Auf dem Observatorium
Es ist Nachmittags gegen drei Uhr – ein herrlicher Septembernachmittag. Die Luft ist so klar, rein, der Himmel blau und die Sonne golden und über dem Moselthale liegen der Duft und Glanz und Zauber des Herbstes. Nordöstlich von Corny liegt ein isolirter Bergkegel mit einem alten Wartthurm, dem Ueberbleibsel eines mittelalterlichen Schlosses, vor diesem soll dort oben ein Kloster gestanden haben. Ich will es gern glauben, die Lager ist entzückend, das Land umher reich und fruchtbar und solche Vortheile haben die heiligen Männer immer wahrzunehmen gewußt. Die Bergkuppe heißt Chatel St. Blaise, von unseren Officieren [746] in St. Blasius übersetzt, denn es geht da oben unaufhörlich ein ganz strammer Luftzug. Nach diesem Punkte bewegt sich eine militärische Cavalcade, voran Prinz Friedrich Karl, der Officier an seiner Seite in der Flügeladjutanten-Uniform ist sein persönlicher Adjutant, Major v. Krosigk, ein in der preußischen Armee berühmter Reiter, dem Oberbefehlshaber folgt der Stab, die beiden andern persönlichen Adjutanten, Rittmeister Graf Canitz und v. Normann, – derselbe, der 1866 in der Nacht vom 2. zum 3. Juli aus dem Hauptquartier des Königs den gefahrvollen und historischen Ritt zum Kronprinzen gemacht hatte, – und die Ordonnanzofficiere; fest und rasch geht es den Berg hinan. Wie die Pferde in der warmen Herbstluft sich tummeln, wie sie im Wohlgefühle derselben die weiten Nüstern heben und die stolzen Mähnen schütteln, wie sie elegant und kräftig in wuchtigem, elastischem Tritt ausschreiten!
Oben auf der Kuppe ist es gar nicht so einsam, als es von unten wohl scheinen möchte. Zwei Compagnien Infanterie, dazu Pioniere, die wissen wohl Leben und Bewegung in diese Mauertrümmer zu bringen. Auf dem Plateau der Kuppe sind Bretterbuden aufgeschlagen; Marketender aus Saarbrücken schenken schal gewordenes Bier aus. Aus den Pächterhäusern, die nach der den Winden am wenigsten ausgesetzten Ostseite liegen, kommt munteres Pfeifen und fröhlicher Gesang; in den Ruinen hat man fliegende Kaffeeküchen etablirt; zwischen zwei Mauertrümmer sind Holzstäbe gelegt, an diesen hängen die brodelnden Kaffeekessel, und die Soldaten lachen, sich am Feuer die Hände wärmend und gedeckt durch die dichten Mauerüberreste, des scharfen Windes, der mit Brausen über die Bergkuppe dahinfährt und meint, er könne einem ehrlichen Deutschen die Laune verderben. Am Tage geht das wohl, wird beim Lesen dieser Zeilen manche besorgte Seele in der Heimath denken, aber wie für die Nächte? Auch dafür wissen unsere Soldaten Rath: dem Umstand, daß die früheren Mönche oder Ritter den Wein sehr geliebt zu haben scheinen, verdanken die Söhne unseres Vaterlandes ganz warme und, den Verhältnissen angemessen, ganz comfortable Lagerstätten, das ganze Plateau ist von Kellerräumen in verschiedenen abgeschlossenen Abtheilungen unterminirt und diese haben sie zu Schlafgemächern eingerichtet.
Aus einem der Pächterhäuser ist ein Geräusch zu vernehmen. Wer hätte nicht schon das tickende Klappern eines arbeitenden Telegraphen gehört. Und diese Töne sind dieselben. Aber hier auf diesem einsamen, kahlen Bergkegel, dieses Merk- und Wahrzeichen der modernen Welt? Und doch! heben wir nur ein wenig den Kopf, über diesem geht der weittragende Draht dahin, unten von Jouy herauf, dort hin nach jenem Hause, aus welchem die Laute kommen.
An der am meisten vorgeschobenen Stelle des Berges ist ein Bretterhaus ausgebaut, in diesem befindet sich ein großer Tubus, zwei Officiere bedienen denselben, d. h. sie machen mit Hülfe desselben ihre Beobachtungen über Alles, was in Metz, was um die Stadt, was in der Stadt, was in der Festung und den Lagern der Franzosen vorgeht, und berichten sobald etwas Außergewöhnliches sich ihrem Auge darbietet, an den Telegraphenbeamten, der sogleich die Meldung hinab nach Corny schickt. Eine solche war es auch, die den Prinzen plötzlich das Diner aufheben und unverweilt nach dem St. Blaise aufbreche ließ.
Thun wir einen Blick durch das Glas, ehe der Oberbefehlshaber das Observatorium betritt.
Der wachhabende Officier richtet das Glas, wirft einen Blick durch dasselbe, nimmt seine Uhr heraus und richtet den Zeiger derselben.
„Verzeihen Sie meine Unwissenheit, Herr Lieutenant, wenn ich Sie frage, was Sie hier machen?“
Der Officier lächelt und antwortet: „Ich richte meine Uhr nach der Domuhr von Metz.“
„Ist es möglich? So nahe wäre die Stadt und wir könnten doch nicht hinein?“
„Oder vielmehr so vortrefflich ist dieses Glas, die Stadt ist vielleicht eindreiviertel Meile entfernt,“ versetzte der Officier. „Schauen Sie nur selbst. Dieses imposante, graue, gothische Gebäude ist die Kathedrale von Metz und die Uhr ist drei Minuten vor halb Fünf.“
Wie die Märchenjungfrau von Riesen, so wird Metz von seinen Forts behütet. Dort links der Riesenbau auf der Spitze des Bergabhanges ist Fort St. Quentin, quervor unter dem Dome Fort St. Julien, rechts Fort Quelen, das stärkste, und unter uns das Fort St. Privat. Das Fort Plappeville kann man nicht sehen; es liegt hinter dem Fort St Quentin zurück. Die Lager der Franzosen sind vor unseren Augen blosgelegt, man sieht die Kochfeuer in denselben und die Soldaten, welche das Holz zutragen; man unterscheidet die Farbe der rothen Hosen von den dunkleren Röcken; man kann die Pferde weiden sehen und einzelne militärische Bewegungen verfolgen. Die Festung ist für uns offen, das heißt für unsere Augen, die Festung und auch die Stadt. Jedes einzelne Haus in der Stadt ist uns sichtbar; wir blicken auf die Plätze, die Promenaden der Stadt, auf denen sich die Einwohner ergehen; vor uns liegt ein freier Platz, auf dem eine Kinderschaar sich tummelt, durch den Reifen springt, Fangens spielt; aus einer Straße kommt ein Zug von halberwachsenen Mädchen, die von zwei Nonnen an die Luft geführt werden; neben dem Dome breitet sich ein langes, elegantes Wohnhaus aus; in den Fenstern desselben kann man deutlich die Spitzengardinen sehen, und jetzt wird eines der Fester geöffnet. Eine Dame lehnt sich zu demselben heraus; sie hält etwas wie einen Strauß in den Händen, sie ordnet die einzelnen Blumen mit ihren graziösen Händen, sie führt ihn an die Lippen. Leider, daß eines der Gebäude die Straße verdeckt, sonst könnte man auch sehen, wer vor dem Fenster vorübergeht und von ihr durch dieses Zeichen im Stillen gegrüßt wird, und könnte man den kleinen Roman am Dome von Metz durch den Tubus von St. Blaise weiter verfolgen.
Wir müssen uns auch zurückziehen; der Höchstcommandirende kommt auf das Observatorium zu. Schließen wir uns einer Gruppe von Officieren verschiedener Waffengattungen an, welche aus den um den St. Blaise umherliegenden Cantonnements herausgekommen ist und sich an einer günstigen Stelle gelagert hat. Einer derselben zeigt seinen Cameraden jedes einzelne größere Haus in Metz, die öffentlichen Militärbildungsanstalten, die Gebäude der Staatsverwaltung, das Palais des Bischofs von Metz, das Theater, die Vergnügungsplätze, die Palais der reichsten Einwohner.
„Aber zum Teufel, lieber P., woher kennen Sie denn das Alles so genau? Wenn Sie vom Generalstab wären, könnte man sich das wohl denken; denn in den letzten Jahren war für die Herren mit den rothen Streifen Metz und Umgegend ein sehr beliebtes Reiseziel.“
„Natürlich,“ entgegnete der Gefragte lächelnd, „man mußte auf einen Strauß mit den Herren Franzosen auf alle Fälle gerüstet sein, und überraschen wollten wir uns nicht gern lassen. Ich habe in dieser Beziehung vorhin eine recht ergötzliche Scene erlebt. Ich stieg mit einem unserer besten Kartographen von Jouy aus herauf; der Herr war in der Uniform der Ingenieurgeographen. Um uns etwas abzukühlen, traten wir in eines der Pächterhäuser. Mein Begleiter begrüßte den Mann und die Frau in einem gewissen vertraulichen Tone, der mir auffiel, weil er eine nähere Bekanntschaft mit den Leuten voraussetzen ließ, und auch die Franzosen machten Miene, als wäre ihnen der Herr bekannt, als wüßten sie nur nicht, um mich eines gewöhnlichen Ausdruckes zu bedienen, wo sie ihn hin thun sollten. Endlich nannte mein Begleiter den Mann und die Frau bei ihren Vornamen. Höchliches Erstaunen derselben, abermalige sehr eingehende Ocularinspection des räthselhaften Prussien, bis dieser dann lachend in die Worte ausbrach: ‚Vater Claude Remy, keunen Sie mich denn nicht mehr?‘
‚Ah, aber nein!‘
‚Ihren Gast vor zwei Jahren während des Sommers?‘
Nun schien den Leuten eine Binde von den Augen zu fallen. Die Uniform war ihnen an meinem Begleiter ungewohnt gewesen und hatte ihren Geistern die Erinnerung verdeckt.
‚Ich wohnte,‘ sagte mir der Geograph beim Weggehen, ‚einen ganzen Sommer hier oben – es war im Jahre 1868 – und hatte mich bei den Leuten eingemiethet; es wollte sie zwar immer sehr sonderbar bedünken, wie ich so großes und langes Gefallen an dieser Aussicht hier oben haben könne. O ja, sagten sie, es kämen wohl Leute aus der Umgegend herauf, aber nur für ein paar Stunden höchstens; so lange wie ich habe sich noch Keiner aufgehalten. Ich machte ihnen aber die Sache plausibel, indem ich mich für einen Maler ausgab; die seien alle, versicherte ich, extraordinaire Menschenkinder, was mir denn die Leute auch nicht widersprachen, und was sie mir um so lieber glaubten, als ich immer Stift und Papier in der Hand hatte. Sie waren der [747] festen Ueberzeugung, daß ich die schöne Stadt Metz malen wollte; daß ich eine Karte von der Umgegend von Metz bearbeitete, davon hatten sie keine Ahnung. Aber jetzt schien ihnen der Maler in Uniform doch etwas seltsam vorzukommen und vielleicht stieg in ihnen auch eine Ahnung von dem wirklichen Sachverhalt auf, doch war davon in ihrem Benehmen nichts zu bemerken, sie waren freundlich und sogar herzlich und boten dem „Herrn Maler“ sogar einen Liqueur an, was bei dem von Natur geizigen französischen Landmanne etwas sagen will.“
„Aber damit, Herr Camerad, haben Sie uns noch immer nicht das Räthsel Ihrer gewonnenen Bekanntschaft mit der alten Römerstadt da drüben gelöst.“
„Verzeihen Sie, wenn ich mir als Beleg für Ihre Bemerkung über die Reisen unserer Generalstabsofficiere diese kleine Abschweifung erlaubte. Woher ich Metz so genau kenne? Weil ich dort zwei Jahre erzogen worden bin, oder vielmehr weil man mich dort zu dressiren suchte. Sehen Sie dort das lange graue Klostergebäude mit der Kirche links vom Dome? Dort ist das Jesuitencollegium und dort war ich zwei Jahre Eleve.“
„Wie? Sie ein Zögling der Jesuiten? Ah!“
„Erschrecken Sie nicht! Hat der Weg von der Caserne schon manchmal in das Priesterseminar geführt, warum nicht umgekehrt aus demselben in die Caserne; wie bei mir?! Ich habe mir die Erziehung übrigens bald abgewöhnt. Meine Verwandten hatten mich in das Kloster gesteckt, aber die frommen Väter waren froh, als sie des ‚ausgelassenen Deutschen‘ wieder los waren.“
Bisher hatte ringsum tiefe Stille geherrscht – nichts von einer Action war zu hören, selbst die Geschütze der Forts schwiegen, die doch immer so munter sind. Denn wenn die Munition nicht in die Hände der Preußen fallen soll, so muß sie lustig verschossen werden. Die mancherlei Bewegungen der Franzosen, die man wahrgenommen hatte, schienen doch einen andern Zweck gehabt zu haben, als den eines Ausfalls, – aber plötzlich ändert sich die Situation. – In der Ferne wird ein lebhaftes Gewehrfeuer vernehmbar. Nach der Gegend des Forts Quelen richten sich die Gläser und die Aufmerksamkeit. Dort nach rechts hin sieht man auch leichte Rauchwolken aufsteigen. Das Feuer wird schwächer, dann schweigt es einige Zeit, man kann nur einzelne Schüsse vernehmen, unregelmäßig, unruhig wie Fieberpulse – das sind die Chassepots; dann wird das Feuer wieder lebhafter, disciplinirter möchte man sagen, wie nach festen Zielpunkten gerichtet – jedenfalls kommt es von unseren Zündnadelgewehren.
Die Franzosen scheinen wieder einen kleinen Fourageurfeldzug gegen ein von uns besetztes Dorf unternommen zu haben, wird die Ansicht unter den Officieren laut. Schade, daß jener Höhenzug uns den Ort des Rencontres verdeckt. Richtig – dort, sehen Sie dort die Flammen? – Das Dorf brennt – es ist im gegenseitigen Kampfe in Brand geschossen. Man sieht in der Ferne von vielleicht anderthalb Meile eine Lohe in den bereits dunkelnden Himmel aufschlagen. Das Schießen wird heftiger und hält in der Lebhaftigkeit etwa eine halbe Stunde an, darauf läßt es etwas nach, wird schwächer und schwächer, zuletzt nur hier und da noch einzelne Schüsse – der Kampf scheint niedergebrannt zu sein, wie die Scheunen, um welche er entbrannt war. Der Feind scheint auf dem Rückzuge unter die Forts zu sein – urtheilen die Officiere unter sich. Ist’s nicht so? Hören Sie die Brummer von Quelen, meine Herren? Sie schicken unseren Leuten noch einige Bonbons herüber, damit diesen die Lust vergehe, ihnen die Kartoffeln und die Fourage wieder abzukneifen. Aber nicht nur denen drüben – auch uns. Aufgepaßt, meine Herren! Sehen Sie, hier kommt sie herüber, die Granate aus der Batterie von Sablon, dort unten crepirt sie, nur tausend Schritte von uns – schade! Ach, meine Herren Collegen von der französischen Artillerie, Sie schießen sehr schlecht. Sie müßten wissen, daß Sie nicht auf achttausend Schritt, sondern höchstens auf siebentausend treffen können, daß bis hierher also tausend zu viel sind. Unten bei den Pappeln crepirt sie, und wir hier oben warten darauf, freuen uns der kleine Aufregung, und nun verderben Sie uns so den Spaß. Das ist nicht cameradschaftlich. Wenn wir mit unseren gezogenen Vierundzwanzigpfündern auf solche Distancen uns einlassen, dann erreichen wir sie auch, und dann, meine Herren –– Guten Abend!
Die Dunkel des Abends, die sich über Berg und Thal breiten, mahnen zum Aufbruch. Ueberall hin die Stille des Herbstes, und durch die Ruhe des Abends hört man nur das Schnauben der Pferde. Von zwei Seiten des Berges geht die Cavalcade hinab, nach zwei Zielpunkten, nach Jouy mit den umliegenden Cantonnements, und nach dem Schlosse von Corny.
Die Laternen des Schlosses werfen ihr grelles Licht auf eine Gruppe inmitten des Schloßhofes. Fünf Schwedter Dragoner mit aufgesetztem Carabiner bilden einen Kreis um neun Männer. Dieselben tragen sämmtlich die landesübliche Blouse, nur einer einen hellen Sommeranzug; es sind Leute von zwanzig bis fünfzig Jahren; einer von ihnen, der älteste, unterscheidet sich von den Uebrigen durch seine Corpulenz. Alle sind barhaupt, im Ganzen auch die jüngeren finstere, unheimliche, abstoßende Erscheinungen.
„Camerad,“ wendet sich ein Officier zu dem Dragoner, „wer sind die Leute?“
„Aus einem Dorfe bei Briey; sie haben mit den übrigen Einwohnern desselben Mannschaften vom fünfunddreißigsten Regiment beim Requiriren überfallen, fünf getödtet und mehrere verwundet. Dann haben sie gegen eine Schwadron Husaren, die außerhalb des Dorfes bivouakirte, die Franzosen herbeigeholt. Das ging nämlich so zu. Ein Detachement der Schwadron kam in das Dorf geritten und hatte hier vor einer Scheune abgesessen. Plötzlich hören sie Cavallerie ankommen, glauben aber, da es bereits Nacht ist und sie die Uniformen nicht erkennen können, daß es Leute von den Unseren seien, bis sie französische Zurufe vernehmen, und die französischen Cavalleristen auch schon gleich auf sie einhauen. Diese waren wenigstens dreimal so viel, als Preußen. Ich sage Ihnen, keiner von unseren Landsleuten wäre wohl lebend mehr aus dem Dorfe gekommen, ohne den Trompeter. Ja, Herr Hauptmann, ohne den Trompeter. Der, nicht faul, kletterte von der Tenne der Scheue hinauf auf den Heuboden, dort hatte er eine Dachluke bemerkt, durch die steckte er die Trompete und blies für die Schwadron außerhalb des Dorfes das Alarmzeichen so feste und laut, daß die draußen auch nicht lange auf sich warten ließen und dann die Franzosen in die Flucht jagten. Das war wieder ein richtiges Trompeterstückchen. Der im Sommerhabit, der so schlottert, ist der Schulmeister, der Dicke der Maire, und nun sollen wir sie zum fünfunddreißigsten Regiment bringen. Das wird nicht viel Federlesens mit ihnen machen. Gute Nacht, Herr Hauptmann. Vorwärts mit Euch!“
Aus dem hell erleuchteten Hof geht der Zug zwischen den Posten hindurch hinaus in die Nacht und unter dem Rauschen der Bäume hin dem Grauen des Todes entgegen.