser Mann auf einmal ein Betrüger sein! Ein Zweifel daran konnte gar nicht in Frage kommen, das eigene Geständniß und der Selbstmord des Schuldigen sprachen laut genug, wo aber die von ihm unterschlagene enorme Summe geblieben, das war und blieb ein Räthsel. Es lag überhaupt ein gewisses Dunkel auf der ganzen Sache, das nicht aufgehellt wurde und das vielleicht auch nicht aufgehellt werden konnte, weil der, der allein Auskunft darüber zu geben vermochte, sich jeder Rechenschaft entzogen hatte. Die Untersuchung förderte Nichts weiter zu Tage, als die bereits feststehenden Thatsachen. Der Rentmeister hatte allmonatlich die betreffenden Gelder aus der fürstlichen Rentencasse dem Kammerherrn und Vertrauten Seiner Durchlaucht, dem Grafen Arnau, zu übergeben; er hatte auch stets den festgesetzten Termin innegehalten, nur das letzte Mal wußte er ihn unter einem wahrscheinlich klingenden Vorwande um acht Tage hinauszuschieben. Der Graf war anfangs damit einverstanden, schöpfte jedoch Verdacht, als er durch Zufall erfuhr, daß Brand wegen „Familienangelegenheiten“ Urlaub genommen habe, und im Begriff stehe, abzureisen. Er ließ ihn, vorerst privatim, zu sich rufen, forderte eine Erklärung, drohte mit sofortiger Revision der Casse, und erlangte darauf hin das Geständniß des Schuldigen, der, jedenfalls schon auf das Aeußerste vorbereitet, sich den Tod gab, als ihm die Schonung, um die er bat, verweigert wurde.

Graf Arnau hatte sich sofort und mit aller Energie der Sache angenommen. Er legte eigenmächtig Beschlag auf die sämmtlichen Papiere des Verstorbenen und unterzog dieselben einer genauen persönlichen Durchsicht, obgleich keine amtliche Eigenschaft ihn dazu berechtigte; indessen, man nahm es in der Residenz überhaupt nicht allzustreng mit den gesetzlichen Maßregeln, wenn es sich dabei um die Interessen des Fürstenhauses handelte, und ein Mann von der Stellung und dem Einfluß des Grafen durfte sich schon einige Uebergriffe erlauben; überdies fand man es sehr begreiflich, daß er seine allerdings verzeihliche Nachgiebigkeit, die die Entdeckung um mehrere Tage verzögert, und wahrscheinlich den Verlust des Geldes verursachte hatte, jetzt durch verdoppelten Eifer wieder gut zu machen suchte. Aber all dieser Eifer blieb resultatlos, weder ihm, noch der, freilich nicht mit besonderer Intelligenz begabten[WS 1] Polizei der Stadt gelang es, eine Spur der fehlenden Summe, oder auch nur den geringsten Fingerzeig dazu in den amtlichen und Privatpapieren des Rentmeisters aufzufinden, er hatte sie jedenfalls schon vorher in Sicherheit gebracht, und stand im Begriff, sich der unvermeidlichen Entdeckung durch die Flucht zu entziehen – der Urlaub, der die erste Zeit seines Verschwindens decken sollte, war bereits ertheilt, und in seiner Wohnung standen die Koffer zur Abreise gepackt – als das verdiente Schicksal ihn ereilte. Graf Arnau beschwor die von ihm gleich anfangs zu Protocoll gegebenen Aussagen und damit hatte die Sache ihr [744] Ende erreicht. Man nahm von einer weiteren Untersuchung Abstand; der Unglückliche war in aller Stille beerdigt worden, seine Wittwe verließ mit ihrem Kinde die Stadt, wo der Name, den sie trug, hinfort gebrandmarkt war. Das kleine Vermögen, das ihr Mann besessen, und das als Caution für seine Stellung eingetragen war, verfiel natürlich, obgleich es die veruntreuten Summen nur zum kleinsten Theil deckte, und damit hatte dies Drama, für die fürstliche Residenz wenigstens, sein Ende erreicht.




„Ich bitte Dich, Eugen, fasse endlich einmal einen Entschluß in dieser Sache. Du richtest Dich noch zu Grunde mit diesem ewigen Schwanken und Zweifeln!“

Der junge Mann, an den diese Worte gerichtet waren, hob langsam den Kopf empor und sagte in einem Tone unverkennbarer Bitterkeit: „Ich wollte, Du würdest einmal selbst in einen solchen Conflict geworfen, um einzusehen, daß es da keinen gewaltsamen Ausweg giebt!“

„Schwerlich würde ich das. Wo auf der einen Seite meine ganze Zukunft und auf der anderen eine bereits erkaltete Jugendneigung steht, giebt es für mich gar keinen Conflict, sondern eine einfache Nothwendigkeit, der ich folge, um jeden Preis.“

„Auch wenn ein Herz darüber gebrochen werden muß?“

„Mein Gott, nimm doch die Sache nicht so entsetzlich tragisch. Die Opfer unglücklicher Liebe, die am gebrochenen Herzen sterben, mögen in Romanen sehr effectvoll und rührend sein, im wirklichen Leben existire sie nicht, und ein so einfaches Mädchen, wie Deine Braut, wird sich vollends nicht mit diesem romantischen Märtyrerthum abgeben. Dein Verlust wird ihr natürlich Thränen kosten, sie wird ihn aber verschmerzen, und in Jahr und Tag irgend einen ehrsamen Bürger und Rathsherrn von W. heiraten, der besser für sie paßt, und der sie glücklicher macht, als Du es je vermocht hättest.“

„Ich bitte Dich, Hermann, schweig’!“ rief Eugen heftig. „Du kennst Gertrud nicht, und deshalb bist Du von jeher ungerecht gegen sie gewesen.“

„Das mag sein. Ich habe, wie Du weißt, eine entschiedene Antipathie gegen alles Beschränkte, Kleinbürgerliche, und wenn es sich nun vollends in die Laufbahn eines Mannes drängt, um ihn mit Gewalt in die niedere Sphäre herabzuziehen, die seinen Lebenskreis bildet, so wird es mir geradezu verhaßt.“

Eugen hatte keine Erwiderung auf diese mit vollster Schärfe gesprochenen Worte. Er sprang auf, trat an’s Fenster und blickte, die Stirn gegen die Scheiben gedrückt, in den Park hinaus, der in der ganzen thauigen Frische eines Junimorgens vor ihm lag. Die Morgensonne schien warm und hell in den alterthümlichen Pavillon, der mit seinen halbverwischten Wand- und Deckenmalereien, den ehemals vergoldeten, vielgeschnörkelten Möbeln und den verblaßten, großblumigen Damastüberzügen noch dem vergangenen Jahrhundert angehörte; sie beleuchtete auch warm und voll die beiden jungen Männer, die sich augenblicklich allein hier befanden. Der Eine, der jetzt eben am Fenster lehnte, war eine hohe schlanke Gestalt, mit einem Gesicht, das, ohne gerade regelmäßig schön zu sein, doch Jeden beim ersten Anblick fesselte. Es lag ein mächtiger Reiz in diesen Zügen, es lag eine Welt von Schwärmerei und Leidenschaft in diesen dunklen Augen, und die Wolke auf seiner Stirn, der innere Kampf, der sich nur zu deutlich in seinem Antlitz ausprägte, gaben dem schönen, von einer Fülle dunkler Locken umwallten Kopfe nur noch ein tieferes Interesse.

Sein Gefährte besaß wenig oder Nichts von all’ diesen glänzenden Vorzügen. Er war kleiner, aber kräftiger gebaut, mit durchaus unregelmäßigen Zügen, die man geradezu unschön hätte nennen müssen, wäre nicht die hohe, prachtvoll gewölbte Stirn gewesen, die dem ganzen Gesicht einen eigenthümlichen und bedeutenden Charakter lieh. Die scharfen grauen Augen blickten klar und kühl in die Welt, fast zu kühl für einen Vierundzwanzigjährigen, und ihnen entsprach die scharf ausgeprägte Linie um den Mund. Es war ein Zug von Energie und Entschlossenheit, der erst einem späteren Alter anzugehören schien, aber auch ein kalter, bitterer Zug, der dem Antlitz alle Jugendlichkeit raubte und es in manchen Augenblicken fast abstoßend erscheinen ließ. Der junge Mann saß bequem, halb liegend in den Armsessel zurückgelehnt, und sprach sehr ruhig, fast gleichgültig zu seinem erregten Freunde, aber trotz dieser Ruhe und trotz der nachlässigen Haltung, lag in seinem ganzen Wesen eine entschiedene Ueberlegenheit, eine unbewußte Vornehmheit, die Eugen fehlte, der, mit vollendeter Grazie an die Fensterbrüstung gelehnt, und das Auge schwärmerisch zu den Wolken emporgerichtet, allerdings sehr interessant, aber auch ein klein wenig theatralisch aussah.

Es war eine augenblickliche Pause entstanden, Hermann unterbrach sie plötzlich mit der Frage: „Wie stehst Du mit Antonien?“

Ein tiefer Seufzer und eine abwehrende Bewegung waren die einzige Antwort, die er erhielt.

„Du liebst sie doch?“

„Ich bete sie an!“

„Und sie läßt sich diese Anbetung nur zu gern gefallen. Aber, was nun? Glaubst Du, meine stolze Cousine würde es ertragen, ein kleines, unbedeutendes Bürgermädchen zur Nebenbuhlerin zu haben? Nimm Dich in Acht, wenn sie früher oder später die Wahrheit erfährt. Das ist eine Klippe, an der all’ Deine Hoffnungen scheitern können.“

Eugen blickte düster vor sich hin. „Hoffnungen! Darf ich sie denn hegen? Ich bin bürgerlich, ohne Namen, ohne Vermögen - glaubst Du denn wirklich, daß sie im Stande wäre, ihren Rang, ihren Namen mir zu opfern, daß Gräfin Arnau das Weib eines unbekannten Malers werden könnte?“

Ein sarkastisches Lächeln zuckte um Hermann’s Lippen. „Ja, wenn Du das nicht weißt; ich kann Dir freilich keine Gewißheit darüber geben. Aber,“ setzte er spottend hinzu, „mir scheint, Du weißt bereits recht gut, woran Du bist, und wirst kaum in Gefahr kommen, Dir ein Nein zu holen. Doch eben deshalb mußt Du Dich jetzt entscheiden. Was soll geschehen? Was hast Du beschlossen?“

Eugen warf sich mit dem Ausdruck der Verzweiflung wieder in den Sessel. „Martre mich nicht mit Deinen Fragen, Hermann! Du siehst es ja, daß ich rathlos bin! Zeige mir lieber einen Ausweg aus diesem Labyrinth.“

„Der Ausweg liegt klar genug vor Dir! Sei ein Mann und raffe Dich endlich einmal zur Energie empor. Brich rasch und entschieden die Kette, die Dich bisher am Boden gefesselt hielt, Du bist es Dir und Deiner Zukunft, bist es Antonien schuldig, wenn Deine Liebe nicht ferner eine Beleidigung für sie sein soll. Und dann, wenn Du frei bist, begleite mich nach Italien. Die Reise ist dringend nothwendig zur Vollendung Deiner Studien, wenn Deine eigenen Mittel nicht ausreichen, stehen Dir die meinigen zur Verfügung. Entschließe Dich rasch.“

Die entschiedene, fast gebietende Weise seines Freundes, die gar keinen Widerspruch zuzulassen schien, verfehlte ihren Eindruck nicht auf den jungen Maler, er preßte wie im innern Kampfe die Hände zusammen. „Du hast nur zu sehr Recht. Ich weiß es, ich fühle es ja bei jedem Deiner Worte, aber Gertrud! Gertrud! Schilt mich feige, mache mit mir, was Du willst, aber ich ertrage es nicht, sie unglücklich zu wissen, unglücklich durch meine Schuld.“

Mit einer Bewegung der äußersten Ungeduld stieß Hermann seinen Sessel zurück und sprang auf. „Nun, wenn Du es denn durchaus nicht kannst, so werde ich an Deiner Stelle handeln. Ah, dort kommt Antonie eben recht.“

„Was willst Du thun?“ rief Eugen erschreckt.

„Den Knoten zerhauen, an dessen Lösung Du verzweifelst! Guten Morgen, liebe Toni.“

[757] Eugen wollte bitten, beschwören, um der Absicht seines Freundes, die er nur dunkel ahnte, Einhalt zu thun, aber es war bereits zu spät. Vor der Thür des Pavillons rauschte ein Gewand, und gleich darauf trat eine junge Dame über die Schwelle.

Gräfin Antonie Arnau war nun allerdings eine Erscheinung, deren bloßer Anblick schon die Leidenschaft eines jungen Künstlers rechtfertigen konnte. Eine schlanke feine Gestalt, von wahrhaft poetischer Schönheit. Aus dem etwas bleichen Gesicht blickten ein Paar dunkle Augen, voll schwärmerischen Feuers, die schwarzen Locken flossen, idealisch geordnet, auf das weiße gestickte Morgenkleid nieder. Die Haltung war die vollendete Grazie, aber dennoch lag darin ein Etwas, was errathen ließ, daß die Gräfin sich ihrer Schönheit und überhaupt ihrer Stellung in der Welt vollkommen bewußt war.

Sie reichte ihrem Vetter vertraulich die Hand, während sie den Gruß Eugen’s nur mit einem Lächeln beantwortete, und sagte dann scherzend: „Ich glaubte heut Morgen die Erste im Park zu sein, sehe aber, daß mir die Herren bereits zuvorgekommen sind und hier im Pavillon eine äußerst wichtige Conferenz mit einander haben.“

Hermann zuckte die Achseln. „Wichtig, ja, aber leider resultatlos! Ich bemühe mich seit einer Stunde vergebens, Eugen von der Nothwendigkeit zu überzeugen, mich auf meiner Reise nach Italien zu begleiten.“

„Wie, Herr Reinert“ – der Blick der schönen Frau fiel befremdet und vorwurfsvoll auf den jungen Maler – „Sie zögern noch? Ich hielt Ihre Reise für eine ausgemachte Sache und glaubte bestimmt, Sie im Winter an Hermann’s Seite in Rom wiederzusehen.“

Eugen schwieg, er schickte einen halb bittenden, halb drohenden Blick zu seinem Freunde hinüber, den dieser aber nicht zu bemerken schien, denn er erwiderte ruhig:

„Du bist im Irrthum, Antonie, Eugen hat seinen Plan geändert. Er entsagt der Reise und zieht es vor, nach seiner Vaterstadt zurückzukehren, um sich dort eine bescheidene Häuslichkeit zu gründen und seine Braut –“

„Hermann!“ fuhr Eugen, der bisher vergeblich versucht hatte, ihm in’s Wort zu fallen, jetzt drohend auf.

„Und seine Braut; eine dortige Bürgerstochter, möglichst bald zum Traualtar zu führen,“ vollendete Hermann, ohne im Geringsten aus der Fassung zu kommen.

Die Wirkung dieser Worte auf Antonie war eine furchtbare. Im ersten Moment wurde sie todtenbleich, und ihre Hand faßte wie bewußtlos die Lehne des Armsessels, um sich vor dem Sinken zu bewahren, dann plötzlich schoß eine flammende Röthe in ihr Antlitz, und aus den dunkeln Augen sprühte ein Blitz hervor – ein Blick, der das schöne Gesicht geradezu unschön machte, ein Blick, der Eugen, welcher noch immer fassungslos dastand, vernichten zu wollen schien. Dann, den letzten Rest ihrer Besinnung zusammenraffend, wandte sie sich von den Beiden ab, dem Fenster zu und entzog so wenigstens ihr Antlitz dem scharf beobachtenden Auge Hermann’s.

Dieser fühlte wohl, daß bei der nun folgenden Erklärung die Gegenwart eines Dritten überflüssig sei, Antonie hatte sich bereits genug verrathen. Er nahm seinen Hut vom Tische. „Entschuldigt mich für einige Minuten. Ich habe vergessen, im Schlosse einen nothwendigen Befehl zu geben. Ich komme sogleich wieder zurück.“

Es hätte des Vorwandes kaum bedurft, weder Antonie noch Eugen schienen ihn zu hören, und der junge Graf Arnau, der einen Abscheu vor allen sogenannten Scenen hatte und eine der stürmischsten hier herankommen sah, beeilte sich den Pavillon zu verlassen, dessen Thür er hinter sich schloß.

Die beiden Zurückgebliebenen standen sich anfangs wortlos gegenüber. Antonie rang noch immer vergeblich nach Fassung, Eugen hatte noch kein Wort der Vertheidigung gefunden. Er kämpfte zwischen dem Groll gegen Hermann und der Scham über die peinliche demüthigende Lage, in welche ihn dieser versetzt hatte. Die Gräfin war es, die zuerst sprach.

„Ich bedaure, Herr Reinert, erst in diesem Augenblick durch meinen Vetter von Ihrer Verlobung Kenntniß zu erhalten, ich hätte Ihnen sonst bereits längst meinen Glückwunsch ausgesprochen.“

Der eisige Blick der schneidend kalte Ton weckten Eugen aus seiner halben Betäubung, er wollte auf sie zueilen. „Um Gotteswillen, Antonie, nicht diesen Ton!“

Mit einer stolzen verächtlichen Geberde wies sie ihn zurück. „Mein Herr, Sie scheinen zu vergessen, daß Sie zu der Gräfin Arnau reden.“

Wort und Ausdruck konnten nicht schlimmer und beleidigender gewählt sein. Eugen erblaßte, sein Selbstgefühl erwachte und gab ihm auf einmal den verlorenen Muth wieder; auf’s Tiefste verletzt trat er einen Schritt zurück.

[758] „Verzeihung, gnädigste Gräfin! Es ist das erste Mal, daß Sie es für nöthig finden, an die Kluft zwischen uns zu erinnern, und ich gebe Ihnen mein Wort, es wird auch das letzte Mal sein.“

Er verneigte sich und schritt nach der Thür, Antonie sah ihm ungewiß nach. Sie fühlte, daß sie zu weit gegangen war, daß sie mindestens so nicht hätte sprechen dürfen. und rasch in der Reue wie im Zorn, rief sie ihn zurück.

„Reinert!“

Er wandte sich halb um. „Sie befehlen, gnädigste Gräfin?“

Jetzt war es aber vorbei mit dem Stolz und der Selbstbeherrschung der leidenschaftlichen Frau, die von beiden ohnehin nur ein sehr kleines Theil besaß. Gewohnt jedem Gefühlsausbruch nachzugeben, sank sie auf das Sopha nieder und brach in ein heftiges Weinen aus.

Eugen hörte dies Weinen und blieb stehen; er sah zurück, sah das schöne von Thränen überströmte Antlitz nach ihm gewendet, und im nächsten Augenblick war er wieder an ihrer Seite.

„Sie weinen, Gräfin? – Darf ich zu Ihnen sprechen? – Antonie, wollen Sie mich ungehört verdammen?“

Diesmal erfolgte keine so herbe Abweisung des vertraulichen Tons. Sie blickte zu ihm empor, noch kämpfend zwischen Zorn und Liebe, aber Eugen sah es, daß er sich rechtfertigen durfte, und er zögerte nicht es zu thun.

„Ich bin gebunden, ja! Und diese unseligen Bande sind der Fluch meines Lebens geworden. Als ich im vergangenen Jahre meine Vaterstadt besuchte, sah ich dort eine Jugendgespielin wieder. Sie war eine Waise, kaum der Kindheit entwachsen, ich glaubte sie zu lieben, der Vormund drang auf Erklärung – so ward sie meine Braut. Es war eine Uebereilung, aber ich trug die Fessel und hätte sie geduldig weiter getragen. Da kam ich hierher, da sah ich Dich, Antonie, und von dem Augenblicke an begann der lange furchtbare Kampf zwischen Pflicht und Leidenschaft. Ich muß mich losreißen von Dir, von jeder Erinnerung an Dich, wenn ich ihm nicht erliegen will. Mag mein Talent, meine ganze Zukunft zu Grunde gehen in jenem eng begrenzten Kreise, mag ich selbst verzweifeln in einer öden freudlosen Ehe – was gilt mir die Kunst, was das ganze Leben noch, wenn ich Dir entsagen muß!“

Er hatte mit immer steigender Leidenschaft gesprochen, und Antonie hatte zu weinen aufgehört, der Zorn wich dem Mitleiden, und als er endigte, da war jeder Vorwurf untergegangen in der Angst, den Geliebten zu verlieren. Gräfin Arnau war nicht die Frau, fremde Ansprüche anzuerkennen, wo sie allein besitzen wollte.

„Entsagen?“ fragte sie leise mit gesenkten Augen, aber es lag eine unendliche Verheißung in diesem Tone, „und weshalb denn?“

„Du fragst noch? Darf ich es denn wagen, um Dich zu werben? Ich bin arm, Du weißt es, ich habe nichts als meine Kunst, Du stehst so hoch, so glänzend im Leben da –“

Sein Blick, der brennend heiß auf der schönen Frau lag, strafte die entsagenden Worte Lügen. Sie sah zu ihm auf und lächelte.

„Und ich bin frei, Eugen, ganz frei! Das hattest Du wohl vergessen?“

„Antonie!“ Er stürzte in ausbrechender Leidenschaft zu ihren Füßen. „Gieb mir diese Hoffnung, gieb mir die Gewißheit, daß ich Dich einst besitzen werde, und ich breche meine Ketten, koste es, was es wolle. Sage mir, daß Du die Meine werden willst, trotz Deines Namens, Deiner Familie, und ich werfe alle Schranken nieder und erobere mir mein Glück, wenn es sein muß, mit Gewalt!“

Antonie beugte sich zu dem Knieenden nieder, der volle heiße Blick der Liebe brach aus ihren Augen, sie war hinreißend schön in diesem Augenblicke. „Ich fürchte keine Schranken. Ich habe es ja erfahren müssen in einer gezwungenen Ehe, wie leer und öde Glanz und Reichthum das Leben lassen, ab will nur Liebe, mein Eugen. Mache Dich frei, folge Deinem Genius, und dann, wenn Dein erstes Werk Dir einen Künstlernamen errungen hat – dann komm’ und hole Dir den Siegespreis!“




Die Frische des Morgens war vorüber, ein heißer Junimittag brütete über dem Dorfe, das ungefähr eine halbe Stunde von dem Schlosse entfernt lag, auf dem sich Graf Arnau und Eugen Reinert gegenwärtig als Gäste befanden. Die Post, die vor einer Stunde durch’s Dorf gekommen war, hatte hier Reisende abgesetzt, einen alten Herrn und ein junges Mädchen. Beiden schien die enge, dumpfe Gaststube gleich unerträglich zu sein; der alte Mann saß im kleinen Hintergärtchen, während seine Begleiterin vor die Thür des Hauses getreten war und nachdenklich die Umgebung musterte.

Das Dorf lag still, wie ausgestorben, die Leute waren meist auf dem Felde beschäftigt, nur eine Schaar Kinder spielte, unbekümmert um die Sonnengluth, inmitten der breiten Dorfgasse. Da klang von fern her das Rollen eines Wagens, und gleich darauf kam ein elegantes Jagdfuhrwerk hinter der Waldecke zum Vorschein. Der Kutscher saß auf dem hintern Sitz, während der Herr selbst die muthigen Rappen lenkte; er sah jedenfalls die spielenden Kinder, schien aber der Meinung zu sein, daß auch sie ihn sehen und ihm zu rechter Zeit ausweichen würden, denn er fuhr im schärfsten Trabe mitten durch’s Dorf, obwohl ein Ausweichen auf dem breiten Wege nicht schwer gewesen wäre. In der That stob die kleine Schaar beim Herannahen eiligst nach rechts und links auseinander; nur Einer, ein kleiner Bube von vielleicht zwei Jahren, blieb in vollständiger Unkenntniß der Gefahr ruhig sitzen, und als der erschreckte Zuruf der anderen Kinder ihn aufscheuchte, war der Wagen bereits ganz nahe. Jetzt endlich machte er den Versuch aufzustehen, aber bestürzt und des Laufens noch ungewohnt, strauchelte er schon beim ersten Schritt und fiel dicht vor den Pferden nieder. Der Führer des Wagens, der in diesem Augenblicke erst das Kind bemerkte, zog zwar sofort und mit aller Kraft die Zügel an sich, aber die feurigen, im vollsten Laufe begriffenen Thiere standen nicht sogleich, sie drängten noch einige Schritte vorwärts, und der Knabe schien verloren. Da plötzlich flog das junge Mädchen herbei, riß mit einer einzigen blitzschnellen Bewegung das Kind, fast unter den Hufen der Pferde weg, in ihre Arme und sprang mit ihm seitwärts. Es war die höchste Zeit gewesen! Einen Moment später standen die Thiere, aber ihre Hufe stampften den Ort, wo der Kleine gelegen, der während der Gefahr selbst vor Schrecken und Betäubung ganz still geschwiegen hatte, jetzt aber, wo er sich gerettet sah, in ein lautes klägliches Geschrei ausbrach.

Graf Arnau gab die Zügel in die Hand seines Kutschers, sprang vom Wagen und näherte sich den Beiden. „Hat Jemand Schaden genommen?“ fragte er hastig.

„Ich nicht, aber das Kind –“

Ohne ein Wort weiter zu verlieren, nahm Hermann den Kleinen aus ihren Armen, besah und befühlte ihn, nicht sehr sanft, aber sehr gründlich von allen Seiten, und überzeugte sich bald, daß er nicht die geringste Verletzung davongetragen hatte.

„Es ist Nichts,“ sagte er ruhig. „Er war nur erschreckt; gieb Dich zufrieden, Schreihals, Du bist noch glücklich genug davongekommen!“

Achtlos setzte er das Kind, das, eingeschüchtert durch den herben Ton, stillschwieg und ihn ängstlich mit den großen thränenvollen Augen ansah, auf den Boden nieder und wendete sich dann artig, aber gleichgültig zu seiner Retterin.

„Sie haben sehr viel Muth bewiesen, mein Fräulein. Ich war unvermögend, die Pferde so schnell zum Stehen zu bringen, ohne Sie war der kleine Bursche dort verloren.“

Sein Blick überflog während dieser Anrede rasch und scharf das junge Mädchen. Es war ein noch sehr jugendliches Wesen, das da vor ihm stand, sechszehn, höchstens siebenzehn Jahre alt, schlank, zart und sehr einfach gekleidet. Bei der heftigen Bewegung, mit der sie das Kind emporgehoben, war der runde Strohhut von ihrem Kopfe geglitten, er hing jetzt lose im Nacken, und der volle heiße Mittagssonnenschein überfluthete das Antlitz und das goldig schimmernde Haar, das vorn einfach gescheitelt, am Hinterkopf in reichen Flechten übereinander gelegt war. Vielleicht gab die blendende Beleuchtung ihr in diesem Augenblicke einen besonderen Reiz, denn schön war das Gesicht eigentlich nicht, wenigstens noch nicht, obgleich die Linien künftiger Schönheit sich bereits in seinen Zügen verriethen. Jetzt waren sie noch weich, unentwickelt und ganz und gar kindlich; das Einzige, was dem Gesicht einen eigenthümlichen Reiz lieh, waren ein Paar große tiefblaue Augen von ungewöhnlichem, fast räthselhaftem Ausdruck. Es lag ein Ernst darin, der weit über diese sechszehn Jahre hinausging, mehr noch, ein Schatten wie ihn sonst erst ein ganzes Leben voll Sorge, Leiden und schwerem unentfliehbarem Druck auf ein Menschenantlitz zeichnet. Das Antlitz des jungen Wesens freilich war noch unberührt davon geblieben, [759] die kindliche Stirn zeigte keine Falte, der Mund keinen herben Zug, aber im Auge, da lag jener Schatten schwer und tief, als sie es jetzt ernst und vorwurfsvoll zu dem Grafen emporhob.

„Ein Menschenleben scheint in Ihren Augen sehr wenig zu gelten, Sie gehen leicht genug über seine Gefahr hinweg.“

Graf Arnau sah bei dieser unerwarteten Zurechtweisung sehr erstaunt auf und maß die jugendliche Hofmeisterin mit einem langen, verwunderten Blick. „Der Bube ist ja heil und gesund!“ sagte er in wegwerfendem Tone, „er schreit nur zum Vergnügen.“

„Aber einen Moment später, und er wäre von den Pferden zertreten worden.“

Hermann zuckte die Achseln. „Wäre! – Ja wenn wir um Alles sorgen wollten, was hätte geschehen können, so reichte der Tag nicht aus zum Beklagen all’ der möglichen Vorfälle. Zum Glück ist hier Nichts geschehen, Ihre muthige Dazwischenkunft hat mich von einer unangenehmen Verantwortung befreit. Ich bedaure sehr, Sie erschreckt zu haben.“

„Ich bin nicht erschreckt.“ Die Worte klangen kalt und abweisend, die Art, wie er den ganzen Vorfall behandelte, schien das junge Mädchen zu verletzen. Sie kniete neben dem Kinde nieder und bemühte sich, das Gesicht und die Händchen des Kleinen von dem Sande zu reinigen der glücklicherweise die einzige Spur war, die der Unfall zurückgelassen.

Hermann blieb stehen und sah ihr zu. Er hatte bisher die Ansicht festgehalten, daß, mit Ausnahme seiner Großmutter, die er in Folge ihres energischen männlichen Charakters kaum zum weiblichen Geschlecht rechnete, jede Frau beim Anblick einer Gefahr in Ohnmacht fallen oder Weinkrämpfe bekommen müsse, und war sehr überrascht, hier eine zweite Ausnahme zu finden. „Ich bin nicht erschreckt,“ hatte sie erklärt, und sie war es in der That nicht. Das Gesicht hatte seine natürliche Farbe behalten, die Hände zitterten nicht im Geringsten, als sie sanft und geschickt ihre Arbeit verrichtete, das Mädchen zeigte jetzt ebensoviel Ruhe, als es vorhin schnelle Geistesgegenwart bewiesen hatte.

Jetzt öffnete sich die Thür eines der nächsten Häuser, eine Tagelöhnerfrau, ärmlich und ziemlich unsauber gekleidet, mit ungeordneten Haaren und einem stumpfen, ausdruckslosen Gesicht kam eilig herbei, um den Knaben aus den Armen der Fremden zu nehmen, – der Graf faßte in seine Tasche.

„Das Kind wäre beinahe unter meinen Wagen gerathen, gebt in Zukunft besser Acht darauf. Hier ist Etwas für den Schreck.“

Die stumpfen Züge der Frau, die kaum einige Besorgniß ausgedrückt hatten, belebten sich beim Anblick des blanken Thalers, der ihr in vornehm gleichgültiger Weise dargereicht ward. Sie knixte tief und dankte dem „gnädigen Herrn Grafen“ für seine Güte. Das junge Mädchen hatte sich halb von den Knieen erhoben, ihre großen Augen gingen langsam von der Mutter zu dem Kinde und dann wieder zu dem Gelde, das jene in der Hand hielt, sie stand plötzlich auf, kehrte der Gruppe den Rücken und ging, ohne ein Wort zu verlieren, dem Wirthshause zu.

Mit einigen raschen Schritten hatte Hermann sie eingeholt. „Sie sehen, der Schaden war schnell genug vergütet. Die Frau segnet jedenfalls den Unfall, der ihr das Tagelohn einer ganzen Woche eingebracht hat.“

Die Worte klangen halb wie Spott und halb doch wieder wie eine Art Entschuldigung, die Angeredete preßte die Lippen zusammen. „Ich glaubte nicht, daß eine Mutter so wenig Selbstachtung besitzen könne, sich die Angst um ihr Kind in solcher Weise abkaufen zu lassen.“

Hermann lächelte sarkastisch. „Selbstachtung! Bei einer Tagelöhnerfrau? Verzeihung, mein Fräulein, aber Sie kommen jedenfalls aus der Stadt und kennen unser Landvolk nicht.“

„Man kann auch in der Stadt die Armuth kennen lernen, zumal wenn man durch keine so unendlich weite Kluft davon geschieden ist, wie Sie, Herr Graf.“

Hermann biß sich auf die Lippen. „Ich meine,“ entgegnete er nun seinerseits scharf, „die Bildung, welche Sie von jenen Leuten trennt, ist eine ebenso weite Kluft. Haben Sie in der That so große Sympathien für dies stumpfsinnige, verkommene Volk?“

„Ich habe Sympathie für alles Unterdrückte und Elende.“

„Wirklich?“

Sie hatten inzwischen das Wirthshaus erreicht, das junge Mädchen machte eine leichte Verbeugung und legte die Hand an den Drücker, aber Hermann kam ihr zuvor. Er öffnete die Thür, ließ sie vortreten und folgte in das Gastzimmer.

Sie blieb stehen und sah ihn befremdet und abweisend an, es war augenscheinlich, daß sie nicht wünschte, das Gespräch fortzusetzen. Der Graf aber nahm es trotzdem wieder auf.

„Wirklich?“ wiederholte er und fügte dann in etwas gereiztem Tone hinzu: „Es scheint, daß Sie auch mich zu den Unterdrückern rechnen. Hoffentlich beschuldigen Sie mich nicht, das Kind gesehen und absichtlich überfahren zu haben.“

„Nein, aber die ganze Kinderschaar mußten Sie sehen. Warum wichen Sie ihr nicht aus?“

„Den Dorfkindern!“ rief der junge Graf mit einem so unverstellten Erstaunen, daß man wohl sah, der Gedanke daran war auch nicht im Entferntesten in seine Seele gekommen. „Ich soll den Kindern der Unterthanen meines Oheims ausweichen?“

Die Zumuthung kam ihm augenscheinlich ganz unerhört vor, die junge Fremde schien im Begriff zu antworten, aber plötzlich hielt sie inne und beugte sich aufhorchend vor. Ein halbunterdrückter Schrei der Freude entfloh ihren Lippen; sie hob wie unwillkürlich die Arme und war im Begriff fortzueilen, als sie sich auf einmal der Gegenwart Hermann’s erinnerte. Eine dunkle Röthe übergoß ihr Antlitz, langsam ließ sie die Arme wieder sinken und blieb wie angewurzelt stehen. Der Graf war der Richtung ihrer Blicke gefolgt und erkannte jetzt auch die Ursache dieser plötzlichen Veränderung, Eugen Reinert, der, nachdem er bereits draußen im Hausflur eine hastige Frage gethan, rasch und ohne die Nähe seines Freundes zu bemerken in’s Zimmer trat.

„Gertrud! Um Gotteswillen, Du hier!“

Sie flog auf ihn zu und reichte ihm mit einem strahlenden Lächeln, das das ganze jugendliche Gesicht verklärte, beide Hände entgegen, aber ein leises Wort aus ihrem Munde schien ihm zugleich zu sagen, daß sie nicht allein seien. Eugen blickte auf und fuhr beinahe zusammen.

„Ah, Hermann, Du bist es?“

Eine minutenlange drückende Pause folgte dem Wiedersehen. Gertrud blickte befremdet und fragend zu Eugen empor, der bleich und sichtbar verstört ihre Hand festhielt, ohne zu sprechen. Graf Hermann lehnte schweigend mit übereinandergeschlagenen Armen am Tische und sah unverwandt die Beiden an; der herbe feindliche Zug in seinem Gesichte trat in diesem Augenblick in wahrhaft erschreckender Weise hervor.

„Verzeih’, Gertrud,“ begann Eugen endlich, sich mühsam fassend, „ich glaubte, Dich allein zu finden. Du kennst –?“

„Nein,“ unterbrach sie ihn rasch. „Ich traf nur durch Zufall mit jenem Herrn zusammen.“

Es schien Eugen eine furchtbare Ueberwindung zu kosten, aber er nahm ihre Hand und führte sie dem Grafen zu.

„Meine – meine Braut, Hermann! – Gertrud, mein nächster, bester Freund, Graf Arnau.“

Gertrud war im Begriff, die kalte, sehr gemessene Verbeugung Hermann’s in gleicher Weise zu erwidern, bei Nennung seines Namens aber zuckte sie jäh zusammen. Eine Todtenblässe überzog plötzlich das eben noch so strahlende Gesicht, und ihre starren, weitgeöffneten Augen hefteten sich mit einem Ausdruck auf den jungen Grafen, der Eugen erschreckte, obwohl er ihm völlig unverständlich blieb.

„Was hast Du, Gertrud? Was ist Dir?“

„Nichts! Nichts!“ Sie strebte sichtbar, sich zu fassen, es gelang auch einigermaßen, aber der seltsame Blick war noch immer in ihrem Auge, während sie wie unwillkürlich weiter und weiter zurückwich und Eugen fast gewaltsam mit sich zog.

Hermann wendete sich rasch um. „Ich will die erste Zusammenkunft mit Deiner Braut nicht stören,“ er legte einen scharfen, hohnvollen Ausdruck auf das Wort. „Ich fahre jetzt nach dem Schlosse. Auf Wiedersehen denn!“ Mit kurzem Gruße verließ er das Zimmer und trat in’s Freie. Das – das also war Gertrud Walter, die Braut Eugen’s, das „kleine Bürgermädchen, das seinem vornehmen Freunde so widerwärtig erschien, weil es sich in die Laufbahn eines Mannes drängte und ihn in seine eigene niedere Sphäre herabziehen wollte.“ Ja freilich, er hatte sie sich anders vorgestellt, aber es war auch ein zu seltsamer Widerspruch zwischen dieser kindlichen Erscheinung und den so ganz unkindlichen Antworten, die sie zu geben wußte. Beides hatte [760] keineswegs den Beifall des Grafen, im Gegentheil, er ärgerte sich, daß er sich von diesem Mädchen hatte imponiren lassen. Und dann – weshalb haßte sie ihn? Hermann verstand sich besser auf’s Beobachten, als sein leidenschaftlicher Freund, er wußte sehr wohl, daß es nicht Furcht oder Schrecken, daß es ganz entschieden Haß gewesen, der bei Nennung seines Namens aus ihrem Auge flammte, ein glühender energischer Haß, wie er ihn noch nie in dem Antlitz eines Weibes gesehen. Welchen Grund hatte sie, ihn zu hassen?

„Bah, ich kann es mir denken, Eugen wird ihr in seinen Briefen verrathen haben, daß ich es bin, der stets gegen diese Verbindung eifert, und Mademoiselle Walter sieht jetzt in mir das feindliche Element, das ihrem Glücke droht, und beehrt mich demgemäß mit ihrem Hasse. Schade um die energische Empfindung, die an einen so kleinlichen Beweggrund verschwendet wird!“ Die Lippen des Grafen kräuselten sich verächtlich, in der übelsten Laune stieg er auf, nahm seinem Kutscher die Zügel aus der Hand und fuhr im schärfsten Trabe davon. Es lag ein finsterer, trotziger Ausdruck auf seinem Gesicht, während er die Pferde zum vollsten Jagen antrieb; als aber am Ausgange des Dorfes zwei alte Frauen, die auf dem Wege standen, dem herrschaftlichen Wagen heiligst ausweichen wollten, sahen sie zu ihrem großen Erstaunen, daß derselbe seitwärts lenkte und in ziemlicher Entfernung an ihnen vorüberflog.




Es war Abend geworden, aber die Schwüle des Tages hatte noch nicht nachgelassen, im Westen drohte es gewitterschwer und die Landleute eilten vom Felde heimzukommen. Ohne Ahnung des herannahenden Unwetters, das der Wald für jetzt noch ihren Blicken entzog, ging Gertrud Walter den Fußweg entlang, der zum Schlosse führte. Sie sah noch ernster und nachdenklicher aus als heute Mittag, Eugen’s ganzes Wesen war ihr so seltsam verändert und verstört erschienen. Er hatte es nicht vermocht, seine sichtbare Unruhe und Aufregung zu verbergen, hatte auf keine ihrer Fragen Rede stehen wollen und sich nach kaum einer Viertelstunde von ihr losgerissen, unter dem Vorgeben, daß seine Gegenwart auf dem Schlosse dringend nothwendig sei. Betreten war Gertrud allerdings über dies Benehmen, aber von einem Argwohn kam auch nicht die leiseste Spur in ihre Seele, sie glaubte vollkommen der Erklärung ihres Verlobten, daß er eine ernste Unannehmlichkeit gehabt, die ihn so tief verstimmte, und erwartete mit Ungeduld die verabredete Zusammenkunft heute Abend, in der er versprochen hatte, ihr Alles zu entdecken. Sie wollte Theil haben an seinem Unglück, wollte rathen, trösten, helfen so weit es in ihrer Macht stand – freilich ahnte sie nicht im Entferntesten, welche Entdeckung ihrer wartete.

Es war die Stunde seines Kommens; sie war ihm entgegengegangen und stand jetzt wartend auf der Hälfte des Weges. Weiter zu gehen wagte sie nicht, denn man sah von hier aus durch eine Lichtung des Waldes bereits das Schloß, wohin, wie Eugen sagte, ihn ein Auftrag geführt, mit dessen Ausführung er eben beschäftigt war. Das junge Mädchen setzte sich auf einen Baumstamm nieder und ließ die gefalteten Hände in den Schooß sinken. Sie sah in diesem Augenblicke noch ganz und gar kindlich aus und ihr Gesicht trug: trotz der Sorge, die darauf lag, doch den Ausdruck des vollsten innigsten Vertrauens, als sie so in die Ferne blickte. Aber plötzlich änderte sich dieser Ausdruck; ihr Blick hatte das Schloß gestreift, das aus den Tannenwipfeln links herübersah, und damit schien irgend eine andere finstere Erinnerung heraufzusteigen. Es legte sich wie ein Schatten auf die jugendlichen Züge, die Lippen preßten sich heftig aufeinander, die verschlungenen Finger lösten sich, sie strich hastig einige Male mit der Hand über die Stirn, als wolle sie einen quälenden Gedanken verscheuchen, und blickte dann angestrengt nach jener Richtung, von der Eugen kommen mußte.

Jetzt erschallten auch wirklich Tritte von dorther. Gertrud sprang empor, aber es waren die Tritte zweier Personen. Das junge Mädchen stand unentschlossen, ob sie vorwärts eilen oder warten solle; da drang eine scharfe klare Stimme zu ihr herüber und machte sofort jedem Zögern ein Ende. Sie erbleichte; Eugen in dieser Begleitung treffen? Nun und nimmermehr. In der nächsten Minute war sie hinter ein dichtes Gebüsch getreten, das sie den Blicken der Kommenden völlig entzog.

„Ich habe den ganzen Nachmittag vergeblich eine Minute des Alleinseins mit Dir gesucht,“ sagte die Stimme Eugen’s, „aber Du schienst absichtlich auszuweichen und Antonie ließ mich nicht einen Augenblick von ihrer Seite. Du mußt mich jetzt hören, Hermann, ich bedarf Deines Rathes, Deines Beistandes.“

„Wozu?“

Die beiden jungen Männer waren inzwischen aus dem Walde hervorgekommen, und der Graf blieb unmittelbar vor dem Gebüsch stehen.

„Wozu?“ wiederholte er noch einmal.

Eugen sah ihn an, etwas betreten über den eisigen Ton „Du fragst mich noch? Du weißt es ja, daß Gertrud hier ist, und kannst Dich in meine peinvolle, entsetzliche Lage hineindenken.“

„Willst Du mir nicht vor allen Dingen sagen, wie Deine ehemalige Braut hierher gekommen ist?“

„Durch den unseligsten Zufall von der Welt! Ihr Vormund will Verwandte in A. besuchen und hat sie dorthin mitgenommen. Sie müssen unser Dorf passiren, und Gertrud, die natürlich meinen jetzigen Aufenthalt kennt, bestimmt den Oheim, einen Tag anzuhalten, um mir eine, wie sie meint, frohe Ueberraschung zu bereiten. Ich dachte in die Erde zu sinken, als ich heute Mittag die Nachricht ihres Hierseins erhielt!“

„So?“ Die eigenthümliche Kälte in dem Tone des Grafen bildete einen scharfen Contrast gegen die leidenschaftliche Heftigkeit Eugen’s. „Das ist allerdings ein sehr peinlicher Zufall! Und was gedenkst Du nun zu thun?“

Der junge Mann fuhr mit der Hand über die Stirn. „Ich weiß es nicht!“ sagte er gepreßt. „Ich gab einen wahrscheinlichen Vorwand meiner Verstimmung an und riß mich so schnell wie möglich los, um ihr nicht Rede stehen zu müssen; aber sie erwartet mich heute Abend, sie wird mit Fragen, mit Bitten in mich dringen. – Rathe mir, Hermann, was soll ich thun?“

Der Graf setzte sich auf den Baumstamm nieder, den Rücken gegen das Gebüsch gekehrt; er gab seine kühle abweisende Haltung nicht eine Minute auf. „Etwas, was Dir nicht leicht werden wird, aber nichtsdestoweniger geschehen muß – ihr die Wahrheit sagen.“

„Unmöglich! Das kann ich nicht!“

„Eugen!“

„Ich kann nicht!“ wiederholte Eugen leidenschaftlich: „Alles Andere, nur ihr nicht unter die Augen treten mit einem solchen Geständniß. Das vermag ich nicht!“

„Du scheinst diese Augen sehr zu fürchten. Doch gleichviel, wenn Du das Geständniß nicht wagst, was dann?“

Eugen schlug die Augen nieder. „Ich wollte,“ sagte er nach einer Pause stockend, „ich wollte ihr für jetzt noch gar nichts entdecken. Sie reist heute Abend wieder ab und ich gehe bereits in der nächsten Woche mit Dir nach Italien. Von dort aus wollte ich allmählich ein Verhältniß lösen –“

„Allmählich ein Verhältniß lösen – nun weiter, ich warte auf den Schluß.“

[773] Dem jungen Maler schien es unter dem Blicke seines Freundes, der unverwandt auf ihm ruhte, immer unbehaglicher zu werden. „Ich will Gertrud überhaupt nicht durch eine Darlegung meiner Verhältnisse zu Antonien verletzen,“ sagte er hastig. „Sie mag glauben, daß es Gründe anderer Art, daß es Verluste oder Unglücksfälle sind, die mich zu einem Bruche zwingen. Ich habe bereits auf ernste mich bedrängende Unannehmlichkeiten hingedeutet. Aus der Ferne und brieflich erklärt sich das leichter – Du begreifst, daß ich sie so viel als möglich zu schonen wünsche.“

„Schonen? Und deshalb willst Du das Mädchen wochen-, vielleicht monatelang foltern mit der Ungewißheit ihrer Zukunft, mit der Sorge um Dich? deshalb willst Du ihr das Gift tropfenweise eingeben und, nachdem Du all’ ihre Zärtlichkeit und Angst um Dich entfesselt hast, sie der grenzenlosen Demüthigung aussetzen, zu erfahren, daß der Bräutigam, den sie vielleicht in Noth und Verzweiflung glaubt, als erwählter Gemahl der reichen und gefeierten Gräfin Arnau eine der glänzendsten Partien des Landes macht? – in der That eine eigenthümliche Art von Schonung!“

Eugen sah ihn im vollsten Erstaunen an. „Aber Hermann, was hast Du denn heute? Du bist ja ganz und gar verändert!“

„Es handelt sich hier nicht um mich, sondern darum, ob das, was Du mir soeben sagtest, wirklich Dein Ernst ist.“

Der junge Mann schwieg.

„Also wirklich?“ nahm der Graf wieder das Wort und rief dann: „In der That, das hätte ich doch nicht geglaubt!“

„Ich begreife nicht,“ begann Eugen, gereizt durch den verächtlichen Ton seines Freundes, „wie gerade Du mein Benehmen so streng beurtheilen kannst. Warst Du es nicht, der von Anfang an gegen diese Verbindung eiferte, der mich unaufhörlich antrieb, sie zu lösen, der mich halb mit Gewalt zur Erklärung gegen Antonie zwang? Ich habe doch wenigstens gekämpft und gelitten, Du aber bist eine von jenen Eisnaturen, die gleichgültig über das Wohl und Wehe Anderer hinschreiten, unbekümmert, ob sie Menschenherzen dabei brechen oder nicht. Du hast Dich von jeher offen zu diesen rücksichtslosen Principien bekannt, was hat Dich denn auf einmal so verwandelt, daß Du Dich zum Anwalt des Gegentheils aufwirfst und mich verdammst, weil ich Deinem Beispiel folge?“

Hermann schwieg einen Moment lang – ob der Vorwurf traf? es lag nur allzuviel Wahres darin, indessen Graf Arnau blieb selten eine Antwort schuldig, und so erwiderte er auch jetzt vollkommen gefaßt: „Du irrst! Ich war gegen diese Verbindung und bin es noch, weil ich kein Heil für Deine Zukunft darin sehe. Daß Du sie lösen mußtest, steht fest, nur über das Wie gehen unsere Meinungen auseinander. Ich bin rücksichtslos, wo es die Erreichung eines Zieles gilt, da hast Du Recht, und ich hätte in Deinem Falle wahrscheinlich mit der ganzen vollen Wahrheit das Herz des Mädchens gebrochen, aber Ausflüchte suchen, um ihr zu verbergen, was sie doch endlich erfahren muß, mich als Märtyrer eines grausamen Schicksals hinstellen und mich dabei in ein Gewebe von Unwahrheiten aller Art verstricken – das, Eugen würde ich nicht thun, denn, um Dir die Wahrheit zu sagen, ich finde ein solches Benehmen ziemlich feige.“

„Hermann!“ brauste Eugen auf.

„Laß Deine Empfindlichkeit!“ sagte der Graf gebietend, „sie ist hier nicht am Platze. Ich habe Dir meine Meinung offen ausgesprochen, jetzt thue, was Dir beliebt. – Uebrigens scheint das Wetter näher zu kommen, ich muß in’s Schloß zurück, Du bist wahrscheinlich auf dem Wege nach dem Dorfe, Adieu!“

Eugen antwortete nicht, er wendete sich um und ging trotzig, ohne Gruß und Abschied dem Dorfe zu. Hermann zuckte die Achseln, er kannte dies Schmollen und wußte, daß es nicht von langer Dauer sein werde. Dergleichen Scenen waren zwischen ihnen nichts Seltenes. Reinert pflegt nach einer solchen stets den Beleidigten zu spielen, um sich schließlich doch der Ueberlegenheit seines Freundes zu fügen.

Der Himmel hatte sich inzwischen immer finsterer umzogen, der Wind erhob sich und brauste in den Wipfeln der Bäume, Graf Arnau warf einen prüfenden Blick nach den Wolken und trat dann gleichfalls den Rückweg an. Da fuhr ein Windstoß hernieder und bog die Gesträuche und Gebüsche weit voneinander, es schimmerte zwischen ihnen wie ein helles Frauengewand. Von einer plötzlichen Ahnung durchzuckt, blieb Hermann stehen und blickte scharf durch das Gezweige; es war nichts mit Bestimmtheit zu erkennen, rasch that er einige Schritte seitwärts und stand in der nächsten Minute vor Gertrud Walter.

Das Mädchen lag auf den Knieen, den Kopf gegen eine Baumwurzel gelehnt und das Gesicht in beiden Händen verborgen. Auch nicht mit einem Laute hatte sie sich verrathen; aber sie war zusammengebrochen unter der plötzlichen Erkenntniß, die die Ahnungslose wie ein Blitzstrahl getroffen. Hermann bedurfte nur dieses Anblicks, um sofort Alles zu begreifen und zu fühlen, wie [774] furchtbar demüthigend ihr jetzt auch seine Nähe sein mußte. Einen Moment lang blickte er schweigend auf sie nieder, wandte sich dann um und ging, ebenso rasch und leise wie er gekommen war.

Aber bereits nach zehn Schritten blieb er stehen und sah zurück. Sie lag so still und regungslos wie eine Todte, vielleicht war sie ohnmächtig, vielleicht – der Graf war noch nicht mit sich einig geworden, was hier die Menschlichkeit oder das Zartgefühl verlange, als er sich auch schon wieder an ihrer Seite befand.

„Mein Fräulein!“

Keine Antwort, sie regte sich nicht.

Hermann beugte sich nieder und hob sie empor. Willenlos ließ sie seine Hülfe geschehen, und während sie sich mechanisch in seinen Armen aufrichtete, streifte ihr Auge, wie bewußtlos, sein Gesicht.

„Sie sind nicht wohl! Darf ich Ihnen meine Hülfe bis zum Dorfe anbieten?“

Er hätte nicht sprechen dürfen, beim Ton seiner Stimme kam ihr sofort die Erinnerung und damit zugleich Bewußtsein und Kraft zurück, aber die erste Aeußerung derselben richtete sich gegen ihn. Da war es wieder, das jähe Aufzucken, das entsetzte Zurückweichen wie bei der Begegnung am heutigen Mittag, wieder trat der seltsam feindliche Blick in ihr Auge, es schien, als ob in der einen Empfindung des Abscheues gegen ihn selbst die Erinnerung an die letzte Viertelstunde unterginge.

„Ich bedarf keiner Hülfe – mir ist wohl – völlig wohl –“ sie that einige Schritte, schwankte aber und mußte sich an einen Baum lehnen, um nicht zu sinken. Der Wind schüttelte die Krone desselben und warf einen Regen von Blättern auf sie nieder, der erste Blitz zuckte durch die Luft und ein fern grollender Donner folgte ihm; Hermann, der verletzt zurückgetreten war, näherte sich jetzt wieder dem jungen Mädchen und sagte mit einer Entschiedenheit, durch die allerdings einige Bitterkeit hindurchklang:

„Es thut mir leid, Ihnen mit meiner Gegenwart beschwerlich fallen zu müssen, aber Sie sind nicht wohl, mein Fräulein. Sie sind allein und fremd hier, es zieht ein Gewitter heran, und das Dorf ist eine halbe Stunde entfernt. Sie werden deshalb meine Begleitung annehmen und zugleich die Versicherung, daß ich Ihnen keine Minute länger lästig fallen werde, als unumgänglich nöthig ist.“

Ruhig, als sei ein Widerspruch gar nicht denkbar, nahm er ihren Arm, wie den eines Kindes, um sie zu führen, aber diese Berührung übte eine ungeahnte, eine wahrhaft erschreckende Wirkung auf Gertrud aus. Wäre es der Stich einer Schlange gewesen, sie hätte nicht entsetzter zusammenfahren, nicht mit größerem Abscheu zurückzucken können. Es war fast ein Schrei, mit dem sie ihre Hand aus der seinigen riß, und Hermann glaubte plötzlich ein ganz anderes Wesen vor sich zu sehen. Es lag nichts mehr von dem „Kinde“ darin; die Erscheinung, die da vor ihm stand, hochaufgerichtet, aber todtenbleich, mit bebenden Lippen, hatte etwas Gebietendes, Ueberwältigendes. Ihr Blick traf ihn mit so räthselhaft zwingender Gewalt, daß jeder Andere die Augen davor niedergeschlagen hätte, und mit einem Ton und Ausdruck, der den Grafen völlig versteinerte, rief sie ihm drohend zu: „Berühren Sie mich nicht, Graf Arnau! Ich will nicht von Ihnen geleitet sein!“

Sie wandte sich, schlug den Weg nach dem Dorfe ein und verschwand zwischen den Gebüschen. Hermann stand bewegungslos und sah ihr nach, aber in der nächsten Minute schon überwog der Zorn die starre Verwunderung. Der junge Graf war noch nie so behandelt, so beleidigt worden, und hier geschah ihm das, hier, wo er sich zum ersten Male in seinem Leben mit warmer offener Theilnahme Jemandem genaht, wo er zum ersten Male seinen kalten rücksichtslosen Charakter verleugnet hatte. Was wagte dies Mädchen gegen ihn! Und weshalb wagte sie es?

Er lachte bitter auf. „Ja freilich, jetzt begreife ich, daß Eugen es nicht wagt, ihr unter die Augen zu treten! Er ist der Mann nicht, ein Wesen zu zwingen, das, unmittelbar nachdem es die tiefste Demüthigung erlitten, so aufzutreten vermag. Ihn hätte sie zerschmettert mit diesem Blick!“

Der immer lauter rollende Donner und die jetzt häufiger zuckenden Blitze machten den Betrachtungen des Grafen ein Ende und mahnten ihn zur schleunigen Rückkehr nach dem Schlosse, das er in der That kaum erreicht hatte, als auch bereits die ersten schweren Tropfen fielen.

Eine Stunde später – das Gewitter hatte ausgetobt, aber der Regen strömte noch immer und im Schlosse traf man die letzten Vorbereitungen zu dem großen Ballfest, das heute Abend hier stattfinden sollte – kehrte auch Eugen aus dem Dorfe zurück, bleich, aufgeregt, völlig durchnäßt, und begab sich sofort in Hermann’s Zimmer. Sie hatten eine Unterredung mit einander und es schien bei dieser Gelegenheit etwas wie eine Scene zwischen den beiden Freunden gegeben zu haben, wenigstens wollten die ab und zu eilenden Diener sehr lautes, heftiges Sprechen gehört und bemerkt haben, daß Herr Reinert mit auffallend finsterer Miene aus dem Zimmer des Grafen kam. Auch mieden sich Beide während des ganzen Abends so viel als möglich, zu einer weitern Aeußerung von Uneinigkeit kam es jedoch nicht. Bereits rollten von allen Seiten die Wagen der Gäste herbei, und beim Eintritt der Dunkelheit strahlte die ganze Fensterreihe des Schlosses in blendendem Lichtglanz.

Die Krone und den Mittelpunkt der Gesellschaft bildete natürlich die schöne Gräfin Arnau. Sie erschien heut’ Abend reizender und bezaubernder als je, und Eugen wich nicht einen Augenblick von ihrer Seite. Zum ersten Male wagte er es heut’, in seine offen dargebrachten Huldigungen den Anschein der Berechtigung zu legen, und Antonie nahm dies in einer Weise auf, die kaum noch einen Zweifel an dem zwischen ihnen obwaltenden Verhältnisse bestehen ließ. Aller Blicke folgten dem Paare, überall vernahm man flüsternde Bemerkungen und Fragen, ob es denn möglich sei, ob denn die stolze vielumworbene Gräfin Arnau wirklich im Ernst an eine Verbindung mit dem jungen unbedeutenden Maler denken könne, der, quelle horreur! ihr statt der Grafenkrone nur einen bürgerlichen Namen geben konnte. Welch eine unverzeihliche Extravaganz! Welch ein Scandal für die Familie! Eine alte Baroneß, die mehr Neugierde besaß und mehr sittliche Empörung fühlte, als all’ die Anderen, beschloß, sich um jeden Preis Gewißheit darüber zu verschaffen und sich zu diesem Zweck gleich an die sicherste Quelle, an den Grafen Hermann zu wenden.

Es dauerte lange, bis sie den Gesuchten fand, der den Tanz überhaupt nicht liebte und auch diesmal nicht daran Theil nahm. Er stand allein in einem Nebenzimmer, hatte das Fenster desselben geöffnet und sich weit hinausgelehnt. Unten auf der Landstraße schmetterte ein Posthorn, dessen Klänge sich mit der rauschenden Tanzmusik mischten. „Mein bester Graf, was thun Sie um’s Himmelswillen hier in diesem abgelegenen Cabinet, bei offenem Fenster? Die ganze Gesellschaft vermißt Sie bereits!“

Hermann wandte sich um, mit einem Gesicht, auf dem der Aerger über die Störung ziemlich deutlich geschrieben stand. „Es war mir zu schwül im Saale,“ erwiderte er sehr kühl und abweisend, „ich fand es für nöthig, einige Minuten lang frische Luft zu schöpfen.“

„Sie haben Recht, es ist entsetzlich heiß drinnen, und die Luft nach dem Gewitter ist so erquickend! Aber Sie versäumen zu viel hier, Ihre Cousine walzt zum Entzücken mit Ihrem Freunde, dem jungen Maler – apropos, bester Graf, ist es denn wahr, was man sich erzählt, die Gräfin erwidere die ganz offen zur Schau getragen Leidenschaft dieses Herrn Reinert, und denke wirklich daran, ihn mit ihrer Hand zu beglücken?“

Hermann schlug klirrend das Fenster zu. „Ich bedaure, meine Gnädigste, Ihnen darüber keine Auskunft geben zu können. Ich bin über die Intentionen meiner Cousine so wenig unterrichtet, als Sie selber. Inzwischen dürfte es doch hier zu kühl für Sie werden, Sie gestatten wohl, daß ich Sie in den Saal zurückbegleite.“

Er reichte ihr mit kalter Höflichkeit den Arm und führte sie in den Tanzsaal zurück. Der Walzer war noch nicht zu Ende, als sie eintraten; soeben schwebte Gräfin Antonie im hellsten Kerzenglanz, getragen von der rauschenden Musik, am Arme Eugen’s vorüber – und in der Ferne erstarb der letzte Klang des Posthorns!




Sieben Jahre waren dahingeschwunden, sie hatten Manches verwischt und begraben, Vieles geändert, und, wie oft im Leben, so war auch hier die Wirklichkeit einen ganz, ganz anderen Weg gegangen, als die Hoffnungen und Erwartungen der Menschen.

Von dem Künstlerruhme Eugen Reinert’s hörte man wenig oder nichts. Zwar hatte sein erstes größeres Werk, das Portrait der Gräfin Arnau, auf der Ausstellung ein bedeutendes Aufsehen [775] erregt und zu den schönsten Erwartungen für die Zukunft berechtigt, aber diese Voraussetzung erfüllte sich nicht. Mit jenem Bilde, das ihm die Hand des Originals eintrug und ihm allerdings einen Namen in der Kunstwelt schuf, schien er seine beste Kraft erschöpft zu haben. Er malte zwar noch immer ausschließlich Portraits aus den aristokratischen Kreisen, denen er durch seine Gemahlin nahe getreten war, und in welchen seine Arbeiten natürlich für genial und unerreichbar gehalten wurden, aber die eigentlichen Kunstkenner hielten nicht viel davon, und im Publicum beachtete man sie wenig. Eugen’s Hauptfehler, der Mangel an Energie und Ausdauer, trat mit der Zeit immer deutlicher hervor. Er schwankte fortwährend zwischen allen möglichen Studien hin und her, fing Alles an und brachte Nichts fertig, entwarf die großartigsten Pläne, um keinen auszuführen, und verschwendete sein so großartig angelegtes Talent an den distinguirten, aber nichtssagenden Gesichtern von Grafen und Excellenzen und den Albumblättern vornehmer Damen. Seit das Glück ihm mühelos all’ die Güter in den Schooß geworfen, die er einst durch die Kunst zu erreichen gehofft, war seine Lust am Schaffen und damit auch seine Kraft ermattet. Wozu auch noch arbeiten? Der Reichthum, den seine Gattin ihm zugebracht, die Verbindungen, zu denen er durch sie gelangte, und das glänzende Haus, welches sie machten, sicherten ihm allen Lebensgenuß und eine unbestrittene Stellung in der Gesellschaft, und als ihm nun vollends im Laufe der letzten Jahre, wegen seiner „künstlerischen Verdienste“, der Adel ertheilt ward, schien er die höchste Staffel irdischen Glückes erstiegen zu haben.

Während dies einst so viel versprechende und viel bewunderte Talent allmählich zu Grunde ging, hatte sich in aller Stille ein anderes entwickelt, an das Niemand gedacht, dessen Dasein Keiner geahnt hatte. Graf Hermann Arnau, der seines kalten, schweigsamen und verschlossenen Wesens halber wenig gekannt und noch weniger geliebt worden war, hatte plötzlich einen Aufschwung genommen, der Alles in Erstaunen setzte. Nach der Rückkehr von einer größeren Reise, die er zu seiner ferneren Ausbildung unternommen, trat er in den Staatsdienst und ging mit der Gesandtschaft seines Fürsten nach Wien. Aber kaum zwei Jahre vergingen, und der jüngste Attaché war bereits die rechte Hand des nicht sehr befähigten Gesandten, sein Rath und seine Stütze in allen schwierigen Fällen, schließlich sein Vertreter, der all die Geschäfte leitete, zu denen Seine Excellenz den Namen hergab. Ein Zufall enthüllte dem Fürsten die Art dieser Geschäftsführung; er wurde aufmerksam auf den jungen Grafen, er berief ihn zurück, um ihm in der Residenz eine für seine Jahre bedeutende Stellung zu übertragen, und es dauerte nicht lange, so hatte Hermann auch hier allen Einfluß und alle Autorität an sich gerissen. Sein scharfer Blick, der jede Sache bis auf den Grund durchschaute, die rücksichtslose Energie, mit der er überall vorging, und die fast unglaubliche Thätigkeit, die er entwickelte, verschafften ihm Erfolg auf Erfolg. Er stieg von Stufe zu Stufe und stand jetzt im Alter von kaum zweiunddreißig Jahren bereits auf einem der ersten Posten des Landes, an der Spitze der Verwaltung und an der Schwelle des Ministeriums, das sich beim nächsten Umschwunge der Politik ihm öffnen mußte. Allerdings thaten das alte Grafengeschlecht, dem er entstammte, sein Reichthum und die persönliche Gunst des Fürsten das Ihrige zu dieser schwindelhaft schnellen Carrière; aber sie dienten im Grunde nur dazu, ihm den Weg zu ebnen und Hindernisse wegzuräumen, die ein Bürgerlicher erst hätte bekämpfen müssen. Hunderte mit dem gleichen Range und Vermögen blieben am Fuße oder in der Mitte jener Leiter stehen, deren oberste Stufe er jetzt schon erklomm – in Wahrheit verdankte er jene Erfolge doch nur sich selber.

Auf dem Gute der verwittweten Präsidentin von Sternfeld hatte man Vorbereitungen zum Empfange verschiedener Gäste getroffen. Der älteste Sohn, Baron von Sternfeld, befand sich mit seiner Gemahlin und seinen beiden kleinen Töchtern bereits seit einer Woche dort, Graf[WS 2] Arnau war heute Morgen aus der Residenz eingetroffen, und Herr und Frau von Reinert wurden am nächsten Tage erwartet.

Im Gartensaal des alten Herrenhauses, an der geöffneten Glasthür, die auf die breite steinerne Terrasse hinausführte, saß Hermann an der Seite seiner Großmutter. Das Aeußere der nunmehr siebenzigjährigen Frau zeigte noch immer die ungebrochene geistige und körperliche Kräftigkeit, mit der sie nach wie vor den Mittelpunkt der Familie bildete und die alle Autorität darüber ausübte. Die kraftvolle Gestalt schien sich nur widerwillig dem Alter zu beugen; das Haar war schneeweiß, das Gesicht voller Runzeln und Falten, aber es war eben ein Gesicht, dem das Alter nicht viel anhaben konnte. Es hätte weder den vorherrschenden Ausdruck von Energie verwischen, noch das scharfe, klare Auge trüben können, und wenn auch der Rücken sich etwas unter der Last der Jahre neigte; der Kopf ward noch ebenso aufrecht getragen wie früher.

Graf Arnau hatte sich im Laufe der Zeit kaum verändert; sie schien spurlos an diesen festen, kalten Zügen vorübergegangen zu sein. Der Blick war vielleicht noch schärfer, die eigenthümliche Linie um den Mund noch herber geworden, und die Haltung zeigte bei aller Einfachheit ein größeres Selbstbewußtsein; aber auffallender als je trat jetzt die Aehnlichkeit mit seiner Großmutter hervor, deren Gesicht sich fast Zug für Zug in dem seinigen wiederholte, wie sein Charakter Zug um Zug dem ihrigen glich.

Man hatte lange von der Residenz, von der jetzigen Stellung Hermann’s, von seinen Aussichten für die nächste Zukunft gesprochen und sich dabei immer mehr in ein politisches Gespräch vertieft; jetzt fragte der Graf endlich, auf ein anderes Thema übergehend: „Morgen treffen also Eugen und Antonie ein?“

„Deinem bestimmt ausgesprochenen Wunsche nach – ja. Ich bringe Dir ein großes Opfer damit, Hermann! Ich, das weißt Du, werde Antonien diese Mesalliance nie verzeihen, und wenn ich mich dessenungeachtet überwand, sie und den Herrn Maler Reinert einzuladen, so geschieht es einzig und allein um Deinetwillen.“

„Ich danke Dir, liebe Großmutter; ich weiß, was es Dich kostet; aber diese Anerkennung der Heirath Deinerseits war mit der Zeit doch nothwendig geworden. Im Uebrigen ist ja der äußeren Form Genüge geschehen, und Du begehst keinen gesellschaftlichen Verstoß mehr, wenn Du Herrn und Frau von Reinert als Verwandte empfängst.“

Die Präsidentin zuckte die Achseln. „Die Verleihung des Adels war eine Nothwendigkeit, nachdem Antonie einmal jenen wahnsinnigen Schritt gethan hatte. Sie ist und bleibt trotz alledem eine Gräfin Arnau und kann als solche nicht einfach bürgerlich Frau Reinert heißen, wenn sie hierher zurückkehrt. Aber eine Rücksicht, zu der man der Welt gegenüber gezwungen war, um den Familienscandal zu verdecken, hat auf mein Urtheil keinen Einfluß. Mir bleibt Herr Reinert nach wie vor bürgerlich.“

Hermann sah vor sich nieder und eine leichte Falte legte sich zwischen seine Augen. „Ich hoffte, Eugen würde sich einen Künstlernamen erringen, der diese Adelskomödie überflüssig machte; leider ist es nicht geschehen.“

„Wie?“ Die Stimme der Präsidentin nahm unwillkürlich einige Schärfe an. „Willst Du damit sagen, daß der Ruhm eines Malers die angeerbte Grafenkrone aufwiegen kann?“

„Aufwiegen – nein! aber in gewisser Hinsicht ersetzen, zumal bei einer so romantischen Natur, wie die Toni’s ist.“

Das Gesicht der Präsidentin zeigte, wie wenig sie mit dieser Antwort zufrieden war. „Du hast von jeher eine Schwäche für diesen Reinert gehabt,“ sagte sie mit unwilligem Kopfschütteln.

„Er war mir einst sehr lieb!“

„Er war es?“

„Ja. Es hat sich so Manches erkältend und entfremdend zwischen uns gedrängt. Ich setzte die größten Hoffnungen auf sein Talent, auf seine Zukunft – er hat nicht eine davon erfüllt.“

Die Präsidentin richtete sich in ihrem Lehnstuhle empor und fixirte ihren Enkel scharf. „Ich gestehe Dir offen, Hermann, daß ich früher ernstliche Besorgnisse wegen dieses Umgangs hegte. Du hieltest sonst streng an den aristokratischen Traditionen Deiner Familie; aber dieser Reinert war Dir immer und überall eine Ausnahme. Unter meinen Augen hätte es Toni allerdings nicht gewagt, ihre Freiheit in solcher Weise zu mißbrauchen. Ich war leider abwesend, aber Du warst ihr nahe. Du mußtest an meiner Stelle eintreten und die Ehre der Familie wahren. Statt dessen begünstigtest Du ganz offen jene Verbindung, führtest sie in Rom zusammen, nahmst sogar mir gegenüber ihre Partei. Ich fürchtete damals im vollen Ernste für Deine Grundsätze.“

Der Graf lächelte, es war sein altes sarkastisches Lächeln; das nicht eine Spur von Heiterkeit in sich schloß. „Das war eine grundlose Furcht; Du, Großmutter, hättest mich doch besser kennen müssen. Ich bin eben aus einem anderen Stoff gemacht; und was ich bei [776] Eugen und Toni gut hieß, würde ich mir selber nie verziehen haben. Ich schließe keine Mesalliance, darauf kannst Du Dich verlassen.“

„Ich weiß es,“ sagte die Präsidentin mit ruhiger Zuversicht. „Du hast zum Glück keine Spur jener unseligen Romantik in Dir, die aller Vernunft Hohn spricht.“

„Nein! – Und überdies – Du weißt, ich habe alle Ursache, meinen Namen rein zu halten.“

Seine Stimme sank bei den letzten Worten und seine Stirn furchte sich tief und schwer, während sein Auge den Boden suchte. Auch die Großmutter war ernst geworden, aber es lag etwas wie Unwillen in diesem Ernst. „Immer noch der alte Kampf? Hast Du denn jene Erinnerung noch nicht überwunden?“

„Ich beneide Dich, daß Du es vermagst. Vergessen kann ich es wohl auf Stunden, auf Tage und Wochen sogar, überwinden – nie!“

Die Präsidentin schüttelte den Kopf. „Du quälst Dich mit selbstgeschaffenen Schrecken! Wir beide allein teilen das Geheimniß und bei uns ist es sicher genug verwahrt. Die Welt kann und wird nie auch nur einen Hauch davon erfahren.“

Der Graf hob langsam den Blick empor, sein Antlitz war finster wie die Nacht. „Die Welt! Aber ich weiß es, daß ich entehrt bin! Ich kenne die Schande, den Fluch, der auf meinem Namen, meinem Reichthum ruht, und das ist der dunkle Punkt in meinem Leben, über den ich nie, niemals hinwegkomme. Was ich auch erstreben, was erreichen mag, immer und immer drängt sich diese Erinnerung dazwischen. – Ich kann sie nicht loswerden!“

Die Großmutter legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm. „Laß das ruhen, Hermann! Ich erkenne Dich kaum wieder, sobald dieser unglückselige Gegenstand berührt wird. Du, so stark, so energisch in allen anderen Dingen, bist in diesem Einen schwach wie ein Kind. Der Knabe zeigte einst mehr Muth, er verschwieg sein Geheimniß der Mutter, die daran gestorben wäre, und offenbarte es nur da, wo es ertragen werden konnte. Er schwieg Jahre hindurch, wie vielleicht kein Kind es gethan hätte, und machte mir so mein Hüteramt leicht. Soll der Mann jetzt zagen und sich die Verantwortung aufbürden für Etwas, das er nicht verschuldete?“

Hermann gab keine Antwort, er starrte düster vor sich hin.

„Wenn wir nur wenigstens eine Spur von der Frau und dem Kinde aufgefunden hätten! Deine Nachforschungen blieben damals fruchtlos, ich habe sie mit erneutem Eifer wieder aufgenommen, mir stehen jetzt alle Quellen zu Gebote, aber umsonst, sie sind wie von der Erde verschwunden.“

„Sie werden das Land verlassen haben.“

„Und sind vielleicht im Elend umgekommen, während ich –“ Er sprang plötzlich auf, trat an die Thür und lehnte die Stirn gegen die Scheiben, der sonst so ruhige Mann war in einer furchtbaren Erregung. Die Präsidentin schwieg, sie kannte diese Stimmung; wie groß ihr Einfluß auf den Enkel auch sein mochte, das war ein Punkt, an den sie nicht rühren durfte, auf den sich ihre Macht nicht erstreckte, sie wußte, daß man ihn jetzt gewähren lassen mußte, sollte es nicht noch schlimmer werden.

Ein minutenlanges Schweigen folgte, endlich wendete sich Hermann um. Seine Züge waren wieder kalt und ruhig wie zuvor, nur auf der Stirn lag eine schwere Wolke. „Verzeih’ mir, Großmutter, daß ich auch Dich damit quäle. Du hast Recht, es ist besser, wir lassen das ruhen! Wovon sprachen wir denn vorhin?“

Er nahm wieder an ihrer Seite Platz und sie ergriff sofort die Gelegenheit, auf ein anderes Thema überzugehen.

„Ich wollte längst schon eine Frage an Dich thun, Hermann. Hast Du noch nicht daran gedacht, daß es für Dich, als Majoratsherrn und einzigen männlichen Sproß des Hauses Arnau, bald nothwendig werden dürfte, zu einer Vermählung zu schreiten?“

Der Graf stützte den Kopf in die Hand. „Allerdings habe ich daran gedacht,“ entgegnete er gleichgültig, „zumal ich jetzt auch die Nothwendigkeit einsehe, in der Residenz ein Haus zu machen und in der Gesellschaft einen Mittelpunkt zu bilden.“

„Hast Du schon gewählt?“

„Nein. Ich habe, wie Du weißt, wenig Neigung für die Frauen und ich halte von meinem Standpunkte aus eine Convenienzheirath für die beste. Ich werde nicht viel Zeit für meine Frau übrig haben, und suche in ihr ja überhaupt nur eine Repräsentantin des Hauses.“

Die Großmutter neigte beistimmend das Haupt. „Und welche Ansprüche machst Du bei der Wahl Deiner zukünftigen Gemahlin?“

„Viel und wenig, wie man es nimmt. Vor allen Dingen muß sie aus altem edlem Hause sein; vermögend, denn ich habe gefunden, daß die armen Fräulein, wenn sie plötzlich in den Schooß des Reichthums versetzt werden, sich zu allen möglichen Extravaganzen fortreißen lassen, und nicht auffallend schön, weil ich keine Lust habe, mich zum Hüter meiner Frau zu machen – das Uebrige findet sich wohl von selbst.“

Der junge Graf setzte diese Bedingungen seiner künftigen Ehe mit einer so vollkommenen Gleichgültigkeit auseinander, als ob es sich etwa um den Ankauf eines Gutes handelte, aber diese Art, die Sache aufzufassen, hatte augenscheinlich den ganzen Beifall der Präsidentin.

„Ich bin durchaus Deiner Meinung,“ entgegnete sie, „und es freut mich sehr, daß Du diese Angelegenheit mit einer solchen Klarheit behandelst. – Was wünschen Sie, meine Liebe?“ unterbrach sie sich jetzt, gegen die Thüre gewendet.

„Die Kinder wünschten der Frau Präsidentin vor dem Spaziergange Lebewohl zu sagen.“

Graf Hermann fuhr vom Stuhle empor beim Klange dieser Stimme und blickte mit dem Ausdruck grenzenlosen Erstaunens die Dame an, welche, zwei kleine Mädchen von sechs und acht Jahren an der Hand führend, soeben eingetreten war. Es war Gertrud, die ehemalige Braut Reinert’s. Die Präsidentin bemerkte sein Erstaunen.

„Ah so! Mademoiselle Walter – der Herr Graf Arnau.“

Sie beugte sich zu ihren Enkelinnen nieder und reichte ihnen die Wange zum Kusse hin.

Hermann’s Verneigung ward mit der vollendetsten Fremdheit und Gemessenheit erwidert. Auch nicht die leiseste Bewegung in dem Gesichte Gertrud’s verrieth ein Wiedererkennen, sie nahm die Hände der Kinder wieder in die ihrigen, und schickte sich an, den Gartensaal zu verlassen.

„Dehnen Sie den Spaziergang heute nicht zu weit aus, Mademoiselle, es ist zu heiß für die Kleinen.“

„Ich werde sie nicht anstrengen, wir bleiben diesmal im Umkreise des Parks.“

Eine zweite, ebenso förmliche Verneigung und sie schritt mit den Kindern über die Terrasse in den Park hinunter. Die Präsidentin wandte sich wieder zu ihrem Enkel.

„Wir sprachen also – aber weshalb setzest Du Dich nicht, Hermann?“

Er stand noch immer, die Hand auf den Lehnsessel gestützt, und das Auge unverwandt auf die Allee gerichtet, in der die Drei verschwanden; der Aufforderung mechanisch gehorchend nahm er wieder Platz.

„Wir sprachen also von Deiner künftigen Gemahlin. Ich meine, Dir steht die Wahl frei; Graf Hermann Arnau mag noch so hoch anklopfen, er wird schwerlich ein Nein erhalten.“

„Wer ist diese Mademoiselle Walter?“ fragte Hermann statt aller Antwort, ohne den Blick von der Allee abzuwenden.

Die Großmutter sah ihn etwas befremdet an, die Frage schien ihr sehr wenig in dies wichtige Gespräch zu passen.

[793] „Es ist die neue Erzieherin von Curt’s Töchtern,“ warf die Präsidentin kalt hin. „Sie soll ziemlich unterrichtet und brauchbar sein, und die Kinder haben sich in der kurzen Zeit mit wahrer Leidenschaft an sie geschlossen. Ich hege eine gewisse Antipathie gegen sie, denn ich fürchte, daß sich unter dieser immer gleichen Ruhe und Höflichkeit etwas wie Hochmuth verbirgt, was bei einer Person in so untergeordneter Stellung doch keinesfalls zu dulden wäre.“

Hermann schwieg, er hatte Proben davon, daß der Scharfblick der Präsidentin sie auch diesmal nicht täuschte.

„Um also wieder auf unser Gespräch zurückzukommen –“

Der Graf erhob sich plötzlich. „Verzeih’, Großmutter, wenn ich Dich bitte, es für heute abzubrechen. Die Nachtreise hat mich doch etwas ermüdet, ich fühle dringend das Bedürfniß nach Ruhe. Du erlaubst, daß ich jetzt, nachdem ich Dich gesehen und gesprochen, mein Zimmer aufsuche.“

Er küßte die dargereichte Hand und verließ das Gemach. Die Präsidentin lehnte sich in ihren Armstuhl zurück, um noch einmal all’ die Pläne und Hoffnungen zu überdenken, die sie an die Vermählung dieses Enkels knüpfte, den sie von jeher am meisten geliebt, und der all’ ihren Erwartungen so glänzend entsprochen hatte. Einige Verwunderung würde es ihr aber doch erregt haben, hätte sie gesehen, wie Graf Hermann, obwohl er so dringend das Bedürfniß nach Ruhe empfand, doch nicht daran dachte, sein Zimmer aufzusuchen, sondern sofort von einer anderen Seite in den Park ging und denselben, trotz der beginnenden Mittagshitze, nach allen Richtungen hin durchstreifte. –

Auf einem der großen Rasenplätze unter dem Schatten eines mächtigen Ahornbaumes saß Gertrud mit ihren beiden Zöglingen und erzählte den Kindern ein Märchen. Das älteste der kleinen Mädchen hatte sich dicht an die Erzieherin geschmiegt und blickte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit in ihr Gesicht, als wollte es jedes Wort von ihren Lippen ablesen; das jüngste, auf dem Rasen knieend und beide Aermchen auf Gertrud’s Schooß gelegt, lauschte ebenso athemlos. Es war eine reizende Gruppe; aber das war auch nicht mehr die kalte, ernste Gouvernante, die sich vorhin so förmlich verneigt und so abgemessen geantwortet hatte. Warm wie das goldene Sonnenlicht, das durch das Laubdach des Baumes hindurch auf ihr Antlitz fiel, war jetzt der Ausdruck desselben und es lag etwas unendlich Weiches und Liebliches in ihrer Haltung und ihrem Tone, als sie so zu den Kindern herabgebeugt ihnen mit halblauter Stimme von den Feen und Elfen erzählte, etwas, das freilich weder die Präsidentin, noch die Baronin von Sternfeld jemals zu sehen bekamen.

Aber Graf Arnau sah es, der unbemerkt hinter einem Bosquet stand und sie von dort aus beobachtete. Ja, diese Züge hatten in der That gehalten, was sie vor sieben Jahren versprochen. Aus dem zarten, blassen und kindlichen Wesen war jetzt eine vollendete Schönheit geworden, und Hermann konnte sich beim Anblick dieser hohen, prachtvollen Gestalt, dieses classisch reinen Profils und dieser reichen goldblonden Flechten des Gedankens nicht erwehren, daß es im Grunde doch sehr unvernünftig von seiner Tante sei, eine solche Erscheinung in’s Haus zu nehmen, neben der sie und jede andere Frau nothwendig verschwinden mußte.

Es blieb ihm aber nicht viel Zeit zu seinen Beobachtungen, denn eins der Kinder bemerkte ihn plötzlich und zeigte nach der Richtung, wo er stand. Gertrud erhob sich sofort und machte sich von den beiden Kleinen los. Es ging wie ein Eishauch über ihr Antlitz, unter dem all das Leben und all die Wärme, die soeben dort gestrahlt, zu erstarren schienen; kalt, ernst und völlig bewegungslos erwartete sie die Annäherung des Grafen.

Er stand ihr jetzt gegenüber und blickte sie an. Das waren noch die räthselhaften dunkelblauen Augen, die ihm von damals her noch so deutlich in der Erinnerung standen, und auch der alte Schatten lag noch darin, nur schwerer, tiefer war er geworden. Es zuckte etwas auf in diesen Augen unter seinem forschenden Blicke; war es der alte, ihm unerklärliche Haß, war es noch eine andere Empfindung – Hermann, der sonst Alles so klar durchschaute, wußte es nicht zu deuten; er fühlte nur, daß diese Regung ihm feindselig, und daß das seltsame Mädchen ihm gegenüber sich gleich geblieben war.

„Ich weiß nicht, mein Fräulein,“ begann er, „ob Sie mir gestatten wollen, eine frühere Bekanntschaft zu erneuern. Ich hoffe es kaum nach der Art, wie Sie meine Begrüßung erwiderten.“

„Sie würden mich verbinden, Herr Graf, wenn Sie diese Bekanntschaft vergessen wollten.“

Auf eine so unverhüllte Abweisung war Hermann doch nicht gefaßt gewesen, sie reizte ihn unwillkürlich, und hatte er vorhin geschwankt, ob er sich überhaupt ihr nahen sollte, so bekam er jetzt Lust, das Gespräch trotz alledem fortzusetzen.

„Wie Sie befehlen; doch bevor wir einander völlig ignoriren, erlauben Sie mir, Ihnen Kenntniß von einer Sache zu geben, die [794] Sie schwerlich wissen und die unvorbereitet zu erfahren Ihnen peinlich sein dürfte. Herr und Frau von Reinert werden morgen hier erwartet.“

„Ich weiß es!“

„Sie wissen es, und –?“ Die Augen Hermann’s vollendeten die Frage, die sein Mund nicht aussprach – „und Sie bleiben?“

Gertrud’s Antlitz war um einen Schein bleicher geworden, aber es blieb unbeweglich. „Sie vergessen, Herr Graf, daß ich mich in einer abhängigen Stellung befinde. Ich bat die Frau Baronin bereits um einen Urlaub von einigen Wochen; sie glaubte aber, daß die Kinder meiner Aufsicht bedürften, und schlug meine Bitte ab. Ich werde also bleiben.“

„Wenn Sie meine Verwendung annehmen wollen,“ sagte Hermann rasch, „ich gehe sofort zu meiner Tante und bürge Ihnen für die Bewilligung Ihres Wunsches.“

„Ich danke, Herr Graf. Ich wünsche Ihre Einmischung am wenigsten,“

Das wär deutlich genug; Hermann biß sich auf die Lippen und trat zurück. „Es scheint, mein Fräulein, daß Sie einen entschiedenen Widerwillen gegen meine Persönlichkeit hegen; Sie beleidigten mich schon einmal, ebenso absichtlich. Ich bedaure, Ihnen durch meine Annäherung Anlaß dazu gegeben zu haben. Beruhigen Sie sich, es wird in Zukunft nicht mehr geschehen.“

Gertrud’s Lippen bebten, aber sie gab keine Antwort; der Graf grüßte kurz und ging.

„Nun, das übersteigt doch wirklich alle Begriffe. Solch ein Air vermag sich meine Großmutter, vermag sich Toni nicht zu geben, und keine von Beiden hätte gewagt, mir das zu bieten. ‚Ich wünsche Ihre Einmischung am wenigstens.‘ Sie geruhte, wie es scheint, mich in Ungnaden zu entlassen, und ich –“

Der ruhige besonnene Graf Arnau vergaß sich so weit, daß er mit dem Fuße stampfte. Was ihn, ohne daß er es sich gestehen wollte, am meisten ärgerte, war, daß die Art, in der Gertrud ihn verabschiedet, so auf ein Haar der seinigen bei ähnlichen Gelegenheiten glich. Das war genau der kalte, stolze und abweisende Ton, den er sich ohne Rücksicht der Person erlaubte, wenn Jemand ihm gegenüber nicht in den gehörigen Schranken blieb. Es geschah ihm freilich zum ersten Male, daß dieser Ton gegen ihn angewendet ward, und wer wagte das? Eine „Mademoiselle Walter“, die Gouvernante seiner kleinen Basen! Ja, die Großmutter hatte Recht, es war ein unerträglicher Hochmuth, der sich in diesem Mädchen verbarg, und er empfand denselben um so tiefer, als er in seiner jetzigen Stellung und Bedeutung durch allseitiges Entgegenkommen, zumal von den Frauen, im höchsten Grade verwöhnt war. Er hatte stets ziemlich verächtlich auf alle die Bestrebungen, ihm zu gefallen, herabgesehen, und hier begegnete er auf einmal dem ganz offenen Bestreben, ihm zu mißfallen, ja ihn geradezu zu verletzen. Graf Hermann hatte schon einmal vergebens nach einem Grunde für diese seltsame Feindschaft gesucht und damals so wenig die Lösung gefunden wie jetzt; das ganze Wesen Gertrud’s war und blieb ihm räthselhaft und vollends ihr Hiersein. Weshalb ging sie nicht ohne Erlaubniß und gab lieber ihre Stellung preis, ehe sie sich einer solchen Demüthigung wie der Begegnung mit Eugen aussetzte? Ließ ihr Stolz die Flucht vor dem einstigen Verlobten nicht zu? Oder liebte sie ihn noch und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn noch einmal zu sehen? Der letzte Gedanke schien dem Grafen sehr überraschend zu kommen, denn er blieb plötzlich stehen und runzelte die Stirn. „Nun, das werde ich denn doch zu erfahren wissen! Morgen müssen sie jedenfalls zusammentreffen; ich will doch sehen, ob dies trotzige, siebenfach verschlossene Geheimniß sich dann nicht endlich verrathen wird!“ –

Es war am Nachmittag des nächsten Tages. Herr und Frau von Reinert waren etwas früher, als man erwartete, eingetroffen und von Hermann empfangen worden, der seine Großmutter in ihrer gewohnten Mittagsruhe nicht stören lassen wollte. Antonie hatte sich deshalb nach der ersten Begrüßung auf ihr Zimmer zurückgezogen um die Reisekleider abzulegen, und ihr Gemahl befand sich mit dem Grafen Arnau in einem kleinen, neben dem Gartensaal liegenden Cabinet.

Die beiden Freunde hatten sich seit fünf Jahren, seit der Vermählung Eugen’s nicht wieder gesehen, und diese fünf Jahre waren an ihm nicht so spurlos vorübergegangen wie an Hermann. Er konnte noch immer für einen schönen, interessanten Mann gelten; aber der Ausdruck des Gesichtes, die Stimme, die ganze Haltung war eine andere geworden. Ermüdung, Uebersättigung und Langeweile sprachen nur zu deutlich daraus. Die einst so lebensprühenden Züge erschienen schlaff, das einst so schwärmerisch leuchtende Auge matt, durch das ganze Wesen des kaum dreißigjährigen Mannes ging ein halb bitterer, halb schmerzlicher Zug der tiefsten innersten Unbefriedigung, der sich auch in seinem Tone verrieth, als er nach den ersten gleichgültigen Fragen und Erkundigungen sagte: „Von Dir habe ich trotz Deiner lakonischen Briefe auch in der Ferne genug vernommen. Du bist ja inzwischen eine Berühmtheit geworden und wirst, wie man sagt, nächstens als Stern erster Größe in unserem Staate glänzen!“

„Sagt man das? Von mir ist allerdings nie eine Berühmtheit erwartet oder vorausgesetzt worden.“

Eugen verstand den Vorwurf. „Aber bei mir, meinst Du? Ja, ich versprach Dir damals, ein größeres Werk zu beginnen. Es sind auch Pläne und Skizzen genug entworfen; aber – unser Leben ist ein so zerstreuendes, wechselndes – mir fehlte bisher immer noch die nöthige Ruhe und Stimmung zur Ausführung.“

„Und die nöthige Lust.“

„Meinetwegen – auch die Lust. Die ideale Jugendschwärmerei, mit der man das Alles umfaßt, nimmt doch schließlich ein Ende. Es ist im Grunde nicht so viel an der Kunst, an dem Glücke, an dem ganzen Leben überhaupt!“

Er lehnte sich mit dem Ausdrucke grenzenloser Ermüdung in seinen Sitz zurück; Hermann gab keine Antwort; aber Eugen fühlte wohl, was in dem ernsten forschenden Blicke lag, mit dem er ihn betrachtete.

„Du findest meine Aeußerung seltsam?“

„In Deinem Munde, ja. Jemand, dem das Leben nur Enttäuschungen gab, mag so sprechen; Du, den es mit all seinen Gütern überschüttete, hast kein Recht dazu.“

„Und wenn ich finde, daß diese gerühmten Güter, dies geträumte Glück Illusionen sind, so bleibt sich die Enttäuschung am Ende gleich.“

Hermann stand auf und machte einen Gang durch das Zimmer. „Ich hoffte, daß wenigstens Deine Ehe mit Antonie eine glückliche sei,“ sagte er nach einer Pause.

Eugen schwieg.

„Ihr seid also nicht glücklich!“

Reinert machte eine ungeduldige Bewegung. „Ich weiß nicht! Sie quält mich oft ganz entsetzlich mit ihren Launen, ihrer Eifersucht und dann – ich muß es oft genug hören, was ich ihr alles verdanke, was sie um meinetwillen geopfert hat.“

Ein Ausdruck unendlicher Verachtung kräuselte die Lippen Hermann’s. „Ah, so weit seid Ihr also schon miteinander gekommen! Sie wirft es Dir vor und Du erträgst das?“

„Habe ich eine Waffe dagegen?“

„Es lag in Deiner Hand, Dich unabhängig zu machen. Ich glaubte, gerade der Rang und Reichthum Deines Weibes würden Dir ein Sporn sein, Dich durch eigene Kraft auf eine gleiche Höhe zu schwingen.“

Eugen ließ einen Seufzer der Resignation hören. „Mein Gott, Hermann, Du setzest bei mir immer Deine eigene Eisennatur voraus, die nie des Ausruhens, der Erholung bedarf, die ruhelos immer vorwärts drängt und im Sturme Alles erringt und erreicht. Ich bin nun einmal anders geartet.“

„Ich weiß es!“ sagte Hermann mit ruhiger Bitterkeit, „und glaube mir, Eugen, ich habe oft genug bereut, Deinem Leben diese Richtung gegeben zu haben. Du solltest frei werden von den Sorgen und Beschränkungen des Alltagslebens, solltest die Bahn Deiner Zukunft offen finden, deshalb begünstigte ich Deine Heirath. Du hast Recht, es war ein verhängnißvoller Irrthum, Dich nach mir zu beurtheilen. Du bist eine von den Naturen, die unaufhörlich gespornt und getrieben werden müssen; mit der Nothwendigkeit zu arbeiten entzog ich Deinem Talente auch die Nahrung; hätte ich Dich in jenen Verhältnissen gelassen, wo Du ringen und schaffen mußtest, um zu leben – es wäre besser gewesen!“

„Du sprichst,“ sagte Eugen empfindlich, „als hätte ich während der ganzen Zeit unserer Trennung gar Nichts geschaffen, und doch werden meine Portraits geschätzt und bewundert –“

„Weil Du der Mann Deiner Frau bist. Seit jenem großen Bilde Antoniens, in dem Du Deine Genialität erschöpft zu haben [795] scheinst, hat keines Deiner Werke die Grenze der Mittelmäßigkeit überschritten.“

Eugen biß sich auf die Lippen. „Du bist in der That sehr – aufrichtig.“

„Und Du hast es verlernt, die Wahrheit zu hören. Ich kann damit nicht zurückhalten.“

Reinert erhob sich verletzt, seine Eitelkeit ertrug einen Vorwurf nicht, dessen Gerechtigkeit er gleichwohl empfand; er war im Begriff, eine heftige Antwort zu geben, aber Hermann wendete sich plötzlich von ihm ab, und blickte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit nach der Thür, die sich in diesem Augenblick öffnete. Ein triumphirendes Lächeln zuckte um seinen Mund, er hatte Eugen nicht umsonst gerade in dies Cabinet geführt, er wußte sehr wohl, wer es durchschreiten mußte, um die Kinder, die sich um diese Zeit bei ihrer Mutter befanden, zur Unterrichtsstunde zu holen – dies erste Wiedersehen sollte und mußte beobachtet werden.

Auch Eugen hatte den Kopf gewandt, aber auf einmal fuhr er zurück und todtenbleich, die Arme wie gegen eine Erscheinung abwehrend ausgestreckt, stieß er einen Schrei des Schreckens aus.

„Gertrud!“

Es war in der That Gertrud, die auf der Schwelle stand. Sie wußte freilich, welche Begegnung ihrer heut noch wartete, aber dies Zusammentreffen jetzt und hier fand sie doch unvorbereitet. Auch sie erbleichte und machte eine Bewegung wie zur Flucht, als ihr Auge dem Hermann’s begegnete, das mit einem Ausdruck auf ihrem Gesicht ruhte, als wolle er durch dasselbe hindurch ihr tief bis in’s innerste Herz hineinsehen. Der Fuß des Mädchens schien plötzlich am Boden zu wurzeln, sie richtete sich hoch auf und gab ihm fest und stolz den Blick zurück. Es lag etwas in dieser Bewegung, das edler war als Trotz und mächtiger als Haß; er sah es, wie eine tiefe dunkle Röthe langsam in ihrem Antlitz aufstieg, während sie sein unverwandtes Anschauen aushielt, aber die Wimpern senkten sich nicht. So standen sie einige Secunden lang, Auge in Auge, dann wendete der Graf sich plötzlich ab, Gertrud schloß die Thür hinter sich, ging festen Schrittes, mit völlig fremdem Gruße, an den beiden Herren vorüber und verschwand in dem anstoßenden Gemache.

Hermann ballte in verhaltenem Ingrimm die Hand. „Unbeugsam! Ich wußte es! Dies Mädchen ist nicht zu demüthigen; zwang sie nicht beinahe mich, das Auge vor ihr niederzuschlagen?“

Eugen, der während der ganzen Scene wie angewurzelt dagestanden hatte, kam erst jetzt wieder zur Besinnung.

„Hermann, was bedeutet das? – War das meine – war das Gertrud Walter? – Wußtest Du davon? – Um Gotteswillen, sprich – sprich!“

Der Graf lehnte sich mit gekreuzten Armen an den Pfeiler, sein Gesicht trug jetzt völlig jenen abstoßenden Ausdruck, der ihm in Momenten der höchsten Gereiztheit eigen war, und in seinem Tone lag eine wahrhaft erschreckende Herbheit, als er erwiderte:

„Mademoiselle Walter befindet sich gegenwärtig als Erzieherin im Hause meines Oheims Sternfeld, und ist mit dessen Familie hierhergekommen. Ich begreife, daß dies Zusammentreffen Euch Beiden peinlich sein muß, aber Du siehst ja, daß sie Tact genug besitzt, Dich völlig zu ignoriren, und was Dich betrifft, so wirst Du sie leicht vermeiden können, da sie sich ausschließlich den Kindern widmen muß, und wenig oder niemals in der Gesellschaft erscheint.“

Eugen schien die letzten Worte nicht zu hören, sein Auge hing noch immer wie magnetisch gebannt an der wieder geschlossenen Thür. „Gertrud hier!“ wiederholte er noch immer fassungslos, „und ich muß sie jetzt, muß sie so wiedersehen! O, das ist nicht das Kind mehr das ich einst verließ! Wie schön, wie unendlich schön ist sie geworden!“

Mit einer heftigen Bewegung richtete sich Graf Hermann aus seiner nachlässigen Stellung empor. „Ich dächte, es wäre jetzt Zeit, daß wir uns zu Antonie begeben, sie muß längst mit ihrer Toilette fertig sein, und ich führe Euch dann sofort zu der Großmutter. Komm!“

„Nein, nein!“ rief Eugen leidenschaftlich, „jetzt nicht! Nach diesem Wiedersehen, in dieser furchtbaren Aufregung ertrage ich nicht die steife Förmlichkeit einer solchen Vorstellung. Ich kann jetzt nicht!“

„Mein lieber Eugen,“ die Stimme des Grafen klang wieder vollkommen ruhig, aber sie war von einer schneidenden Schärfe, „diese steife Förmlichkeit bedeutet die Anerkennung Deiner Heirath von Seiten der Familie Deiner Frau, und Du wirst dieser Familie die Rücksichten erweisen, die Du ihr schuldig bist. Habe die Güte, Deine Gefühlswogen zu beherrschen, und folge mir. Meine Großmutter, die Präsidentin von Sternfeld, ist nicht gewohnt zu warten.“

Und mit der ganzen gebietenden Autorität, die er einst über den jungen Maler ausgeübt, nahm er auch jetzt den Arm des Herrn von Reinert, und führte den Widerstrebenden mit sich fort.




Die vierzehn Tage, welche zum Aufenthalt der Gäste festgesetzt waren, nahten sich ihrem Ende. Man hatte sie in einem förmlichen Wirbel all’ der Vergnügungen und Zerstreuungen hingebracht, die das Landleben nur zu bieten vermag. Die Präsidentin, der ihr hohes Alter sonst Ruhe und Zurückgezogenheit zur Pflicht machte, konnte sich diesmal unmöglich all’ den Besuchen und Einladungen entziehen, die hauptsächlich ihrem Enkel galten. Graf Arnau war in der That bereits eine Berühmtheit geworden, man drängte sich aus der ganzen Nachbarschaft herbei, ihn zu sehen, ihn zu bewundern, und das Gerücht, er beabsichtige, sich in nicht allzuferner Zeit zu vermählen, trug noch mehr dazu bei, ihn zum Mittelpunkt von allseitigen Aufmerksamkeiten zu machen, die doch im Grunde sämmtlich in dem Bestreben wurzelten, diese in jeder Hinsicht glänzende Partie für irgend eine Tochter, Schwester oder Anverwandte zu acquiriren. Der Graf nahm das Alles in seiner kühlen, zurückhaltenden und sarkastischen Weise hin, ohne das mindeste Gewicht darauf zu legen.

Den geselligen Verpflichtungen unterzog er sich mit jener Resignation, mit der man eine peinliche, aber unabwendbare Nothwendigkeit erträgt, denn er fand in diesen unaufhörlichen Besuchen und Zerstreuungen den wirksamsten Ableiter für den Gährungsstoff, welcher trotz der sogenannten Versöhnung noch überreich im Schooße der Familie verborgen lag. Zwar war die Präsidentin, trotz ihrer aristokratischen Vorurtheile, eine feingebildete Frau und ließ es nicht an der Höflichkeit und Rücksicht fehlen, die sie den von ihr selber eingeladenen Gästen schuldete, aber sie verstand es nichtsdestoweniger, es ihrer Enkelin und deren Gatten fühlbar zu machen, daß sie nur geduldet seien und daß sie selbst diese Duldung nur dem Einflusse Hermann’s verdankten. Diese Erkenntniß diente natürlich nicht dazu, Beiden den Aufenthalt angenehm zu machen; Antonie zeigte sich bei jeder Gelegenheit empfindlich und verstimmt, Eugen fortwährend gereizt und erbittert, oft war es nur Hermann’s Dazwischentreten, das den stets drohenden Bruch verhinderte, und das Zusammenleben wäre ein sehr unerquickliches gewesen, wenn nicht die häufige Gegenwart Fremder allen Theilen einen heilsamen Zwang auferlegt hätte.

Es war am vorletzten Tage des Hierseins der Gäste, gegen Abend. Die Präsidentin hatte die Kinder zu sich holen lassen und Gertrud benutzte eine von den wenigen freien Stunden, die ihre Stellung ihr übrig ließ, um allein in den Park zu gehen. Sie hatte ihn während dieser beiden Wochen so viel als möglich gemieden, ihn wenigstens nur in Begleitung ihrer Zöglinge betreten, um einer etwaigen peinlichen Begegnung auszuweichen, aber heut’ Abend war sie sicher; sie wußte, daß Abschiedsbesuche in der Nachbarschaft gemacht wurden, und gab sich in dieser Gewißheit freier dem lang entbehrten Genusse eines einsamen Spazierganges hin.

Ein Buch in der Hand ging sie langsam zu ihrem Lieblingsplatze, der Bank unter dem großen Ahornbaum. Der Park schien um diese Zeit völlig einsam und verlassen; die Abendsonne lag goldig auf den Gebüschen und Rasenplätzen, von drüben her schimmerte das weiße Gefieder der Schwäne, die im Teich auf und nieder zogen, kein Laut unterbrach die tiefe Stille ringsum. Gertrud setzte sich nieder und stützte den Kopf in die Hand. So waren sie denn nun endlich zu Ende, diese so sehr gefürchteten vierzehn Tage des Beisammenlebens, und waren im Ganzen besser vergangen, als sie gehofft. Von keiner Seite hatte man ihrem sichtbaren Bestreben, sich zurückzuziehen, ein Hinderniß in den Weg gelegt. Die Präsidentin hegte ausgesprochenermaßen eine Antipathie gegen „Mademoiselle Walter“, und Antonie, obgleich sie von deren früheren Beziehungen zu ihrem Gemahl keine Ahnung hatte, liebte durchaus nicht die Gegenwart dieser Gouvernante, welche die Impertinenz besaß, so blendend schön zu sein, daß sie selbst vornehme Frauen durch ihr bloßes Erscheinen in den [796] Schatten stellte. Eugen schien nach der stürmischen Ueberraschung des ersten Augenblicks zur Besinnung zurückgekehrt zu sein, vielleicht fürchtete er auch die Eifersucht seiner Frau, jedenfalls wußte er sich jetzt besser zu beherrschen, als bei jenem plötzlichen Zusammentreffen, und wenn sie einander sahen, was meist nur bei Tische und immer nur in Gegenwart der Gesellschaft geschah, so war die Begegnung seinerseits ebenso fremd, als die ihrige. Und Graf Arnau? – Er hatte Wort gehalten und Gertrud keinen Anlaß gegeben, ihn noch einmal zu beleidigen. Es lag eine eiserne Consequenz in der Art, mit der er sie nach dem letzten Gespräch völlig zu ignoriren schien; nicht ein Wort, nicht ein Gruß ward ihr mehr zu Theil, auch nicht die leiseste, allergewöhnlichste Aufmerksamkeit, die man selbst Personen in so untergeordneter Stellung erweist. Für ihn schien die Erzieherin gar nicht mehr zu existiren und wenn er doch einmal mit einer kalten gezwungenen Verbeugung von ihr Notiz nehmen mußte, so geschah es mit sichtlichem Widerwillen. Freilich, das war es ja auch, was sie von Anfang an gewollt und erstrebt hatte, jetzt war es endlich erreicht, und das Alles, Alles nahm ja ohnedies ein Ende. Uebermorgen kehrte Baron Sternfeld mit Frau und Kindern auf seine Güter zurück, die Uebrigen gingen nach der Residenz, man trennte sich – hoffentlich auf Nimmerwiedersehen!

Gertrud wollte tief, tief aufathmen bei diesem Gedanken, aber es wollte nicht leichter werden auf der Brust, und die gefalteten Hände preßten sich wie im wildesten Schmerz noch fester in einander. Das Mädchen war um so vieles bleicher geworden in diesen beiden Wochen, und auch der alte Schatten lag nicht mehr in ihrem Auge, er war verwischt, tief in den Hintergrund gedrängt von einem andern Ausdruck. Es lag darin jetzt eine drängende Unruhe, eine qualvolle innere Angst, und die festgeschlossenen Lippen schienen gewaltsam ein Geheimniß festzuhalten, das sie nicht einmal sich selber aussprechen durfte. Sie nahm das Buch und versuchte zu lesen, es wollte nicht gehen, sie schlug es in der Mitte, am Ende auf, umsonst! Ihr Blick irrte über die Worte hin, ohne den Sinn zu fassen, die Gedanken ließen sich nicht bannen. Mit einer leidenschaftlichen Bewegung, die den ganzen mühsam verhaltenen Kampf ihres Innern verrieth, warf sie es endlich von sich und verbarg das Gesicht in beiden Händen.

„Gertrud!“

Die Gerufene fuhr mit dem Ausdruck des Schreckens empor. „Herr von Reinert! Sie hier?“

Es war in der That Eugen, der einige Schritte von ihr entfernt am Rande des Gebüsches stand. Auch er erschien bleich, aufgeregt, und seine Stimme bebte, als er mit niedergeschlagenen Augen leise fragte: „Darf ich – darf ich mich nahen?“

„Nein!“ war die feste, ernste Antwort.

Trotz des Verbotes wagte er es dennoch, einen Schritt näher zu treten. „Gertrud, sei nicht so unversöhnlich! Ich weiß es, daß Du mich hassest, daß ich Dich unglücklich gemacht habe –“

Mit einer Geberde unbeschreiblichen Stolzes hob Gertrud das Haupt empor, ihr Auge traf groß und voll das seinige und nicht die leiseste Spur von Erregung zitterte mehr in ihrer Stimme, wohl aber lag ein Hauch mitleidiger Verachtung darin, als sie ruhig entgegnete: „Sie sind im Irrthum, Herr von Reinert; ich hasse Sie nicht, und unglücklich bin ich durch Sie nicht geworden.“

„Nun wohl, so bin ich es jetzt!“ sagte Eugen dumpf. „Seit dem Augenblick, wo ich Dich verließ, habe ich kein Glück gekannt, immer und immer hat mich die Erinnerung verfolgt und jetzt, wo ich Dich wiedersehen mußte, jetzt treibt sie mich zur Verzweiflung!“

Er warf sich mit der alten Leidenschaftlichkeit auf den Platz nieder, wo sie vorhin gesessen, und preßte die Hand gegen die Stirn. Gertrud stand vor ihm; wer Zeuge des stummen, aber furchtbaren Kampfes gewesen wäre, der noch vor wenigen Minuten das ganze Wesen des Mädchens durchtobte, würde die Ruhe und Gelassenheit nicht begriffen haben, mit der sie jetzt auf den einstigen Verlobten niederblickte.

„Eugen!“ Er fuhr auf, sie machte eine ernst zurückweisende Bewegung. „Mißverstehe mich nicht, dies Du gilt dem Jugendgespielen, den ich nie anders genannt. Wenn es das ist, was Dich quält, der Gedanke an mein vermeintliches Unglück, an meine Verlassenheit, so sei ruhig, den Vorwurf kann ich von Dir nehmen. Wenn ich bei unserer Trennung gelitten habe, so war es nur mein Stolz, der sich wand, unter der Demüthigung, verlassen zu werden, das Herz hatte keinen Theil daran, denn ich, Eugen – ich habe Dich nie geliebt!“

„Gertrud!“

„Nie!“ wiederholte sie fest. „Du gabst mich frei, zu Deinem und meinem Heile; vielleicht hätte ich später vor Dich hintreten müssen mit dem Geständniß, daß ich Dein Weib nicht werden könne.“

„Unmöglich!“ rief Eugen aufspringend. „Wenn Du mich nicht liebtest, weshalb –“

„Weshalb ich Dir meine Hand zusagte, meinst Du?“ Ihr Auge sank zu Boden und ein sanfter trauriger Zug legte sich auf ihr Antlitz, während sie leise, aber mit einer Stimme, deren eigenthümlich schmerzlicher Laut ihm bis in’s Innerste drang, fortfuhr: „Ich war kaum der Kindheit entwachsen, ich hatte Nichts kennen gelernt, als das Krankenzimmer meiner Mutter, als Sorge, Kummer und – manches Andere, was noch schwerer zu tragen ist. Dem ersten Sonnenstrahl, der in solch’ eine Jugend fällt, wird selten der Eingang verwehrt. Du kamst damals aus der Residenz zurück, in allem Glanze Deines aufstrebenden Talentes, bewundert von der ganzen kleinen Stadt, Du lagst mir zu Füßen und schwurst mir Liebe, und ich – that, was jedes sechszehnjährige Mädchen thut, dessen Herz noch frei ist; ich träumte mich in eine Neigung hinein, die nur für den Gespielen bestand. Daß dies Gefühl nicht Liebe war, ahnte ich schon bei unserer Trennung, jetzt – jetzt weiß ich es!“

Die letzten Worte kamen fast unhörbar von ihren Lippen, aber es lag ein unendliches Wehgefühl darin. Eugen hätte sich bisher mit sichtbarer Anstrengung beherrscht, nun aber brach er in schmerzliche Bitterkeit aus. „Nein, Gertrud, das ist nicht wahr! das kann nicht sein, Du täuschest Dich und mich! Du willst einen Vorwurf von mir nehmen, und ahnst nicht, daß Du mich noch elender machst, wenn ich nicht mehr an Deine Liebe glauben darf. Wenn Du wüßtest, wie unglücklich ich bin in diesen goldenen Fesseln, in dieser Ehe mit einer Frau, die in mir nur das Spielzeug ihrer Laune sieht, das sie in einem Augenblick vergöttert, um es im andern auf die demüthigendste Weise an seine eigene Nichtigkeit zu erinnern, wenn Du wüßtest, wie tief ich den unseligen Wahn bereue, der mich einst –“

„Laß uns das Gespräch endigen, Eugen,“ unterbrach sie ihn ernst, „es geht über die Grenzen hinaus, die Dir und mir gezogen sind. Du hast die Wahrheit von mir gehört, ich vermag Nichts daran zu ändern, jetzt lebe wohl!“

Sie wollte ihm zum Abschiede die Hand reichen, aber er achtete nicht darauf, sondern fuhr in steigender Aufregung fort: „Zu spät habe ich eingesehen, was ich einst an Dir besessen, was ich in thörichtem Wahn aufgegeben, und was ich dafür eingetauscht. Längst ist jenem Rausche der Leidenschaft die Ernüchterung gefolgt, und jetzt, wo das Schicksal Dich mir wieder entgegenführt, jetzt flammt die alte Liebe mächtig empor und reißt mich auf’s Neue zu Deinen Füßen –“

Auf’s Tiefste empört trat Gertrud einen Schritt zurück. „Sie vergessen sich, Herr von Reinert, und beleidigen mich und Ihre Gattin gleich tief durch solche Worte. Verlassen Sie mich auf der Stelle, ich will Nichts weiter hören!“

Aber selbst diese energische gebietende Sprache, die sonst nicht leicht ihre Wirkung verfehlte, verhallte machtlos einer Leidenschaft gegenüber, die Eugen über alle Grenzen der Vernunft und Besinnung hinwegriß. Er stürzte auf die Kniee nieder und wiederholte das Geständniß, in jener glühenden schwärmerischen Sprache, mit der er einst um das sechszehnjährige Mädchen geworben, die ein Jahr später auch Antonie von seinen Lippen vernommen hatte. Gertrud erwiderte diesmal kein Wort darauf, mit einem Blick unverhohlener Verachtung wendete sie sich schweigend ab und wollte gehen, aber diese Bewegung brachte ihn auf’s Aeußerste. Außer sich, sprang er auf, erfaßte ihren Arm und riß sie mit Gewalt zurück.

Mit einem Schrei der Entrüstung wollte das Mädchen sich frei machen, aber es bedurfte dessen nicht mehr. In demselben Augenblick, wo Eugen es wagte, sie anzurühren, taumelte er, von einem kraftvollen Arme fortgeschleudert, zur Seite – Graf Arnau stand zwischen ihnen.

[813] Auch Gertrud war bei dem plötzlichen Erscheinen Hermann’s zurückgewichen, als sei dasselbe auch gegen sie gerichtet. Der wilden Leidenschaftlichkeit Reinert’s gegenüber hatte sie ihre Fassung behauptet, jetzt schien es auf einmal um diese geschehen, und es sah fast aus, als fürchte sie den Beschützer mehr, als vorhin den Beleidiger. Der Graf bemerkte dies Zurückweichen und ein Ausdruck tiefer Bitterkeit zuckte um seine Lippen, nichtsdestoweniger stellte er sich wie zum Schutze vor sie hin, kreuzte die Arme und erwartete ruhig das Weitere.

Eugen hatte sich inzwischen aufgerafft und trat jetzt bleich vor Wuth zu ihm heran. „Was soll das heißen, Hermann? Weshalb folgst Du mir heimlich und drängst Dich unaufgefordert in meine Angelegenheiten? Wer gab Dir ein Recht dazu?“

Der Graf blieb sehr gelassen bei diesen mit drohender Heftigkeit ausgestoßenen Worten, aber es lag eine eiskalte Verachtung in dem Blick, mit dem er ihn von Kopf bis zu Füßen maß. „Wagst Du es wirklich noch zu fragen, weshalb ich hier eintreten muß?“

„Du hast mich beleidigt!“ schrie Eugen in ausbrechender Wuth, „tödtlich beleidigt, und Du wirst mir entweder Abbitte leisten, oder mit den Waffen in der Hand Genugthuung dafür geben!“

Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, wendete sich Hermann zu Gertrud. „Mein Fräulein, Sie sehen, Herr von Reinert ist nicht genug Herr seiner selbst, um auf die Gegenwart einer Dame die nöthige Rücksicht zu nehmen. Darf ich Sie bitten, uns zu verlassen.“

Sie stand bleich mit gesenkten Wimpern vor ihm. Wohin war die stolze unnahbare Haltung des Mädchens gekommen? Das Auge, das noch vor Kurzem so fest und kampfbereit den Blick des seinigen ausgehalten, sank jetzt scheu zu Boden. Sie neigte in stummer Bejahung das Haupt und entfernte sich.

Mit einem langen, ernsten Blick sah der Graf ihr nach, dann fuhr er mit der Hand über die Stirn und wandte sich zurück. „Wir sind allein: was wolltest Du mir sagen?“

„Daß ich endlich müde bin, mich länger von Dir bevormunden, mich wie einen Schulbuben behandeln und ungestraft beleidigen zu lassen. Was zwischen mir und Gertrud vorgefallen ist, geht keinen Dritten an –“

„Wirklich?“ Die Stimme des Grafen war noch ruhig, aber es grollte bereits unglückverheißend darin. „Du könntest doch irren!“

„Gleichviel, was Du davon denkst. Du hast mich angegriffen, zu Boden geworfen, ich fordere Genugthuung für diese Beleidigung, hörst Du, Hermann, ich fordere sie von Dir!“

Der Graf zuckte die Achseln. „Ein Duell zwischen uns? Das wäre in der That mehr als lächerlich.“

„Ah, Du weigerst Dich!“

„Ja! Es hieße die Gastfreundschaft meiner Großmutter schlecht lohnen, wollten wir uns hier auf ihren Gütern todtschießen, Antonie steht mir zu nahe, und, daß ich’s Dir offen gestehe, Eugen, mein Leben und Wirken ist mir zu kostbar, als daß ich es so ohne Weiteres an eine Deiner tollen Launen setzen sollte. Ich schlage mich nicht.“

Eugen ballte in maßlosem Grimme die Faust. „Hermann, Du bist –“

„Keine Beleidigung!“ sagte der Graf gebietend, indem er die Hand hob. „Ich dächte, Du hättest oft genug Gelegenheit gehabt, meinen Muth zu erproben. Die heutige Scene ist der offene Bruch einer Freundschaft, die längst nur noch dem Namen nach bestand. Künftig gehen unsere Wege auseinander – laß es damit genug sein.“

Wenn Hermann in der That wünschte, das Aeußerste zu vermeiden, so hätte er nicht in diesem stolzen, verächtlichen Tone sprechen dürfen, der Eugen in einer Art reizte, die ihn des letzten Restes von Besinnung beraubte, und endlich zur Gewaltthätigkeit trieb. Er trat dicht an den Grafen heran und mit einer von Leidenschaft fast erstickten Stimme sagte er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch: „Ich frage Dich jetzt zum letzten Male, willst Du mir Genugthuung geben?“

„Nein!“

„Nun denn, so werde ich Dich zwingen!“ Er hob die Hand, und im nächsten Augenblick traf ein Schlag den Grafen.

Die Wirkung desselben war eine entsetzliche. Jeder Blutstropfen wich aus Hermann’s Gesicht, seine Fäuste ballten sich krampfhaft und einen Moment lang schien es, als wolle er sich auf den Beleidiger stürzen und ihn zu Boden werfen, aber die gewohnte Selbstbeherrschung siegte auch jetzt; er athmete tief auf und ließ den schon erhobenen Arm sinken.

„Es ist gut, Du sollst Deinen Willen haben! Auf morgen früh denn!“

Es lag Etwas in der eisernen Energie, mit der dieser Mann sich zur Ruhe zwang, was die maßlose Heftigkeit Eugen’s tief [814] beschämte, und auch nicht ohne Wirkung auf ihn blieb. Er stand, vielleicht selbst erschreckt über das, was er gethan, es wollte sich wie Reue in ihm regen, und er machte eine Bewegung, fast als wünsche er den Grafen zurückzuhalten aber es war zu spät, Hermann hatte ihm bereits den Rücken gekehrt und den Platz verlassen.

Im Begriff den großen Hauptweg einzuschlagen, der nach dem Herrenhause führte, stand dieser plötzlich vor Gertrud, die noch in unmittelbarer Nähe weilte. Ein einziger Blick auf ihr Gesicht verrieth ihm sofort, daß sie trotz ihrer scheinbare Entfernung Zeuge eines Gespräches gewesen, dessen Ausgang sie wohl geahnt haben mochte, indessen äußerte er kein Wort darüber, sondern trat auf sie zu und sagte einfach:

„Ich muß Sie bitten meine Begleitung bis zum Hause anzunehmen, Sie könnten sonst in Gefahr kommen, Herrn von Reinert nochmals zu begegnen.“

Wie vorhin erwiderte sie kein Wort, sondern folgte schweigend seiner Aufforderung. Langsam gingen sie die Allee entlang; hier unter den hohen Eichen und Buchen lagerten schon die Schatten der Dämmerung, hoch oben auf den Wipfeln verglühte das letzte Abendgold, und leise und traumhaft zwitscherte noch hier und da ein Vogel im Gebüsche sein Abendlied. Die Beiden schritten so fremd und kalt nebeneinander hin, als habe wirklich nur der Zufall sie jetzt in eine gegenseitige Beziehung gebracht, die Beiden gleich peinlich war. Graf Arnau beobachtete ein consequentes Schweigen, Gertrud hob das Auge nicht vom Boden empor, und doch streifte sein Blick bisweilen, wie mit einer düsteren Frage, ihr Antlitz, und doch hob sich ihre Brust immer stürmischer in einem geheimen Kampfe, der endlich über die Zurückhaltung den Sieg davontrug.

„Herr Graf!“

Er blieb sofort stehen. „Mein Fräulein?“

Sie schwieg noch eine Secunde lang, die Worte wollten nicht von den Lippen, und es kostete sie augenscheinlich eine furchtbare Ueberwindung, als sie endlich fragte:

„Sie wollen sich mit Herrn von Reinert schlagen?“

Hermann zuckte die Achseln. „Sie werden mir das Zeugniß geben, daß ich das Möglichste gethan, es zu vermeiden, aber Eugen hat es verstanden, mich zu zwingen. Es giebt Formen, deren Nichtigkeit und Schädlichkeit man einsieht, und denen man sich dennoch beugen muß. Nach dem, was zwischen uns vorgefallen ist, läßt die Ehre meines Standes keinen anderen Ausgleich zu, als mit den Waffen in der Hand. Ich werde mich der Nothwendigkeit fügen.“

„Um meinetwillen? Nein, das kann, das darf nicht geschehen!“

Ihre Stimme gewann sichtlich an Festigkeit, aber es flog etwas wie ein Lächeln über die ernsten Züge des Grafen.

„Wollen Sie es verhindern?“

„Ja!“ erwiderte sie energisch. „Ich werde mich an die Präsidentin und an Frau von Reinert wenden, damit Beide vereint ihren Einfluß –“

Das werden Sie unterlassen!“ fiel Hermann ihr mit einem strengen und finstern Ernst in’s Wort. „Sie werden eine Kenntniß, die ihnen der Zufall gab, nicht mißbrauchen. Es ist dies eine Sache, die uns Männer allein angeht und zwischen uns allein ausgemacht wird. Ich meinestheils dulde hier keine Einmischung einer Frau, sei es wer es sei, und weder die Vorstellungen meiner Großmutter, noch die Thränen und Ohnmachten meiner Cousine ändern an meinem Entschluß das Geringste.“

Zum ersten Male während der ganzen Unterredung hob sie das Auge zu ihm empor, es war ein Blick voll flehender, unaussprechlicher Angst, und der Graf, der eben noch so stolz seine Unbeweglichkeit behauptet, wandte sich plötzlich ab, als fürchte er einer Versuchung zu erliegen. Als er weiter sprach, war seine Stimme um Vieles milder geworden, aber sie hatte nichts von ihrer eigenthümlichen Festigkeit verloren.

„Ich weiß, daß ich Schweres von Ihnen verlange, zu schweigen und – zu zittern vielleicht, wo ein Wort die blutige Entscheidung verhindern könnte. Ich weiß auch, daß nur wenige Frauen einer solchen Aufgabe gewachsen sind, Ihnen muthe ich sie zu. Meine Ehre erfordert es jetzt, daß das Duell ungestört seinen Verlauf nimmt, ich fordere daher Ihr Versprechen eines unverbrüchlichen Schweigens gegen Jedermann; bis morgen Mittag. Geben Sie mir Ihr Wort darauf!“

Er streckte ihr die Hand entgegen; hatte sie die ihrige hineingelegt, hatte er sie genommen, Gertrud wußte es nicht, aber die kleine Hand bebte in der seinigen so heftig, daß er sie schon im nächsten Augenblick wieder fallen ließ.

„Zittern Sie nicht so,“ sagte er mit schneidender Bitterkeit, „ich habe den ersten Schuß und bin meiner Waffe sicher. Wie furchtbar mich Eugen auch gereizt haben mag, ich werde nicht vergessen, daß ich ihn einst Freund genannt. Er soll seine Thorheit nicht mit dem Leben büßen, wenn ich auch freilich nicht eine gleiche Großmuth von ihm erwarten darf.“

Widerstandslos hatte Gertrud die Bitterkeit über sich ergehen lassen, aber bei seinen letzten Worten hob sie wie im jähen Schreck das Haupt empor. Es mußte Etwas in ihrem Antlitz liegen, was den Grafen magnetisch berührte, es leuchtete auf in seinem Auge, er ergriff plötzlich ihre beiden Hände und fragte leise, aber mit einem ganz anderen Ausdruck, als vorhin: „Gertrud, warum hassen Sie mich?“

Das Mädchen schrak zusammen; eine verrätherische Gluth ergoß sich über Stirn und Wangen, sie wollte sich von ihm wenden, aber er ließ die einmal erfaßte Hand nicht los.

„Sie haben mir von Anfang an den unverhülltesten Haß entgegengetragen und dennoch – Gertrud; es muß jetzt klar werden zwischen uns. Was habe ich Ihnen gethan? weshalb hassen Sie mich?“

Niemand würde es für möglich gehalten haben, daß diese kalte, harte Stimme sich in so weichen innigen Lauten ergehen könne; und Gertrud’s ganzes Wesen schien unter diesen Tönen zu erbeben. Es ist unmöglich, die Empfindungen zu schildern, die sich in stürmischem Widerstreite auf dem Gesichte des Mädchens spiegelten, Angst, Schmerz, Verzweiflung, und durch all’ dies hindurch doch wieder ein unendliches Entzücken, all’ dies machte sich Luft in dem einen Ausruf, der halb wie Jubel klang, und halb doch wieder wie ein schneidender Wehlaut:

„O mein Gott! mein Gott!“

Sie schlug beide Hände vor das Antlitz, Hermann sah sie unverwandt an. „Ich sehe, daß hier ein Geheimniß liegt, das Sie nicht aussprechen wollen. Sei’s denn, ich kann warten. Aber eine Gewißheit muß ich mitnehmen in die Entscheidung morgen früh, Gertrud, nur das Eine sage mir, für wen von uns Beiden zitterst Du?“

Es folgte eine minutenlange, schwere Pause, dann ließ sie langsam die Hände wieder sinken, das Antlitz war todtenbleich, aber ruhig, und die Stimme völlig klanglos, als sie erwiderte:

„Ich zittere für jedes Leben, das ich bedroht weiß.“

Der Graf trat drei Schritte zurück, der Schimmer in seinem Auge erlosch plötzlich und sein Gesicht erschien auf einmal wieder hart und herb. „Sie haben Recht, mein Fräulein,“ sagte er eiskalt. „Da Sie die unschuldige Ursache unseres Duells sind, so muß Ihnen unser Beider Tod gleich – unangenehm sein. Ich begreife das vollkommen – leben Sie wohl.“

Er ging; am Ausgange der Allee zögerte sein Fuß noch einen Moment lang, es war ihm, als habe er einen Ruf gehört, aber als er zurückblickte, stand sie noch unbeweglich an derselben Stelle. Mit seinem ganzen aristokratischen Stolze warf Graf Arnau den Kopf empor, und schritt durch die zunehmende Dämmerung dem Hause zu.




Klar und sonnig kam der nächste Morgen herauf. Beim Frühstück fehlten Graf Arnau und Herr von Reinert; sie hatten mit mehreren Herren aus der Nachbarschaft bereits in aller Frühe einen Spazierritt unternommen, der erst gestern Abend verabredet worden war. Niemandem fiel es ein, ein besonderes Gewicht auf diesen Umstand zu legen, dagegen war die Baronin Sternfeld sehr ungehalten, daß auch Mademoiselle Walter sich mit einem heftigen Unwohlsein entschuldigen ließ. Der gnädigen Frau kam diese plötzliche Krankheit der Gouvernante sehr ungelegen, sie wurde dadurch in die Nothwendigkeit versetzt, die Kinder den ganzen Tag über unter ihre persönliche Aufsicht zu nehmen, da Bonne und Kammermädchen vollauf mit den Vorbereitungen zu der morgigen Abreise zu thun hatten.

In ihrem Zimmer, dessen Fenster nach den Feldern hinausgingen, schritt Gertrud ruhelos auf und nieder. Es gab eine [815] Grenze auch für ihre Selbstbeherrschung, sie hatte es nicht vermocht, heut’ ruhig beim Frühstück zu erscheinen und über den „Spazierritt“ sprechen zu hören, sie allein kannte ja seine Bedeutung. Ja wohl, es war eine furchtbare Aufgabe, zu schweigen und zu zittern, mit dem vollen Bewußtsein dessen, was die nächste Stunde bringen konnte, unthätig hier zu harren, während dort drüben die blutige Entscheidung fiel; es ging fast über Menschenkräfte. Sie hatte das ihr abgedrungene Versprechen gehalten, kein Laut des Verraths war über ihre Lippen gekommen – was dies Schweigen sie aber gekostet, das wußte nur sie allein.

Man sah es dem Mädchen an, daß diese Nacht kein Schlaf in ihre Augen gekommen war, die sich immer wieder mit dem Ausdruck qualvollster Spannung auf das Fenster hefteten. Heiter und golden lachte der Sonnenschein aus den weiten Feldern ringsum, über den noch in blauen Duft gehüllten Forsten. Vom Morgenwinde geschwellt wogte das Korn leise auf und nieder, und hoch oben am klaren Himmel schossen die Schwalben in raschem Fluge hin und her. Aber der Weg, der in die Waldung führte, blieb leer, nicht ein einziger Reiter wollte sich dort zeigen.

Es war vorbei, völlig vorbei mit dem Stolz und der Selbstbeherrschung Gertrud’s. Was sie sich in dieser ganzen Zeit nicht gestehen wollte, was sie noch gestern Abend versucht sich abzuleugnen, die Todesangst dieser Nacht hatte sie es erkennen gelehrt. „Er soll seine Thorheit nicht mit dem Leben büßen, wenn er auch schwerlich die gleiche Großmuth gegen mich üben wird!“ Die Worte wollten nicht aus ihrem Gedächtniß weichen. Eugen würde keine Großmuth üben, das wußte sie, er war rachsüchtig, wie alle schwachen Menschen, und ergriff mit Freuden die Gelegenheit, sich an dem zu rächen, dessen geistige Ueberlegenheit ihn so oft gedrückt und erbittert – und auch er war seiner Waffe sicher und verstand sein Ziel zu treffen.

Sie stürzte auf die Kniee nieder und hob in namenloser Angst die gefalteten Hände empor. Sie wußte es jetzt, wem dies Gebet galt, hatte es ja schon gestern gewußt, als jene ernste harte Stimme so weich gefragt: „Gertrud, warum hassen Sie mich?“ Wenn sie sich auch noch einmal aufraffte zum letzten verzweifelten Widerstande, wenn sie auch den grausamen Muth besaß, ihm das eine Wort zu versagen, um das er bat – es war doch umsonst gewesen. Jetzt hätte sie es ihm nachrufen mögen, jetzt, wo es zu spät war. Wie eisig kalt hatte sein Lebewohl geklungen – vielleicht war es das letzte. – Da plötzlich ertönte Hufschlag in der Ferne, Gertrud eilte an’s Fenster, wie so oft schon vergebens, wenn sich drunten etwas regte, aber diesmal war es keine Täuschung. Ihr Auge hätte den Reiter erkannt, und wäre er noch so fern am Saume des Waldes erschienen; von seinem Reitknechte gefolgt, sprengte Graf Arnau heran.

Das war zu viel, dies plötzliche Erscheinen des schon verloren Geglaubten entschied Alles. In dem Aufschrei eines grenzenlosen Glückes, der sich unbewußt ihrer Brust entrang, in dem Ausdruck ihres Gesichts lag das Geständniß, zu dem sich die Lippen nun und nimmermehr herbeigelassen. Sie flog nach der Thür, es war vorbei mit Besinnung und Ueberlegung, sie wollte und mußte ihm entgegen!

Ein schwerer dumpfer Schlag, dem ein krachendes Geräusch folgte, hemmte plötzlich ihren Fuß und ließ sie erschreckt zurückblicken. Einer ihrer Reisekoffer, den sie gestern Mittag bereits hervorgezogen und theilweise gepackt hatte, war von seinem Gestelle herabgestürzt. Ein einfacher, leicht erklärlicher Zufall, sie selbst hatte wahrscheinlich im hastigen Vorüberstreifen daran gestoßen, aber die fieberhaft geröthete Wange des Mädchens war plötzlich weiß geworden. Langsam glitt ihre Hand an der bereits halbgeöffneten Thür nieder, langsam drückte sie diese wieder in’s Schloß und zögernd, Schritt für Schritt, näherte sie sich endlich der Ecke neben dem Fenster. Es war ein seltsamer Ausdruck in ihrem Gesicht, ein Grauen fast wie vor Geisterspuk, und mit einer Scheu, als gelte es wirklich einem solchen zu begegnen beugte sie sich nieder, um den angerichteten Schaden zu betrachten und doch schien dieser so gering.

Es war ein kleines unscheinbares Köfferchen, ein altmodisches unansehnliches Geräth, das noch aus ihrem elterlichen Hause stammte. Es war einst Eigenthum ihres Vaters gewesen, und nur ein Gefühl der Pietät hatte die Tochter bisher verhindert, sich davon zu trennen. Dies Erbtheil, fast das einzige, das die Waise noch besaß, hatte sie bisher treulich bei jedem Wechsel des Aufenthaltes begleitet und jetzt auf einmal stürzte es herab und zerbrach, gerade in dem Augenblick, wo sie im Begriff stand – Gertrud wagte es nicht, den Gedanken zu vollenden, heftig schob sie die herausfallenden Bücher bei Seite und hob den Deckel empor.

Die Rückwand des Koffers war im Falle geborsten, sie klaffte weit aus einander und aus dem Spalt, zwischen dem Holze und dem innern Lederfutter eingeklemmt, blickte ein Papierstreifen hervor. Mechanisch griff Gertrud danach, sie zog das Papier heraus und wollte es bei Seite legen, da fiel plötzlich ihr Blick auf ein Wort, auf eine Unterschrift – sie strich hastig mit der Hand über die Augen, es konnte doch nur eine Vision sein, daß sie immer und überall den Namen sah, der jetzt ihr ganzes Denken ausfüllte, aber auch beim zweiten Blick wollte die Täuschung nicht weichen. „Hermann Graf Arnau“ stand dort, mit verblaßter Tinte, aber mit deutlicher klarer Handschrift, stand dort auf dem alten vergilbten Papier, das lange Jahre hindurch in seinem Versteck gelegen hatte, wohin es jedenfalls bei einem allzu hastigen Oeffnen des Koffers durch eine schadhafte Stelle des innern Bezugs geglitten war. Gertrud’s Kopf schwindelte, unfähig, den Zusammenhang zu begreifen, noch halb betäubt von der vorhergegangenen Aufregung schlug sie das Blatt aus einander.

Es waren nur wenige Zeilen, die dort geschrieben standen, und sie schienen sehr flüchtig und geschäftsmäßig hingeworfen, aber ihre Wirkung auf das Mädchen war eine blitzähnliche. Sie sprang auf; das eben noch so bleiche Antlitz von einer tiefen Gluth übergossen die Augen strahlend im leidenschaftlichsten Triumph, preßte sie den Fund mit beiden Händen gegen ihre Brust, als wolle man ihn ihr entreißen, und diese Brust athmete tief, tief auf, als sei mit diesem einen Moment die Last eines ganzen Lebens von ihr gesunken.

Aber es war nur ein Moment, schon im nächsten zuckte sie zusammen, von einer Erinnerung getroffen, die wie mit Eiseshand ihr an’s Herz griff, das verhängnißvolle Blatt entsank ihren bebenden Händen, wie vernichtet starrte sie darauf hin, und dann hob sie das Auge in bitterer Anklage zum Himmel. An diesem Papier hatte einst die Ehre und das Glück einer ganzen Familie gehangen, damals ließ ein tückischer Zufall es spurlos verschwinden. Zwei Jahrzehnte waren darüber hin – zwei Menschen waren darüber zu Grunde gegangen, und jetzt gab derselbe Zufall das Verlorene wieder zurück. „O mein Gott, warum gerade in meine Hand? Und warum jetzt, gerade jetzt?“

Es kam keine Antwort von oben auf die verzweifelnde Frage, und es kam auch kein Laut weiter von den Lippen Gertrud’s, stumm kämpfte sie den Kampf aus, den schwersten ihres Lebens. Wie furchtbar er war, davon zeugten die heftig arbeitenden Züge, die krampfhaft gerungenen Hände, aber der schweigende Mund verschloß auch jetzt noch das Weh. Sie hatte geglaubt, in dieser letzten Nacht das Maß der Angst und Qual erschöpft zu haben, und doch, was war die Verzweiflung jener Stunden gegen diese Minuten! Jetzt galt es, mit eigener Hand den drohenden Streich zu führen, er traf tödtlich, das wußte sie, und diesmal stand mehr auf dem Spiele, als blos das Leben.

Nur Wenige hätten einer solchen Wahl gegenüber den Muth zum Kampfe besessen; sie wären in ohnmächtigen Thränen unterlegen oder hätten, nur der Stimme des Herzens gehorchend, sich entsetzt von der verhängnißvollen Entscheidung abgewendet. Zu ihrem Unglück war Gertrud keine von den weichen und keine von den schwachen Naturen. Eine einsame dornenvolle Jugend, die schon die bitteren Erfahrungen eines ganzen Lebens in sich schloß, hatte sie früh gestählt und ihr jene Kraft; aber auch jene Härte gegeben, von denen die Glücklichen nichts wissen. Das eiserne Gebot der Pflicht, bisher die einzige Richtschnur ihres Lebens, hieß auch jetzt wieder jede andere Stimme schweigen, und mahnend und schweigend erhob sich die Vergangenheit, die noch unvergessen im Innersten ihrer Seele schlief. Jede bittere Stunde, woran schon ihre Kindheit so reich war, jede Thräne, die sie geweint, jede Demüthigung, die sie erlitten, das Sterbebett der Mutter, das Bild des nie gekannten und doch so leidenschaftlich geliebten Vaters – Alles, Alles ward wieder lebendig, und in dem Maße, wie die Erinnerungen auf sie einstürmten, wurden die Züge des Mädchens hart und kalt, bis sie sich endlich mit finsterer Entschlossenheit erhob. Der Kampf war zu Ende; sie legte die Rechte wie zum Schwur auf das verhängnißvolle Papier.

„Die Mahnung kam zur rechten Zeit! Ich stand auf dem [816] Punkte, Verrath zu üben an mir und meiner ganzen Vergangenheit. Meine armen hingeopferten Eltern, die Tochter wird Euer Recht zu wahren wissen – und müßte sie auch darüber zu Grunde gehen!“ –

Währenddessen saßen die übrigen Bewohner des Herrenhauses, wie gewöhnlich nach beendetem Frühstück, im Gartensalon. Baron Sternfeld las seiner Mutter die Zeitungen vor aber die politischen Neuigkeiten, denen die Präsidentin mit großer Aufmerksamkeit folgte, schienen sowohl die Baronin als auch Frau von Reinert zu langweilen; die Erstere theilte ihre ganze Aufmerksamkeit zwischen ihrer Stickerei und ihren beiden kleinen Töchtern, die draußen auf der Terrasse spielten, und die Letztere gähnte ein Mal über das andere hinter dem Schutze ihres Taschentuches.

Auch bei Antonien hatten die sieben Jahre ihre nur allzu deutlichen Spuren zurückgelassen. Sie war längst nicht mehr jenes bezaubernde poetische Wesen, das einst den jungen Maler so zu begeistern wußte, daß er in der Leidenschaft für sie alles Andere vergaß. Ihre Schönheit gehörte jener zarten, aber vergänglichen Art an, die nur in der Frische und Blüthe der Jugend wurzelt und mit dieser rettungslos dahinschwindet. Da waren keine festen edlen Linien, kein charakteristischer Ausdruck, kein seelenvoller Blick, der jenen flüchtigen Reiz überdauert hätte. Das einst so schwärmerische Feuer der dunklen Augen war erloschen, untergegangen in jenem Ausdruck von Ermüdung und Blasirtheit, der sich in ihren Zügen ebenso deutlich wie in denen ihres Gatten verrieth. Die Gräfin Arnau war im Anfange der Zwanzig noch blendend schön gewesen, Frau von Reinert erschien am Ende derselben bereits verblüht, und all die angewendeten Künste der Toilette vermochten nicht das Verlorene zu ersetzen.

Der Eintritt Hermann’s machte der Vorlesung des Barons und der Langenweile der beiden jüngeren Damen ein Ende. Er trat nach einem kurzen Morgengruße, der Allen galt, an den Lehnstuhl der Präsidentin und entschuldigte sich mit einigen Worten wegen seines Ausbleibens beim Frühstück.

„Wo bleibt denn Eugen?“ fragte Baron Sternfeld verwundert.

„Eugen hat einen kleinen Unfall bei unserem Ritte gehabt. Er stürzte mit dem Pferde und verwundete sich am Arme, unbedeutend nur, indessen ist er im Forsthause zurückgeblieben, und ich habe bereits Befehl gegeben, ihm den Wagen hinauszuschicken. Uebrigens ist die Sache ohne alle Gefahr, wie Doctor Börner versichert, der mit auf unserer Partie war und ihm sogleich einen Verband anlegte.“

Niemand dachte daran, diese im ruhigsten Tone gegebene Erklärung zu bezweifeln. Die Baronin ließ einen Ausruf des Bedauerns hören, Antonie aber sagte heftig: „Dies wilde Reiten! Ich habe Eugen selbst schon prophezeit, daß er damit noch einmal ein Unglück anrichten wird, aber er hört nie auf meine Warnungen!“

Es lag nicht die mindeste Spur von Angst oder Zärtlichkeit in diesem Tone, wohl aber sprach sich ein unverkennbarer Aerger darin aus. Das Gesicht der Präsidentin verrieth allerdings auch keine große Theilnahme, dennoch sagte sie ernst: „Willst Du nicht wenigstens zu Deinem Manne hinausfahren, Antonie?“

„Wozu das, Großmama? Du hörst ja, die Sache ist von keiner Bedeutung, und in einer Stunde trifft Eugen ohnedies ein.“

Sie lehnte sich mit der vollendetsten Gleichgültigkeit in ihren Stuhl zurück. Die Präsidentin schwieg, aber ihre Miene verrieth, was sie von dieser Antwort dachte, – das also war das Ende jener unsagbar glühenden Leidenschaft, die einst die Gräfin Arnau über alle Grenzen der Vernunft und des Verstandes hinweggerissen! Hermann verstand sehr gut das Achselzucken und den Blick der Großmutter, der auch ihm galt; war er es doch gewesen, der jene Verbindung begünstigt hatte. Es ist immer peinlich, einen Irrthum eingestehen zu müssen, und der Graf schien heute. vollends nicht in der Laune dazu. Schon beim Eintritt war sein Blick unruhig forschend durch den Salon geflogen, und die Wolke, die bereits auf seiner Stirn lag, war dabei noch dunkler geworden. Jetzt wuchs seine Verstimmung von Minute zu Minute; er war einsilbig, zerstreut und betheiligte sich fast gar nicht an der Unterhaltung.

„Sind die Kinder denn heute ohne Aufsicht?“ fragte er plötzlich, auf die kleinen Mädchen weisend, die auf der Terrasse einander umherjagten und nach Kinderart dabei etwas laut wurden.

Die Baronin seufzte. „Leider sind sie das! Mademoiselle Walter macht mir heute Morgen das Vergnügen, sich für krank zu erklären, gerade jetzt, wo wir fort wollen!“

„Ah so!“ Die Lippen des Grafen preßten sich wie im heftigsten Zorne zusammen, während die Baronin fortfuhr, sich mit großer Umständlichkeit über die Krankheit ihrer Gouvernante zu beklagen, die ihr äußerst ungelegen komme und möglicherweise sogar die auf morgen Mittag festgesetzte Abreise in Frage stelle.

„Das steht wohl kaum zu befürchten!“ warf Antonie spöttisch hin. „Ich vermuthe, Mademoiselle Walter hat sich bei ihrer gestrigen Abendpromenade einen Schnupfen geholt, der schwerlich von großer Bedeutung ist.“

„Bei welcher Promenade?“ fragte die Baronin, aufmerksam werdend.

„Nun, sie kam gestern ziemlich spät aus dem Park zurück, und kurz vorher hatte ein Herr denselben verlassen, den ich allerdings nicht zu erkennen vermochte, da es bereits zu dunkel war, der aber seiner ganzen Haltung nach weder zu den Arbeitern noch zur Dienerschaft gehörte. Mein Gott, weshalb auch nicht! Die sämmtlichen Herren aus der Nachbarschaft sind ja einstimmig in der Bewunderung von Mademoiselles Schönheit. Es wäre in der That kein Wunder, wenn sie irgend einen dieser begeisterten Verehrer erhört und ihm ein kleines Rendezvous bewilligt hätte -“

Die Präsidentin runzelte die Stirn, trotz ihrer Antipathie gegen Gertrud war sie doch streng gerecht und duldete in ihrer Umgebung keine Verleumdungen. „Das müßtest Du doch erst beweisen, Antonie,“ unterbrach sie ihre Enkelin in ernst verweisendem Tone; „so wie ich das Mädchen beurtheile, ist dieser Vorwurf unter allen der letzte, der ihr gemacht werden könnte, und Bertha hat bisher noch keine einzige Klage über sie gehabt.“

„Ich würde Dir auch rathen, doch erst die Aufklärung abzuwarten, liebe Toni,“ nahm Hermann jetzt kaltblütig das Wort. Er stand noch am Sessel seiner Großmutter, hatte beide Arme auf die Lehne desselben gelegt und fixirte seine Cousine mit einem eigenthümlichen Blick. Es lag ein halb mitleidiger, halb verächtlicher Spott darin, und um seine Lippen zuckte bereits wieder der gefürchtete Sarkasmus, der sich so oft schonungslos über alles ergoß, was in seine Nähe gerieth, wenn er zuvor durch irgend einen Umstand gereizt worden war.

„Ich sprach nur eine Vermuthung aus,“ sagte Antonie, empfindlich über den erhaltenen Verweis, indem sie den Kopf zurückwarf. „Ich wollte aber längst schon Gelegenheit nehmen Bertha einen Wink hinsichtlich dieser Mademoiselle Walter zu geben; was ich neuerdings über sie in Erfahrung gebracht habe, spricht durchaus nicht zu ihren Gunsten.“

Hermann lächelte mit unverholener Ironie. „Erst neuerdings hast Du das in Erfahrung gebracht? Wirklich?“

Antonie sah ihn ungewiß an. „Was willst Du damit sagen? Ich verstehe Dich nicht.“

„O, ich meinte nur, etwas, was freilich nicht zu Gunsten der jungen Dame spricht, ihre äußere Erscheinung nämlich, müßte Dir doch bereits beim ersten Anblick aufgefallen sein.“

[833] Antonie ward dunkelroth bei dieser Malice Hermann’s, die leider das Richtige traf und nicht einmal zurückzugeben war. Sie kannte ihren Vetter zu gut, um nicht zu wissen, daß sie in einem Wortkampfe mit ihm doch den Kürzeren ziehen werde, und daß, wenn er so aussah, wie in diesem Augenblick, die äußerste Rücksichtslosigkeit von ihm zu erwarten stand. Sie begnügte sich daher, ihm einen Zornesblick zuzuschleudern, und wendete sich, die Bosheit völlig ignorirend, zu der Baronin, die jetzt argwöhnisch ausrief:

[834] „Aber ich bitte Dich, was hast Du eigentlich von der Walter erfahren?“

Antonie zog eine Rose aus der vor ihr stehenden Vase und begann sie zu zerpflücken. „Nun, meine Nachrichten betreffen nicht gerade sie, hauptsächlich ihre Familie. Es dürfte Dir doch wohl neu sein, daß Mademoiselle Walter gar nicht einmal das Recht hat, sich so zu nennen. Es ist der Familienname ihrer Mutter, den diese wieder annahm, oder vielmehr annehmen mußte, weil der ihres Mannes sehr unliebsame Erinnerungen erweckte.“

Die sarkastische Ruhe, mit der er bis dahin zugehört, verschwand aus den Zügen Hermann’s und machte einer fahlen Blässe Platz. Aufhorchend beugte er sich weiter vor, und folgte mit sichtlicher Spannung dem weitern Verlauf des Gespräches.

„Ein falscher Name!“ rief Baron Sternfeld, der jetzt auch näher trat, „das ist ja offenbarer Betrug! Woher weißt Du das, Antonie? Und warum sprichst Du uns jetzt erst davon?“

„Weil ich selbst es erst vorgestern erfuhr. Meine Kammerfrau hat vor Jahren einmal W. besucht, und bereits bei dieser Gelegenheit Mademoiselle Gertrud kennen gelernt, deren Mutter damals noch lebte. Therese war nicht wenig erstaunt, in der angeblichen Madame Walter die Frau des ehemaligen Rentamtmanns Brand wiederzufinden.“

Hier legte sich die Hand der Präsidentin plötzlich schwer auf den Arm ihres Enkels und die Mahnung war nothwendig. Er war zusammengezuckt bei dem Namen, wie von einer Kugel getroffen, jetzt wendete er langsam das Antlitz der Großmutter zu, ihr Blick tauchte warnend tief in den seinigen, mit convulsivischem Griffe faßte er ihre Hand, aber die Warnung hatte gefruchtet, er behauptete die Herrschaft über seine Züge.

Die Anderen waren allzusehr mit den Enthüllungen Antoniens beschäftigt, um auf den Grafen zu achten. „Brand – Brand!“ sagte der Baron nachsinnend, „ich glaube den Namen schon gehört zu haben. Was war mit dem Manne?“

„Nicht viel Ehrenvolles. Er bestahl die ihm anvertraute Casse, unterschlug fürstliche Gelder und beging schließlich, als er sein Verbrechen entdeckt sah, die Abscheulichkeit, sich im Cabinet des Onkel Arnau, vor dessen Augen zu erschießen. Ich war damals noch ein Kind, aber ich weiß, daß die Sache ungeheures Aufsehen machte. Hermann muß sich ihrer noch ganz deutlich entsinnen, der Schreck kostete seiner armen Mutter beinahe das Leben.“

Graf Arnau schien die indirecte Frage nicht gehört zu haben, wenigstens gab er keine Antwort darauf. Seine Hand lag noch immer eiskalt und feucht in der der Präsidentin, sie mochte an dieser Hand fühlen, wie es um ihn stand, denn sie sah mit dem Ausdruck der Besorgniß plötzlich zu ihm auf, sein Gesicht erschien auch jetzt noch unbeweglich.

Die Baronin war in vollster Entrüstung. „Empörend! Die Tochter eines Diebes, eines Fälschers in meinem Hause! Und sie hat es gewagt, mir das zu verschweigen, sich unter falschem Namen bei mir einzuführen!“

Antonie lächelte hämisch. „Mein Gott, Bertha, kannst Du ihr das verdenken? Es wäre ihr wohl unmöglich gewesen, irgend eine anständige Stellung zu erhalten, hätte sie diese Antecedentien offen dargelegt.“

„Gleichviel, aber ich kann diesen Betrug nicht dulden, kann die Erziehung meiner Kinder nicht den Händen einer Person anvertrauen, die aus solcher Familie stammt. Ich werde mit ihr sprechen, noch heut’ werde ich das, und mir eine Erklärung darüber ausbitten –“

„Das wirst Du unterlassen, Bertha,“ unterbrach die Präsidentin sie im allerschärfsten Tone. „Weißt Du denn, ob das Mädchen überhaupt die Geschichte ihres Vaters kennt? Ich bezweifle das, und selbst wenn es wäre – die Kinder sind nicht verantwortlich für die Sünden der Eltern, an denen sie keinen Theil haben. Willst Du das Mädchen entlassen, so thue es wenigstens nicht in beleidigender Weise; überhaupt wünsche ich, daß Du keinen Schritt in dieser Angelegenheit thust, ohne vorher erst noch einmal mit mir Rücksprache genommen zu haben.“

Die alte Frau hatte sich erhoben und stand so gebieterisch vor ihrer Schwiegertochter, daß weder diese noch ihr Gatte eine Einwendung wagten; sie waren ohnehin gewohnt, sich der Autorität der Mutter unbedingt zu fügen, wenn deren plötzliche Parteinahme für die Gouvernante sie auch einigermaßen befremdete.

Die Präsidentin wendete sich zu ihrem Enkel. „Habe die Güte, mich nach meinem Zimmer zu führen, Hermann, ich fühle mich etwas ermüdet; und Dir, Antonie, rathe ich doch, Dich jetzt in den Wagen zu setzen und zu Deinem Manne hinauszufahren. Wenn Dir seine Verletzung auch gleichgültig ist, so erfordert es der Anstand, daß Du Dich, wenigstens in den Augen der Leute, etwas darum kümmerst. Der Wagen fährt eben vor, wie ich sehe.“

Der im Tone eines entschiedenen Befehls ertheilte Rath kam Frau von Reinert augenscheinlich ebenso ungelegen, als der Baronin das vorhergehende Verbot, aber auch sie versuchte keinen Widerspruch. In der übelsten Laune klingelte sie ihrer Kammerfrau und befahl Hut und Shawl zu bringen, während die Präsidentin auf Hermann’s Arm gestützt den Salon verließ.




„Daß Toni auch diesen unglückseligen Namen aussprechen mußte! Er bringt Dich völlig außer Dir! Hermann, ich bitte Dich, wo bleibt Deine Selbstbeherrschung, Deine Willenskraft?“

Großmutter und Enkel waren allein miteinander, die Portieren des Zimmers waren herabgelassen, die Thür verschlossen; man hatte sich vor Lauschern gesichert. Noch hatte der Graf kein Wort gesprochen, mit verschränkten Armen ging er unaufhörlich auf und nieder ohne zu antworten, ohne auch nur zu hören, die Präsidentin schüttelte rathlos den Kopf.

„Ich begreife nicht, was an dieser Entdeckung eigentlich so Furchtbares ist. Du hast lange genug nach der Frau und dem Kinde des – des Todten gesucht; Du behauptetest, es würde Dir die Ruhe wiedergeben, wenn Du im Stande wärest, etwas für sie zu thun. Jetzt solltest Du doch den Zufall segnen, der uns endlich Gelegenheit giebt –“

Der Graf blieb plötzlich stehen. „Segnen! Laß mich, Großmutter, Du weißt nicht, kannst nicht wissen, was dieser Name Alles in mir vernichtet hat!“

Sie trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter. „Hermann, Du bist außer Stande, diese Angelegenheit ruhig und vernünftig zu beurtheilen, lege sie in meine Hände. Es versteht sich von selbst, daß nach dem, was wir jetzt wissen, das Mädchen nicht länger in unserer Familie bleiben kann. Bertha will sie ja ohnedies entlassen, ich werde sorgen, daß es in schonendster Weise geschieht, und später werden wir wohl irgend einen Vorwand finden, ihre Zukunft zu sichern. Thue das so glänzend, als Du nur vermagst, ersetze ihr das ganze Vermögen, was ihre Mutter damals verlor. Vielleicht gelingt es uns, irgend eine angemessene Partie für sie zu finden, einen Pfarrer oder dergleichen, und dann auf unverdächtige Weise diesem Manne –“

Der Graf machte sich plötzlich mit einer heftigen Bewegung los. „Laß Deine Pläne, Großmutter,“ sagte er schneidend. „Wenn es sich hier um Sühne handelte – ich wüßte wohl eine andere, aber ich weiß auch, daß sie sie nie, niemals von meiner Hand nehmen wird.“

„Von Deiner Hand? Um Gotteswillen nicht! Wir müssen mit größter Vorsicht zu Werke gehen. Was Du auch thun magst, sie darf nicht ahnen, von wem es kommt, sie könnte sich sonst fragen, weshalb es geschieht.“

„Und wenn sie das bereits wüßte?“

„Hermann!“

„Sie weiß es, muß es wissen! Jetzt begreife ich diesen glühenden, unversöhnlichen Haß, den sie mir vom ersten Moment an entgegentrug, diesen Abscheu vor meiner Nähe, dies ganze räthselhafte Wesen. Daß mir auch nie eine Ahnung der Wahrheit kam; der Name war es, der mich irre führte. O, sie weiß Alles, sage ich Dir, sie verrieth es in jedem Wort, in jeder Miene. Nur Eines vermag ich ihr nicht zu entreißen, ein Geheimniß, das sie fest zu bewahren versteht, und doch muß ich darüber Gewißheit haben – Gewißheit um jeden Preis!“

Er nahm in furchtbarster Erregung seinen Gang durch das Zimmer wieder auf, die Präsidentin stand noch immer sprachlos; ob sie sich mehr entsetzte über den Gedanken, er könne Recht haben, oder über diesen Ausbruch der Leidenschaft bei dem sonst [835] so ruhigen besonnenen Manne, blieb unentschieden, denn in diesem Augenblicke wurde leise an die Klinke der Thür gefaßt.

„Was giebt’s? Wer stört uns?“ fuhr Hermann auf. Er schob den Riegel zurück, draußen stand ein Diener mit sehr verlegenem Gesicht.

„Der Herr Graf verzeihen die Störung, ich wußte nicht, daß die Herrschaften sich eingeschlossen, ich wollte melden –“

„Nun, was – was?“

„Mademoiselle Walter ist im Vorzimmer und wünscht den Herrn Grafen zu sprechen.“

„Mademoiselle Walter?“

„Mich?“

Die Präsidentin faßte sich zuerst, sie war augenscheinlich im Begriff, eine Abweisung auszusprechen, doch ihr Enkel kam ihr zuvor.

„Ich – lasse bitten!“

Der Diener verschwand.

„Hermann, Du darfst sie jetzt nicht sprechen! Du verräthst Dich in dieser furchtbaren Aufregung! Und was kann sie wollen?“

Der Graf hatte auf einmal seine Fassung wieder, aber ein Ausdruck unendlicher Bitterkeit erschien in seinem Gesicht. „Beruhige Dich, Großmutter! Ich weiß, weshalb sie kommt, es steht in keiner Beziehung zu dem, was wir eben verhandelten. Es muß schon eine Todesangst sein, die sie zwingt, meine Schwelle zu überschreiten.“

Die Präsidentin fand keine Zeit, Aufklärung über diese letzten, völlig räthselhaften Worte zu verlangen, denn der Diener hatte inzwischen die Thür geöffnet und ließ Gertrud eintreten. Der Graf hatte Recht, es kostete ihr eine furchtbare Ueberwindung, seine Schwelle zu überschreiten, und als es endlich geschehen war, blieb sie regungslos stehen, das Auge zu Boden geheftet, wie eine Schuldbewußte. Die Züge schienen ruhig, aber das Antlitz hatte etwas Furchtbares in seiner starren leichenhaften Blässe, alles Leben schien daraus entflohen.

Hermann trat ihr entgegen. „Sie wünschten mich zu sprechen mein Fräulein?“

„Ja.“ Das Ja fiel leise, fast unhörbar von ihren Lippen.

„Allein zu sprechen?“

„Ja.“

„So verzeih’, Großmutter – darf ich Sie bitten?“

Er schlug die Portiere des anstoßenden Cabinets zurück und folgte ihr dort hinein. Die Präsidentin blieb allein zurück, sie ging zur Thür und schob den Riegel wieder vor, dann trat sie leise zu der wieder geschlossenen Portiere und schob unhörbar die Falten derselben etwas bei Seite – Hermann war in dieser Stimmung zu Allem fähig, er durfte nicht unbewacht bleiben.

Noch war zwischen den Beiden kein Wort gefallen. Der Graf stand scheinbar ruhig, die Hand auf den Tisch gestützt, und wartete schweigend, aber noch mit demselben bitteren Ausdruck in den Zügen, daß Gertrud reden solle. Sie versuchte es auch, aber, war es wirklich die Todesangst, von der er vorhin gesprochen, die Stimme versagte ihr; sie war keines Lautes fähig.

Hermann’s Lippen zuckten, er sah wohl, daß er zuerst das Wort nehmen müsse. „Ich errathe, was Sie zu mir führt. Sie sahen mich unverletzt zurückkommen und zittern nun für das Leben meines Gegners. Beruhigen Sie sich! Unser Rencontre ist, wenn auch nicht unblutig, doch ungefährlich verlaufen, Herr von Reinert hat eine leichte Wunde am Arme, die auch die Ursache war, daß seine so sichere Waffe mich fehlte. Er ist vorläufig im Forsthause zurückgeblieben, der Arzt ist bei ihm und nicht die mindeste Gefahr zu befürchten.“

Gertrud hatte bei seinen ersten Worten fast entsetzt das Auge gehoben; aber sie senkte es sofort wieder.

„Ich danke Ihnen, Herr Graf, für die Nachricht, aber Sie sind im Irrthum – es ist nicht das, was mich herführt.“

Nicht das! Also war es auch nicht diese Angst, die ihre Wangen so furchtbar gebleicht, ihr diese leichenhafte Starrheit und Leblosigkeit gegeben hatte – die Augen des Grafen leuchteten plötzlich auf wie am gestrigen Abend; der bittere Ausdruck verschwand; hastig trat er ihr einen Schritt näher.

„Nicht? Und was war es denn, Gertrud?“

Sie wich mit einer zuckenden Bewegung von ihm zurück; langsam ließ er die ausgestreckte Hand wieder sinken. Das Mädchen rang nach Athem.

„Ich komme – Ihnen etwas mitzutheilen. Es betrifft Sie – uns Beide. – Ich bin gezwungen, dies Haus heute noch zu verlassen; mein Brief an die Baronin enthält einen Vorwand – Ihnen bin ich Wahrheit schuldig.“

Sie hatte die Worte mühsam mit halberstickter Stimme herausgestoßen und vermied es dabei mit sichtbarer Angst, seinem Blicke zu begegnen. Graf Arnau richtete sich entschlossen auf; er wußte, was jetzt kam.

„Ich gehe als Ihre Feindin; aber ich will es nicht heimlich, nicht hinterrücks sein. Sie fragten mich gestern, ob ein Geheimniß zwischen uns liege – Sie sollen es jetzt erfahren.“

„Ich weiß es bereits.“

„Wie?“

„Seit einer Stunde kenne ich Ihren wahren Namen und damit auch den Grund Ihres Hasses gegen mich.“

Sie hob wie vorhin den Blick zu ihm, aber jetzt sprach das vollste Entsetzen daraus.

„Das ist unmöglich, das können Sie nicht! Sie können nichts wissen, nichts, als daß es der Name eines Betrügers war, der sich das Leben nahm; als er sein Vergehen entdeckt sah. So hat man es Ihnen erzählt, nicht wahr? Oder – wüßten Sie mehr?“

Hermann gab keine Antwort; sein Blick haftete düster am Boden.

„Antworten Sie mir; Graf Arnau! Wenn Jemand auf Erden ein Recht hat zu fragen, so bin ich es. Was wissen Sie?“

„Alles!“

In seinem dumpfen gebrochenen Tone lag die ganze niederschmetternde Gewalt dieses einen Wortes; das Mädchen stand einen Moment lang wie vom Blitze getroffen.

„Sie wußten es und schwiegen?“

„Es war mein Vater, Gertrud!“

Sie richtete sich plötzlich mit einer fast wilden Energie empor. „Sie haben Recht, Graf Arnau, es war Ihr Vater – und es war der meinige! Das werde ich nicht vergessen.“

Es folgte eine schwere, drückende Pause; endlich hob Hermann wieder das Haupt. „Wir sind jetzt auf einen Punkt gekommen, wo nichts mehr verschwiegen und geschont werden kann. Wollen Sie mir sagen, wer Ihnen das Geheimniß entdeckte?“

Mit dem Mädchen war seit dem Geständniß des Grafen eine seltsame Verwandlung vorgegangen. Die Angst, der Kampf, die sich bisher in ihrem Wesen verriethen, waren einer unnatürlichen Ruhe gewichen; der Blick, der so scheu den seinigen gemieden, traf ihn jetzt voll und drohend, und ihre Stimme klang fest und kalt bei der Erwiderung:

„Meine Mutter weihte mich ein, als ich alt genug war; es zu begreifen. Sie hatte keine Beweise, ihr Recht geltend zu machen, nichts als die unumstößliche Ueberzeugung ihres Innern. Mein Vater durfte es nicht wagen, den Verdacht, der sich schon zuvor gegen den mächtigen einflußreichen Vorgesetzten in ihm erhoben, laut werden zu lassen; nur seinem Weibe sprach er ihn aus noch am Morgen des verhängnißvollen Tages, und deshalb war nur sie im Stande, die Wahrheit zu ahnen. Sie wußte, daß ihr Gatte kein Betrüger war, daß er nur das Opfer eines Verbrechens, eines überlegten hinterlistigen Meuchelmordes –“

„Nein, Gertrud, nein, das war es nicht!“ fiel ihr Hermann ungestüm in’s Wort. „Ein Verbrechen des Augenblicks, eine That der Verzweiflung, aber kein Plan. Ich weiß es – ich war Zeuge davon!“

„Ah – Sie waren Zeuge!“

Der Blick des Grafen schweifte forschend durch das Cabinet; es hatte nur einen Ausgang, und der, das wußte er, stand unter sicherer Hut; dennoch sank seine Stimme zu einem Flüstern herab, [836] als wage er es nicht einmal, den todten Wänden das Geheimniß anzuvertrauen:

„Ich war an jenem Morgen im Arbeitszimmer meines Vaters; ich betrat es sonst nur selten, diesmal trieb mich ein kindischer Ungehorsam. Der Vater hatte mir am Tage zuvor ein Buch aus seiner Bibliothek, als ungeeignet für mich, fortgenommen; aber meine Knabenphantasie war von der abenteuerlichen Geschichte allzusehr erregt, als daß ich so leicht auf den Schluß verzichtet hätte. Das Buch lag im Arbeitszimmer, ich wußte es und benutzte die erste Gelegenheit, mich wieder in Besitz desselben zu setzen. Kaum war dies geschehen, als Stimmen auf dem Corridor ertönten; im Bewußtsein meines Unrechtes flüchtete ich mit meinem Buche in die tiefe Nische des Eckfensters, auf wenige Minuten, wie ich meinte, denn der Vater pflegte um diese Zeit stets auszufahren. Diesmal aber trat er mit dem Rentmeister Brand ein. Die der Sonne wegen herabgelassenen Vorhänge verbargen mich völlig, und so ward ich Zeuge einer Unterredung, die ich damals freilich nur zum kleinsten Theile verstand, die sich aber ihres entsetzlichen Ausganges wegen mir mit furchtbarer Deutlichkeit einprägte. Was ich anfangs vernahm, war nicht von Bedeutung; das Gespräch bewegte sich in den geschäftlichen Grenzen. Mein Vater mußte bereits früher eine Anforderung an den Rentmeister gestellt haben, die er jetzt wiederholte, die aber auf’s Entschiedenste abgelehnt ward. Brand bezog sich darauf, daß er die fälligen Gelder bereits an den Grafen abgeführt habe und ohne besondere fürstliche Autorisation keine der Summen ausliefern könne, die sich noch in der seiner Verwaltung anvertrauten Casse befanden und für die er auch die Verantwortung trug. Mein Vater muß sich bereits verloren gegeben, muß kein anderes Mittel zur Rettung mehr gewußt haben, denn er wagte das gefährlichste von allen und machte seinen Untergebenen zum Vertrauten. Er gestand ihm, daß er die bereits empfangenen Gelder zur Bezahlung persönlicher Schulden verwandt habe, daß aber die Ausgaben des fürstlichen Hauses jetzt Deckung verlangten, und das sofort, sollte nicht Alles verrathen werden. Er versuchte den Rentmeister zu bewegen, daß er das Nöthige aus dem augenblicklichen Bestande der Casse hergebe, in wenig Wochen solle Alles ausgeglichen werden. Der Graf verhieß Alles auf sich zu nehmen, er bat, er beschwor, er drohte zuletzt, aber Versprechungen wie Einschüchterungen glitten an der unerschütterlichen Pflichttreue des Mannes ab, der bei seinem festen bestimmten ‚Nein‘ blieb. Gertrud, ich sage es Ihnen noch einmal, eines so teuflisch angelegten Planes war mein Vater trotz alledem nicht fähig; die Pistole, welche geladen auf dem Schreibtische lag, war, das ist meine innerste Ueberzeugung, für das eigene Haupt des Schuldigen bestimmt, er hätte, wie so mancher Ruinirte, durch Selbstmord geendigt, wenn der Rentmeister es verstanden hätte, sich zu mäßigen, aber das starre Pflichtgefühl, die rauhe Aufrichtigkeit des Mannes ward diesem zum Verderben. Er erklärte schonungslos, daß er den Mitwisser einer Unterschlagung als den Mitschuldigen betrachte und sich verpflichtet halte, von dem eben Gehörten sofort Anzeige zu machen, um weiteren Schaden zu verhüten, und reizte dadurch den schon Verzweifelten bis zum Wahnsinn. Er wußte, daß, wenn Jener die Schwelle überschritt, seine Ehre rettungslos verloren war – ich sah die Hand meines Vaters nach der Waffe zucken, sah den Schuß aufblitzen – und Brand stürzte entseelt nieder.“

[866] Hermann hielt inne und fuhr mit der Hand über die mit kaltem Schweiß bedeckte Stirn, es war augenscheinlich eine furchtbare Tortur, die er sich mit dieser Erzählung auferlegte, aber Gertrud machte keinen Versuch, sie ihm zu erleichtern, das „starre Pflichtgefühl“ des Vaters schien sich auf die Tochter vererbt zu haben, sie hörte regungslos zu. Nach einigen Secunden fuhr der Graf mit einem schweren Aufathmen fort: „Mich hatte das Entsetzen gelähmt, ich war keines Lautes fähig. Ich sah meinen Vater die Thür öffnen und nach Hülfe rufen, sah meine Mutter hereinstürzen – Was später geschah, wissen Sie. Es gelang, die Schuld auf den Todten zu wälzen –“

„O ja, es gelang!“ unterbrach sie ihn schneidend. „Die einzige Stimme, die sich für die Wahrheit erhob, die Anklage der Wittwe, wurde als ‚schandbare Verleumdung eines hochgeachteten Mannes‘ zu Boden getreten. Graf Arnau beschwor ja seine Aussage –“

„Gertrud!“

Es offenbarte sich eine so furchtbare innere Qual in diesem Ausruf, daß Gertrud in der That nicht vollendete.

„Sie müssen es mir schon verzeihen, Herr Graf, wenn mich bei der Erinnerung die Bitterkeit übermannt, wir haben zu schwer und zu lange darunter gelitten. Unser kleines Vermögen, das der Vater zur Sicherung seiner Stellung deponirt hatte, verfiel natürlich, die Mutter sah sich, gänzlich mittellos, gezwungen, Hülfe bei wohlhabenden Verwandten in W. zu suchen. Wir fanden dort eben nur Schutz vor dem Hunger und auch den nur unter einer harten Bedingung. Unsere Verwandten waren unbescholtene, streng rechtliche Bürgersleute, sie wollten einen Namen nicht unter sich dulden, der als der eines Diebes und Betrügers in den Zeitungen stand. Meine Mutter mußte sich entschließen, ihren Familiennamen wieder anzunehmen, sie that es, um ihr erst wenige Monate altes Kind nicht dem Mangel preiszugeben. Verschwiegen blieb unser Unglück deshalb doch nicht, die ganze Stadt kannte es – wir sind verfehmt gewesen, seit ich denken kann.

Es schien in der That, als ob mit diesen Erinnerungen all der jahrelang genährte Haß und Groll in dem Mädchen wieder lebendig werde, jedes Wort ihrer Erzählung ward zu einer leidenschaftlichen Anklage. Hermann hatte in finsterem Schweigen zugehört, jetzt sagte er mit einer Art von bitterer Resignation:

„Es steht noch die Frage, wer von uns Beiden mehr unter dem Verbrechen gelitten hat. Ihre Jugend mag bitter gewesen sein – die meinige war entsetzlich. Meine Mutter starb wenige Monate nach jener unseligen That, mein Vater nahm im folgenden Jahre seinen Abschied. Niemand vermochte es zu begreifen, daß er seinen einzigen Sohn und Erben mit kaum verhehltem, und in Momenten der Erregung, mit ganz offenbarem Haß behandelte, während er es doch hartnäckig verweigerte, sich auch nur auf Stunden von ihm zu trennen. Es wußte ja Niemand, [867] daß er in ihm den Zeugen seines Verbrechens hütete und endlich davor zitterte, sein Geheimniß auf die Verschwiegenheit eines Kindes gebaut zu sehen. Vielleicht ahnen Sie, welches das Loos dieses Kindes an seiner Seite war! Hätte sich meine Großmutter nicht bisweilen schützend zwischen uns gestellt, es hätte ein Unglück gegeben. Sie war es, die damals mit ihrem ganzen Vermögen, mit all ihrem Einfluß in die Schranken trat, um den drohenden Ruin und die demselben unvermeidlich folgende Entdeckung der Wahrheit von uns abzuwenden, die später, nach dem Tode meines Vaters, während einer zehnjährigen Vormundschaft die zerrütteten Verhältnisse allmählich ordnete, so daß ich mich wieder zu den Reichen zählen kann. Muß ich Ihnen erst sagen, Gertrud, welch ein Fluch mir dieser Reichthum gewesen ist? Ich konnte die unterschlagene Summe nicht ersetzen, ohne Verdacht zu erregen, aber ich konnte mich auf Umwegen der Hinterlassenen des Unglücklichen annehmen. Seit meiner Mündigkeit habe ich nicht aufgehört, ihre Spur zu suchen, habe alle nur möglichen Quellen benutzt – es war umsonst. Ich suchte die Wittwe und das Kind Brand’s, und ahnte nicht, wie nahe mir das letztere war. Gertrud! das Schicksal hat uns auf seltsame Weise zusammengeführt – geschah es wirklich nur, damit wir uns auf Tod und Leben bekämpfen sollten? –“

Seine Stimme sank bei den letzten Worten wieder zu jenen weichen innigen Lauten, die sie schon einmal aus seinem Munde vernommen, und wie damals schien das ganze Wesen des Mädchens darunter zu erbeben, aber sie kannte jetzt die Gefahr und floh sie.

„Nicht diesen Ton, Graf Arnau – ich bitte Sie – lassen Sie uns bei der Sache bleiben.“

Er neigte stumm das Haupt.

„Mein Vater hatte bei Ablieferung der fraglichen Gelder eine Quittung von der Hand seines Chefs, Ihres Vaters, empfangen. Wußten Sie darum?“

„Nein. Aber mein Vater leitete selbst die Beschlagnahme der Papiere des Rentmeisters. Er wird sie vernichtet haben.“

„Sie ward nicht vernichtet. Ein Zufall hielt sie jahrelang verborgen. Sie ist in meinen Händen!“

In sprachlosem Entsetzen fuhr Hermann zurück, in demselben Augenblick ward die Portiere von einander gerissen und die Präsidentin stand im Zimmer.

„Sie lügen, Mademoiselle! Das ist unmöglich, das kann nicht sein!“

Gertrud hatte sich überrascht, aber nicht erschreckt umgewandt, sie begegnete fest den drohenden Blicken der alten Frau. „Ich lüge nicht. Ich wiederhole es, die Quittung ist gefunden, ist seit einer Stunde in meinem Besitz.“

Inzwischen hatte Hermann sich wieder gefaßt, er raffte all seine Energie noch einmal zusammen. „Sie tragen das Papier bei sich? Darf ich es sehen?“

Sie erschrak bei der Zumuthung und legte unwillkürlich beide Hände wie schützend auf die Brust. Er lächelte bitter.

„Fürchten Sie einen erneuten Diebstahl? Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß das Blatt unverletzt in Ihre Hände zurückgelangt.“

Langsam zog Gertrud das Papier hervor und reichte es ihm hin; er schlug es auseinander, die Blicke der Präsidentin hingen in athemloser Spannung an seinen Zügen. Niemand sprach während der folgenden Secunden, aber der Graf stützte sich schwer und schwerer auf den Tisch, sein Antlitz war geisterbleich; mit abgewandtem Gesicht gab er endlich, ohne ein Wort zu sprechen, das Blatt zurück, warf sich in den Sessel und legte die Hand über die Augen.

Die Präsidentin wußte genug. „Mademoiselle“ – es war vergebens, daß sie ihrer Stimme Festigkeit zu geben versuchte, sie zitterte hörbar – „Mademoiselle, Sie können und werden keinen Gebrauch von diesem Documente machen, es klagt einen Todten an.“

Gertrud richtete sich finster empor; sobald ein Dritter in die Unterredung eintrat, hatte sie ihren vollen Muth wieder. „Meinen Sie, Frau Präsidentin? Aber dieser Todte starb als ein hochgeachteter ehrenwerther Mann, und mein Vater liegt entehrt und beschimpft in der Gruft des Selbstmörders. Meinen Sie, die Tochter würde anstehen, ihn zu rächen?“

„Bauen Sie nicht zu fest auf dies Papier, unsere Gerichte verfahren nicht gegen Verstorbene, und was die Ueberlebenden betrifft – wir sind zu jedem Opfer, zu jedem Ersatz bereit, der nur in den Grenzen der Möglichkeit –“ sie schwieg plötzlich, die so energische Frau senkte fast scheu das Auge vor dem Blicke Gertrud’s. „Hüten Sie sich, Mademoiselle!“ rief sie in ausbrechendem Grimme, „hüten Sie sich, uns auf’s Aeußerste zu treiben. Noch ist die Familie des Grafen Arnau mächtig und einflußreich genug, und sie wird Alles daran setzen, wenn es ihre Ehre gilt. Wagen Sie es nicht, das Papier dort aus den Händen zu geben, das Verderben könnte auf Sie selbst zurückfallen.“

Ein Ausdruck unendlicher Verachtung zuckte um die Lippen des Mädchens. „Ich will doch abwarten, ob es dieser mächtigen einflußreichen Familie zum zweiten Male gelingt, der Gerechtigkeit in’s Gesicht zu schlagen; ich will sehen, ob die Gerichte des Landes es wagen, mich abzuweisen, wenn ich mit diesem Beweise vor sie hintrete. Sparen Sie Ihre Worte, Frau Präsidentin. Was ich zu fürchten hatte, ward überwunden, ehe ich hierher kam; jetzt kann mich nichts mehr beirren.“

Sie hatte mit kalter unbewegter Festigkeit gesprochen; wenn ihre Züge vorhin starr waren, so schienen sie jetzt völlig versteint; der einzige Ausdruck in ihnen war der einer furchtbaren Entschlossenheit. Die Präsidentin sah, daß hier nichts mehr zu erreichen war; sie stellte sich vor den Ausgang, ihn mit ihrem Leibe deckend.

„Nun denn, Hermann, so wahre Du Deine und unser Aller Ehre! Es muß sein!“

Ihr Blick, mehr noch als ihre Worte, forderte den Grafen auf, sich mit Gewalt in Besitz des verhängnißvollen Papiers zu setzen.

Hermann hatte sich erhoben, auch er schien einen letzten Entschluß gefaßt zu haben, aber mit einer Handbewegung wies er die Zumuthung seiner Großmutter zurück und ging auf Gertrud zu, die fest und furchtlos dastand.

„Gertrud!“

Sie schauerte leise zusammen, aber sie gab ihre entschlossene Haltung nicht auf.

„Ich habe kein Recht, Schonung von Ihnen zu verlangen. Thun Sie, was Ihr Gewissen Sie heißt. Sie können keine Klage gegen Grafen Arnau erheben, er ist todt; aber Sie können auf Grund dieses Documentes das Ihnen widerrechtlich entzogene Vermögen öffentlich zurückfordern und dadurch den Namen Ihres Vaters von dem Makel reinigen, während Sie den meinigen an den Pranger stellen.“

Seinen Worten gegenüber hielt die Entschlossenheit Gertrud’s nicht so unbedingt Stand, sie senkte das Haupt.

„Ich – weiß es.“

„Sie wissen es! Wohlan, so wissen Sie auch, daß ich alsdann verloren bin. Ich habe versucht, in angestrengter Thätigkeit den Fluch zu vergessen, dessen Erbe ich geworden bin. Ich hatte Vieles erreicht und hoffte Alles von meiner Laufbahn; das ist zu Ende in dem Augenblicke, wo die öffentliche Schande mich erreicht. Weder meine Stellung, noch meine Beziehungen zum Fürstenhause können davor bestehen; ich muß sie lösen, um hinfort in der Dunkelheit und Thatenlosigkeit einen entehrten Namen zu verbergen. Für eine Natur wie die meinige heißt das den Untergang aussprechen. Gertrud, die Macht und das Recht dazu liegt in Ihren Händen. Sie üben nur Wiedervergeltung; – wenn Sie es können, so vernichten Sie mich.“

Ein Aufstöhnen entrang sich der Brust des gequälten Mädchens; sie wollte fliehen, aber der Bann seines Auges, seiner Stimme hielt sie willenlos gefesselt. Er stand vor ihr, ohne Bitte, aber auch ohne Vorwurf, nur sein Auge brannte in leidenschaftlicher Unruhe, es tauchte tief, tief in das ihrige, als wolle und müsse er jetzt bis auf den Grund ihrer Seele schauen.

„Gertrud! Es gilt die Ehre Ihres Vaters, und es gilt mein Verderben – vernichten Sie mich!“

Die Arme des Mädchens sanken schlaff hernieder, mit einem herzzerreißenden Ausdruck hob sie, wie um Erbarmen flehend, den Blick zu ihm, er traf den seinigen, eine Secunde verfloß, eine Ewigkeit für die Beiden, dann plötzlich faßte Gertrud mit beiden Händen krampfhaft das verhängnißvolle Blatt - es flog zerrissen zu seinen Füßen. –

Die Präsidentin stand sprachlos; sie hatte die letzte Scene zwischen den Beiden, Hermann’s unbegreifliches Benehmen, nicht verstanden, erst als sie sah, wie er das Mädchen stürmisch in seine Arme zog, ward ihr die Wahrheit klar. Die stolze alte Frau wankte und stützte sich auf einen Sessel, das war zu viel in einer einzigen Stunde.

[868] Inzwischen lag Gertrud halbohnmächtig in den Armen Hermann’s, der sich mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit zu ihr hinabbeugte, wie ihn die Großmutter noch niemals in seinen kalten, festen Zügen gesehen hatte. Die so heiß verlangte Gewißheit war ihm ja nun geworden, er wußte jetzt auch, für wen sie gestern gezittert.

Aber das energische Mädchen unterlag nur wenige Minuten der furchtbaren Aufregung, sie richtete sich empor und machte sich von seinen Armen los.

„Sie sind gerettet, Graf Arnau. – Leben Sie wohl!“

Er stand wie vom Donner gerührt. „Gertrud, um Gotteswillen, was soll das?“

„Ich verlasse das Haus noch in dieser Stunde. Halten Sie mich nicht zurück, es muß sein.“

„Und meinst Du wirklich,“ rief Hermann, „ich werde Dich gehen lassen? O, jetzt schreckt mich Deine Unbegreiflichkeit nicht mehr. Mit diesem Opfer hast Du mir ein Recht auf Dich gegeben, ich werde es zu behaupten wissen.“

Gertrud sah ihn einen Moment mit tiefem Ernste an.

„Nein,“ sagte sie dann, „mit diesem Opfer habe ich jedes Band zwischen uns auf immer zerrissen. Das Geschehene existirt nicht für die Welt, und die Tochter des Betrügers Brand kann niemals die Gattin des Grafen Arnau sein.“

Er nahm sanft ihre beiden Hände. „Gertrud, nicht diese Bitterkeit. Traust Du mir nicht die Kraft zu, mein Weib gegen das Vorurtheil zu schützen?“

„Ihr Weib vielleicht, aber nicht sich selbst. Mein wahrer Name kann nicht verschwiegen bleiben, sobald ich aus der Abhängigkeit und Verborgenheit hervortrete, und ich habe lange genug in aristokratischen Familien gelebt, um zu wissen, wie man dort über solche Punkte denkt. Man würde Ihnen die bürgerliche Gattin kaum verzeihen, die beschimpfte nie. Sie würden den fortwährenden Anfeindungen erliegen, und schließlich doch das so sehr gehaßte Dunkel des Privatlebens aufsuchen müssen – um meinetwillen.“

Die Präsidentin, die bisher wie vernichtet dagestanden, athmete wieder auf bei diesen Worten, deren Wirkung auf ihren Enkel ihr nicht entging. Er mochte wohl selbst die unumstößliche Wahrheit derselben empfinden, aber noch sträubte er sich dagegen.

„Gertrud, wir können in dieser Stunde, unter dem Einfluß dieser Aufregung, keinen endgültigen Entschluß über unsere Zukunft fassen. Versprechen Sie mir später –“

„Nicht später,“ unterbrach sie ihn fest, „jetzt muß das Wort der Trennung ausgesprochen werden. Graf Arnau, Sie kennen die Verhältnisse unseres Landes und Hofes besser als jeder Andere – antworten Sie mir! Kann Ihr Einfluß, Ihre Laufbahn noch ferner bestehen, wenn Sie mit dem gesammten Adel und dem Fürstenhause brechen?“

Der Graf sah zu Boden, er hatte keine Antwort.

„Ich wußte es! Und nun hören Sie mein letztes Wort. Ich will das schwere Opfer nicht umsonst gebracht haben, und deshalb kann ich unter den einmal bestehenden Verhältnissen nie Ihr Weib werden. Versuchen Sie nicht, mich aufzufinden oder umzustimmen, es würde vergebens sein. Ich rette mit diesem Entschluß Ihre Zukunft und diese wiegt bei einer Natur wie die Ihrige wohl die Liebe eines Weibes auf. Leben Sie wohl!“

Es klang doch eine unendliche Bitterkeit aus den letzten Worten, aber sie ließ ihm keine Zeit zur Erwiderung, sondern schritt hochaufgerichtet nach der Thür; hier aber trat ihr die Präsidentin entgegen. Sie reichte ihr wortlos, aber in tiefster innerster Bewegung beide Hände. Nur einen Moment lang legte Gertrud die ihrige hinein, dann verschwand sie im anstoßenden Zimmer.

Die Präsidentin trat zu ihrem Enkel und legte die Hand auf seine Schulter. „Danke es der Hochherzigkeit des Mädchens, Hermann, daß sie Dich vor einer Thorheit bewahrte, an der Du Dein Lebenlang zu büßen hättest. Sie rettete Dich und uns Alle!“

Der Graf antwortete nicht, er blickte unverwandt nach der Thür, die sich hinter Gertrud geschlossen hatte.

Die Präsidentin beugte sich nieder und hob sorgfältig jeden einzelnen Fetzen des zerrissenen Papiers vom Boden auf, dann zündete sie ein Licht an und hielt die Stücke über die Flamme. Sie loderten auf, und als das letzte in Staub und Asche niedersank, athmete die alte Frau tief auf. „Gott sei Dank! Jetzt ist das Unheil zu Ende!“

[882] Sechs Monate waren vergangen, der Winter hatte sein Regiment bereits mit aller Strenge angetreten und die herannahenden Weihnachten kündigten sich mit einem tüchtigen Schneefall an. Vom Kirchthurm des Dörfchens M. läutete die Mittagsglocke, ein überall willkommener Klang, der auch im Pfarrhause freudig begrüßt ward, dessen gesammte jugendliche Bevölkerung mit unendlich gesteigertem Appetit von einer heißen Schlacht kam, die sie draußen im Garten mit Schneeballen einander geliefert. Fünf kleine, frische, von der Kälte roth angehauchte Gesichter reihten sich um den Mittagstisch, und sprachen mit großem Eifer und vollem Interesse den dampfenden Schüsseln zu.

Der Pfarrer, ein schon älterer Mann mit einem freundlichen, milden Gesicht, schien heute ungewöhnlich ernst und nachdenkend. Er teilte seine Aufmerksamkeit zwischen den Kindern und deren Erzieherin, die ihm gegenüber saß, die beiden Kleinsten zur Seite. Es lag eine liebevolle Sorgfalt, zugleich aber eine ruhige Entschiedenheit in der Art, wie sie die lebhafte kleine Gesellschaft befriedigte und in Ordnung hielt, dafür schien diese aber auch mit großer Zärtlichkeit an ihr zu hängen. Fräulein Walter vermochte sich kaum zu retten vor all den Erzählungen und Mittheilungen, in denen eins der unaufhörlich plaudernden Mündchen das andere überbot.

Endlich war das Mittagsessen zu Ende und die kleine wilde Schaar stürmte nach erhaltener Erlaubniß wieder hinaus, um die noch andauernde Freistunde diesmal einer friedlicheren Beschäftigung, nämlich der Errichtung eines Schneemannes, zu widmen.

Gertrud hatte einen Schlüsselkorb ergriffen und wollte gleichfalls das Zimmer verlassen, als der Pfarrer sie zurückhielt, mit der Bitte, ihm auf eine Viertelstunde in seine Studirstube zu folgen, er habe Wichtiges mit ihr zu besprechen. Bereitwillig setzte sie das Körbchen wieder hin und entsprach der Aufforderung. Dies Wichtige war nicht schwer zu errathen; das Weihnachtsfest stand ja bevor und fünf kleine Tischchen sollten besetzt werden.

Indessen schien die Einleitung dieser gewiß sehr harmlosen Ueberlegung dem Herrn Pfarrer einige Mühe zu verursachen, er hustete mehrere Male verlegen, und nahm endlich mit sichtbarer Befangenheit das Wort.

„Zuerst, Fräulein Walter, nehmen Sie meinen innigsten aufrichtigsten Dank für Alles, was Sie mir und meinen Kindern bisher gewesen sind.“

Gertrud sah verwundert auf, die Einleitung klang seltsam feierlich. „Ich that nur meine Pflicht,“ sagte sie ruhig ablehnend.

„O nein, mehr, weit mehr thaten Sie!“ Die anfängliche Befangenheit des Mannes wich jetzt einer warmen Herzlichkeit. „Sie übernahmen nur die Pflicht, den Kindern Unterricht zu ertheilen, und Sie sind ihnen die liebevollste Hüterin, meinem verwaisten Haushalt die treueste Stütze gewesen. Erst seit Ihrem Hiersein weiß ich wieder, daß ich eine Heimath, eine Häuslichkeit besitze.“

Gertrud blieb völlig unbefangen und ahnungslos. „Ich that, was ich vermochte. Die verlorene Mutter freilich kann eine Fremde den Kindern nie ersetzen.“

„Ja, das war’s, wovon ich mit Ihnen sprechen wollte,“ unterbrach sie der Pfarrer hastig. „Ich kann es mir trotz alledem nicht verhehlen, daß meinen Kindern die Mutter, meinem Hause die Frau nothwendig ist, und daß ich –“ er hielt plötzlich inne, denn Gertrud war mit einer unwillkürlichen Bewegung des Schreckens von ihm weggerückt. „Wünschen Sie, daß ich schweige?“

Sie war bleich geworden, aber sie schüttelte leise den Kopf. „Ich bitte, sprechen Sie weiter.“

Er stand auf und ergriff ihre Hand. „Seit den fünf Monaten, daß Sie hier sind, habe ich das Wort unendlich oft auf der Zunge gehabt, und es ebenso oft wieder unterdrückt. Es lag und liegt in Ihrem Wesen etwas, das – lassen Sie mich ganz aufrichtig sein – das mich drückte und fern hielt. Wenn ich Sie noch so freundlich und willig im Hause schalten, und unter Ihren Händen Alles gedeihen sah, ich konnte mich doch nie des Gedankens erwehren, daß Sie im Grunde für einen ganz anderen Lebenskreis geschaffen seien. Aber einmal muß es doch ausgesprochen werden. Sie sind jung, schön und reich begabt in jeder Hinsicht, ich bin ein älterer Mann, ich habe Ihnen nichts zu bieten, als ein einfaches, sehr einfaches Haus, bescheidene Verhältnisse und die Theilnahme an der Sorge für fünf unerzogene Kinder. Kann Ihnen die Liebe dieser Kinder, die Dankbarkeit eines Mannes, der Sie aus vollstem Herzen ehrt und bewundert, ein Ersatz für so manches Opfer sein, das Sie mit Ihrer Einwilligung bringen, so – würden Sie mich sehr glücklich machen.“

Gertrud hatte regungslos, mit gesenkten Augen zugehört, die Blässe ihres Gesichts war noch tiefer geworden, aber ihre Stimme klang ruhig.

„Ihr Antrag ehrt mich, Herr Pfarrer, aber Sie thun mir unrecht, wenn Sie meinen, daß einfache Verhältnisse und Pflichten meiner Natur zuwider sind. Ich habe in Ihrem Hause zum ersten Male wieder empfunden, was es heißt, mit Liebe empfangen und [883] umgeben zu sein; ich –“ sie wollte die Hand heben, und legte sie plötzlich, statt in die des Pfarrers, wie von einem plötzlichen Schmerz durchzuckt, auf die Brust.

„Fehlt Ihnen etwas?“ fragte er besorgt.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „O nein, es ist Nichts. Ich wollte Sie bitten, mir eine kurze Bedenkzeit zu gewähren. In wenig Stunden sollen Sie meine Antwort haben.“

Der Pfarrer mochte wohl kaum eine so günstige Aufnahme seines Antrages erwartet haben. Eine kurze Bedenkzeit ist ja meistentheils nur die Form des Anstandes, hinter der sich das Ja verbirgt. Er ergriff mit froher Herzlichkeit ihre beiden Hände.

„Wie Sie wollen, liebes Fräulein, so lange Sie wollen. Ich will Ihr Ja keiner Uebereilung verdanken. Gehen Sie ungestört mit sich zu Rathe, und dann sagen Sie mir aufrichtig Ihren Entschluß.“ – – –

Eine Stunde war vergangen, Gertrud saß in ihrem im oberen Stock gelegenen Zimmer, in tiefes Nachdenken verloren. Wie vorhin preßte sie unwillkürlich die Hand gegen die Brust. Da drinnen war etwas, was sich noch immer nicht der starren eisigen Ruhe gefangen geben wollte! Hatte es sich nicht vorhin wieder aufgebäumt in heißem zuckendem Weh, als sie im Begriff stand, ihre Einwilligung auszusprechen? Hatte es sie nicht in ahnender Angst wie von einem Abgrund zurückgerissen, und das Ja, das bereits auf ihren Lippen schwebte, mit einem lauten Nein, Nein erstickt? Und es mußte doch jetzt ein Ende gemacht werden mit der Schwäche! Sie war, wenn auch noch nicht vergessen, doch völlig aufgegeben und hätte es nicht nöthig gehabt, sich so ängstlich vor etwaigen Nachforschungen zu verbergen. Hermann hatte keinen Versuch gemacht, sie aufzufinden, oder wenigstens ein letztes Abschiedswort an sie gelangen zu lassen. Er hatte den Ernst ihres Entschlusses, die Wahrheit ihrer Worte erkannt, und fügte sich fest und stark in das Unvermeidliche, aber es zerriß doch das Herz des Mädchens, daß er so fest und stark zu sein vermochte. Freilich, ihm blieb ja noch seine Zukunft, um derenwillen er sie aufgegeben, und ihr?

Sie war entschlossen, die Hand des Pfarrers anzunehmen. Was konnte sie, die Einsame, Heimathlose, Besseres verlangen, als einen eigenen Heerd, die Zuneigung eines geachteten Mannes und die vielleicht schweren, aber doch lohnenden Pflichten in der Erziehung seiner Kinder. Freilich, er hatte recht gesehen, es war ein Element in dem Mädchen, das sich energisch sträubte gegen diese Zukunft, die er ihr bot, in der Abgeschiedenheit des kleinen Dörfchens, in dem immer gleichen Kreislauf von häuslichen Verrichtungen, fern von der Welt und all ihren Berührungspunkten – aber Gertrud war es müde, noch ferner ziellos und planlos von einer Abhängigkeit in die andere zu gehen, sie sehnte sich nach dem Hafen, wußte sie gleich, daß er das Grab alles dessen werden würde, was sie Leben nannte.

Das Schneetreiben hatte wieder begonnen; Gertrud öffnete das Fenster und blickte hinaus, ohne der Winterkälte zu achten, es war ja die letzte freie Stunde ihres Lebens, in der nächsten hatte sie sich gebunden für immer. Drüben von der fernen Landstraße her tönte der Klang eines Posthorns durch den fallenden Schnee. Lautlos und dicht sanken die Flocken vom grauen Winterhimmel, lautlos und dicht legten sie sich auf die erstarrte Erde. Die Felder und Wiesen ringsum, die Zweige der Bäume und die Dächer der Häuser, Alles trug das kalte formlose Schneegewand, und still und einsam lag das Dorf, wie eingesargt unter der weißen Leichendecke.

Plötzlich aber wurde diese Ruhe durch ein ungewöhnliches Ereigniß gestört, der Klang des Posthorns erstarb nicht wie sonst in der Ferne, er schmetterte nah und näher, laut und lustig, und jetzt gesellte sich dazu auch das Knarren und Aechzen der Räder. Von vier dampfenden Pferden gezogen arbeitete sich eine Postchaise mühsam durch den fußtiefen Schnee, bis sie vor der Thür des Pfarrhauses Halt machte. Der Schlag ward aufgerissen, ein Herr im Pelze sprang heraus, und mit einem Schrei des Entsetzens, des Entzückens flog Gertrud vom Fenster zurück.

„Hermann !“

Drunten hatte indessen das unerhörte Ereigniß, die Ankunft eines Gastes in vierspänniger Extrapost, das ganze Pfarrhaus in Alarm gebracht. Die gesammte Kinderschaar stürzte auf den Hausflur, die Thür der Studirstube ward eilig aufgerissen, Hin- und Herreden wurde laut, bis endlich eine fremde feste Stimme sich, den ganzen Tumult beherrschend, erhob.

„Bemühen Sie sich nicht, Herr Pfarrer. Fräulein Walter wird mich entschuldigen, wenn ich ohne besondere Anmeldung bei ihr eintrete. Ich habe ihr wichtige Nachrichten zu überbringen.“

Eiligen Schrittes kam Jemand die Treppe herauf, die Thür flog auf, Graf Arnau stand auf der Schwelle.

Gertrud war keiner Begrüßung, keines Lautes fähig, an allen Gliedern bebend stand sie noch an derselben Stelle wie vorhin, er schloß die Thür und näherte sich ihr.

„Also bis in dies ferne abgelegene Dorf sind Sie vor mir geflohen? Gertrud, glaubten Sie denn in der That, ich würde Sie nicht finden?“ Seine Augen ruhten ernst und vorwurfsvoll auf ihrem Gesicht.

Sie machte einen Versuch, ihre Fassung wiederzugewinnen. „Herr Graf, ich weiß in der That nicht, wie ich Ihr plötzliches Erscheinen deuten soll, nachdem –“

„Nachdem ich so lange geschwiegen? Wie, Gertrud, auch Sie haben mich verkannt? Sie haben mich für schwach und feig genug gehalten, Ihr großherziges Opfer unbedingt anzunehmen?“

Sie senkte das Auge, ein Nein auf diese Frage wäre – Lüge gewesen. Er trat ganz nahe und ergriff ihre Hand.

„Ich kannte Sie genug, um zu wissen, daß Ihre Erklärung die Bedeutung eines Schwures hatte, und daß jedem Versuche, Sie umzustimmen, nur ein erneutes Nein! gefolgt wäre, und es liegt nun einmal nicht in meiner Natur, mich in nutzlosen Klagen und Betheuerungen zu ergehen. Ich zog es vor zu schweigen – bis ich handeln durfte.“

„Handeln?“ Sie sah ihn ungewiß, zweifelnd an.

„Ja. Du hattest Recht mit Deinen Abschiedsworten, das wußte Niemand besser als ich selbst. In unserer kleinen Residenz, wo jede Skandalgeschichte unvergessen schläft, bis die Klatschsucht sie zum Verderben einer Familie wieder aufweckt, in unserem Fürstenthum, wo jede bedeutende Stellung lediglich von der Hofgunst abhängt, inmitten eines Adels, dessen Vorurtheile noch nicht von dem leisesten Hauch der Neuzeit angeweht sind, wäre meine Laufbahn in der That verschüttet gewesen, hätte ich Gertrud Brand mein Weib genannt. Eine Verbindung zwischen uns unter diesen Verhältnissen war eine Unmöglichkeit.“

„Nun, also –?“

„Also mußten diese Verhältnisse gelöst werden. Ich bin frei.“

„Hermann! Was hast Du gethan!“

Sein Antlitz leuchtete wieder auf, in jenem Ausdruck, den bisher nur sie noch gesehen, und unter dem die herben harten Züge so eigenthümlich mild erschienen. Trotz des Schreckens lag in ihren Worten doch ein unendliches Zugeständniß, das er bisher noch nicht vermocht hatte ihr zu entreißen: das erste „Du“ aus ihrem Munde.

„Ich habe meinen Abschied genommen. Erschrick nicht, es gilt darum noch nicht die ganze Zukunft. Ich bin nun einmal keine von den Naturen, die es vermögen, jahraus, jahrein ruhig auf ihren Gütern zu sitzen und die Welt draußen gehen zu lassen, wie es ihr gefällt, und auch Du bist nicht geschaffen für einen so eng begrenzten Lebenskreis. Schon vor Jahresfrist machte man mir Anträge, in ***sche Staatsdienste zu treten, ich lehnte damals ab, weil mir bei meinen Verbindungen und Aussichten die erste Stelle in unserem Fürstenthume gewiß schien. Unmittelbar nach Deiner Abreise wurden jene Verhandlungen wieder aufgenommen. Es galt freiwillig einige Stufen herabzusteigen, um dort, etwas mühevoller vielleicht als bisher, wieder emporzusteigen. Und ich werde emporsteigen, verlaß Dich darauf.“

Er sagte das einfach und ruhig; aber Gertrud fühlte dennoch tief, welch ein Opfer ihr der ehrgeizige Mann gebracht; ihre Brust hob sich in freudigem Stolze, sie wußte jetzt, was sie ihm werth war.

„Jetzt ist Alles geordnet,“ fuhr er nach einer augenblicklichen Pause fort. „Ich trete im nächsten Monate meine neue Stellung in B. an; ich werde aber nicht dorthin gehen, ohne mein Weib mit mir zu nehmen. Gertrud, wirst Du mir folgen?“

Sein Arm umschlang fest und leidenschaftlich das nicht mehr widerstrebende Mädchen; sie lehnte den Kopf an seine Schulter.

„Hermann, glaubst Du denn, daß wir dort –“

„In B. sind wir fremd, dort kennt Niemand das Verbrechen und die unseligen Erinnerungen, die sich daran knüpfen, und sollte auch in späteren Tagen etwas davon verlauten – in dem Wogen und Treiben der großen Hauptstadt ist keine bleibende [884] Stätte für ferne dunkle Gerüchte aus alter Zeit. Ueberdies stehe ich in keiner Beziehung zu dem dortigen Hofe; beliebt es ihm nicht, meine bürgerliche Gemahlin zu empfangen, so wird es mir leicht sein, ihn zu meiden, und wir werden in anderen Kreisen hinreichenden Ersatz dafür finden. Laß es meine Sorge sein, der Gräfin Arnau in diesen Kreisen die ihr gebührende Stellung zu sichern.“

Eine dunkle Röthe übergoß Gertrud’s Antlitz bei den letzten Worten; den einst so glühend gehaßten Namen, sie hörte ihn jetzt zum ersten Male als ihren künftigen aussprechen.

„Und Deine Großmutter?“ fragte sie leise.

Das Antlitz des Grafen verdüsterte sich. „Mit ihr hatte ich einen schweren Kampf zu bestehen, denn sie allein errieth den Grund meiner Handlungsweise, die sonst Niemand begriff. Sie dankt es ihrem Starrsinn, wenn dereinst eine fremde Hand ihr die Augen zudrückt. Wir sind unversöhnt geschieden.“

„O Hermann, Du brichst mit Allem um meinetwillen!“

Er hob sanft ihr Haupt empor und sah ihr in’s Auge. „Und Du gabst Dein Heiligstes hin, das Andenken Deines Vaters, um mich zu retten. Opfer um Opfer! Gertrud, ich bin nicht mehr der kalte Egoist, der nichts kennt als seinen Ehrgeiz. Du weißt es, was mich hart und bitter gemacht hat, was meine Jugend vergiftete und mir schon als Kind die Liebe und das Vertrauen zu den Menschen nahm – gieb Du sie mir wieder!“

Der volle heiße Blick der Liebe in ihren Augen gab ihm Antwort. „Ich habe eine Bitte an Dich, Hermann, es ist die erste. Laß das Geschehene auch zwischen uns begraben sein, laß uns mit keinem Worte mehr daran rühren. Wir wollen es vergessen – für immer.“

„Für immer!“

Draußen fiel der Schnee noch immer, lautlos und dicht und legte sich fest und kalt auf die erstarrte Erde; aber hier innen schlugen zwei Herzen warm und voll einander und ihrer neuen Zukunft entgegen. Den alten Fluch, der so lange das Leben der Beiden verdüstert und sie auf ewig zu trennen schien, sie hatten ihn gelöst mit eigener kraftvoller Hand. Nicht gerächt, aber gesühnt war das Verbrechen, und Beide fühlten jetzt, was die alte Präsidentin aussprach, als das letzte Blatt jener Anklage in Staub und Asche niedersank: „Gott sei Dank! Jetzt ist das Unheil zu Ende!“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: bebegabten
  2. Vorlage: Grau