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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 45. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften 5 Ngr.


Hermann.
Novelle von C. Werner.

„Aber Doctor, sagen Sie doch ums Himmelswillen, was ist eigentlich an der Sache?“

„Die ganze Stadt spricht bereits davon, und wir wissen noch immer nichts Bestimmtes!“

„Doctor, ich bitte Sie; es ist ja unmöglich, es kann ja nicht sein!“

Der, an den alle diese Fragen und Ausrufungen gerichtet waren, stieß ärgerlich seinen Stock gegen den Fußboden und erwiderte in ziemlich trockenem Tone: „Was Sie für möglich oder nicht möglich halten, meine Herren, weiß ich nicht; das Factum ist, daß in der Casse die Summe von zwanzigtausend Thalern fehlt und daß der Rentmeister Brand sich heute Morgen erschossen hat. Suchen Sie sich selbst den Zusammenhang zwischen den beiden Thatsachen.“

Die sämmtlichen Beamten des fürstlichen Rentamtes umstanden mit bleichen entsetzten Gesichtern den ersten Arzt der Stadt, aus dessen Munde sie soeben die Bestätigung eines Gerüchtes erhielten, das bereits seit mehreren Stunden die ganze kleine Residenz in Aufregung brachte.

„Also wirklich? Und man sagt, das Unglück sei in der Wohnung des Grafen Arnau geschehen!“

„In seinem Arbeitszimmer! Der Graf hegte schon seit mehreren Tagen Verdacht gegen den Rentmeister und ließ ihn heute Morgen deshalb zu sich rufen. Er stellte ihn zur Rede und sagte ihm schließlich das Verbrechen auf den Kopf zu. Brand wollte anfangs leugnen, gestand aber endlich und bat um Schonung, die ihm natürlich nicht gewährt werden konnte; als der Graf nach der Klingel greift, um ihn verhaften zu lassen, zieht er ein Pistol hervor und erschießt sich vor den Augen Seiner Excellenz.“

„Wissen Sie den Hergang durch Seine Excellenz selbst?“ fragte einer von den älteren Beamten.

„Aus seinem eigenen Munde.“

„So?“

„Wie meinen Sie?“ fragte der Arzt, verwundert über den eigenthümlichen Ton dieses „So?“

„O, nichts! Ich kann nur den Gedanken nicht fassen. daß der Rentmeister ein Betrüger sein soll. Brand, der Pünktlichste, Gewissenhafteste von Allen, der nicht die kleinste Unregelmäßigkeit im Amte geduldet hätte –“

„Sie sehen, wie der Schein trügt. Gerade diese so sehr zur Schau getragene Gewissenhaftigkeit mußte den Deckmantel für seine Schurkerei abgeben.“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Und dennoch – es kann nicht sein. Ich hätte jeden Andern eher dessen fähig gehalten, jeden, nur Brand nicht! Ist es denn sicher erwiesen, daß –“

Der Doctor machte eine ungeduldige Bewegung. „Mein lieber Weiß, ich bin kein Criminalbeamter. Die Untersuchung wird jedenfalls das Nähere ergeben; vorläufig hat man die sämmtlichen Papiere des Verstorbenen, hier wie in seiner Wohnung, mit Beschlag belegt, und Graf Arnau hat, wie ich höre, persönlich die Durchsicht übernommen – aber meine Zeit ist gemessen, ich muß zu der Gräfin.“

„Mein Gott, die arme Frau!“ mischte sich einer der anderen Herren in’s Gespräch. „Wie geht es ihr?“

Der Arzt zuckte mit ernster Miene die Achseln „Schlecht! wie das leider nicht anders zu erwarten stand. Solch ein Vorfall im eigenen Hause kann schon Gesunde krank machen, und wenn man sich im vorletzten Stadium der Schwindsucht befindet und sorgfältig vor jeder Aufregung gehütet werden muß, kann er den Tod geben. Ich muß jedenfalls noch einmal nach ihr sehen. Adieu, meine Herren!“

Er nahm Hut und Stock und verließ mit kurzem Gruße das Bureau des Rentamtes, wo die Unterredung stattgefunden, um sich nach dem Hause des Kammerherrn Grafen Arnau zu begeben, das in unmittelbarer Nähe des fürstlichen Schlosses lag.

Im Salon der großen, prachtvoll eingerichteten Wohnung befanden sich zwei Damen, die Gemahlin des Grafen und ihre Mutter, die verwittwete Präsidentin von Sternfeld, welche von ihren in der Nähe gelegenen Gütern zum Besuch der Tochter in die Stadt gekommen und erst vor einer Viertelstunde eingetroffen war. Beim ersten Anblick hätte wohl Niemand die beiden Frauen für Mutter und Tochter gehalten, denn es herrschte auch nicht die geringste Aehnlichkeit zwischen ihnen. Die Präsidentin war eine Frau von etwa fünfzig Jahren, eine nicht allzu große, aber kräftige Gestalt, mit Zügen, die wohl niemals schön gewesen, aber noch jetzt bedeutend waren durch einen hervorstechenden Ausdruck von Energie und Festigkeit. Es lag wenig Anziehendes und vor allen Dingen wenig Weibliches in diesem scharf und fest gezeichneten Antlitz, und ihm entsprach das ganze Auftreten. Haltung, Sprache, Alles war kurz, entschieden und befehlend wie bei Jemandem, der in seiner Umgebung an unbedingtes Herrschen gewöhnt ist. Die Gräfin dagegen war eine junge, noch immer schöne Frau, obgleich ihr Aeußeres nur zu deutlich die verheerenden Spuren eines schweren körperlichen Leidens verrieth. Die zarte, [742] gebeugte Gestalt, das milde blasse Antlitz, die sanfte leise Sprache; das Alles bildete den schärfsten Contrast zu der Erscheinung der Mutter.

Den Gegenstand des Gespräches der beiden Damen bildete natürlich das schreckliche Ereigniß des Morgens. Die Gräfin hatte es soeben mit erneuter Aufregung erzählt; ihre Augen zeigten die Spuren frisch vergossener Thränen, und auf den bleichen Wangen brannten zwei fieberrothe Flecken. Die Präsidentin besaß augenscheinlich stärkere Nerven als ihre Tochter; die leidenschaftliche Erzählung derselben schien bei ihr nur einen sehr geringen Eindruck hervorgebracht zu haben. Für sie lag das Peinliche des Vorfalls hauptsächlich darin, daß er sich gerade in der gräflichen Wohnung ereignet hatte.

„Nun, ich will aber doch hoffen, daß man Dir die Sache mit der nöthigen Schonung mitgetheilt hat?“

Die Gräfin schüttelte leise den Kopf. „O Mama, das war nicht möglich! Ich hörte im Cabinet meines Mannes einen Schuß fallen; ich fliege tödtlich erschreckt den Corridor entlang und erreiche in dem Augenblicke die Thür, als Adalbert sie öffnet. Er eilte an mir vorüber, um Hülfe herbeizurufen, und –“

„Und gab Dich einem Anblick preis, der Dir in Deinem leidenden Zustande hätte tödtlich werden können?“ unterbrach sie die Präsidentin mit dem heftigsten Unwillen. „In der That eine unbegreifliche Rücksichtslosigkeit!“

„Mein Gott, Adalbert war selbst so verstört, so außer sich, wie ich ihn nie gesehen. Er hatte alle Fassung verloren, und ich begreife das nur zu sehr. War er es doch, der, wenn auch wider seinen Willen, den Unglücklichen zu jenem verzweifelten Schritte trieb.“

„Dein Mann that nur seine Pflicht,“ erklärte die Präsidentin entschieden, „und der Betrüger erlitt die verdiente Strafe. Er hat sich wenigstens der öffentlichen Schande, aber leider damit auch jeder Rechenschaft entzogen.“

„Aber er hinterläßt Familie, eine Frau und ein Kind von wenig Monaten, ein kleines Mädchen, glaube ich.“

„Das ist traurig; aber besser, daß sie den Mann und Vater todt als im Zuchthause wissen. Nimm den Vorfall nicht so schwer, Ottilie, er steht leider nicht vereinzelt da. Es ist nicht das erste Mal, daß ein ungetreuer Beamter auf solche Weise der Gerechtigkeit vorgreift. Wenn er nur einigen Charakter besaß, so blieb ihm nach erfolgter Entdeckung kaum etwas Anderes übrig.“

Die Gräfin seufzte. Sie hatte augenscheinlich nicht Philosophie genug, das Schreckliche, das sich fast unter ihren Augen ereignete, so leicht bei Seite zu schieben wie ihre Mutter, die jetzt abbrechend fragte: „Wo ist Adalbert?“

„Ich habe ihn noch nicht wiedergesehen. Er leitet selbst die Beschlagnahme der Papiere des Rentmeisters und wird wohl noch mit der Untersuchung beschäftigt sein.“

„Und Hermann? Weshalb kommt er mir nicht wie sonst entgegen?“

Bevor noch die Gräfin antworten konnte, bewegten sich die Falten der Portiere, die den Eingang in’s Nebenzimmer verdeckte, und ein etwa achtjähriger Knabe kam zum Vorschein. Der kleine Graf Arnau war ein kräftiges, aber ziemlich unschönes Kind, das wenig oder gar keine Aehnlichkeit mit der Mutter, dafür aber eine desto größere mit der Großmutter zeigte. Es war derselbe Schnitt des Gesichtes, dieselbe hohe breite Stirn, derselbe scharfe klare Blick, und um den kleinen Mund legten sich bereits die ersten Linien jenes energischen Zuges, der das Antlitz der Präsidentin zugleich so abstoßend und so bedeutend machte. Ob der Knabe immer so blaß aussah wie in diesem Augenblicke, oder ob auch er unter dem Einflusse des Schreckens stand, den der Vorfall des heutigen Morgens im ganzen Hause verbreitet – er lief nicht fröhlich auf die Großmutter zu, sondern ging langsam, fast scheu zu ihrem Sitze und legte stumm die Arme um ihren Hals.

„Wie, Hermann,“ fragte diese mit äußerster Befremdung, „Du warst im Nebenzimmer und kamst nicht zum Vorschein? Was soll das heißen? Seit wann giebst Du Dich, hinter den Vorhängen versteckt, mit Lauschen ab ?“

Der ernste, aber vielleicht nicht allzustreng gemeinte Vorwurf äußerte eine seltsame Wirkung auf den Knaben. Er schrak zusammen bei den letzten Worten und eine jähe Röthe färbte sein eben noch so blasses Gesicht; dabei richtete sich sein Auge mit so angstvollem Ausdrucke auf die Großmutter, daß diese unwillkürlich milder gestimmt fragte: „Aber was hast Du denn heute, Kind? Bist Du auf einmal scheu und furchtsam geworden?“

„Das arme Kind ist noch so erschrocken,“ nahm die Gräfin begütigend das Wort. „Es war im Cabinet plötzlich an meiner Seite und mußte, wie ich selbst, den ganzen furchtbaren Anblick ertragen. Nicht wahr, Hermann, Du hörtest auch den Schuß aus dem Zimmer des Papa und bist mir nachgeeilt?“

Der Knabe antwortete nicht; er verbarg sein Gesicht am Halse der Großmutter, und diese fühlte, wie sein ganzer kleiner Körper in ihren Armen bebte. Die Präsidentin war jedoch nicht die Frau, solche Empfindsamkeit bei ihrem Enkel zu dulden, sie hob beinahe unsanft seinen Kopf empor.

„Das hätte ich in der That von Hermann nicht erwartet. Wenn seine arme kranke Mama durch solch’ einen Schrecken noch kränker wird, so ist das leider nur natürlich; wenn aber ein Knabe der einst ein Mann werden will, noch stundenlang nachher zittert, weil er einen Schuß gehört und eine Leiche gesehen hat, so ist das ein Zeichen von Schwäche und Weichlichkeit, der man bei Zeiten mit aller Energie entgegentreten muß.“

Die scharfen, mit vollster Strenge gesprochenen Worte verletzten den Knaben augenscheinlich auf’s Tiefste. Es lag durchaus keine Furcht und Angst mehr, wohl aber ein entschiedener Trotz in der heftigen Bewegung, mit der er sich plötzlich von der Großmutter losmachte. Mit blitzenden Augen und der Miene tiefster Gekränktheit öffnete er den Mund, wie zur heftigen Gegenrede, da fiel sein Blick auf die Mutter, und eine eigenthümliche Veränderung ging in dem Gesichte des Kindes vor. Die kleinen Lippen preßten sich so fest aufeinander, als wollten sie mit Gewalt jedes Wort zurückdrängen, der Trotz verschwand aus seinen Zügen, die plötzlich einen Ausdruck von Entschlossenheit zeigten, die weit über sein Alter hinausging und die Aehnlichkeit mit der Präsidentin stärker als je hervortreten ließ; er senkte den Kopf und ließ stumm den Vorwurf über sich ergehen.

Die Präsidentin schüttelte den Kopf und wollte eben ihrer Befremdung über dies räthselhafte Benehmen Worte geben, als der Doctor gemeldet ward. Die Gräfin, welche der Mutter durchaus nicht zeigen wollte, wie furchtbar angegriffen sie in der That war, erhob sich anscheinend mühelos und ging ohne alle Unterstützung in’s Nebenzimmer; die ärztliche Visite war nicht von langer Dauer, nach einer Abwesenheit von kaum zehn Minuten kehrte sie in den Salon zurück.

Die Präsidentin saß noch an derselben Stelle wie vorhin, aber sie hatte den Kopf tief zu dem kleinen Hermann herabgebeugt, der neben ihr auf dem Sopha kniete und die Arme um ihren Hals geschlungen hatte. Beim Eintritt der Gräfin schreckten Großmutter und Enkel gleichzeitig zusammen, die erstere legte mit einer hastigen Bewegung ihre Hand auf den Mund des Kindes und, den Kopf emporrichtend, wendete sie sich langsam nach der Tochter um.

„Um Gotteswillen, Mama, was ist Dir?“ rief diese, auf’s Aeußerste erschreckt.

Das Antlitz der Präsidentin war todtenbleich, und der Ausdruck desselben rechtfertigte nur zu sehr die angstvolle Frage; sie versuchte zu antworten, aber die bebenden Lippen schienen ihr den Dienst zu versagen, eine stumm abwehrende Bewegung mit der Hand war die einzige Antwort.

Die Gräfin griff nach der Klingel. „Dir ist nicht wohl, ich will die Jungfer rufen, sie soll sogleich –“

„Bleib’! Ich will Niemand!“ herrschte ihr die Präsidentin beinahe rauh entgegen. Die energische Frau war bereits der Schwäche Herr geworden, obgleich die Farbe noch immer nicht in ihr Gesicht zurückkehrte, und die Lippen noch bebten, als sie ruhiger, aber tonlos hinzusetzte: „Es ist Nichts! Ein plötzlicher Schwindel, er geht bereits vorüber.“

Gräfin Ottilie hatte die Mutter in ihrer eisernen Gesundheit noch nie einer körperlichen Schwäche unterliegen sehen, um so mehr ängstigte sie dieser plötzliche Anfall.

„Willst Du nicht lieber Dein Zimmer aufsuchen?“ fragte sie besorgt. „Die lange Fahrt hat Dich angegriffen. Bleib’ zurück Hermann, Du siehst ja, daß Großmama unwohl ist.“

Mit einer beinahe krampfhaften Bewegung zog die Präsidentin den Knaben an sich. „Hermann geht mit mir! Ich wünsche ihn um mich zu haben. Beunruhige Dich nicht, Ottilie, ich wiederhole Dir, daß der Schwindel vorüber ist. Du bedarfst der Ruhe [743] und Erholung jedenfalls mehr als ich, und deshalb werde ich Hermann mit mir nehmen, er stört Dich nur mit seinem Geplauder.“

Die Anordnung war in so entschiedenem Tone ausgesprochen, daß die Gräfin, welche überhaupt nicht gewohnt war, der Mutter einen Widerspruch entgegenzusetzen, keine Einwendung wagte, sie fügte sich schweigend, wenn auch mit unverhehlter Besorgniß.

Die arme Frau sollte im Laufe des Tages, der so schrecklich für sie begonnen, noch Manches erfahren, was ihr dunkel und räthselhaft blieb. Die Präsidentin ließ sich bei Tische entschuldigen, sie war noch nicht völlig wohl, verweigerte aber auf’s Entschiedenste, den Besuch des Arztes anzunehmen, und ließ dagegen ihren Schwiegersohn ersuchen, sich nach Tische auf einige Minuten zu ihr zu verfügen. Der Graf, auf’s Tiefste verstimmt durch das Ereigniß des Morgens, durch die zahllosen unangenehmen Amtsgeschäfte, die sich für ihn daraus ergaben, und überhaupt in sehr ungeduldiger reizbarer Laune, folgte sichtlich ungern dieser Einladung, um so mehr war die Gräfin erstaunt, daß er so lange bei ihrer Mutter verweilte. Ueber eine Stunde dauerte die Unterredung, von deren Inhalt sie kein Wort erfuhr, denn während der ganzen Zeit blieb die Thür, selbst das Vorzimmer geschlossen. Als Resultat dieses Gespräches aber kündigte die Präsidentin der Tochter an, daß sie schon morgen wieder abzureisen gedenke, und beabsichtige, ihren Enkel, den sie die ganze Zeit über nicht einen Moment von sich gelassen, mit nach ihren Gütern zu nehmen. Sie behauptete, die Lebhaftigkeit des Knaben störe und beunruhige die Mutter, von der man ihn eine Zeit lang trennen müsse, damit sie sich völlig ungestört von ihrer jetzigen Aufregung erholen könne. Der Graf schloß sich dieser Meinung seiner Schwiegermutter mit vollster Entschiedenheit an, Ottilie aber erschrak und sträubte sich heftig gegen diese Zumuthung. Sie wollte ihren Sohn, ihr einziges, mit krankhafter Zärtlichkeit geliebtes Kind nicht von sich lassen, sie nannte es eine grausame Fürsorge, ihr den einzigen Trost in den langen schweren Tagen der Krankheit zu rauben, umsonst – Mutter und Gatte, sonst stets zur Nachgiebigkeit gegen die Leidende geneigt, bestanden diesmal mit einer seltsamen unbegreiflichen Härte auf ihrem Willen, und die Gräfin, schwach, unselbstständig, und von jeher an die Bevormundung leider gewöhnt, mußte endlich nachgeben.

Am anderen Morgen stand in der That der Reisewagen vor der Thür. Ottilie regte sich bei dem halb erzwungenen Abschiede von ihrem Sohne bis zur äußersten Heftigkeit auf, in Thränen zerstiebend nahm sie ihn immer wieder in die Arme, aber auch jetzt verleugnete der Knabe seine eigenthümliche Natur nicht. Wohl zuckte es bisweilen wie ein unterdrücktes Weinen um den kleinen Mund, aber keine Thräne kam in seine Augen, blaß und stumm ließ er sich all’ die Liebkosungen gefallen, bis der Graf endlich ungeduldig ward und ihn aus den Armen seiner Gemahlin nahm. Er führte ihn zur Großmutter und beugte sich dann nieder, um ihm den Abschiedskuß zu geben, stieß aber hier plötzlich auf eine ganz unvermuthete, energische Weigerung des Knaben. Es lag ein unverhülltes Grauen, ja ein förmlicher Abscheu in dem jähen Zurückweichen, womit er sich der väterlichen Liebkosung entzog, und diese Bewegung entging dem Grafen keineswegs. Eine dunkelrothe Wolke stieg auf seiner Stirn empor, ohne ein Wort zu sagen, faßte er die beiden Hände des Kindes, preßte sie fest in die seinigen, und zog es so, dem Anschein nach sanft, in Wirklichkeit aber gewaltsam an sich. Diesmal widerstrebte Hermann nicht, er ließ auch keinen Laut des Schmerzes hören, obgleich der heftige Druck der väterlichen Hand ihm nothwendig wehe thun mußte, aber er biß die kleinen Zähne fest aufeinander, und sein Gesicht nahm einen solchen Ausdruck finsteren Trotzes an, daß der Vater ihn plötzlich losließ und von sich schob. Der Blick aber, der den Knaben dabei traf, war so furchtbar drohend, daß die Präsidentin unwillkürlich die Arme schützend um ihren Enkel legte.

„Adalbert!“

Er wendete sich rasch ab, der ganze Zwischenfall dauerte übrigens nur wenige Secunden und war von Keinem, außer den Betheiligten, bemerkt worden. Die Gräfin lag noch schluchzend im Sopha, und als der Diener eintrat, lächelte der Graf bereits wieder und bot seiner Schwiegermutter den Arm.

„Beruhige Dich, Ottilie! Wir übergeben Hermann ja nur den Händen seiner Großmutter, wo er sicher aufgehoben ist.“

Er legte einen eigenthümlich schweren Ton auf die an sich so harmlosen Worte, und sein Auge streifte dabei das der Präsidentin, die den Blick kalt und fest zurückgab.

„Seien Sie ohne Sorge, Adalbert,“ entgegnete sie kurz, „was ich in meine Obhut nehme, dafür pflege ich einzustehen“ –

Wenige Minuten später saßen die Reisenden im Wagen; der Graf, der sie bis hinab begleitet hatte, verbeugte sich und trat vom Schlage zurück, am Fenster oben erschien das verweinte Antlitz der Gräfin, die ihnen Lebewohl nachwinkte. Als der Wagen zum Thore hinausrollte, athmete die Präsidentin tief auf und zog ihren Enkel mit einer Heftigkeit in die Arme, als habe sie das Kind soeben einer Gefahr entrissen, dieses aber verbarg seinen Kopf an ihrer Schulter, und zum ersten Male während ihres ganzen Zusammenseins brach es in ein lautes bitterliches Weinen aus. –

Das Verbrechen und der darauf folgende Selbstmord des Rentmeisters Brand hatte begreiflicherweise die ganze kleine Residenz, wo nur selten etwas Ungewöhnliches geschah, in Aufruhr gebracht. Der Vorfall erregte um so größeres Aufsehen als der Ausspruch jenes alten Beamten dem Doctor gegenüber die allgemeine Meinung repräsentirte. Man hätte jeden Anderen eher eines solchen Verbrechens fähig gehalten, Jeden, nur Brand nicht, der überall als einer der tüchtigsten und fähigsten Beamten, als ein Muster von Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit galt. Gerade diese Eigenschaften, oder vielmehr die unnachsichtliche Strenge, mit der er die eigene Pünktlichkeit auch von Anderen verlangte, und jede noch so kleine Unregelmäßigkeit im Amte rügte, hatten ihm, zumal bei seinen Untergebenen, manchen Feind geschaffen, aber Niemand hätte es gewagt, ihm die unbedingteste Achtung zu versagen – und nun sollte dieser Mann auf einmal ein Betrüger sein! Ein Zweifel daran konnte gar nicht in Frage kommen, das eigene Geständniß und der Selbstmord des Schuldigen sprachen laut genug, wo aber die von ihm unterschlagene enorme Summe geblieben, das war und blieb ein Räthsel. Es lag überhaupt ein gewisses Dunkel auf der ganzen Sache, das nicht aufgehellt wurde und das vielleicht auch nicht aufgehellt werden konnte, weil der, der allein Auskunft darüber zu geben vermochte, sich jeder Rechenschaft entzogen hatte. Die Untersuchung förderte Nichts weiter zu Tage, als die bereits feststehenden Thatsachen. Der Rentmeister hatte allmonatlich die betreffenden Gelder aus der fürstlichen Rentencasse dem Kammerherrn und Vertrauten Seiner Durchlaucht, dem Grafen Arnau, zu übergeben; er hatte auch stets den festgesetzten Termin innegehalten, nur das letzte Mal wußte er ihn unter einem wahrscheinlich klingenden Vorwande um acht Tage hinauszuschieben. Der Graf war anfangs damit einverstanden, schöpfte jedoch Verdacht, als er durch Zufall erfuhr, daß Brand wegen „Familienangelegenheiten“ Urlaub genommen habe, und im Begriff stehe, abzureisen. Er ließ ihn, vorerst privatim, zu sich rufen, forderte eine Erklärung, drohte mit sofortiger Revision der Casse, und erlangte darauf hin das Geständniß des Schuldigen, der, jedenfalls schon auf das Aeußerste vorbereitet, sich den Tod gab, als ihm die Schonung, um die er bat, verweigert wurde.

Graf Arnau hatte sich sofort und mit aller Energie der Sache angenommen. Er legte eigenmächtig Beschlag auf die sämmtlichen Papiere des Verstorbenen und unterzog dieselben einer genauen persönlichen Durchsicht, obgleich keine amtliche Eigenschaft ihn dazu berechtigte; indessen, man nahm es in der Residenz überhaupt nicht allzustreng mit den gesetzlichen Maßregeln, wenn es sich dabei um die Interessen des Fürstenhauses handelte, und ein Mann von der Stellung und dem Einfluß des Grafen durfte sich schon einige Uebergriffe erlauben; überdies fand man es sehr begreiflich, daß er seine allerdings verzeihliche Nachgiebigkeit, die die Entdeckung um mehrere Tage verzögert, und wahrscheinlich den Verlust des Geldes verursachte hatte, jetzt durch verdoppelten Eifer wieder gut zu machen suchte. Aber all dieser Eifer blieb resultatlos, weder ihm, noch der, freilich nicht mit besonderer Intelligenz begabten[WS 1] Polizei der Stadt gelang es, eine Spur der fehlenden Summe, oder auch nur den geringsten Fingerzeig dazu in den amtlichen und Privatpapieren des Rentmeisters aufzufinden, er hatte sie jedenfalls schon vorher in Sicherheit gebracht, und stand im Begriff, sich der unvermeidlichen Entdeckung durch die Flucht zu entziehen – der Urlaub, der die erste Zeit seines Verschwindens decken sollte, war bereits ertheilt, und in seiner Wohnung standen die Koffer zur Abreise gepackt – als das verdiente Schicksal ihn ereilte. Graf Arnau beschwor die von ihm gleich anfangs zu Protocoll gegebenen Aussagen und damit hatte die Sache ihr [744] Ende erreicht. Man nahm von einer weiteren Untersuchung Abstand; der Unglückliche war in aller Stille beerdigt worden, seine Wittwe verließ mit ihrem Kinde die Stadt, wo der Name, den sie trug, hinfort gebrandmarkt war. Das kleine Vermögen, das ihr Mann besessen, und das als Caution für seine Stellung eingetragen war, verfiel natürlich, obgleich es die veruntreuten Summen nur zum kleinsten Theil deckte, und damit hatte dies Drama, für die fürstliche Residenz wenigstens, sein Ende erreicht.




„Ich bitte Dich, Eugen, fasse endlich einmal einen Entschluß in dieser Sache. Du richtest Dich noch zu Grunde mit diesem ewigen Schwanken und Zweifeln!“

Der junge Mann, an den diese Worte gerichtet waren, hob langsam den Kopf empor und sagte in einem Tone unverkennbarer Bitterkeit: „Ich wollte, Du würdest einmal selbst in einen solchen Conflict geworfen, um einzusehen, daß es da keinen gewaltsamen Ausweg giebt!“

„Schwerlich würde ich das. Wo auf der einen Seite meine ganze Zukunft und auf der anderen eine bereits erkaltete Jugendneigung steht, giebt es für mich gar keinen Conflict, sondern eine einfache Nothwendigkeit, der ich folge, um jeden Preis.“

„Auch wenn ein Herz darüber gebrochen werden muß?“

„Mein Gott, nimm doch die Sache nicht so entsetzlich tragisch. Die Opfer unglücklicher Liebe, die am gebrochenen Herzen sterben, mögen in Romanen sehr effectvoll und rührend sein, im wirklichen Leben existire sie nicht, und ein so einfaches Mädchen, wie Deine Braut, wird sich vollends nicht mit diesem romantischen Märtyrerthum abgeben. Dein Verlust wird ihr natürlich Thränen kosten, sie wird ihn aber verschmerzen, und in Jahr und Tag irgend einen ehrsamen Bürger und Rathsherrn von W. heiraten, der besser für sie paßt, und der sie glücklicher macht, als Du es je vermocht hättest.“

„Ich bitte Dich, Hermann, schweig’!“ rief Eugen heftig. „Du kennst Gertrud nicht, und deshalb bist Du von jeher ungerecht gegen sie gewesen.“

„Das mag sein. Ich habe, wie Du weißt, eine entschiedene Antipathie gegen alles Beschränkte, Kleinbürgerliche, und wenn es sich nun vollends in die Laufbahn eines Mannes drängt, um ihn mit Gewalt in die niedere Sphäre herabzuziehen, die seinen Lebenskreis bildet, so wird es mir geradezu verhaßt.“

Eugen hatte keine Erwiderung auf diese mit vollster Schärfe gesprochenen Worte. Er sprang auf, trat an’s Fenster und blickte, die Stirn gegen die Scheiben gedrückt, in den Park hinaus, der in der ganzen thauigen Frische eines Junimorgens vor ihm lag. Die Morgensonne schien warm und hell in den alterthümlichen Pavillon, der mit seinen halbverwischten Wand- und Deckenmalereien, den ehemals vergoldeten, vielgeschnörkelten Möbeln und den verblaßten, großblumigen Damastüberzügen noch dem vergangenen Jahrhundert angehörte; sie beleuchtete auch warm und voll die beiden jungen Männer, die sich augenblicklich allein hier befanden. Der Eine, der jetzt eben am Fenster lehnte, war eine hohe schlanke Gestalt, mit einem Gesicht, das, ohne gerade regelmäßig schön zu sein, doch Jeden beim ersten Anblick fesselte. Es lag ein mächtiger Reiz in diesen Zügen, es lag eine Welt von Schwärmerei und Leidenschaft in diesen dunklen Augen, und die Wolke auf seiner Stirn, der innere Kampf, der sich nur zu deutlich in seinem Antlitz ausprägte, gaben dem schönen, von einer Fülle dunkler Locken umwallten Kopfe nur noch ein tieferes Interesse.

Sein Gefährte besaß wenig oder Nichts von all’ diesen glänzenden Vorzügen. Er war kleiner, aber kräftiger gebaut, mit durchaus unregelmäßigen Zügen, die man geradezu unschön hätte nennen müssen, wäre nicht die hohe, prachtvoll gewölbte Stirn gewesen, die dem ganzen Gesicht einen eigenthümlichen und bedeutenden Charakter lieh. Die scharfen grauen Augen blickten klar und kühl in die Welt, fast zu kühl für einen Vierundzwanzigjährigen, und ihnen entsprach die scharf ausgeprägte Linie um den Mund. Es war ein Zug von Energie und Entschlossenheit, der erst einem späteren Alter anzugehören schien, aber auch ein kalter, bitterer Zug, der dem Antlitz alle Jugendlichkeit raubte und es in manchen Augenblicken fast abstoßend erscheinen ließ. Der junge Mann saß bequem, halb liegend in den Armsessel zurückgelehnt, und sprach sehr ruhig, fast gleichgültig zu seinem erregten Freunde, aber trotz dieser Ruhe und trotz der nachlässigen Haltung, lag in seinem ganzen Wesen eine entschiedene Ueberlegenheit, eine unbewußte Vornehmheit, die Eugen fehlte, der, mit vollendeter Grazie an die Fensterbrüstung gelehnt, und das Auge schwärmerisch zu den Wolken emporgerichtet, allerdings sehr interessant, aber auch ein klein wenig theatralisch aussah.

Es war eine augenblickliche Pause entstanden, Hermann unterbrach sie plötzlich mit der Frage: „Wie stehst Du mit Antonien?“

Ein tiefer Seufzer und eine abwehrende Bewegung waren die einzige Antwort, die er erhielt.

„Du liebst sie doch?“

„Ich bete sie an!“

„Und sie läßt sich diese Anbetung nur zu gern gefallen. Aber, was nun? Glaubst Du, meine stolze Cousine würde es ertragen, ein kleines, unbedeutendes Bürgermädchen zur Nebenbuhlerin zu haben? Nimm Dich in Acht, wenn sie früher oder später die Wahrheit erfährt. Das ist eine Klippe, an der all’ Deine Hoffnungen scheitern können.“

Eugen blickte düster vor sich hin. „Hoffnungen! Darf ich sie denn hegen? Ich bin bürgerlich, ohne Namen, ohne Vermögen - glaubst Du denn wirklich, daß sie im Stande wäre, ihren Rang, ihren Namen mir zu opfern, daß Gräfin Arnau das Weib eines unbekannten Malers werden könnte?“

Ein sarkastisches Lächeln zuckte um Hermann’s Lippen. „Ja, wenn Du das nicht weißt; ich kann Dir freilich keine Gewißheit darüber geben. Aber,“ setzte er spottend hinzu, „mir scheint, Du weißt bereits recht gut, woran Du bist, und wirst kaum in Gefahr kommen, Dir ein Nein zu holen. Doch eben deshalb mußt Du Dich jetzt entscheiden. Was soll geschehen? Was hast Du beschlossen?“

Eugen warf sich mit dem Ausdruck der Verzweiflung wieder in den Sessel. „Martre mich nicht mit Deinen Fragen, Hermann! Du siehst es ja, daß ich rathlos bin! Zeige mir lieber einen Ausweg aus diesem Labyrinth.“

„Der Ausweg liegt klar genug vor Dir! Sei ein Mann und raffe Dich endlich einmal zur Energie empor. Brich rasch und entschieden die Kette, die Dich bisher am Boden gefesselt hielt, Du bist es Dir und Deiner Zukunft, bist es Antonien schuldig, wenn Deine Liebe nicht ferner eine Beleidigung für sie sein soll. Und dann, wenn Du frei bist, begleite mich nach Italien. Die Reise ist dringend nothwendig zur Vollendung Deiner Studien, wenn Deine eigenen Mittel nicht ausreichen, stehen Dir die meinigen zur Verfügung. Entschließe Dich rasch.“

Die entschiedene, fast gebietende Weise seines Freundes, die gar keinen Widerspruch zuzulassen schien, verfehlte ihren Eindruck nicht auf den jungen Maler, er preßte wie im innern Kampfe die Hände zusammen. „Du hast nur zu sehr Recht. Ich weiß es, ich fühle es ja bei jedem Deiner Worte, aber Gertrud! Gertrud! Schilt mich feige, mache mit mir, was Du willst, aber ich ertrage es nicht, sie unglücklich zu wissen, unglücklich durch meine Schuld.“

Mit einer Bewegung der äußersten Ungeduld stieß Hermann seinen Sessel zurück und sprang auf. „Nun, wenn Du es denn durchaus nicht kannst, so werde ich an Deiner Stelle handeln. Ah, dort kommt Antonie eben recht.“

„Was willst Du thun?“ rief Eugen erschreckt.

„Den Knoten zerhauen, an dessen Lösung Du verzweifelst! Guten Morgen, liebe Toni.“

(Fortsetzung folgt.)




Auf dem Observatorium vor Metz.
Von unserem Berichterstatter Georg Horn.

Es ist Nachmittags gegen drei Uhr – ein herrlicher Septembernachmittag. Die Luft ist so klar, rein, der Himmel blau und die Sonne golden und über dem Moselthale liegen der Duft und Glanz und Zauber des Herbstes. Nordöstlich von Corny liegt ein isolirter Bergkegel mit einem alten Wartthurm, dem Ueberbleibsel eines mittelalterlichen Schlosses, vor diesem soll dort oben ein Kloster gestanden haben. Ich will es gern glauben, die Lager ist entzückend, das Land umher reich und fruchtbar und solche Vortheile haben die heiligen Männer immer wahrzunehmen gewußt. Die Bergkuppe heißt Chatel St. Blaise, von unseren Officieren

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Soldaten vom Garde-Füsilier-Regiment.   Major v. Claer. General v. Moltke.   Montmartre.   Fanal. Mont Valerien.
 Fanal.  Saint Denis, Stadt und Dom.  Invalidendom. Triumphbogen.

Moltke recognoscirt auf den Höhen von Garges vor Paris.
Nach der Natur aufgenommen von unserem Specialartisten Fritz Schulz.

[746] in St. Blasius übersetzt, denn es geht da oben unaufhörlich ein ganz strammer Luftzug. Nach diesem Punkte bewegt sich eine militärische Cavalcade, voran Prinz Friedrich Karl, der Officier an seiner Seite in der Flügeladjutanten-Uniform ist sein persönlicher Adjutant, Major v. Krosigk, ein in der preußischen Armee berühmter Reiter, dem Oberbefehlshaber folgt der Stab, die beiden andern persönlichen Adjutanten, Rittmeister Graf Canitz und v. Normann, – derselbe, der 1866 in der Nacht vom 2. zum 3. Juli aus dem Hauptquartier des Königs den gefahrvollen und historischen Ritt zum Kronprinzen gemacht hatte, – und die Ordonnanzofficiere; fest und rasch geht es den Berg hinan. Wie die Pferde in der warmen Herbstluft sich tummeln, wie sie im Wohlgefühle derselben die weiten Nüstern heben und die stolzen Mähnen schütteln, wie sie elegant und kräftig in wuchtigem, elastischem Tritt ausschreiten!

Oben auf der Kuppe ist es gar nicht so einsam, als es von unten wohl scheinen möchte. Zwei Compagnien Infanterie, dazu Pioniere, die wissen wohl Leben und Bewegung in diese Mauertrümmer zu bringen. Auf dem Plateau der Kuppe sind Bretterbuden aufgeschlagen; Marketender aus Saarbrücken schenken schal gewordenes Bier aus. Aus den Pächterhäusern, die nach der den Winden am wenigsten ausgesetzten Ostseite liegen, kommt munteres Pfeifen und fröhlicher Gesang; in den Ruinen hat man fliegende Kaffeeküchen etablirt; zwischen zwei Mauertrümmer sind Holzstäbe gelegt, an diesen hängen die brodelnden Kaffeekessel, und die Soldaten lachen, sich am Feuer die Hände wärmend und gedeckt durch die dichten Mauerüberreste, des scharfen Windes, der mit Brausen über die Bergkuppe dahinfährt und meint, er könne einem ehrlichen Deutschen die Laune verderben. Am Tage geht das wohl, wird beim Lesen dieser Zeilen manche besorgte Seele in der Heimath denken, aber wie für die Nächte? Auch dafür wissen unsere Soldaten Rath: dem Umstand, daß die früheren Mönche oder Ritter den Wein sehr geliebt zu haben scheinen, verdanken die Söhne unseres Vaterlandes ganz warme und, den Verhältnissen angemessen, ganz comfortable Lagerstätten, das ganze Plateau ist von Kellerräumen in verschiedenen abgeschlossenen Abtheilungen unterminirt und diese haben sie zu Schlafgemächern eingerichtet.

Aus einem der Pächterhäuser ist ein Geräusch zu vernehmen. Wer hätte nicht schon das tickende Klappern eines arbeitenden Telegraphen gehört. Und diese Töne sind dieselben. Aber hier auf diesem einsamen, kahlen Bergkegel, dieses Merk- und Wahrzeichen der modernen Welt? Und doch! heben wir nur ein wenig den Kopf, über diesem geht der weittragende Draht dahin, unten von Jouy herauf, dort hin nach jenem Hause, aus welchem die Laute kommen.

An der am meisten vorgeschobenen Stelle des Berges ist ein Bretterhaus ausgebaut, in diesem befindet sich ein großer Tubus, zwei Officiere bedienen denselben, d. h. sie machen mit Hülfe desselben ihre Beobachtungen über Alles, was in Metz, was um die Stadt, was in der Stadt, was in der Festung und den Lagern der Franzosen vorgeht, und berichten sobald etwas Außergewöhnliches sich ihrem Auge darbietet, an den Telegraphenbeamten, der sogleich die Meldung hinab nach Corny schickt. Eine solche war es auch, die den Prinzen plötzlich das Diner aufheben und unverweilt nach dem St. Blaise aufbreche ließ.

Thun wir einen Blick durch das Glas, ehe der Oberbefehlshaber das Observatorium betritt.

Der wachhabende Officier richtet das Glas, wirft einen Blick durch dasselbe, nimmt seine Uhr heraus und richtet den Zeiger derselben.

„Verzeihen Sie meine Unwissenheit, Herr Lieutenant, wenn ich Sie frage, was Sie hier machen?“

Der Officier lächelt und antwortet: „Ich richte meine Uhr nach der Domuhr von Metz.“

„Ist es möglich? So nahe wäre die Stadt und wir könnten doch nicht hinein?“

„Oder vielmehr so vortrefflich ist dieses Glas, die Stadt ist vielleicht eindreiviertel Meile entfernt,“ versetzte der Officier. „Schauen Sie nur selbst. Dieses imposante, graue, gothische Gebäude ist die Kathedrale von Metz und die Uhr ist drei Minuten vor halb Fünf.“

Wie die Märchenjungfrau von Riesen, so wird Metz von seinen Forts behütet. Dort links der Riesenbau auf der Spitze des Bergabhanges ist Fort St. Quentin, quervor unter dem Dome Fort St. Julien, rechts Fort Quelen, das stärkste, und unter uns das Fort St. Privat. Das Fort Plappeville kann man nicht sehen; es liegt hinter dem Fort St Quentin zurück. Die Lager der Franzosen sind vor unseren Augen blosgelegt, man sieht die Kochfeuer in denselben und die Soldaten, welche das Holz zutragen; man unterscheidet die Farbe der rothen Hosen von den dunkleren Röcken; man kann die Pferde weiden sehen und einzelne militärische Bewegungen verfolgen. Die Festung ist für uns offen, das heißt für unsere Augen, die Festung und auch die Stadt. Jedes einzelne Haus in der Stadt ist uns sichtbar; wir blicken auf die Plätze, die Promenaden der Stadt, auf denen sich die Einwohner ergehen; vor uns liegt ein freier Platz, auf dem eine Kinderschaar sich tummelt, durch den Reifen springt, Fangens spielt; aus einer Straße kommt ein Zug von halberwachsenen Mädchen, die von zwei Nonnen an die Luft geführt werden; neben dem Dome breitet sich ein langes, elegantes Wohnhaus aus; in den Fenstern desselben kann man deutlich die Spitzengardinen sehen, und jetzt wird eines der Fester geöffnet. Eine Dame lehnt sich zu demselben heraus; sie hält etwas wie einen Strauß in den Händen, sie ordnet die einzelnen Blumen mit ihren graziösen Händen, sie führt ihn an die Lippen. Leider, daß eines der Gebäude die Straße verdeckt, sonst könnte man auch sehen, wer vor dem Fenster vorübergeht und von ihr durch dieses Zeichen im Stillen gegrüßt wird, und könnte man den kleinen Roman am Dome von Metz durch den Tubus von St. Blaise weiter verfolgen.

Wir müssen uns auch zurückziehen; der Höchstcommandirende kommt auf das Observatorium zu. Schließen wir uns einer Gruppe von Officieren verschiedener Waffengattungen an, welche aus den um den St. Blaise umherliegenden Cantonnements herausgekommen ist und sich an einer günstigen Stelle gelagert hat. Einer derselben zeigt seinen Cameraden jedes einzelne größere Haus in Metz, die öffentlichen Militärbildungsanstalten, die Gebäude der Staatsverwaltung, das Palais des Bischofs von Metz, das Theater, die Vergnügungsplätze, die Palais der reichsten Einwohner.

„Aber zum Teufel, lieber P., woher kennen Sie denn das Alles so genau? Wenn Sie vom Generalstab wären, könnte man sich das wohl denken; denn in den letzten Jahren war für die Herren mit den rothen Streifen Metz und Umgegend ein sehr beliebtes Reiseziel.“

„Natürlich,“ entgegnete der Gefragte lächelnd, „man mußte auf einen Strauß mit den Herren Franzosen auf alle Fälle gerüstet sein, und überraschen wollten wir uns nicht gern lassen. Ich habe in dieser Beziehung vorhin eine recht ergötzliche Scene erlebt. Ich stieg mit einem unserer besten Kartographen von Jouy aus herauf; der Herr war in der Uniform der Ingenieurgeographen. Um uns etwas abzukühlen, traten wir in eines der Pächterhäuser. Mein Begleiter begrüßte den Mann und die Frau in einem gewissen vertraulichen Tone, der mir auffiel, weil er eine nähere Bekanntschaft mit den Leuten voraussetzen ließ, und auch die Franzosen machten Miene, als wäre ihnen der Herr bekannt, als wüßten sie nur nicht, um mich eines gewöhnlichen Ausdruckes zu bedienen, wo sie ihn hin thun sollten. Endlich nannte mein Begleiter den Mann und die Frau bei ihren Vornamen. Höchliches Erstaunen derselben, abermalige sehr eingehende Ocularinspection des räthselhaften Prussien, bis dieser dann lachend in die Worte ausbrach: ‚Vater Claude Remy, keunen Sie mich denn nicht mehr?‘

‚Ah, aber nein!‘

‚Ihren Gast vor zwei Jahren während des Sommers?‘

Nun schien den Leuten eine Binde von den Augen zu fallen. Die Uniform war ihnen an meinem Begleiter ungewohnt gewesen und hatte ihren Geistern die Erinnerung verdeckt.

‚Ich wohnte,‘ sagte mir der Geograph beim Weggehen, ‚einen ganzen Sommer hier oben – es war im Jahre 1868 – und hatte mich bei den Leuten eingemiethet; es wollte sie zwar immer sehr sonderbar bedünken, wie ich so großes und langes Gefallen an dieser Aussicht hier oben haben könne. O ja, sagten sie, es kämen wohl Leute aus der Umgegend herauf, aber nur für ein paar Stunden höchstens; so lange wie ich habe sich noch Keiner aufgehalten. Ich machte ihnen aber die Sache plausibel, indem ich mich für einen Maler ausgab; die seien alle, versicherte ich, extraordinaire Menschenkinder, was mir denn die Leute auch nicht widersprachen, und was sie mir um so lieber glaubten, als ich immer Stift und Papier in der Hand hatte. Sie waren der [747] festen Ueberzeugung, daß ich die schöne Stadt Metz malen wollte; daß ich eine Karte von der Umgegend von Metz bearbeitete, davon hatten sie keine Ahnung. Aber jetzt schien ihnen der Maler in Uniform doch etwas seltsam vorzukommen und vielleicht stieg in ihnen auch eine Ahnung von dem wirklichen Sachverhalt auf, doch war davon in ihrem Benehmen nichts zu bemerken, sie waren freundlich und sogar herzlich und boten dem „Herrn Maler“ sogar einen Liqueur an, was bei dem von Natur geizigen französischen Landmanne etwas sagen will.“

„Aber damit, Herr Camerad, haben Sie uns noch immer nicht das Räthsel Ihrer gewonnenen Bekanntschaft mit der alten Römerstadt da drüben gelöst.“

„Verzeihen Sie, wenn ich mir als Beleg für Ihre Bemerkung über die Reisen unserer Generalstabsofficiere diese kleine Abschweifung erlaubte. Woher ich Metz so genau kenne? Weil ich dort zwei Jahre erzogen worden bin, oder vielmehr weil man mich dort zu dressiren suchte. Sehen Sie dort das lange graue Klostergebäude mit der Kirche links vom Dome? Dort ist das Jesuitencollegium und dort war ich zwei Jahre Eleve.“

„Wie? Sie ein Zögling der Jesuiten? Ah!“

„Erschrecken Sie nicht! Hat der Weg von der Caserne schon manchmal in das Priesterseminar geführt, warum nicht umgekehrt aus demselben in die Caserne; wie bei mir?! Ich habe mir die Erziehung übrigens bald abgewöhnt. Meine Verwandten hatten mich in das Kloster gesteckt, aber die frommen Väter waren froh, als sie des ‚ausgelassenen Deutschen‘ wieder los waren.“

Bisher hatte ringsum tiefe Stille geherrscht – nichts von einer Action war zu hören, selbst die Geschütze der Forts schwiegen, die doch immer so munter sind. Denn wenn die Munition nicht in die Hände der Preußen fallen soll, so muß sie lustig verschossen werden. Die mancherlei Bewegungen der Franzosen, die man wahrgenommen hatte, schienen doch einen andern Zweck gehabt zu haben, als den eines Ausfalls, – aber plötzlich ändert sich die Situation. – In der Ferne wird ein lebhaftes Gewehrfeuer vernehmbar. Nach der Gegend des Forts Quelen richten sich die Gläser und die Aufmerksamkeit. Dort nach rechts hin sieht man auch leichte Rauchwolken aufsteigen. Das Feuer wird schwächer, dann schweigt es einige Zeit, man kann nur einzelne Schüsse vernehmen, unregelmäßig, unruhig wie Fieberpulse – das sind die Chassepots; dann wird das Feuer wieder lebhafter, disciplinirter möchte man sagen, wie nach festen Zielpunkten gerichtet – jedenfalls kommt es von unseren Zündnadelgewehren.

Die Franzosen scheinen wieder einen kleinen Fourageurfeldzug gegen ein von uns besetztes Dorf unternommen zu haben, wird die Ansicht unter den Officieren laut. Schade, daß jener Höhenzug uns den Ort des Rencontres verdeckt. Richtig – dort, sehen Sie dort die Flammen? – Das Dorf brennt – es ist im gegenseitigen Kampfe in Brand geschossen. Man sieht in der Ferne von vielleicht anderthalb Meile eine Lohe in den bereits dunkelnden Himmel aufschlagen. Das Schießen wird heftiger und hält in der Lebhaftigkeit etwa eine halbe Stunde an, darauf läßt es etwas nach, wird schwächer und schwächer, zuletzt nur hier und da noch einzelne Schüsse – der Kampf scheint niedergebrannt zu sein, wie die Scheunen, um welche er entbrannt war. Der Feind scheint auf dem Rückzuge unter die Forts zu sein – urtheilen die Officiere unter sich. Ist’s nicht so? Hören Sie die Brummer von Quelen, meine Herren? Sie schicken unseren Leuten noch einige Bonbons herüber, damit diesen die Lust vergehe, ihnen die Kartoffeln und die Fourage wieder abzukneifen. Aber nicht nur denen drüben – auch uns. Aufgepaßt, meine Herren! Sehen Sie, hier kommt sie herüber, die Granate aus der Batterie von Sablon, dort unten crepirt sie, nur tausend Schritte von uns – schade! Ach, meine Herren Collegen von der französischen Artillerie, Sie schießen sehr schlecht. Sie müßten wissen, daß Sie nicht auf achttausend Schritt, sondern höchstens auf siebentausend treffen können, daß bis hierher also tausend zu viel sind. Unten bei den Pappeln crepirt sie, und wir hier oben warten darauf, freuen uns der kleine Aufregung, und nun verderben Sie uns so den Spaß. Das ist nicht cameradschaftlich. Wenn wir mit unseren gezogenen Vierundzwanzigpfündern auf solche Distancen uns einlassen, dann erreichen wir sie auch, und dann, meine Herren –– Guten Abend!

Die Dunkel des Abends, die sich über Berg und Thal breiten, mahnen zum Aufbruch. Ueberall hin die Stille des Herbstes, und durch die Ruhe des Abends hört man nur das Schnauben der Pferde. Von zwei Seiten des Berges geht die Cavalcade hinab, nach zwei Zielpunkten, nach Jouy mit den umliegenden Cantonnements, und nach dem Schlosse von Corny.

Die Laternen des Schlosses werfen ihr grelles Licht auf eine Gruppe inmitten des Schloßhofes. Fünf Schwedter Dragoner mit aufgesetztem Carabiner bilden einen Kreis um neun Männer. Dieselben tragen sämmtlich die landesübliche Blouse, nur einer einen hellen Sommeranzug; es sind Leute von zwanzig bis fünfzig Jahren; einer von ihnen, der älteste, unterscheidet sich von den Uebrigen durch seine Corpulenz. Alle sind barhaupt, im Ganzen auch die jüngeren finstere, unheimliche, abstoßende Erscheinungen.

„Camerad,“ wendet sich ein Officier zu dem Dragoner, „wer sind die Leute?“

„Aus einem Dorfe bei Briey; sie haben mit den übrigen Einwohnern desselben Mannschaften vom fünfunddreißigsten Regiment beim Requiriren überfallen, fünf getödtet und mehrere verwundet. Dann haben sie gegen eine Schwadron Husaren, die außerhalb des Dorfes bivouakirte, die Franzosen herbeigeholt. Das ging nämlich so zu. Ein Detachement der Schwadron kam in das Dorf geritten und hatte hier vor einer Scheune abgesessen. Plötzlich hören sie Cavallerie ankommen, glauben aber, da es bereits Nacht ist und sie die Uniformen nicht erkennen können, daß es Leute von den Unseren seien, bis sie französische Zurufe vernehmen, und die französischen Cavalleristen auch schon gleich auf sie einhauen. Diese waren wenigstens dreimal so viel, als Preußen. Ich sage Ihnen, keiner von unseren Landsleuten wäre wohl lebend mehr aus dem Dorfe gekommen, ohne den Trompeter. Ja, Herr Hauptmann, ohne den Trompeter. Der, nicht faul, kletterte von der Tenne der Scheue hinauf auf den Heuboden, dort hatte er eine Dachluke bemerkt, durch die steckte er die Trompete und blies für die Schwadron außerhalb des Dorfes das Alarmzeichen so feste und laut, daß die draußen auch nicht lange auf sich warten ließen und dann die Franzosen in die Flucht jagten. Das war wieder ein richtiges Trompeterstückchen. Der im Sommerhabit, der so schlottert, ist der Schulmeister, der Dicke der Maire, und nun sollen wir sie zum fünfunddreißigsten Regiment bringen. Das wird nicht viel Federlesens mit ihnen machen. Gute Nacht, Herr Hauptmann. Vorwärts mit Euch!“

Aus dem hell erleuchteten Hof geht der Zug zwischen den Posten hindurch hinaus in die Nacht und unter dem Rauschen der Bäume hin dem Grauen des Todes entgegen.




In den Schloßräumen Ludwigs des Vierzehnten.
Von Ludwig Pitsch.


Am 19. September rückte General v. Kirchbach an der Spitze des vielerprobten ruhmbedeckten fünften preußischen Armeecorps in der Stadt des „großen Königs“, wie die Franzosen immer noch diesen schlimmsten Räuber an Deutschlands Glück, Macht und Ehre zu nennen belieben, ein. Tags darauf verlegte der Kronprinz von Preußen dorthin sein Hauptquartier. Sieben Wochen waren vergangen, seit er mit seinem Heere die Grenze des Feindeslandes überschritt. Und nun als Sieger in dessen Herzen! das nahe Ziel, Paris, dort ausgebreitet, zu den Füßen seiner Tapferen, welche die Höhen ringsum besetzt halten und der noch jüngst so übermüthig auf ihre Macht pochenden Stadt jeden Verbindungsweg mit der übrigen Welt und jede Möglichkeit, sich der Gewalt des Siegers schließlich zu entziehen, abgeschnitten haben! Unentrinnbar lag der Preis so vielen blutigen Ringens vor uns da und gewärtig des Momentes, welcher das Zeichen geben sollte, von allen Höhen ringsum Verderben und Vernichtung auf die Forts zu schleudern, lebte einstweilen das Hauptquartier und ein Theil der dritten Armee in der Palast- und Casernenstadt des großen Ludwig so ziemlich wie in einer heimischen Garnison. Nur der Vorpostendienst in den Bergen, [748] Parks, Villen und Wäldern der nahen, landschaftlich so reizvollen Umgebung von Paris, und die von den feindlichen Forts her einseitig fallenden Kanonenschüsse sorgten dafür, daß die Aehnlichkeit keine vollkommene wurde.

Es war seit den Kämpfen von Sedan her – von kleinen Scharmützeln einzelner Truppentheile während des Marsches abgesehen – das erste ernstliche Gefecht in größerem Maßstabe, dessen Ausgang dem fünften Armeecorps auch widerstandlos den Eintritt in Versailles eröffnete. Eine Meile etwa von da waren französische Linientruppen mit der preußischen neunten und zehnten Division (fünften Armeecorps) und bairischer Infanterie und Jägern bei Petits-Bicêtres am 19. September Morgens zusammengetroffen, und nach ziemlich lebhaftem und blutigem Gefecht, bei welchem zum ersten Male in diesem Kriege die französische Artillerie vorzüglich schoß, vollständig geworfen worden. Einmal geschlagen, wurde ihr Rückzug so sehr zur Flucht, daß ein seit Wochen schon von ihnen begonnenes ungemein festes und ausgedehntes Erdwerk auf den dominirenden Höhen über Chatillon nebst einem dazu gehörigen, von Vorräthen strotzenden Magazin und sieben schweren Geschützen unvertheidigt in den Händen der verfolgenden bairischen Jäger blieb.

Um dieselbe Zeit bot Versailles dem commandirenden preußischen General seine Capitulation an. Seine Behörden hatten aber dabei die Naivetät, das Zugeständniß zu verlangen, daß ihre dreihundert Mann starke bewaffnete Nationalgarde die Waffen auch fernerhin behalten dürfe, um über die Kunstschätze und die Ordnung in der Stadt zu wachen.

Natürlich ließ sich General v. Kirchbach auf gar keine weiteren Verhandlungen darüber ein, sondern rückte einfach noch an demselben Abend in die offene vertheidigungsunfähige Stadt, deren dreihundert Nationalgarden denn auch klug genug waren, keinen Widerstand gegen das Unvermeidliche zu versuchen.

Jedem von den unzähligen Deutschen, welche während unserer glücklichen Friedensjahre Paris besucht haben, ist das französische Potsdam wohlbekannt. Der Name ist ziemlich zutreffend. Dieses wie jenes begründet und zum Lieblingssitz erwählt von Herrschern, deren Namen zwei an geistigem und kriegerischem Ruhm glänzendste Epochen der Geschichte beider Nationen bezeichnen; beide in hohem Grade durch landschaftliche Schönheit begünstigt, deren natürliche Reize durch eine auf’s Höchste gesteigerte Gartenbaukunst eine Ausbildung erlangt haben, welche immer bewundernswerth erscheint, auch wo man sie nicht eigentlich als die Wünschenswertheste begrüßen kann; beide nicht gewordene, sondern gemachte Städte mit aller geradlinigen Langweiligkeit solcher; beide durch prachtvolle Schloßanlagen ebenso, als durch ihre grandiosen Parks und Gärten den eigenthümlichen Glanz, das Pracht- und Kunstbedürfniß und die charakteristische Geschmacksrichtung der Herrscher und der Epochen verkündend, durch welche und in welchen sie in’s Leben gerufen wurden.

Freilich, Potsdam ist immer noch und seit Friedrich dem Großen eigentlich ohne Unterbrechung, der beliebteste Herrschersitz der preußischen Monarchen und damit in lebendiger Fortentwickelung geblieben. Versailles dagegen, seines ursprünglichen Wesens und Inhalts völlig entleert, wurde zu einer todten Schaale, einem starren Grabmal der Vergangenheit. Die furchtbaren Rachegeister der Revolution, welche in diesen endlosen prachtstrahlenden Gallerien und Sälen ihrer Zeit gerast und gewüthet, und diesen Marmor mit dem Blute ihrer Opfer überströmt haben, schienen seitdem für immer die Lust fürstlicher Hofhaltung daraus zu bannen. Bekanntlich aber füllte Louis Philipp, immer beeifert dem Selbstbespiegelungstriebe, der Ruhmsucht und besonders der militärischen Eitelkeit seiner Franzosen zu schmeicheln, das leere Schloß des großen Monarchen in all’ seinen Theilen mit einer ganz ungeheuren Gallerie von Gemälden, Statuen und Büsten, die, zum Theil sehr fabrikmäßig hergestellt, sämmtlich nur dem einen Zweck dienen, aus dem einen Gedanken hervorgegangen sind, Frankreichs, besonders kriegerische, Größe künstlerisch zu veranschaulichen und zu verherrlichen. Wie sehr das Kaiserreich nach dieser Richtung in die Fußstapfen der Juliregierung trat, ist bekannt.

Das Schloß Ludwig’s des Vierzehnten liegt nicht, wie Sanssouci oder das neue Palais in Potsdam, inmitten eines es rings umgebenden Gartenbezirks. Am Westende einer Lindenallee von kolossaler Breite, welche in ihrer östlichen Fortsetzung nach Sèvres führt, der (übrigens hinter den Baumgängen von Straßenfronten eingefaßten) Avenue de Paris, erhebt es sich auf dem Plateau eines kahlen mit Kies bestreuten, ziemlich hohen breiten Hügels, durch ein Eisengitter mit prächtigem Thor von der davor gelegenen, von Casernen eingefaßten Place d’Armes an seinem Fuß getrennt. Von hier aus betrachtet verliert der riesige Bau durch seine Lage nach rückwärts viel von seiner Größenwirkung, indem der Hügel seine ganze Unterhälfte verbirgt. Oben freilich erscheint derselbe um so imposanter. Am Mittelbau springen zwei Flügel an jeder Seite vor, an den nördlichen lehnt sich die Schloßcapelle, ein Bau von sehr überladenen ausgeschweiften Formen und Linien, während sich sowohl jener mittlere Schloßtheil als seine beiden langgestreckten Seitengallerien in schönen maßvollen und ziemlich einfachen Architecturformen bewegen.

Die eigentliche Façade, in welcher der kolossale Gebäudecomplex sich als harmonische Einheit präsentirt, kehrt er nach Westen gegen die weite Terrasse des Gartens. Aus tausend Bildern und Photographien ist diese Ansicht so bekannt: diese kiesbestreute Fläche mit den großen Wasserbassins zwischen Blumenbeeten zu beiden Seiten mit den vortrefflichen bronzenen Nymphen- und Amorettengruppen auf den marmornen Einfassungen; mit dem herrlichen Blick über die tiefere Terrasse und ihr Fontaineubassin, auf den berühmten „grünen Teppich“ zwischen den hohen geschorenen, oben aber von den freien laubigen Wipfeln überschatteten, Lindenhecken, und die letzte Seefläche dahinter fern in der Tiefe. Zu beiden Seiten dieser eigentlichen Hauptscenerie dehnt sich der Park in’s Endlose und birgt in seinem grünen, von tausend Wegen durchzogenen Dickicht eine Welt von Marmorstatuen, Bronzegruppen, Bassins, Grotten, Laubenhallen, Fontainen. Alle Wasserkünste desselben aber gipfeln in denen des großen Reservoirs mit der Neptun- und Amphitritengruppe, mit all’ den Nymphen, Tritonen, Seerossen, Amoretten, Ungeheuern, welche aus seiner Mitte wie an seinem Rande aufragen.

Welch’ Fest boten sonst für die Pariser jene Frühlingssonntage, welche ihnen ankündigten, daß in Versailles „les grandes eaux“ springen würden! Die Extrazüge der Eisenbahn beförderten an solchen Tagen gut hunderttausend Menschen von dort herüber. Das Springen der großen Wasser selbst war nur der letzte und freilich höchste Genuß des vergnüglichen Tages, der im Umherschweifen im schattigen Park und durch die langen Gallerien, wo man sich einmal wieder im Anschauen der kriegerischen Herrlichkeit der großen Nation berauschen konnte, auf’s Angenehmste verbracht war. Die großen Wasser begannen um halbfünf Uhr zu springen und eine halbe Stunde später waren sie versiecht. Wie dicht geschaart aber lagerte schon eine Stunde zuvor die sommerlich bunte Menge auf dem, das ganze rosige Halbrund umgebenden Rasenabhang, lärmend, lachend, sich harmlos vergnügend in der Erwartung des großen Moments. Hart am Rande des Bassins aber hatten in gewissen Abständen einzeln jene gefürchteten Gardezuaven Wacht, die Büchse mit dem Haubajonnet im Arm. Wie prangten die bunten Farben ihrer Tracht in der Frühlingssonne, wie verwegen, wie unbesiegbar sahen die wilden, malerischen Gestalten aus! Ganz Versailles lag voll von ihnen. Ihnen war das Ehrenamt der Schloßwache vorbehalten, und ihnen die große Schloßcaserne, die andere der Gardeartillerie. – Wo sind sie heute?! Vernichtet, verschollen, in Deutschlands Festungen gefangen, in französischer Schlachtfeldererde gebettet. Leben, Ruhm – Alles dahin. Auch die großen Wasser springen heute nicht, und keine bunte, muntere, schaulustige Menge lagert auf dem noch immer frischen Rasen, auf welchen dennoch die nahen Gipfel schon reichlich ihr herbstlich goldiges Laub hinstreuen. Die Wacht am Schlosse, die Wohnungen in den stattlichen Casernen übernahmen die deutschen Besieger; deren derbe Gestalten, in ihrer dunkeln schlichten Tracht zu malerischen Effecten wenig geeignet, stehen dort Posten, hausen in diesen Gebäuden, reiten oder marschiren mit klingendem Spiel zu vaterländischen wohlbekannten Weisen durch diese regelrecht gezirkelten Alleen, zwischen den Taxus- und Lindenhecken des Parks aber springen und schlendern behaglich unsere Soldaten statt der bunten lustigen Menge von Paris.

Es war ein unvergeßlicher Augenblick, als der Kronprinz, der die deutschen Waffen auf ihrem Siegeszuge hierher geführt hatte, zum ersten Mal zu dem Platz vor dem Schloß hinauftrat, in dessen Mitte jenes großen Feindes und Schädigers Deutschlands, Ludwig des Vierzehnten eherne Reiterstatue auf ihrem Postamente thront, umgeben von den kolossalen Marmorstatuen der berühmtesten [749] Kriegshelden Frankreichs aus allen Epochen seiner Geschichte. Es war uns, als sei erst mit diesem Augenblick das Elend und der Raub gerächt, die Schmach getilgt, womit jener Selbstherrscher das deutsche Reich und seine schönen Grenzlande heimgesucht, traditionelle Politik der Schädigung, Vergewaltigung, offner und heimlicher Befehdung und Hinderung Deutschlands einleitend, welcher keine der nach ihm folgenden französischen Regierungen untreu geworden ist. Der Kronprinz fühlte sehr wohl und tief die ganze Bedeutung dieses geschichtlichen Augenblickes. Aber diese Empfindung äußerte sich bei ihm, seiner gesunden, jedem gemachten Wesen abholden, Natur und Sinnesart gemäß, als eine ernste, stille Freudigkeit, und wie immer blieben alle sonst den Fürsten so geläufigen und beliebten triumphatorischen Manieren auch jetzt von ihm fern, wo die Situation so sehr aufzufordern schien, dieselben in Scene zu setzen.


Wie unsere Leute draußen in die Heimath schreiben.
Auf der Landstraße nach Wörth aufgenommen von Prof. P. Thumann.

Nur einmal während des bisherigen Aufenthalts des Hauptquartiers in Versailles gab er und mußte er dem Bewußtsein von der Idee dieses Ereignisses; der Anwesenheit eines siegreichen, rein deutschen Heeres in Versailles, einen lauten, öffentlichen, entschieden betonten Ausdruck geben. Es waren in jenen Tagen gerade noch nachträglich zahlreiche Auszeichnungen, eiserne Kreuze etc., zur Vertheilung unter die verdientesten Mannschaften im Hauptquartiere eingetroffen. In den Vormittagsstunden des 27. September wurden die deutschen Truppen allarmirt und marschirten in voller Paradeausrüstung und tadellosem Parademarsch von den Seitenstraßen her zur großen Avenue de Paris und zum Platze vor dem Schlosse, wo sie im weiten Kreise Aufstellung nahmen. Gerade am Sockel der Reiterstatue Ludwigs des Vierzehnten stand der Kronprinz, umgeben von den Generalen und Ordonnanzofficieren seines Hauptquartiers und den deutschen Fürsten und Fürstensöhnen, welche sich demselben angeschlossen haben. Der helle, heiße Sonnenglanz des schönsten Septembertages blitzte auf den Waffen und den Stickereien der Uniformen, spiegelte auf dem Erz des kolossalen Standbildes und beleuchtete von oben her scharf den edlen blondbärtigen Kopf und die hohe machtvolle Mannesgestalt des königlichen Heerführers der deutschen Truppen. Wie stolz und majestätisch [750] jener dort auf seinem Rossesrücken thronen mochte, die begehrliche Hand mit charakteristischer Bewegung nach Osten hin ausgestreckt, seine Majestät schien leerer Theaterpomp geworden vor der des deutschen Volks in Waffen, das, hier in so vielen bedeutenden, festen, tapferen Gestalten vertreten, sich um den heldenhaften Prinzen schaarte. Als der in seiner markigen Anrede an die Soldaten hinwies auf die Größe dieses Augenblickes, und seine stolze Freude gestand, sie die für Deutschland so heroisch gekämpft, geblutet und gesiegt hätten, gerade hier an dieser Stelle, unter dem stolzen Bilde des Übermüthigen alten und schlimmen Feindes ihres Volks und Vaterlandes, mit den wohlverdienten geweihten Zeichen schmücken zu können, mit welchen der oberste Kriegsherr die Thaten der Deutschen ehre, sah man auch jene festen, eisernen Männer ringsum von der tiefsten Bewegung ergriffen und erschüttert. Als sie einzeln aufgerufen wurden und zum Prinzen herantraten, dann aus seiner Hand die Eisenkreuze hinzunehmen, erbebte die manches Empfängers, und manche Thräne der freudigen Begeisterung rann aus Männeraugen, welche ohne zu zucken dem Tode in hundert Gestalten in’s Antlitz zu sehen gewohnt sind.

Was die gewaltige geschichtliche Wendung, die sich hier vollzog, vielleicht noch schärfer zum Bewußtsein bringt, als selbst diese Scene unter dem Erzbild Ludwigs des Vierzehnten, das ist der Anblick, welchen gegenwärtig die von Gold, Bilder- und Marmorpracht strahlenden Säle und Gallerien in beiden Etagen des Schlosses gewähren. Nicht zum fürstlichen Wohnsitz für die nun in Versailles residirenden Heerführer hat man sie gewählt, sondern zum Lazareth für die Verwundeten sind diese weiten Räume eingerichtet worden. Und nie wohl hat verwundete Soldaten eine schönere und bessere, zu ihrer Heilung geeignetere Stätte aufgenommen, trotzdem deren Erbauer und Begründer sicher unter allen denkbaren einstigen Bestimmungen dieser Räume am wenigsten auf die Möglichkeit einer solchen Rücksicht genommen haben.

Im Erdgeschoß hatte man gleich in den ersten Tagen die schwerer Verwundeten vom Gefecht des Neunzehnten (Petits Bicêtres) untergebracht. Dort zieht sich, den ganzen Mitteltheil des Schlosses einnehmend, die sogenannte „Gallerie Ludwig des Dreizehnten“ zwischen Flur und Parkterrasse hin. Große Gemälde der Haupt- und Staatsactionen dieses Königs und seines Richelieu decken die Rückwand. Die flache Decke wird von rothen weiß geäderten Marmor- oder Porphyrsäulen getragen. Die hohen Fenster gegenüber reichen bis zur Erde nieder. Die Wandpfeiler zwischen ihnen sind mit prächtigen Arabeskencompositionen geschmückt, welche verschiedene Porträts der weiblichen und männlichen Berühmtheiten jenes glänzenden Hofes umrahmen. Abwechselnd damit stehen in Nischen die lebensgroßen Statuen des Königs und seiner Nächsten. Von der Terrasse her, auf welche man unmittelbar von der Mittelthür hinaustritt, weht die frische reine Luft, die über den weiten Park über die großen Bassins hinstreicht, und strömt gleichsam den würzigen, mit dem Blumenduft von hundert Beeten gemischten, heilkräftigen Waldeshauch ungehemmt durch die offenen Säle. In diesen aber walten still und freundlich sorgend die französischen barmherzigen Schwestern zwischen den Betten der Leidenden. Die Lagerstätten stehen in zwei Reihen, mit den Fußenden gegen einander gerichtet, einen breiten Gang dazwischen frei lassend, jedes von allen Seiten bequem zugänglich für die Pflegerinnen und die Lazarethdiener. Da liegen die Verwundeten (bei meinem ersten Besuche fand ich meist Baiern), so weit der Grad ihrer Schmerzen das überhaupt gestattet, in vollem Behagen ausgestreckt, in der gesundesten Atmosphäre, von bedeutenden schönen und interessirenden Gegenständen umgeben, und von draußen lacht ihnen eine herrliche vornehme Landschaft, die grüne laubprangende Nähe hier, die blauduftige bergige Ferne dort zu Fenstern und Thüren herein. Die leichter Verwundeten oder schon in der Besserung begriffenen sitzen in den Fensternischen, oder auf Stühlen oder Lagern auf die Terrasse selbst hinausgetragen, wo sie all diese wohlthätige Schönheit gleichsam unmittelbar und aus erster Hand empfangen.

In den noch viel prachtvoller ausgestatteten Sälen des oberen Hauptstockwerks ist der Contrast zwischen ihrer ursprünglichen und ihrer gegenwärtigen Bestimmung noch größer. Dort liegen im Mittelbau, der nun hauptsächlich zum Lazareth für leicht Verwundete eingerichtet ist, die berühmten Säle und Gallerien Ludwig des Vierzehnten selbst, deren ganze malerische und plastische Decoration von ihm ausschließlich der eigenen Selbstvergötterung geweiht wurde. Für deren Dienst ist aller Geschmack, alle Pracht und aller Pomp aufgeboten worden, über welche die üppige und ausschweifende, aber immer doch imponirende Kunst und Decoration jener glänzenden Epoche nur gebot. Die Verschwendung mit edlen Marmorarten, mit vergoldeter Bronce, mit Spiegeln, mit Stuckatur, und Plafondmalerei in diesen Räumen, besonders in der riesigen, durch Lebrun’s Deckenbilder so berühmten Gallerie ist ungeheuer. Aber selbst in der üppigen und oft barocken Ueberladung durch kostbares Material und Decorationenschmuck verleugnet sich nicht das in Rücksicht der heutigen Kunstepoche so seltene, sichere und fast unbewußte Stylgefühl, welches dem Ganzen die Einheit seines Charakters aufprägt und dasselbe zum voll entsprechenden harmonischen Ausdruck jener Zeit der ungebrochenen, zur höchsten Vollendung gebrachten, selbstherrlich königlichen Machtfülle stempelte. Und nun – in diesen Räumen unsere braven tapferen Burschen, wie sie blessirt vom Schlachtfelde oder erkrankt vom Marsche hereingebracht waren! Es ist, als ob jene Portraits der geschminkten Schönheiten des Hofes von Versailles, jene parfümirten Cavaliere des Oeil de Boeuf, jene Prinzen, Minister, Officiere, die dort in den zahllosen Bildern von leeren Hof- und Staatsceremonien die Wände decken, jene Gottheiten eines gepuderten Olymps vom Plafond noch entrüstet die hohen, höchsten und allerhöchsten Nasen rümpfen über den unerhörten Frevel dieser Invasion der geheiligten Hallen durch diese deutschen „Dickköpfe“, die so gründlich verachteten Bauernsöhne, „Schneider und Schuster“ in des Königs Rock. Aber diese sind sehr ruhig, sehr „unverfroren“ dabei, fühlen sich in des großen Ludwig Sälen bereits so ungenirt zu Hause wie daheim in ihrer posener, schlesischen oder fränkischen Schlafkammer und Wohnstube und lassen sich von ihren französischen Pflegern, wie es sich gehört, bedienen.

Der Krieg, und zumal ein so gewaltiger wie dieser, bietet und bringt der Leiden ein so überschwengliches Maß auch den Siegern. Aber der Anblick einer solchen Wendung, einer solchen vollständigen Abrechnung und gründlichen Heimzahlung alter Schulden und Sünden, wie sie sich damit vollzogen zeigt, kann für Vieles trösten und entschädigen, und jeder Deutsche, dem es vergönnt war, diese Tage des Triumphes zu erleben und nun gar lebendige Bilder wie die in Ludwigs Stadt und Schloß gesehen zu haben, mag sein Geschick segnen.




Taubenhöhlen im Karst.
Von Brehm.


Als ich in diesem Frühjahr über den Karst, die bekannte Kalksteinhochebene des östlichen Krains, fuhr, bemerkte ich mit großem Erstaunen mitten auf der öden Fläche mehrere kleine Flüge der Felsentaube, der Stammmutter unserer Haustaube. Vergeblich spähte ich an den Abhängen des Gebirges, an welchen sich die Eisenbahn dahinzieht, um nach Triest zu gelangen, nach dem Vogel: gerade da, wo Felsenwände mehr oder minder steil gegen das Meer hinabfallen, war er nicht zu finden. Oben auf der Höhe des Karst vermochte ich keinen einzigen geeigneten Brutplatz zu erkunden; der breite Rücken des Gebirges zeigte außer den kesselförmigen Einsenkungen keine einzige höhere Felsenwand, wie unsere Taube sie liebt, sondern nur das dem Karst eigenthümliche Gewirr von Felsblöcken, welche sich hier und da höchstens bis zu fünfzig oder sechszig Fuß über die Ebene erheben, der Felsentaube aber doch bestimmt nicht zum Aufenthaltsorte dienen konnten. Das Räthsel wurde mir erst in Triest gelöst.

Ich muß vorausschicken, daß die Felsentaube ein alter Bekannter von mir ist, und daß ich ihrer in meinen Schriften auch gebührend Erwähnung gethan habe. Sie und bezüglich ihre blaurückige Verwandte oder Spielart wurde von mir an allen geeigneten und selbst ungeeignet scheinenden Stellen Nordafrikas und ebenso in Spanien beobachtet. In Ostafrika gehört sie, wie ich bereits in den „Ergebnissen meiner Reise nach Habesch“ erzählt, zu den gemeinsten Vögeln des Landes: sie belebt hier, halb wild, alle Dörfer Oberägyptens; [751] ja manche Ortschaften scheinen mehr der Tauben als der Menschen halber erbaut zu sein. Nur das untere Stockwerk des pyramidal aufgeführten, plattgedeckten Gebäudes bewohnt der Bauer; das obere, gewöhnlich weiß getünchte und sonst verzierte, gehört den Tauben an. Man baut hohe, kuppelförmige Thürme einzig und allein diesen Vögel wegen.

Die Taubenschläge Aegyptenlands sind gänzlich von den unsrigen verschieden und verdienen wohl, mit ein paar Worten beschrieben zu werden. Ihr Mauerwerk besteht nämlich nicht aus Ziegeln, sondern, von einer gewissen Höhe an, nur aus großen, eiförmigen Töpfen. Jeder Topf ist an dem nach außen gekehrten Ende, dem Boden, wenn man will, durchbrochen, das runde Loch in der Mitte jedoch nicht groß genug, um einer Taube Durchgang zu gewähren, und dient nur, um Licht und Luft durchzulassen. Von innen ist jeder Topf bequem zugänglich und giebt einem Neste Raum. Die Eingänge zu den Taubenhäusern sind ziemlich groß; der Stelle unserer Flugbretter hat man unter und neben ihnen Stöcke und Reisigbündel eingemauert.

Man gewahrt sehr bald, daß diese Taubenschläge im höchsten Grade geeignet sind, den Tauben alle Annehmlichkeiten eines Wohnsitzes zu bieten. Die Taubenthürme sind beständig von äußerst zahlreichen Flügen umschwärmt, und in manchen Gegenden werden die Haustauben geradezu zur Landplage: sie sind so gemein, daß der Fellah selbst den reisenden Sonntagsschützen auffordert, Jagd auf die Hausthiere zu machen, und sich weidlich freut, wenn ein Schuß erfolgreich war.

Kaum in geringerer Zahl bewohnt dieselbe Taube wild die eigneten Felsenufer des Nil. Namentlich in den Katarakten habe ich an den höheren Felsengallerien jedes Plätzchen von Tauben bewohnt gesehen und ungeheure Flüge von ihr wahrgenommen. Von Oberägypten an hört die Taubenzucht mehr und mehr auf; die wilden Schwärme bevölkern aber auch noch in Nubien zahlreich alle Felsenwände. Man trifft oft große Schwärme mitten in der Wüste an und fragt sich vergeblich, wie die arme Erde hier im Stande ist, den Massen genügende Nahrung zu bieten, zumal diese Nahrung ihnen noch durch zahlreiche Ketten verschiedener Flughühner nicht unwesentlich verkümmert wird. Die Taube bildet größere oder kleinere Siedelungen an den Kalkfelsen, welche steil zum Nile abfallen; man bemerkt sie auch im Hochgebirge von Habesch; man begegnet ihr zum Beispiel auf einem vereinzelt von der Ebene Mensa’s sich erhebenden Felsenblocke, welchen mit ihr der Felsenstärling, Klippschliefer und ein Stachelschwanz bewohnen; kurz, sie ist überall, wo sich ein Platz für sie findet, ständiger Bewohner des Landes. In Spanien traf ich sie zuerst in einer vom Wasser ausgewühlten Schlucht des trockenen „Campo“ bei Murcia, hielt sie aber damals nur für die verwilderte Haustaube, weil ich weiße und dunkle, gescheckte und röthliche Spielarten in dem Fluge beobachtete. Später begegnete ich ihr wieder in der Sierra Nevada, wo sie einige Felswände in dem niedlichen Bergthal des Jenil bevölkerte. Von Alexander von Homeyer wissen wir, daß sie auf den Balearen ebenfalls nicht selten ist und hier zu ihrer Brut- und bevorzugten Aufenthaltsstätte unterhöhlte Klippen wählt, welche von oben aus gar nicht, von unten her nur schwer zugänglich sind. In ähnlicher Weise lebt und brütet sie auch hier und da in Dalmatien, wie wir von tüchtigen und beobachtungsfähigen Jägern mitgetheilt wurde, so auch schon in Pola, der bekannten Flottenzeugstätte

Durchaus verschieden von allen Oertlichkeiten, wie ich sie bisher erwähnt, sind die Brutplätze des Vogels auf dem Karst und in einem großen Theile Istriens. Das ganze Gebirg ist bekannlich überaus reich an größern und kleinern Höhlen; ja, es will fast scheinen, als werde der Rücken nur getragen von einzelnen mächtigen Massen, gewissermaßen Pfeilern, welche durch hochgewölbte Höhlen von einander getrennt sind. Nicht wenige dieser Höhlen oder Foybas, wie die dortigen Slaven sie nennen, öffnen sich in höchst eigenthümlicher Weise: sie gleichen nämlich senkrecht von der Fläche des Gebirges eingetieften Schachten, welche sich nach unten hin erweitern und stollenartig in mehr oder minder wagerechten Höhlen unter der Decke des Gebirges fortlaufen. Einzelne dieser Foybas nehmen in sich die wenigen Gewässer auf, denen der überall durchsickernde Felsboden gestaltet hat, sich zu Bächen oder kleinen Flüßchen zu sammeln; bekannt ist, daß die Laibach in die Grotte von Adelsberg eintritt und sieben Meilen davon bei Oberlaibach erst wieder zu Tage kommt; minder bekannt, bei uns in Mitteldeutschland wenigstens, daß ein weit bedeutenderer Fluß, die Recca, mehrere Meilen nordöstlich von Triest sich in die Tiefe einer von ihr ausgewaschenen Höhle stürzt, einen großartigen und prachtvollen Wasserfall bildend, sich ebenfalls im Karst verliert, unterirdisch fortläuft und, wie man annimmt, erst in der Gegend von Monfalcone wieder zum Vorschein kommt. Die trichterförmige Oeffnung, welche durch die Recca bei ihrem Einfallen in’s Gebirge gebildet wird, soll, wie man mich versicherte, ein besonderer Lieblingswohnsitz unserer Tauben sein, wohl aus dem Grunde, weil er die beiden Anforderungen des Vogels, steile Felsenwandungen und Wasser, vollständig erfüllt. Aber die Felsentaube begnügt sich am Karst auch mit Foybas, wie ich sie vorher mit kurzen Worten zu schildern versuchte; ja es will scheinen, als wenn diese wasserlosen Felsenschachte hier geradezu die eigentlichen Wohnsitze des Vogels wären.

Nach den mir gewordenen Beschreibungen landeskundiger Jäger und Beobachter, insbesondere des Stabsarztes Dr. Kudlich, welcher nicht blos ein eifriger Jäger, sondern auch ein tüchtiger Beobachter ist, öffnen sich die Mündungen dieser Schachte meist in der Tiefe einer jener kleinen, kesselförmigen Einsenkungen, welche, wie bereits bemerkt, inmitten des mehr oder minder ebenen Gebirgsrückens liegen. Bei einzelnen wird diese Oeffnung aber auch nicht einmal durch einen solchen Vorkessel vermittelt, sondern es steht der Wanderer oder Jäger urplötzlich vor einem dunkeln Schlunde, welcher in gefahrdrohender Weise zu ihm heraufgähnt und in der That auch schon manchen Unglücksfall verschuldet hat. Da, wo sich ein Kessel findet, sind die Wandungen desselben meist von Gestrüpp und einem Gewirr von Schlingpflanzen begrünt und übersponnen, von denen einzelne ihre Ranken in die dunkle Tiefe hinabhängen lassen; dieses Gestrüpp dient dem Kundigen als Merkmal und Warnung vor der jählings sich öffnenden Tiefe, weil alle unten geschlossenen Kessel von den spärlichen Bewohnern des Karstes urbar gemacht und zu gartenartigen Feldern, bezüglich terrassenförmig übereinander angelegten Beeten umgewandelt worden sind. Bei mehreren der berühmtesten Taubenhöhlen übersteigt der äußere Umfang des Kessels nicht fünfzig Fuß, und die Oeffnung des Schachtes selbst hat kaum mehr als zwanzig Fuß im Durchmesser. In sehr geringer Tiefe aber weitet sich der Schacht glockenförmig wieder aus, und weiter unten steht er mit Seitenhöhlen in Verbindung. Der enge Schacht ist der einzige Ein- und Ausgang, welchen die Vögel benützen müssen; die ausgehöhlten Felswände in der Tiefe gewähren ihnen vollkommen, sichere, weil so gut als unzugängliche, Wohnsitze und Niststätten.

Das Ungewöhnliche dieser Brutstätten der Taube, das Leben dieses Vogels unter der Erde, welches bekanntlich nur noch im Guacharo seines Gleichen hat, veranlaßt und lockt die Jäger Triests und der Umgegend, alljährlich an diesen Foybas ein sogenanntes Taubenschießen abzuhalten. Nach den mir gewordenen Schilderungen zu urtheilen, muß diese Jagd, so geringfügig das Ergebniß auch scheinen, so wenig werthvoll die Beute sein mag, etwas überaus Anziehendes haben.

Lange vor Tagesanbruch begeben sich die Jäger an Ort und Stelle, geleitet oder richtiger geführt von ortskundigen Bauern. An der Foyba angekommen, umkreist die Jagdgesellschaft den Rand des Kessels, und Jeder nimmt nun seinen Stand, so gut als möglich gedeckt durch Felsblöcke oder Gestrüpp.

Noch ist es still in der Tiefe, kaum ein Laut hörbar auf dem im ersten Lichte des Morgens dämmernden Gebirgsrücken. Im Osten kündet das Roth den kommenden Tag, und so schwarz auch die Tiefe von unten heraufgähnt, dieser Schimmer wird, wenn auch nicht bemerkt, so doch empfunden. Ein Tauber läßt sich rucksend vernehmen, ein zweiter antwortet, und dumpf und verworren klingt von unten herauf der Jedermann bekannte Liebes- und Paarungsgesang unserer Vögel: das abwechselnd bald wie „Maruku“, bald wie „Murkuku Ru Ru“ klingende eigentliche Rucksen und das sogenannte Heulen oder Seufzen, wie wir dasselbe von dem Abkömmling der Felsentaube, unserm Feldflüchter, vernehmen können. Allgemeiner und vernehmlicher wird dieser Morgengesang, zugleich aber auch verworrener; denn in der weiten Höhle prallen die Klangwellen von allen Seiten wieder zurück, und dieser Widerhall erzeugt mit den eigentlichen Lauten im Verein ein unbeschreibliches Getön, vergleichbar fern rollendem Donner. „Flap, flap, flap“ erschallt es dazwischen – ein Tauber hat seinen Schlafsitz verlassen und ist einer höher gelegenen Stelle [752] zugeflogen. Das Geräusch dieser Flügelschläge vermehrt sich; eine Taube nach der andern steigt zur Höhe empor, setzt sich so nahe als möglich an den überhängenden Rand des Schachtes, reckt den Hals weit hervor und sichert. Die Jäger verharren regungslos, wie Bildsäulen; denn die geringste Bewegung, das leiseste Geräusch von außen scheucht die mißtrauischen Geschöpfe augenblicklich wieder in die Tiefe der Höhle zurück. Noch haben sie Nichts bemerkt und senden nun nach alter Gewohnheit zuerst ihre Kundschafter nach oben. Fünf bis sechs Tauben heben sich gleichzeitig von den Felsen ab und singen, förmlich kletternd, durch das schwarze Loch senkrecht zum erblauenden Himmel empor. Ringsum krachen die Gewehre, eine und die andere der Tauben stürzt getroffen zu Boden oder auch in den Schlund hinab; die Mehrzahl der Jäger hat aber gefehlt, so überraschend geschieht dennoch das längst erwartete Aufsteigen der Vögel. In der Tiefe vernimmt man das Geräusch eines allgemeinen Aufflatterns, ein gleichzeitig von fünfzig und mehr Kehlen ausgestoßeneß Wuh. … Dann wird es stiller und nach einem Weilchen todtenstill.

Doch heraus müssen die Tauben; dazu treibt sie der Hunger. Geraume Zeit sitzen sie überlegend in der Tiefe; dann beginnt dasselbe Vorspiel wie früher: plötzlich aber, wie von gemeinsamem Entschluß erfaßt, hebt sich der ganze nach Hunderten zählende Schwarm, und Heraus braust er, polternd, pfeifend, mit rasender Eile, steigt hoch auf zum Himmel, umkreist noch einige Male den Kessel, um sich über die Ursache der Störung zu vergewissern, theilt sich in kleinere Truppen und fliegt nun nach allen Seiten zur Aesung aus.

Die Jäger, welche auch diesmal ihre Gewehre bis zum letzten Laufe entladen und günstigsten Falles wieder einige Tauben erlegt haben, verlassen ihre Stände oder wenigstens den Rand des Kessels noch nicht. Sie wissen, daß die Tauben wieder zur Foyba zurückkehren werden, nicht etwa, weil hungrige Junge da unten der zärtlichen Fürsorge ihrer Eltern warten – denn die Tauben insgesammt kennen eine derartige Aufopferung nicht, sind vielmehr die schlechtesten, am wenigsten treuen Eltern, welche es in der Classe der Vögel giebt – sondern einzig und allein, weil die alte Gewohnheit zwingend auf sie einwirkt. Drei, vier Stunden unter Umständen mehr, vergehen, ehe eine einzige Taube sich wieder zeigt. Die Jäger haben inzwischen gefrühstückt, geplaudert, auch wohl ein wenig geschlafen.

Da naht sich heimkehrend der erste Flug der Höhlenbewohner wieder. In einer Höhe, bis zu welcher kein Gewehr sein Geschoß emporschleudert, kommen sie herangezogen, eilfertig, dahinfliegend, wie immer; in der Nähe des Kessels aber biegen sie aus und beginnen zu kreisen. Von allen Seiten her nahen sich andere, vereinigen sich mit den bereits vorhandenen, ziehen gemeinschaftlich mit ihnen ihre Kreise; der Schwarm dichtet sich zu einer scheinbaren Wolke, und diese senkt sich nach und nach, obschon überaus langsam, tiefer und immer tiefer herab. Die vorsichtigsten Vögel sehen die Jäger wohl, auch trotz der sie deckenden Felsen und Zweige, sie wissen auch die Gefahr, welche ihrer harrt, gebührend zu würdigen: aber die traute Heimstätte, die einzige Oertlichkeit, welche ihnen vollständigste Sicherheit verspricht, lockt sie in die Tiefe. Doch stürzen sie sich keineswegs blindlings in’s Verderben: sie zögern, rücken vor, d. h. senken sich tiefer herab, erheben sich plötzlich wieder, steigen hoch auf, so daß sie als kleine Pünktchen erscheinen,


Hundemüde!
Im Dorfe Gravelotte ausgenommen von W. Kögler.

[753]

General v. Treskow. Prinz Karl von Preußen. Kirche von Rézonville. Moltke. Roon. Der König dictirt dem Grafen Bismarck die Siegesdepesche von Gravelotte. Graf Waldersee. Graf Lehndorf. Straße nach Vionville. Husarenofficir aus der königl. Suite.
Am Wachtfeuer vor Rézonville nach der Schlacht vom 18. August.
Nach der Natur aufgenommen von Fritz Schulz.

[754] weiten ihre Kreise bis zum Durchmesser von einer Viertelmeile und darüber, ziehen sich wiederum enger und enger zusammen und treiben es, wie vorher. Endlich siegt die wenigstens scheinbare Nothwendigkeit über alle Bedenken. Der kreisende Schwarm schichtet sich dicht zusammen; aus seiner Mitte heraus senkt sich, unter Voranflug des ältesten Taubers, ein langgezogener Kegel in die Tiefe, vergleichbar einer Sand- oder Wasserhose, da ja auch wie hier Alles durch einander wirbelt. Tiefer und tiefer und in immer engeren Kreisen sich drehend, fällt der Zugführer und mit ihm der ganze Schwarm. Da mit einem Male legt er die Flügel glatt an den Leib, und wie ein fallender Stein stürzt er und ihm nach sein Gefolge in die Tiefe hinab, so schnell an den Jägern vorüber, daß diese nichts weiter gewahren, als schattenartige, scheinbar lang ausgedehnte Körper. Alle Gewehre werden entladen; aus der dunkeln Tiefe herauf aber klingt es wie jauchzend: „Kuru, ku, ku, ku.“




Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)
29. Trennung.

„Du treuer, muthiger Alfred!“ hatte Anna zu dem Schwächling gesagt, den sie oft wegen seiner Feigheit verspottet. Und in welchem Tone hatte sie es gesagt! Es war Alfred, als müsse ihm das Herz zerspringen bei diesem Tone. Aber er vergaß dennoch nicht, daß sie die Braut eines Andern war.

„Ich werde thun, was ich kann,“ sagte er. „Die Aerzte haben ihn vor einer Stunde für verloren erklärt. Ich versuche jetzt noch eine Behandlungsart, die ich mir in diesen schweren Stunden ersonnen – vielleicht – vielleicht – !“ Er konnte vor innerer Bewegung nicht weiter reden.

Anna ergriff mit Ungestüm seine Hand. „O Fredy, was soll ich Dir sagen, wie Dir danken? Was Du an Frank thust, das thust Du ja an mir!“

„Ich erfülle nur meine Pflicht als Arzt,“ sagte er sanft ablehnend. „Und ich habe sie nie freudiger gethan als hier. Sie aber, Anna, Sie thun mehr als Ihre Pflicht. Sie opfern sich auf, ohne etwas nützen zu können.“

„Fredy,“ rief Anna erschrocken, „warum nennst Du mich auf einmal Sie?“

„Weil ich weiß, daß es Jemandem, der ein Recht auf Sie hat, unangenehm wäre, wenn ich die alte Vertraulichkeit beibehielte,“ erwiderte Alfred, kurz abwehrend. „Gehen Sie, liebe Anna, gehen Sie nach Hause. Ich weiß es, daß Ihr Herz Sie treibt, und weiß, was es Sie kostet, Frank zu verlassen; aber dennoch beschwöre ich Sie im Namen Aller, die Sie lieben – erhalten Sie sich den Ihrigen!“

„Liebes Fräulein,“ sagte Frau Ida, die sich indessen aus ihrer verzweiflungsvollen Versunkenheit aufgerafft hatte, „folgen Sie Herrn von Salten, er meint es ja mit uns Allen am besten!“

„Das weiß ich, Ida,“ rief Anna und warf sich, in Thränen ausbrechend, an den Hals der Freundin. Es war ein seltsames Weinen, halb um Frank, halb um etwas Anderes; sie konnte sich selbst nicht erklären, um was. Sie hatte in ihrem ganzen Leben nicht so aus tiefster Seele geweint wie jetzt.

„Frank,“ sagte Alfred, „Fräulein Anna will hier bleiben, um Sie zu pflegen; wenn sie es aber thut, kann sie Ihre Krankheit erben – wollen Sie das?“

„Nein, o nein,“ rief Frank, „unser Kind soll nicht auch krank werden, sie soll gehen – oder ich trage sie selbst hinaus.“ Und er erhob sich im Bette, als wolle er Miene machen, das Gesagte auszuführen.

„Sie sehen, nun muß es sein!“ sagte Alfred mit ruhiger Entschiedenheit, „sonst regt sich Frank so auf, daß er nicht genesen kann!“

Anna heftete einen langen traurigen Blick auf ihn. „O Fredy, daß Du mir das gethan!“ Dann trat sie noch einmal zu Frank. „Ich gehe, Frank, aber nicht weiter als bis vor die Thür; dort werde ich wachen die ganze Nacht, damit ich immer weiß, wie es um Dich steht, und gleich da bin, wenn Du mich haben willst. Das kann mir Niemand wehren.“ Sie nahm Ida bei der Hand. „Kommen Sie mit mir und schöpfen Sie einen Augenblick frische Luft!“ Dann sich im Hinausgehen zu Alfred wendend, fragte sie: „Wie lange bleibst Du – bleiben Sie noch hier?“

„Die ganze Nacht,“ sagte er, „denn diese Nacht entscheidet über Leben und Tod. Wenn Sie wirklich im Hause bleiben wollen, so werde ich Ihnen von Zeit zu Zeit Nachricht geben lassen.“

„Wenn Sie das thun wollten!“ sagte Anna fast schüchtern. Plötzlich stürzten ihr von Neuem die Thränen aus den Augen.

„Ach, Alfred, kann es nie mehr zwischen uns werden, wie es war?“

Nie mehr!“ sagte Alfred milde, aber bestimmt. Und als die beiden Frauen das Zimmer verlassen hatten, preßte er die weißen zarten Hände vor die Brust: „Ich muß fort – sobald wie möglich.“

Anna war weder durch Güte noch Gewalt aus Frank’s Hause wegzubringen. Die Boten ihrer Mutter wurden von ihr mit dem Bescheide zurückgewiesen, sie thue ihre Schuldigkeit, wie sie dieselbe einst gegen Vater und Mutter thun werde. Und als endlich Herr Hösli selbst kam, wußte sie auch ihn durch ihre eigene Zuversicht zu beruhigen und ihm die Erlaubniß abzuschmeicheln, in der luftigen Hausflur zu bleiben.

„Wir sind Frank jedes Opfer schuldig,“ sagte Herr Hösli und ging, obgleich ihn der Widerwille schüttelte, zu Frank hinein. Er war lange bei ihm. Im Zurückkommen sah er seine Tochter mit einem eigenthümlichen Blicke an. „Der Salten ist ein merkwürdiger Mensch. Wenn ich einmal krank werde, will ich keinen andern Arzt als ihn.“

Anna saß in einem Lehnstuhl, den ihr Frau Ida herausgestellt hatte, und ihr Köpfchen war in trübem Sinnen auf die Brust gesunken. Herr Hösli richtete es am Kinn in die Höhe und sah ihr forschend in die Augen. „Wenn Dich’s nur nicht reut, ein solches Herz von Dir gestoßen zu haben!“ Er küßte Anna auf die Stirn und ging. – – –

„Frank ist gerettet!“ jubelte Frau Ida nach einer langen fürchterlichen Nacht Anna entgegen.

„Frank ist gerettet!“ wiederholte einige Stunden später ganz Zürich.

„Wer hat ihn gerettet?“

„Salten, der Doctor von Salten, der schon so viele merkwürdige Curen gemacht!“

So ging es von Mund zu Mund, und als der blasse müde Mann nach der schweren Arbeit der Nacht die gewohnten Gänge zu seinen Kranken machte, da liefen ihm Bekannte und Unbekannte nach, schüttelten ihm die Hände und beglückwünschten ihn zu einer Cur, die ihn mit Einem Schlage zu einem berühmten Arzt machte. –

Der Zudrang, der von diesem Tage an in Alfred’s Sprechzimmer stattfand, war unerhört. Niemand wollte einen andern Arzt als Alfred. Er eilte von einem Schreckenshause in das andere, und sein Name war der Talisman, der Sterbenden noch Hoffnung einflößte. Man fürchtete, die Seuche werde so rasch um sich greifen wie an anderen Orten. Da brachte Alfred ein Präservativverfahren in Vorschlag, welches von den medicinischen Behörden fast einstimmig gutgeheißen und angenommen wurde. Und so über alle Erwartungen bewährten sich Alfred’s Vorschläge, daß das Uebel im Keime erstickt wurde, um erst ein paar Jahre später mit erneuter Gewalt auszubrechen. In dieser Zeit aufopferndster Thätigkeit hatte Alfred doch noch Muße gefunden, sein volkswirthschaftliches Examen zu machen und den Plan einer Leinenfabrik mit Herrn Hösli auszuarbeiten. Nur in der Familie Hösli ließ er sich wegen „Mangels an Zeit“ wenig mehr sehen.

Victor war kurz nach Frank’s Erkrankung nach Hause berufen worden. Niemand wußte, wie Anna mit ihm stand; sie erwähnte seiner nicht und schwieg beharrlich auf alle Fragen, selbst ihrer Mutter. Frau Hösli ahnte, daß die jungen Leute nicht eben gut miteinander waren und daß Anna sich schämte, es zu gestehen, weil es ihr die Mutter vorausgesagt. Auch der Briefwechsel zwischen Beiden schien [755] ein einseitiger zu sein, da von Victor fast täglich Briefe einliefen, während Anna ein einziges Mal nach seiner Abreise geschrieben hatte und seitdem nicht wieder. Frau Hösli war mit alledem sehr zufrieden. Doch täuschte sie sich, wenn sie hoffte, Anna werde sich in dem Maße Alfred wieder zuwenden, als sie gegen Victor zu erkalten schien. Anna vermied Alfred seit jener kurzen Unterredung bei Frank mit einer Art trotziger Scheu. Sie war befangen und abstoßend, wenn sie sich sahen, er zurückhaltend und fremd. „Es kann nie wieder werden, wie es war!“ hatte er gesagt, und er schien Recht zu haben. Die Beiden erwiesen sich eine Wohlthat, wenn sie einander die peinvolle Verlegenheit, mit der sie sich gegenüberstanden, ersparten. Anna war in letzter Zeit nicht mehr so gesund wie früher. Sie klagte über Kopfweh und wechselte oft die Farbe, besonders wenn von Alfred die Rede war. Gegen ihre Mutter blieb sie fortan verschlossen und ausweichend. Sie lief und sprang nicht mehr, sie ging langsam und ernst umher, und statt zu reiten oder zu schwimmen saß sie stundenlang bei Frank oder bei den Familien der Fabrikarbeiter, für deren kleine und große Leiden sie auf einmal ein Interesse zeigte, welches sie früher nie gehabt. Es war, als habe sie jetzt erst entdeckt, daß es Kummer in der Welt gäbe, und eine Freude darin gefunden, ihn zu lindern.

„Laß Du das Kind gehen, das Kind ist recht,“ sagte Herr Hösli immer wieder zu seiner kopfschüttelnden Frau, so oft Anna bei ihm Geld für dies oder jenes dringende Bedürfniß holte, welches sich bei ihren Schützlingen herausgestellt. Die Anna Hösli war in kurzer Zeit der Trostesengel der vielen Hundert Hösli’schen Unterthanen geworden. Nur sagen durfte man es ihr nicht, da wurde sie böse. Sie fand nichts widerwärtiger, als Menschen, die mit ihrer Gutherzigkeit coquettirten, – sie haßte auf einmal alle „Gefühlsseligkeit“ und verschwor sich hoch und theuer, sie thue Alles nur aus Pflichtgefühl, nicht aus gutem Herzen – denn sie habe kein Herz und wolle keines haben! So eignete sie sich, wie in einer unbewußten Opposition gegen ihr innerlich immer reicher sich entfaltendes Gemüthsleben, eine äußere Sprödigkeit an, die sich im persönlichen Verkehr oft in verletzender Weise zeigte. Es war jener jungfräuliche Widerstand gegen eine Gemüthsstimmung, in der sie wehrlos etwaigen gefürchteten Eindrücken preisgegeben war.

„Anna Hösli ist wunderbar verändert,“ sagte eines Tags Adelheid zu ihrem Sohne. „Wie sie die Kranken und Armen pflegt und unterstützt! Wie oberflächlich war sie früher und nun diese Umwandlung!“

„Das hat die Liebe in ihr vollbracht!“ sagte Alfred.

„Aber Victor ist doch eigentlich gar nicht der Mann, um einem jungen Mädchen eine so ernste Richtung zu geben!“ meinte Adelheid.

„Es kommt nicht darauf an, wen man liebt – sondern wie man liebt! Eine edle Natur wird immer edel in der Liebe sein; eine gemeine immer gemein! Freilich, daß eine edle Natur einen Menschen wie diesen Victor lieben kann – das bleibt ein unerklärliches Räthsel!“ fügte er bitter hinzu.

„Aber Alfred, Frau Hösli sagt ja, sie glaube gar nicht, daß Anna Victor noch liebe.“

„Das weiß ich besser, Mutter! Victor hat mir bei der Abreise noch betheuert, daß sie ein Herz und eine Seele seien und daß Anna nicht von ihm lasse, so lange sie lebe.“

Adelheid wollte weiter reden, aber Alfred brach das Gespräch rasch ab, wie immer, und fing von seinem Uebersiedelungsplane in die Heimath an.

Es gelang ihm endlich mit unsäglicher Mühe, seine Mutter zu einer Reise nach Italien zu bewegen. Er wollte sie selbst an einen passenden Ort bringen und dann in den Norden zurückkehren, um sich noch vor Ausbruch des Krieges dort einzugewöhnen, seine Güter und seinen Freund zu besuchen. Dieselbe Energie und Zähigkeit, welche er einst dem Drängen seiner ganzen norddeutschen Verwandtschaft entgegengestellt, um in Zürich zu bleiben, bot er jetzt auf, um fortzukommen. Es war ihm unmöglich, länger in Anna’s Nähe zu leben. Er war kein Werther, der an einer egoistischen Neigung zu Grunde gehen wollte. Er liebte die ganze Menschheit, und er wollte für sie leben und wirken, aber um dies zu können, durfte er seine Kraft nicht verbluten lassen an einer neu aufgerissenen Wunde. Er mußte fort, und er hatte der äußeren Gründe genug dazu. So war denn der Entschluß gefaßt zum großen Schmerz der alten Hösli’s und der ganzen Züricher Bewohnerschaft.

Die Auflösung seines Hausstandes kostete Alfred wenig Mühe. Die Einrichtung sollte erst nach seiner Abreise verkauft werden, um Adelheid jede Unbequemlichkeit zu ersparen. Herr Hösli wollte das für Alfred besorgen. Seine Bilder, Bücher und wissenschaftlichen Utensilien sandte er nach B… voraus, wo sie einer seiner Verwandten in Verwahrung nahm. Das volkswirtschaftliche Examen war vorüber, die Seuche, die seine Gegenwart nothwendig gemacht und seine Abreise verzögert hatte, unterdrückt, sein Tagewerk in Zürich war vollbracht – er konnte gehen.

Er ahnte nicht, mit welcher Liebe die Stadt an ihm hing, die er verließ. Sie häufte, wohl erkennend, was sie ihm schuldig war, Ehre um Ehre auf des Scheidenden Haupt, und es ereignete sich der unerhörte Fall, daß ein so junger Mann wie Alfred zum Ehrenbürger ernannt wurde. Ein großes Abschiedsbankett ward veranstaltet, bei welchem ihm das Diplom überreicht wurde. Alle Züricher Behörden waren versammelt, und auf den Galerien des Saales blühte ein reicher Damenflor, darunter auch Anna.

Es war das erste Mal, daß Alfred öffentlich reden mußte. „Wie wird er’s machen, der schüchterne Mensch?“ flüsterten sich die Bekannten zu. Er aber, obgleich tief bewegt, sprach fließend und sicher:

„Meine Herren und lieben Freunde! Schweren Herzens nehme ich das Bürgerrecht einer Stadt an, die ich zu verlassen im Begriff stehe. Und dennoch nehme ich es an, weil ich mir bewußt bin, daß ich – wo auch immer – mit Geist und Herzen ein echter Bürger dieser Stadt bleiben werde. Meine Herren! Wie köstlich auch das Geschenk ist, welches Sie mir in die Heimath mitgeben – noch Größeres nehme ich von hier mit, wofür ich Ihnen in dieser Abschiedsstunde meinen Dank aussprechen muß: die Achtung vor dem allgemeinen Menschenrecht und die Liebe zur Arbeit!“ –

Ein Sturm des Beifalls unterbrach ihn.

„Meine Herren,“ fuhr er fort. „Wenn Einer zurückkehrt in die Heimath, da umringen ihn die Seinen und fragen wohl: .was bringst Du uns mit?' Mein Bürgerrecht ist nur für mich, ich kann es nicht mit Anderen theilen, auch nicht den tausendfältigen Genuß, den mir der Anblick Ihrer Berge, Ihrer Seen geboten, denn ich bin kein Maler, kein Dichter, aber die beiden Errungenschaften, von denen ich eben sprach, werde ich meinen Landsleuten mitbringen, und ich denke, sie sind ein Geschenk, für das mich Tausende segnen werden, wenn sie seinen Werth erst begriffen haben. – So reich beladen kehre ich zurück, von wo ich kam, und leere feuchten Auges den letzten Becher, den dies theure Land mir credenzt. Gott segne die Schweiz, die gastliche Schweiz!“

Ein Jubel ohne Ende erhob sich auf diese einfachen Worte. Die Damen wehten mit den Tüchern von der Galerie herab. Herr Hösli umarmte Alfred, er war bleich vor innerer Aufregung, ein alter nie gestillter Schmerz brach mit erneuter Macht hervor. „Ach wäre mein Sohn gewesen wie Sie – oder wären Sie mein Sohn!“ flüsterte er ihm zu, und Alfred schloß ihn mit voller Sohnesliebe in seine Arme. „Könnte ich es sein!“ sagte er.

Da öffneten sich die Thüren und herein trat zwar noch schwankenden Schrittes, aber doch stattlich anzusehen, Frank! Er trug einen Kranz von frischen Alpenrosen in den schwarzen Händen. Zwischen den Rosen kam hin und wieder ein silbernes Lorbeerblatt zum Vorschein, das den Namen eines von Alfred’s Patienten trug. Der Kranz ward zusammengehalten durch eine massive Schleife aus getriebenem Silber, auf deren Enden Jahreszahl und Datum eingravirt waren. Frank schritt auf Alfred zu, so gut es bei seiner Schwäche ging, und sprach einfach: „Wir Alle, die Sie gerettet haben von der Seuche, danken Ihnen.“

Es war ein unbeschreiblicher Augenblick, wie der einst so athletische Mann, das Urbild aller Heldenkraft und Kühnheit, von schwerer Krankheit gebrochen, vor dem kleinen jungen Arzte stand und ihm für die Erhaltung seines und des Lebens so vieler Anderer dankte. Alfred nahm den Kranz und hielt ihn zwischen den gefalteten Händen. „Alpenrosen!“ sagte er leise mit wehmütiger Freude, „die heilige Blume Eurer Firnen! Ich habe sie mir nie pflücken können, denn ich war zu schwächlich, um die Höhen zu erreichen, wo sie wächst, und wenn sie mir dargeboten ward, freute sie mich nicht, denn ich hatte sie mir nicht mühevoll selbst errungen. Aber diese da freuen mich, weil ich doch etwas gethan habe, um sie mir zu verdienen, pflückte ich sie gleich nicht am Rande des Abgrundes! Ich danke Euch, mein Freunde – ich weiß es, ein schönerer Lorbeer kann mir nimmer blühen!“

[756] Jetzt brachte der greise Hösli senior, der noch immer Bürgermeister war, das Lebehoch auf Alfred aus, das donnernd aus Hunderten von Kehlen widerklang.

So war denn aus dem stillen Knaben, dessen spärliches Wachsthum sich so unbeachtet da draußen in der Enge am See vollzogen hatte, der Held des Tages geworden, ein gefeierter Jüngling, dessen Stirn bereits eine selbsterworbene Bürgerkrone schmückte. „Wer hätte das gedacht!“ sagte vor einigen Monaten der Doctor Zimmermann und „Wer hätte das gedacht,“ wiederholte heute Anna Hösli – „die stille Braut“, wie ihre Freundinnen sie scherzweise nannten, denn es war auffallend, wie schweigsam und ernst sie seit der allgemein vermutheten Verlobung mit dem Grafen Victor geworden war.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Gefährlicher Beobachter. (Mit Abbildung S. 745.) Im engen Ring, unzerbrechbar und immer fester umklammert, schließt sich die Mauer von Erz um das moderne Babylon, und von allen Höhen dräuen die deutschen Geschütze, der „Königin der Städte“, der „steinernen Bibel“, wie sie Victor Hugo nennt, die eitlen, prahlerischen flunkernden Fetzen vom Leibe zu reißen und ihr den entsetzlichen Ernst dieser Tage, der sich auf den Boulevards noch immer nicht einstellen will, mit klarem Worte deutlich zu machen.

Den stillen Geist, der all die gewaltigen Hämmer regiert, welche jenen eisernen Ring um Paris schmieden, sehen wir leibhaftig in der Illustration, welche Fr. Schulz bei der Belagerungsarmee vor Paris aufgenommen hat und die den General v. Moltke auf einer Recognoscirung, begleitet von seinem Adjutanten, dem Major im dreizehnten Dragonerregiment, v. Claer, darstellt. Der Standpunkt des Generals ist auf den nördlich von Paris gelegenen Höhen von Garges; zu den Füßen der Feldwache liegt Stadt und Dom St. Denis, die altehrwürdige Begräbnißstätte der Könige von Frankreich. Hinter St. Denis erhebt sich der wegen seiner Fernsicht über Paris vielgerühmte Montmartre, dem zur Rechten, auf der westlichen Seite, der Mont Valerien sichtbar wird, dessen Höhe von dem in den letzten Tagen öfter genannten Fort gekrönt ist. Zwischen beiden erheben sich die Kuppel des Invalidendomes und der Triumphbogen.

Die beiden im Schutze der Feldwache aufgestellten Signale sind Feuerzeichen, Fanale, durch welche die Truppen von dem Ueberfall einer Vorpostenlinie benachrichtigt werden. Bald dient hierzu ein brennender Holzstoß auf einem hohen Punkte, bald die Lärmstange, eine in die Erde befestigte hohe Stange, welche mit Stroh umwunden, mit Pech übergossen und mit Pulver überstreut, oben aber mit einer umgekehrten Pechfackel versehen ist, welche letztere durch eine Pechtonne oder Stroh vor Nässe geschützt wird. Bei einer jeder dieser Lärmstangen steht ein Posten, welcher dieselbe sofort entzündet, wenn er eine andere brennen sieht.



Ein Vermißter! – Im Sturmjahre 1848 lebte zu Pappenheim, im baierischen Mittelfranken, ein glücklicher Mann. Ein junges Weib und zwei blühende Kinder hingen an seinem Herzen. Aber der Herbst jenes Jahres, der durch die hereinbrechende Reaction so vieles Familienglück zerstörte, traf auch dieses – der Mann mußte nach Amerika entfliehen und ließ Weib und Kinder in Jammer und Entbehrung zurück. Zwei Male sendete er Worte des Trostes über den Ocean; das letzte Mal – vor achtzehn Jahren! Das Töchterchen, das zweijährig dem Vater auf dem Schooße saß, muß längst als Gouvernante sich ihr Brod verdienen, und der dreijährige Knabe, dem er so oft das schwarzrothgoldene Fähnchen in’s Händchen drückte, mit dem er vor der Schaar der kleinen Cameraden dahinzog, steht jetzt als baierischer Soldat im deutschen Heere auf Frankreichs Boden. Einsam daheim mit ihrem Gram und Bangen ist nur die Mutter, die als Wittwe gilt und in deren Herzen doch die Sehnsucht nach dem Gatten nicht ersterben kann. Achtzehn Jahre! Wie viel Hunderttausende sind seitdem in Amerika gestorben und verdorben! – Sollen wir trotzdem nach diesem Einen ausspähen? Wir wollen, den Verlassenen zum letzten Trost, es wagen. Der Vermißte hieß Andreas Adam, war Chemiker und Kaufmann in Pappenheim; sein Vater, J. N. Adam, besaß eine Fabrik am Rennweg bei Nürnberg. Adam, der bei seiner Auswanderung etwa achtunddreißig Jahre alt war, gab am 2. Mai 1852 die letzte Nachricht von sich aus Newyork, wo er sich als kaufmännischer Agent und als Holzbildschneider zu nähren suchte. Ein Mehres ist von ihm nicht bekannt. Die Adresse seiner Gattin bewahrt die Redaction der Gartenlaube.




Am Wachtfeuer vor Rézonville. (Mit Abbildung S. 753.) Eine treffliche und selbst durch ihre Entstehungsweise interessante Illustration von Fr. Schulz führt uns zu einer der letzten großen Schlachten zurück, zu der von Gravelotte. „Großer Sieg unter Führung des Königs!“ hatten die Morgenblätter des 19. August verkündet. Die französische Armee war von den deutschen Truppen unter des Königs eigener Führung und nach heißem neunstündigem Ringen aus ihren festungsähnlichen Positionen geworfen und in die Festung Metz zurückgeschlagen worden. Der König war den ganzen Tag von vier Uhr früh zu Pferde gewesen und hatte sich wiederholt dem feindlichen Feuer so ausgesetzt, daß er in seinem ausführlichen Briefe an die Königin wohl sagen konnte: „Die historischen Granaten von Königsgrätz fehlten für mich nicht, aus denen mich diesmal Minister von Roon entfernte.“ Das war namentlich bei dem letzten Vorstoß der Fall, als die dritte Division des zweiten Armeecorps unter der persönlichen Anführung des Generals von Fransecky die Höhen hinter Gravelotte im Sturme nahm. Auf den Abhängen derselben hatten sich die Franzosen in drei Etagen Schützengräben übereinander eingeschnitten, die über die Höhen hinlaufende Chaussee war in ihrer ganzen Ausdehnung mit Artillerie besetzt, und der Kampf, der sich hier bereits im Dunkel der Nacht entspann, war wohl mit das Furchtbarste, was die Kriegsgeschichte der Neuzeit seit der Verbesserung der Feuerwaffen kennt.

Der Kampf war mörderisch; „ich scheue mich, nach den Verlusten zu fragen und Namen zu nennen,“ schrieb der König am nächsten Tage, „da nur zu viele bekannte genannt werden, oft unverbürgt.“

Die Nacht traf den greisen König noch auf dem Schlachtfeld, vor einem halb verwüsteten Gehöfte des Dorfes Rézonville, an der nach Vionville führenden Chaussee, und hier, in Ermangelung eines Stuhles auf einem Sattel sitzend, dictirte er beim flackernden Schein eines Wachtfeuers dem vor ihm stehenden Bundeskanzler Grafen Bismarck das Telegramm, das die Königin von der glorreichen Waffenthat des deutschen Heeres unterrichten sollte. Dem König gegenüber hat, wie der Künstler uns schreibt, auf einem Fasse Prinz Karl, der Vater des Feldherrn Prinzen Friedrich Karl, Platz genommen, hinter dem König stehen die treuen Moltke, Roon und andere Generale, deren Namen wir aus Schulz’ Begleitbrief nicht entziffern konnten. Das Feuer, dem auf unserem Bilde eben der Major und Flügeladjutant des Königs, Graf v. Waldersee, in Gestalt einer Leiter neue Nahrung zuzuführen bestrebt ist und dem der Oberlieutenant Graf Lehndorf daneben das nöthige Brennmaterial entnimmt, die unentbehrliche, nach gethaner Arbeit doppelt willkommene Cigarre anzuzünden, beleuchtet rings die Spuren des wilden Kampfes, der hier getobt, Leichen, zertrümmerte Waffen, weggeworfene Tornister, Tragbahren.

„Ich stand nur wenige Schritte von der interessanten Gruppe,“ so schließt des Künstlers Brief, „und sah und hörte wie der König dictirte. Eigentlich wollte ich die Skizze nicht veröffentlichen, nachdem König Wilhelm mich mit der Ausführung derselben in Aquarell beauftragt hat. Wenn ich sie Ihnen nun aber heute doch schicke, so geschieht es nur, weil ein anderes Blatt dasselbe Thema schon mit einer seltsamen Variante behandelt hat: der König erhält von einem Marketender ein Glas Wein. Davon weiß weder der König noch sonst Jemand in seiner Suite Etwas; und ich darf getrost berichtigen, daß dieses Glas Wein nur in der thätigen Phantasie eines „Special-Correspondenten“ existirt. Schließlich wird Sie noch die Mittheilung interessiren, daß die mit Bleistift geschriebenen Notizen, welche sich unter der heutigen Skizze befinden, von der Hand des Königs selbst herrühren und Bezug auf die oben erwähnte Aquarellausführung haben.“




Ueber den wackeren Gefreiten Stert, dessen Schicksale wir in Nr. 41 der Gartenlaube unter der Rubrik „Ein Standhafter“ geschildert haben, erhalten wir aus Potsdam neue dankenswerthe Nachricht, die gewiß viele unserer Leser interessiren wird. „Der brave Stert,“ heißt es in dem Briefe, „befindet sich seit etwa sechs Wochen in unserem Lazareth und darf wohl mit gutem Recht als genesen bezeichnet werden. Die äußeren und inneren Wunden sind völlig geheilt, und als einzige Entstellung unseres Helden präsentirt sich eine hasenschartenähnliche Narbe der Oberlippe, die jedoch fast gänzlich vom Schnurrbarte verdeckt wird. Seitdem ihm von einem hiesigen Zahnarzt ein künstlicher Gaumen mit Zähnen eingesetzt wurde, ist auch seine Aussprache wieder deutlich und gut geworden. Als Ergänzung zu Ihren sonst ganz richtigen Angaben darf ich nur noch hinzufügen, daß die feindliche Kugel sogleich durch die linke Wange das Weite gesucht hat, ferner daß Stert nach Beilegung eines oberflächlichen Verbandes noch vier Meilen zu Fuß bis Pont à Mousson zurücklegte. Laune und Muth sind trotz aller Schmerzen die vorzüglichsten und die Fähigkeit zum Küssen eine unbeschränkte geblieben.“




An die aus Frankreich vertriebenen deutschen Arbeiter. Offenbar findet die Arbeitsvermittelung für unsere aus Frankreich vertriebenen Landsleute eine Hauptschwierigkeit ihres Gelingens darin, daß die Anmeldestellen nicht allgemein genug bekannt sind. Es müßte sonst die Zahl der Arbeitsgesuche weit bedeutender sein, als sie sich bis jetzt herausstellt.

Um diesem Uebelstand nach Kräften abzuhelfen, bringen wir hiermit zur öffentlichen Kenntniß: daß sowohl das deutsche Gewerbemuseum in Berlin als Centralstelle, als auch eine große Anzahl von Handelskammern – in dem industriellen Sachsen die zu Leipzig, Dresden und Chemnitz – sich die Aufgabe gestellt haben, die schätzbaren Kräfte der in Frankreich geschulten deutschen Arbeiter der heimischen Industrie zuzuführen. Daß die deutschen Industriellen bereit sind, dieselben aufzunehmen, beweisen zahlreiche Anmeldungen aus den verschiedensten Zweigen des Gewerbsfleißes, welche bei den Handelskammern eingegangen sind.




Der Humor im Felde scheint unsere Soldaten auch in den peinlichsten Lagen nicht zu verlassen; so war ich Zeuge, wie ein Musketier, der sich eine grobe Versäumniß hatte zu Schulden kommen lassen, von seinem Vorgesetzten mit den bittersten Vorwürfen überschüttet, mit ernster Strafe bedroht und wiederholt mit dem nicht ganz salonmäßigen Zuruf: „Sie sind ein Schweinkerl!“ begrüßt wurde. Der Mann hörte das Alles ruhig an und stand gerichtet da wie eine Bildsäule; sobald aber der Vorgesetzte sich abgewandt, meinte der Soldat mit tragikomischem Lächeln zu seinen umstehenden Cameraden: „Wat ut’n Menschen doch Allen’s war’n kann: Gestern häw ik noch läsen, wi wären ‚lauter Helden‘ – und hüt bin ik een ‚Schweinkerl‘!“
F. v. B.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: bebegabten