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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 40.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Nicht zu übersehen!

Den neuen Abonnenten der Wochenausgabe unsers Blattes, die erst mit dem 1. October zugetreten sind, machen wir die Anzeige, daß die drei Nummern, welche die ersten Abschnitte der mit so großem Beifall aufgenommenen Erzählung von Herman Schmid „Süden und Norden“ enthalten, durch jedes Postamt und jede Buchhandlung zu dem Preise von 5 Ngr. zu beziehen sind.

Die Verlagshandlung.



Ein Pistolenschuß.
Aus den Erinnerungen eines russischen Officiers.

Das Garnisonsleben einer russischen Provincialstadt, die nicht einmal ein Theater, nicht einmal ein schlechtes, aufzuweisen vermag, ist, das dürfen Sie mir auf’s Wort glauben, ein höchst einförmiges, schaales: Morgens Exerciren, zwei Stunden Reitbahn, Mittags ein frugales Diner beim Regimentschef, oder gar bei einem elenden Restaurant, Abends endlich die Bowle und die Karten, voilà tout! Auch nicht eine einzige Familie gab’s da, die uns ihren gastfreien Schooß geöffnet hätte! Wir bekneipten – gestatten Sie mir gütig diesen etwas burschikosen Terminus – uns gegenseitig, und sahen von Gottes schöner Welt nichts weiter, als unsere grüne Uniform.

Ein einziges Wesen, das nicht zum Militär gehörte, schenkte uns seine Gesellschaft: ein Mann von etwa vierzig Jahren. Seine Erfahrung in mancherlei Dingen hatte ihm unter uns eine gewisse Autorität verschafft, seine scharfe Zunge aber, sein herbes Wesen übten auf die jungen Leute nicht eben vortheilhaften Einfluß. Es umgab ihn ein gewisses Dunkel: er sah aus wie ein echter Russe und trug doch ausländischen Namen; er hatte, wie er sagte, auch in der Armee gedient, weshalb er aber so zeitig schon den Dienst quittirte und sich in ein so traurig Nest, wie Wologda es ist, zurückgezogen, wo er ein ebenso kostspieliges, als langweiliges Leben zu führen genöthigt war, das sagte er nicht. Das Wetter mochte sein, wie es wollte, stets ging er zu Fuß, gehüllt in einen abgetragenen schwarzen Paletot. Uns Officieren hielt er offene Tafel – freilich gab’s nicht mehr, als zwei bis drei Schüsseln, die sein Leibdiener und Factotum mit sehr bescheidener Kunst bereitet, dafür gab’s aber zur Entschädigung seiner Gäste Burgunder oder Champagner stets in Ueberfluß. – Niemand kannte seine Vermögensverhältnisse, seine sonstigen Hülfsquellen, es getraute sich auch Keiner ihn darum zu befragen, das ließ sein kurzes Wesen gar nicht zu. Seine Bibliothek bestand größtentheils aus militärischen Werken, auch einigen Romanen Gogol’s und Turgenjeff’s, die er bereitwillig auslieh ohne sie jemals zurückzufordern, ebenso gab er selbst auch niemals ein geliehenes Buch zurück.

Seine einzige Beschäftigung bestand in Pistolenschießen, und die Wände seiner Zimmer sahen von den Spuren der Kugeln, die darin eingeschlagen, wie das Innere eines Bienenstockes aus. – Eine reiche Sammlung schöner, werthvoller Pistolen bildete den einzigen Schmuck dieser Gemächer, seine Sicherheit im Schießen war so groß, daß sich Jeder von uns ohne alles Bedenken hätte einen Apfel vom Epaulette schießen lassen. – So oft wir unter uns von Duellen sprachen, nie mischte Sylvio – so hieß er – sich in’s Gespräch, und fragte ihn Jemand, ob auch er sich schon geschlagen, so bejahte er kurz, ohne sich auf Weiteres einzulassen – man merkte es ihm an, die Frage war ihm lästig; wir waren alle darum der Meinung, sein Gewissen peinige ihn vielleicht, daß er einst seiner Fertigkeit ein blutiges Opfer gebracht habe. In keinem Falle hätte ihn einer von uns für feig gehalten, wie es denn Leute giebt, deren Aussehen überhaupt solchen Verdacht gar nicht aufkommen läßt. Aus diesem Grunde setzte uns ein Vorfall in nicht geringe Verwunderung.

Eines Abends nämlich speisten wir, unser Zehn etwa, bei Sylvio zu Nacht, es wurde wie gewöhnlich scharf getrunken, und nach Tisch ersuchte man unseren Wirth Bank zu legen. Er lehnte es anfangs höflich ab, doch gab er den Bitten seiner Gäste nach, und warf fünfzig Ducaten auf den Tisch, wir setzten uns im Kreise und das Spiel begann. Wie stets verharrte er auch heute beim Spiel in tiefem Schweigen, als ein äußerst nobler Spieler stritt er niemals, ließ sich aber auch nie auf eine Erklärung ein; hatte er sich einmal zum Nachtheil eines Pointeurs geirrt, so zahlte er ihm ohne Weigern aus, was jenem zukam; sein Guthaben an die Spieler notirte er mit Kreide auf den Tisch – das war uns Allen längst bekannt. Heute aber war ein junger Officier in der Gesellschaft, der, vor Kurzem erst zum Regiment gekommen, Sylvio und dessen Manieren noch nicht kannte. Der Neuling spielte zerstreut, er bog ein Paroli, verlor es – Sylvio ergriff seine Kreide, und notirte es auf den Tisch. Der Lieutenant stutzte, bat ihn um Erklärung, doch, wie gewöhnlich, taillirte Sylvio ruhig fort; der Lieutenant wischte nun die Notiz vom Tische ab. Mit größter Ruhe erneuerte sie jener.

[626] Vom Weine erhitzt, vom Spiel erregt und vom Gelächter der Cameraden geärgert, sich von Sylvio beleidigt wähnend, riß plötzlich der Lieutenant einen Leuchter vom Tisch und schleuderte ihn in blinder Hitze nach unserem Wirth; gewandt wich der dem Wurfe aus, doch bleich vor Zorn und flammenden Auges erhob er sich, indeß wir Alle verlegen schwiegen.

„Hinaus, mein Herr!“ rief er, „danken Sie Gott, daß das bei mir geschah!“ –

Der Lieutenant erhob sich gleichfalls, und mit den Worten: „Fühlen Sie sich gekränkt, Sylvio, so stehe ich Ihnen jeder Zeit zu Diensten,“ entfernte er sich.

Wir Alle zweifelten nun keinen Augenblick, daß dieser Auftritt blutige Folgen haben werde, und betrachteten unseren Cameraden schon als einen todten Mann. Kurze Zeit nur spielten wir noch fort, dann als wir sahen, unser Wirth sei nicht mehr bei der Sache, brachen wir auf und sprachen auf dem Heimweg von nichts Anderem, als von der Vacanz, die die Schwadron bald haben werde.

Am andern Morgern trafen wir uns in der Reitbahn und fragten uns: „ist der Lieutenant noch am Leben?“ Sieh! da kam er frisch und munter selbst! Zu unserem Staunen hatte er von Sylvio keine Botschaft erhalten.

Kopfschüttelnd besuchten wir diesen nun und fanden ihn im Hofe seines Hauses Kugel auf Kugel in ein Kartenblatt sendend, das er an der Stallthür angeheftet hatte. Gleichmüthigen Wesens empfing er uns, als ob nichts vorgefallen sei, und verlor kein Wort über das gestrige Zerwürfniß. Dies Benehmen that Sylvio in der Achtung der Officiere großen Abbruch, denn Mangel an persönlichem Muthe verzeiht die bewaffnete Macht, die diesen weit über alle anderen Tugenden setzt, am allerwenigsten; nach und nach vergaß sich aber die unangenehme Sache, und Sylvio erlangte seinen alten Einfluß, seine frühere Stellung in unserem Kreise wieder – ich allein vermochte mich nicht zu überwinden, in’s alte, trauliche Verhältniß wieder zu ihm zu treten. Früher hatte mich meine romantische Phantasie zu ihm hingezogen, der mir ein unenthülltes Räthsel erschien, und ich glaube, auch er hatte vor Anderen mich bevorzugt, denn gegen mich allein enthielt er sich der Sarkasmen, von denen er gegen meine Cameraden oft überströmte, mir hatte er auch stets größere Offenherzigkeit erwiesen.

Nach dem fatalen Vorfall aber verließ mich der Gedanke nicht mehr, seine Mannesehre sei nun befleckt! – ich konnte ihm nicht mehr frei wie sonst in’s Antlitz sehen. Sylvio hatte zu scharfe Augen das nicht zu bemerken, es schmerzte ihn, wie es schien, einige Male versuchte er eine Erklärung seines Verfahrens zu veranlassen – ich wich ihr aber aus, weil sie mir peinlich gewesen wäre, und so verzichtete er endlich darauf.

Bewohner großer, volkreicher Städte wissen gar nicht, welche Sensation das unbedeutendste Ereigniß in einer kleinen Stadt macht. So bringt die Ankunft des Postwagens schon die Bevölkerung einer kleinen Stadt in Alarm, und jeden Dienstag und Freitag war unsere Regimentscanzlei voll Offieiere, denn der eine erwartete Geld von Hause, der andere Briefe, der dritte Zeitungen, die bald Gemeingut waren und mit Begier verschlungen wurden, man erbrach die Siegel gewöhnlich auf der Stelle, und theilte seine Neuigkeiten den Cameraden mit. Sylvio erhielt in unserem Felleisen auch seine Correspondenz, und so erhielt er eines Tages einen Brief, den er voll Ungeduld erbrach. Seine Augen schossen Blitze, indem er ihn durchflog; da indessen jeder nur mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt war, bemerkte dies Niemand außer mir.

„Meine Herren!“ rief er plötzlich mit lauter, erregter Stimme, „ich verlasse Sie noch diese Nacht, darum bitte ich, schenken Sie mir heute Mittag zum letzten Mal die Ehre Ihres Besuches! – Auch Sie, Herr Hauptmann,“ wandte er sich an mich, „erwarte ich mit Bestimmtheit.“ – Stumm verbeugte ich mich, er ging, und wir verließen das Bureau mit dem Versprechen, uns sämmtlich zu Mittag bei ihm einzufinden.

Zur rechten Stunde war ich dort und fand die Cameraden bereits versammelt. Wir gingen zu Tische, unser freundlicher Wirth, heute von fast nervöser Heiterkeit, steckte uns bald Alle mit seiner frohen Laune an, die Pfropfen sprangen, die Gläser füllten und leerten sich immer rascher, und allseitig wünschten wir dem Scheidenden Glück auf den Weg. Von jedem Gaste nahm Sylvio einzeln freundlichen Abschied, und als ich mich endlich auch empfehlen wollte, hielt er mich fest: „Ich bitte Sie, verweilen Sie noch einige Minuten, mit Ihnen habe ich noch allein zu reden!“

Ich blieb. In tiefem Schweigen saßen wir, unsere Tschibuk rauchend, auf seinem Divan; Sylvio’s Fröhlichkeit war verschwunden, tiefe Blässe bedeckte jetzt sein Antlitz, die Augen aber glühten durch die Wolken des Tabakrauches, die er von sich blies. So verflossen einige stumme Minuten, dann brach er endlich das Schweigen, das mir schon anfing peinlich, beängstigend zu werden.

„Zwischen uns Beiden bedarf’s der Aufklärung,“ begann er mit rauher, stockender Stimme; „der Anderen Meinung über mich kümmert mich wenig, Sie aber habe ich lieb und mag bei Ihnen keine falsche, üble Meinung hinterlassen. Sicherlich hat Sie’s befremdet, daß ich damals den Trunkenbold nicht, wie’s ihm gebührte, zur Rede stellte, nicht wahr? Das war wohl auch die Ursache, weshalb Sie sich von mir zurückgezogen? – Sehen Sie, Hauptmann, leicht könnt’ ich mein Verfahren auf Rechnung meiner Großmuth setzen, allein ich lüge nie! – Wär’ ich im Stande gewesen, ihn ohne jedes Risico von meiner Seite auf den Sand zu setzen, wäre mein eigen Leben ohne jegliche Gefahr dabei geblieben, ich hätte ihm wahrlich seines nicht geschenkt!“

Entsetzt beinahe von solcher zynischer Aufrichtigkeit starrte ich ihn an, ein solches Geständniß hatte ich nicht von ihm erwartet.

„Ich sehe Ihr Erstaunen,“ fuhr er fort, „ich aber mußte so handeln! Ich hatte kein Recht dazu, mein Leben auf’s Spiel zu setzen, denn vor sechs Jahren erhielt ich einen Backenstreich, und der mir ihn gab, ist noch am Leben.“

Mein Befremden wuchs.

„Sie haben nach einer solchen Beleidigung sich nicht geschlagen?“ frug ich ernst. „Trennte Sie ein unübersteigliches Hinderniß von Ihrem Feind?“

„O, wohl schlug ich mich, und hier ist der Beweis!“ Aus einer Schachtel nahm er eine alte Husarenmütze, gerade über der Stirn war sie durchlöchert. „Hören Sie weiter! Ich stand beim Czernomorischen Husarenregiment, war gewöhnt stets in Allem der Erste zu sein, und in meiner Jugend war’s guter Ton zu toben und zu lärmen, so war ich denn der ärgste Lärmer. Man pries damals die unverzagten Trinker, ich besiegte den tollen Dolgorucky, der um seine Völlerei besungen worden ist! – Duelle gab’s in unserem Regimente jeden Tag, bei jedem derselben war ich betheiligt, sei es als Kämpfer, sei es als Secundant, die Cameraden schätzten mich hoch, und unser Chef betrachtete mich als ein unheilbares Uebel, womit das Regiment behaftet sei. Ich ruhte bereits stolz auf diesem Lorbeer, als sich ein junger Graf zu unserem Corps versetzen ließ. In meinem ganzen Leben habe ich keinen vom Glück Begünstigteren gesehen! Jugend, Geist und Schönheit, großer Reichthum vereinten sich in ihm. Sie können sich denken, welche Stellung er bald in unserm Kreis erhielt! – Ich fühlte es, mein Thron begann zu wanken. Der Graf hörte bald überall meinen Namen nennen; war von einem lustigen, tollen Streich die Rede, ich war’s gewesen, der ihn ausgeführt; er wurde begierig, meine Bekanntschaft zu machen, er suchte meine Freundschaft, ich aber, eifersüchtig auf meinen präsumtiven Nachfolger im Renommée des Löwen, wies ihn kühl zurück. Lächelnd nahm er die Abweisung hin, ich aber, davon beleidigt, fing an ihn zu hassen. Ihn kümmerte das wenig, mich aber machte sein Erfolg bei den Cameraden, wie bei den Damen völlig rasend. Ich suchte Händel an ihm, aber er blieb kalt, erwiderte all meine Stachelreden mit noch witzigeren Bonmots und lachte mich aus, und was das Allerschlimmste für mich war, hatte alle andere Lacher auf seiner Seite. Endlich auf einem Balle, den ein Landedelmann der Umgegend unserer Garnison uns gab, konnte ich meinen Haß nicht länger meistern, ich sah auch hier ihn wieder als das verzogene, vorgezogene Schooßkind aller Damen, zumal der Frau vom Hause, der ich selbst zu Füßen lag, das stieß dem Faß den Boden aus, und ich raunte ihm in einer Quadrille eine brutale Beleidigung in’s Ohr. Die konnt’ er freilich mit einem Witzwort nicht vergelten und – schlug mich in’s Gesicht. Einige Damen fielen vor Schreck in Ohnmacht, man trennte uns und Beide verließen wir den Ball.

Mit Sonnenaufgang stand ich auf dem Kampfplatz, mit ungeduldiger Spannung den verhaßten Feind erwartend. Endlich kam er mit seinem Zeugen angeschlendert, die Uniform am Säbel über die Schulter tragend, aus seinem Käppi lustig, sorglos [627] Kirschen essend. Die Secundanten luden unsere Waffen, maßen die Schritte ab, ich hatte den ersten Schuß, meine Pulse schlugen aber so heftig, daß ich fühlte, ich war meines Schusses nicht mehr sicher. Ich erklärte, daß ich auf meinen Vortheil verzichte, mein Gegner ging darauf nicht ein, es ward also geloost, und das Glück war für ihn. Er zielte kurze Zeit, seine Kugel durchbohrte hier meine Mütze – jetzt war die Reihe an mir. Gierig durchforschte ich seine Züge in der Hoffnung, einen Schatten von Todesfurcht darin zu erblicken – vergeblich! Ruhig speiste er seine Kirschen weiter, die Kerne mir vor die Füße schnippend. Diese Kälte erbitterte mich nur noch mehr. Wozu, dachte ich, Jemand tödten, dem so wenig an dem Leben liegt? Ein boshafter Einfall durchzuckte mein Gehirn, ich senkte das Pistol und rief: ‚Ich fürchte, Herr Graf, Sie sind nicht genügend vorbereitet, vor Ihren Gott zu treten, da Ihnen das Frühstück so trefflich mundet; ich will warten, bis Sie fertig sind?‘

‚O, Sie stören mich nicht im mindesten! Indessen – wie es beliebt! Sie haben das Recht, nach mir zu schießen, bedienen Sie sich dessen nach Gefallen, ob früher oder später, mir gleichviel!‘

‚Haben Sie das gehört?‘ wandte ich mich nun zu den Zeugen, ‚ob früher oder später, gilt dem Herrn gleichviel, so werde ich heute gar nicht schießen!‘

Der Kampf war aus. Ich nahm den Abschied und zog hierher. Jeden Tag aber gedachte ich meiner Rache und heute endlich ist er da!“

Er zog den Brief, den er am Morgen erhalten, aus der Tasche. „Man meldet mir: die bewußte Person hat sich vor Kurzem mit einer schönen, jungen Dame, in die er toll verliebt ist, vermählt! – Sie ahnen, wer die bewußte Person ist! – Heute noch reise ich zu ihm, trete ihm vor die Augen und will mich überzeugen, ob er dem Tode noch immer so lachend in’s Auge blicken kann, wie damals, als er die Kirschen aß!“

Mit den Worten sprang er auf, mit raschen Schritten, wie ein Tiger im Käfig, durchmaß er das Zimmer. Der Diener meldete, es sei angespannt, er drückte mir die Hand, sprang in den Wagen, der nur zwei Stück Gepäck enthielt, die Reisetasche und den Pistolenkasten. Im Carriere fuhr er davon. –

Jahre waren seit der Zeit vergangen, ich hatte Nichts von Sylvio mehr gehört und ihn fast vergessen. Den Dienst, der mir keine Lorbeern eingetragen, kein Avancement gebracht, hatte ich längst verlassen und bewohnte mein kleines Gütchen im Mohilew’schen Gonvernement. Obwohl ich meine Wirthschaft selbst leitete, was meine Zeit tüchtig in Anspruch nahm, so hatte ich doch manche freie, müßige Stunde, und da vermißte ich gar sehr die Unterhaltung meines früheren Lebens. Woran ich mich am schwersten gewöhnen konnte, das war die Einsamkeit des langen Winterabends. Bis zum Mittagessen schlug ich meinen Tag so leidlich todt, ich beging die Felder, schwatzte mit meinem Verwalter, inspicirte neue Bauten und so weiter, sowie die Sonne aber zur Rüste ging, wußt’ ich mit mir nichts weiter anzufangen. Die paar Bücher, die ich in Schränken und Commoden vorgefunden, waren längst durchlesen, die Märchen und Gespenster meiner alten Kluschnitza Kirolowa hatte ich bis zum Ueberdrusse angehört, die Lieder, die meine Muschiken zur Balalaika sangen, machten mich melancholisch; so gab’s Momente, in denen ich zum Rum die Zuflucht nahm. Leider machte der mir Kopfweh, auch hatte ich Bange, ich möchte zum Verzweiflungstrinker werden, die schlimmste Sorte, die es geben kann. Nähere Nachbarn hatte ich nicht, so verfiel ich auf das Mittel, spät zu essen, früh zu Bette zu gehen, denn damit verlängerte ich meine Tage und verkürzte die langen Abende.

Vier Werst von meiner Besitzung liegt das Schloß der Grafen Belosencky, leider damals nur vom Castellan bewohnt; die Gräfin war nur einmal, im ersten Jahre ihrer Ehe, auf einen Monat dagewesen. Im zweiten Frühjahr meiner ländlichen, langweiligen Einsamkeit ging auf einmal das Gerücht, dieses Jahr werde die schöne Gräfin mit ihrem Gatten den Sommer im Schlosse zubringen, und richtig, schon Anfangs Juni waren sie Beide da. Die Ankunft eines reichen Nachbars ist auf dem Lande, wo sich Jeder ennuyirt, ein welterschütterndes Ereigniß; die Edelleute der ganzen Gegend, ihre Diener, alle Bauern sprechen zwei Monate vor der Ankunft des Herrn Nachbars und drei nach seiner Abreise nur und nur von diesem; ja, ich bekenn’ es offen, die Nachricht von dem Eintreffen des gräflichen Paares setzte auch mein Blut in Wallung, ich brannte vor Neugier, sie zu sehen, und gleich am ersten Sonntag macht’ ich mich auf den Weg, den Excellenzen meine Achtung zu beweisen.

Ein reich vergoldeter Lakai führte mich in des Grafen Cabinet, das mit dem höchsten und feinsten Luxus ausgestattet war. Den Wänden entlang reihten sich mächtige Bücherschränke, ein jeder geziert mit bronzenen Büsten der Autoren, deren Werke er verschloß, der marmorne Kamin trug einen breiten Spiegel, den Boden deckten türkische und persische Teppiche. In meinem Dörfchen war ich des Anblickes solchen Reichthums lange entwöhnt geworden, so daß ich mich – zu meiner Beschämung gestehe ich’s – davor fast verlegen fühlte. Mit dem Herzklopfen des Provincialen, der bittend sich dem Minister nahen will, bei dem er Audienz erlangt, sah ich dem Eintreten des vornehmen Herrn Nachbars entgegen. Da! die Thür geht auf, ein Mann der mittleren Dreißiger, von vornehmen, edlen Zügen, tritt in’s Zimmer. Mit offener, leutseliger Miene näherte er sich mir, ich stammelte alberne Worte der Entschuldigung, daß ich die Freiheit mir genommen – doch schon unterbrach er mich: „Ohne alle Complimente, Herr Nachbar!“ Wir setzten uns zu einander, und seine ungezwungen heitere Weise besiegte rasch meine Schüchternheit, ich begann wieder ich selbst zu werden. Da kam die Gräfin, und ich ward wieder befangener, als zuvor. Der Graf stellte mich ihr vor, und Beide, um mir Zeit zu lassen, unterhielten sich zwanglos miteinander und behandelten mich dergestalt wie einen alten Bekannten. Ich schlug indeß die Bücher auf dem Tische auf, besah die Bilder an den Wänden, und eines besonders fesselte meinen Blick, es stellte eine Schweizerlandschaft dar; doch nicht die Gegend, die der Maler hingezaubert, nicht seine Kunst war’s, die mein Auge bannte, sondern ein Loch, das zwei Kugeln, eine auf der anderen sitzend, in das Bild geschlagen. „Teufel, das war ein guter Schuß, Herr Graf!“ rief ich aus.

„Und ein merkwürdiger dazu! – Sind Sie ein guter Schütz?“

„Auf dreißig Schritte bin ich sicher, ein Coeur-As zu treffen.“

„Wirklich?“ rief die Gräfin. „Das ist viel! Kannst Du das auch, Wasil?“

„Es gab ’ne Zeit, da ich darin Uebung hatte, seit fünf Jahren aber hab’ ich kein Pistol mehr angerührt.“

„Dann halt’ ich jede Wette, daß Sie selbst auf zwanzig Schritt die Karte gar nicht treffen. So ’was will täglich geübt sein. Der beste Pistolenschütz, den ich kannte, schoß täglich drei Kugeln nach einer Messerschneide ab; sah er ’ne Fliege an der Wand – ah, Sie lachen, gnäd’ge Gräfin? ich schwöre Ihnen, ’s ist die reine Wahrheit!“

„So? Wie hieß Ihr Mann?“

„Sylvio, Excellenz.“

„Den haben Sie gekannt?“ schrie der Graf, vom Stuhl aufschnellend; „den haben Sie gekannt? Sie haben Sylvio gekannt?“

„Was sollt’ ich nicht? Waren wir doch Freunde; er lebte in Wologda mit uns wie unser Camerad. Seit fünf Jahren habe ich nichts mehr von ihm gehört. Also auch Sie machten einst seine Bekanntschaft?“

„Ja, ich machte sie. Wenn Sie mit ihm befreundet waren, hat er Ihnen sicher eine etwas sonderbare Geschichte mitgetheilt?“

„Aha, Sie meinen die Ohrfeige, die er einmal erhielt?“

„Dieselbe. – Nannte er Ihnen nicht den Namen des Gebers?“

„Nein, Excellenz.“

Von einem plötzlichen Gedanken überrascht, starrte ich den Grafen an. „Sie waren’s doch nicht etwa selbst?“

„Ich war es, und die Kugeln dort im Bilde sind das letzte Andenken an ihn.“

„O bitte, Wasil, erzähle das nicht, Du weißt, es macht mich krank, ich kann’s nicht hören.“

„Nicht doch, Nadejda, der Herr hier weiß, daß ich einst seinen Freund beleidigte, er soll erfahren, wie er sich an mir gerächt. – Fünf Jahre bin ich nun vermählt. Den Honigmonat unserer Ehe brachten wir hier auf dem Schlosse zu. Eines Abends war ich mit der Gräfin ausgeritten, auf dem Heimweg bäumt sich plötzlich ihr Pferd und will nicht weiter, sie wird ängstlich, springt ab, wirft mir die Zügel zu und geht zu Fuß nach Haus. ‚Was fiel nur dem Thiere ein,‘ sagte sie, ‚das sonst so sanft und [628] fromm? Fast möcht’ ich fürchten, daß mich zu Haus ein Unglück erwarte!‘ Ich lachte sie aus, und indem ich neben ihr herritt und ihr Pferd am Zügel führte, erreichten wir das Schloß. Da bemerk’ ich eine fremde Droschke auf dem Hofe, ich frage, wem sie angehört, und man sagt mir, ein Herr, der seinen Namen nicht habe nennen wollen, erwarte mich hier im Cabinet. Ich begab mich zu ihm. In dieser Ecke saß ein bestaubter, langbärtiger Mann, forschend betracht’ ich ihn.

‚Du kennst mich wohl nicht mehr, Herr Graf?‘

‚Sylvio!!‘ – Ich gesteh’s, meine Haare sträubten sich empor.

‚Ich bin nun an der Reihe!‘ knurrte er, ein Pistol aus seinem Kasten ziehend, ‚bist Du jetzt bereit?‘ Stumm neige ich mein Haupt, sein Recht ihm zuerkennend, messe zehn Schritte ab, stelle mich in jene Ecke und bitte ihn, rasch zu enden, ehe meine Gattin wiederkehren könne.

‚Ich kann nicht deutlich sehen, laß erst Lichter kommen.‘

Ich klingelte, man brachte das Verlangte. Ich stellte mich zum zweiten Mal an meinen Platz. Er zielt – ich zählte die Secunden. Nach einer Minute etwa – mir däuchte sie ein Jahrhundert – sagt er: ‚Nein, das gefällt mir nicht! Ich bin es nicht gewohnt, auf Unbewaffnete zu schießen, d’rum fangen wir von vorne wieder an! Komm’, ziehen wir um den ersten Schuß!‘

Mein Kopf verwirrte sich, ich glaube, daß ich mich anfangs sträubte, daß wir zwei Zettel aus seiner von mir durchschossenen Mütze zogen – ich hatte wiederum den ersten Schuß.

‚Du hast ein teufelmäßiges Glück, mein lieber Graf!‘ sagte er mit einem Lächeln, das ich nie vergessen werde; dann – ich weiß nicht, wie’s geschah – ich schoß und traf statt meines Gegners hier dies Bild.“

Des Grafen Antlitz war purpurroth geworden, das der Gräfin leichenblaß.

„Nun erhob Sylvio sein Pistol,“ fuhr der Graf fort, „und dies Mal, das sagte mir seine Miene, hatt’ ich keine Schonung von ihm zu erwarten. Mit einem Male springt die Thür auf, und Nadejda stürzt mit einem Schrei an meine Brust. Ihre Gegenwart gab mir die Besinnung wieder, ich breche in ein helles Gelächter aus: ‚Kleine Thörin,‘ sagte ich, ‚siehst Du nicht, daß wir nur spaßen? Es gilt ’ne Wette. Wie kann man nur so furchtsam sein? He! trink’ ein Glas Wasser, dann komm wieder, daß ich Dir einen alten Freund vorstellen kann.‘

Sie sah mich angstvoll, zweifelnd an. ‚Mein Herr, bei Ihrer Seele Seligkeit beschwör’ ich Sie,‘ wandte sie sich an Sylvio, ‚ist’s wirklich nur ein Spaß?‘

‚Versteht sich, schöne Gräfin,‘ höhnt sie Sylvio, ‚lauter Spaß! Wir Beide haben’s in Gewohnheit mit einander Spaß zu treiben. Eines schönen Abends schlug Ihr Herr Gemahl mich in’s Gesicht – aus Spaß! Das andere Mal schoß er mir eine Kugel durch die Mütze – auch aus Spaß! Heut’, wiederum aus Spaß, fehlt mich sein Schuß zum zweiten Male, dort sitzt die Kugel, die er mir bestimmte, in dem Bilde! Jetzt aber will ich auch ’mal spaßen!‘

Bei diesen Worten hebt er wieder sein Pistol zur Höhe meines Herzens. Da wirft mit lautem Schrei Nadejda weinend sich zu seinen Füßen.

‚Schämst Du Dich nicht?‘ ruf’ ich bei diesem Anblick ihm zu, ‚schieß, mach’ ein Ende!‘

‚Nein,‘ sagt er und setzt den Hahn in Ruhe, ‚ich hab’ Dich zittern sehen – Du fürchtest den Tod!‘

Damit wandte er sich zur Thür, auf der Schwelle aber dreht er sich nach dem Gemälde hin, spannt den Hahn, und ohne erst zu zielen, gab er Feuer. Daß ich an seiner Sicherheit nicht zweifeln möge, hatte er seine Kugel auf die meine drauf gesetzt. Meine Leute wagten nicht ihn aufzuhalten, in stummem Schrecken ließen sie ihn ziehen. Sylvio habe ich nicht wieder gesehen, er hatte wieder Dienst genommen und ist, wie ich höre, in Sebastopol gefallen.“




Aus den vier Wänden des jüdischen Familienlebens.
Nr. 2. Das Laubhüttenfest.

Als Felix Mendelssohn einst an einem mondhellen Septemberabend über den sogenannten Brühl in Leipzig schritt, stieß er im auf- und abwogenden Gewühl der charakteristischen Gruppen, welche zur Meßzeit diese verkehrsreiche Gegend bevölkern, auf die patriarchalische Gestalt eines greisen Juden, der eben segnend seine Hände auf das niedergebeugte Haupt eines vor ihm stehenden Knaben legte und diesen sodann mit zärtlicher Innigkeit in seine Arme schloß.

Derartige Genrebilder aus dem jüdischen Religions- und Familienleben gehören während der Messe auf dem Leipziger Brühl nicht zu den Seltenheiten und die Vorübergehenden beachten sie kaum. Für den gemüthreichen und leicht erregbaren Tondichter aber hatte die niemals von ihm gesehene malerische Scene etwas so Feierliches und Ergreifendes, daß er überrascht stehen blieb und die kleine Gruppe im Lichte des Vollmonds betrachtete. Dem Greise war der theilnahmvoll auf ihm ruhende Blick des Fremden nicht entgangen. Er griff verlegen an seinen breitkrämpigen Hut und sagte: „Verzeihen Sie, mein Herr, wir beginnen heut Abend eines unserer hohen Feste, wo es Brauch ist, unseren Kindern und Enkeln den Segen zu ertheilen. Aber wir sind hier fremde Leute und nur auf enge Schlafstätten angewiesen. Darum müssen wir häufig von unseren Gebräuchen auf der Straße verrichten, was sonst in der eigenen Behausung geschieht.“

Der ruhige, gebildete Ton und das ziemlich reine Deutsch, in welchem diese Worte von einem ärmlich gekleideten polnischen Juden gesprochen wurden, erhöhten die Aufmerksamkeit des Componisten. Er richtete sein Auge auf das bleiche Gesicht des neugierig zu ihm aufblickenden Knaben und erwiderte in seiner jovialen Weise: „Es hat mich gefreut, daß Sie den Knaben so lieb haben und daß er Ihre Liebe so herzlich erwidert. Aber er sieht schwächlich und leidend aus. Warum haben Sie ihn so weit her mit sich gebracht?“

„Damit er ein Mensch werden soll, lieber Herr, was bei uns zu Hause, im Innern Rußlands, nicht möglich ist,“ entgegnete wehmüthig der alte Mann; „er ist meiner Tochter Sohn, ein gutes und fleißiges Kind, die Freude unseres Lebens, es kostet uns großen Schmerz ihn von uns zu lassen, aber bei uns ist’s noch finster, da muß er mit all’ seiner Lust und Liebe verloren gehen. Darum habe ich meine letzten Groschen zusammengerafft und ihn mit nach Deutschland genommen. In Berlin ist eine große und reiche Judengemeinde. Dort will ich mit ihm zu wohlhabenden Glaubensgenossen von Thür zu Thür gehen und so lange ein Bettler sein, bis ich ihm einen Platz in einer guten Schule und den nothdürftigsten Unterhalt verschafft habe. Für das Weitere wird Gott und sein guter Wille ihm beistehen. Ist doch auch der große Weltweise Moses Mendelssohn einst als ein blutarmer, schwächlicher Judenknabe nach Berlin gekommen und doch nach überstandener Noth und Kümmerniß einer der verehrtesten Männer seines Vaterlandes und ein Licht in seinem Volke geworden. Mögen seine Tugenden meinem verlassenen Kinde ein Vorbild bleiben, ich erzähle ihm täglich davon und kann ihm in unserer Lage nichts Besseres zurücklassen.“

Felix Mendelssohn suchte die Bewegung zu verbergen, welche diese plötzlichen Erinnerungen an seinen Großvater in ihm hervorriefen. Einer Berliner Dame aber, welcher er später den ganzen Vorgang erzählte, legte er das Geständuiß ab, daß an jenem Abende auf den Straßen Leipzigs zum ersten Male eine Regung edlen Ahnenstolzes durch seine Seele gezogen sei, daß er zum ersten Male ein Gefühl wehmüthiger Erhebung empfunden, bei dem Gedanken nicht an den jetzigen Glanz und Einfluß seines Hauses, sondern an seinen inneren Zusammenhang mit jener geistigen und sittlichen Kraft, welche in dem verfolgten jüdischen Stamme Jahrhunderte hindurch dem Hasse einer Welt getrotzt, bis sie endlich in dem stillen Dunkel eines armen Dessauischen Judenhauses zu einem hell und warm in die Geister und Herzen leuchtenden Strahl sich angesammelt hatte. Wer ermißt das geheimnißvolle Walten des Volks- und Familiengeistes, die innere Erbschaft der Geschlechter? wer konnte ihm, dem christlich erzogenen

[629]

Am Laubhüttenfest.
Nach dem Oelgemälde von Moritz Oppenheim.

Meister, sagen, was von den Gefühlen und Stimmungen längst entschwundener jüdischer Dulder in Stunden schaffender Begeisterung durch seine Harfe gerauscht, in seine eigene Seele das Ringen nach Hohem und Edlem gehaucht, in ihm sich zu gewaltiger Melodie gestaltet, in seinen Liedern und Oratorien, seinen Psalmen und Kirchengesängen den herzbezwingenden Ausdruck gefunden hatte?

Dies waren die Gedanken, welche, seinem eigenen Bekenntniß zufolge, unseren jugendlichen Meister bewegten, als ihn ein armer polnischer Jude plötzlich an seine Abstammung und an die traurige und doch so erhebende Jugendgeschichte Moses Mendelssohn’s erinnert hatte. Daß der Jude nicht ahnte, an wen er seine Worte gerichtet, braucht wohl kaum erst bemerkt zu werden. Mit einem kurzen Neigen des Kopfes wendete er sich ab und wollte eben in der umherstehenden Menge verschwinden, als der lebhafte Felix seinen Arm ergriff und ihm sagte: „Bleiben Sie noch einen Augenblick, oder besser, kommen Sie ein Stück mit mir, ich glaube für den Knaben in Berlin etwas thun zu können. Zuvor aber müssen Sie mir noch ein paar Fragen beantworten.“

So schritten die drei an Jahren und Charakter, in Bezug auf Stellung und Anschauung so grundverschiedenen, und doch an einem [630] geheimen Seelenpunkte mit einander verknüpften Menschen erst schweigend durch eine Seitenstraße, bis sie in eine stille Gegend des schönen Stadtparks kamen, der sich bekanntlich wie ein frischer und blühender Kranz um die ehrwürdigen Straßen des altersgrauen Leipzigs windet. Hier unter den hohen Bäumen, die der milde Herbstwind noch nicht entblättert hatte, blieb Mendelssohn stehen und sagte: „Wie Sie vorhin bemerkten, mein Lieber, ist Ihre Heimath im Innern Rußlands, sehr fern von hier.“

„Allerdings, lieber Herr, in einer kleinen Stadt an einer der fernsten Grenzen des Reiches.“

,Und dort haben Sie von Mendelssohn gehört?“

„Nicht blos gehört von ihm, lieber Herr, schon in früher Jugend habe ich alle seine Schriften gelesen, die hebräischen und die deutschen, und mich in unserer dortigen Wüstenei mühsam an ihnen herangebildet. Mendelssohn’s Werke und die Werke seines großen Freundes Lessing hatte mein Großvater schon vor vielen Jahren aus Deutschland mitgebracht. Seitdem sind sie ein Erbstück unserer Familie geblieben, das wir bewahren und benutzen wie einen heiligen Schatz. Aber ich kann Ihnen noch mehr sagen, mein Herr; an dem Feste, das wir heute feiern, es ist unser Laubhüttenfest, hat einst mein Großvater in Gesellschaft Lessing’s als Gast am Tische des Weltweisen gesessen und ihn sagen hören: ‚Es kommt eine Zeit, und sie ist nicht so fern, als man glaubt, wo die Juden nicht mehr Fremde sein werden in ihrem Vaterlande. Das werden sie aber nicht von außen her erlangen, durch fürstliche Gnade und weltliche Gunst, sondern nur durch die Macht der fortschreitenden Bildung. Diese Macht der Bildung sehen wir jetzt leise wachsen und wenn sie einst stärker geworden sein wird, als alle Gewaltigen der Erde, werden auch die Juden schon durch ihre eigene Anstrengung lebendige und liebevoll sich anschließende Glieder der großen Volksfamilie geworden sein, mit der sie durch Geburt und Erziehung, durch Sprache und Sitte verwachsen sind.‘ Das hat Moses Mendelssohn damals an seinem Tische gesagt und seine Voraussagung hat sich für Deutschland bereits erfüllt. Die Deutschen jüdischen Stammes haben in ihrem Erlösungskampfe gesiegt, nicht durch Verleugnung ihrer väterlichen Religion und Sitte, nicht auf dem Wege der Gunst und der äußeren Gewalt, sondern durch den Geist der Bildung, der Veredlung und des arbeitsvollen Strebens, den vor kaum siebenzig Jahren ein kleines, verwachsenes Männlein durch sein Beispiel und seine Lehre in ihnen erweckt hat. Bei uns freilich sieht es in dieser Hinsicht noch schlimm aus und erst jetzt fängt es langsam an zu tagen, man liest wenigstens schon die hebräischen Schriften Mendelssohn’s und noch läßt sich nicht absehen, welche Veränderungen der Einfluß des jüdischen Reformators durch die zahlreichen Schüler, die er unter den russischen Juden gefunden, in der gesammten Welt des Ostens bewirken wird. In Deutschland ist man, wie ich höre, schon vielfach über den Standpunkt Mendelssohn’s hinausgewachsen. Für Rußland und Polen aber werden wir ihn jedenfalls noch eine hohe Bedeutung gewinnen sehen.“

Der Mann hatte diese lange Erklärung nicht so fließend, nicht ohne einen starken Anflug von polnisch-jüdischem Accent und wohl auch nicht ganz in denselben Worten, aber mit einer Wärme des Herzens und der Ueberzeugung gesprochen, die seinen Zuhörer mit ehrfurchtsvoller Achtung erfüllte. Wie er da im vollen Lichte des Mondes mit dem weißen, lang auf den schwarzen Kaftan herabwallenden Barte vor ihm stand, lag in seiner ganzen Erscheinung etwas Propheten- und Apostelhaftes. Auch der bleiche Knabe, der die Hand des Sprechenden ergriffen und sich kindlich an seinen Arm gelehnt hatte, schaute mit seinen stillen und tiefen Augen bewundernd zu ihm auf. Der Greis aber strich dem Enkel die Wange und fuhr fort: „Wenn Gott mich gelingen läßt, was ich mit diesem da vorhabe, wird er nicht blos glücklicher werden, als seine Väter waren, sondern auch vollenden helfen, was sie umsonst begonnen haben. Wenn er aus Deutschland als ein Mann zurückkehrt, wird er die Herzen schon geöffnet finden. Noch hängen sie mit fanatischer Strenge an dem Unwesentlichen, an all’ dem verwilderten Aberglauben, den Irrthümern und Mißbräuchen, die sich in den Jahrhunderten grausamer Verfolgung wie eine harte Kruste um den Kern unserer Religion gelegt und viele ihrer schönen und ehrwürdigen Gebräuche bis zur Häßlichkeit entstellt haben. Um diese Kruste allmählich zu erweichen, brauchen wir begeisterte Lehrer und ein solcher Lehrer, so denke und hoffe ich, soll dieses Kind hier werden. Darum habe ich ihm auch jetzt in Dessau das Stübchen gezeigt, in dem einst der dritte Moses seines Volkes geboren wurde.“

„Sie haben wirklich das Geburtshaus Mendelssohn’s besucht?“

„Unverändert steht es im Hofe eines kleinen Hauses noch auf derselben Stelle, wo es vor mehr als hundert Jahren gestanden hat. Als ich es betrat, fühlte ich ein tiefes Wehe in meinem Herzen und doch einen Stolz. Denn ein elendes Stübchen ist’s, lieber Herr, ein armselig Stübchen, wie es wohl selbst in jenen Zeiten nur die ärmsten Familien bewohnt haben können. Es muß aber ein hoher und himmlischer Glanz gewesen sein, der einst durch diese Behausung sorgenvoller Dürftigkeit geleuchtet hat; wie hätte sonst der schüchterne Sohn des von Noth und Elend gebeugten dessauischen Schreibers jener hohe und reine Charakter werden können, als den ihn die gesammte Mit- und Nachwelt gekannt und bewundert hat? Mag die große Welt, in die er mit dem vierzehnten Jahre getreten, seinen Geist geschult und sein Wissen bereichert haben, die Keime zu allen Tugenden seines Herzens, seine seltene Milde und Menschenfreundlichkeit hat er, bei dem damals völlig abgeschlossenen Leben der Juden, sicher nur aus dem engen Dunkel des jüdischen Elternhauses mitgebracht. Das Loos dieser gedrückten Menschen, denen man alle öffentlichen Schulen und Bildungsanstalten und eigentlich jeden ehrlichen Erwerb verschloß, war in jenen Tagen noch vielfach ein hartes, ein sehr hartes, lieber Herr!“

„Um so mehr ist es allerdings zu bewundern,“ entgegnete Felix mit anscheinender Ruhe, „daß sie bei so großem innerem und äußerem Drucke noch Charaktere, wie Mendelssohn, aus sich erzeugen konnten. Alle Berichte der Zeitgenossen rühmen seine hohe Tugend und Weisheit, den Zauber seiner Persönlichkeit. Nicht Wenigen ist er ein Vorbild geworden. Doch fiel es mir auf, daß Sie seinen Vater einen Schreiber nannten, in den Biographien heißt es, er sei ein Lehrer gewesen.“

„Es ist möglich, daß er auch unterrichtet hat, aber seinem eigentlichen Berufe nach war er ein Schreiber. Man weiß sonst überhaupt wenig von dem Manne, obwohl er der Vater und Erzieher eines berühmten Mannes, der Ahnherr einer so ausgezeichneten Familie gewesen, ist nicht einmal seine Abstammung bekannt und sein Grab nicht mehr aufzufinden. Aber ein Schreiber war er, das steht fest, und ein in der Gemeinde wegen seines stillen und makellosen Wandels sehr hochgeachteter Mann. Wissen Sie, was ein Schreiber ist? Es waren dies früher die einzigen Künstler unter den Juden. Auf Pergament schrieben sie die großen Thorahrollen und häufig auch die Gebetbücher, welche bei unserem öffentlichen Gottesdienste benutzt werden. Finden Sie einmal Gelegenheit, in einer Synagoge oder Bibliothek ein solches zuweilen auch mit farbigen Anfangsbuchstaben und Miniaturbildern geschmücktes Werk zu betrachten, so werden Sie inne werden, daß zu dieser Arbeit nicht blos wissenschaftliche Kenntniß und eine Art künstlerischer Fertigkeit, sondern auch Geschmack, Schönheitssinn und vor Allem jene unbeschreibliche Geduld gehörte, wie sie nur fromme Begeisterung den Menschen früherer Zeiten verliehen hat. Ich erwähne den Umstand, weil er nicht unwichtig ist. Sollte von einer solchen künstlerischen Thätigkeit nicht auch etwas in die Denkungsart und die Sitten Mendel’s übergeflossen sein und auch in die Seele seines Kindes schon frühe jenen Sinn für das Feine und Geordnete, das Anmuthige und Schöne gepflanzt haben, der später ein so wirkungsreicher Grundzug seines Wesens geblieben ist? Wie oft mag der arme Vater noch in später Nacht bei düster brennender Lampe in seinem erbärmlichen Zimmer gesessen und mit erhobenem Gemüthe, betend zugleich und schreibend, den Urtext jener Psalmen auf Pergament gezeichnet haben, die später sein Sohn in’s Deutsche übertragen …“

„Und sein Urenkel in Musik gesetzt hat,“ wollte Mendelssohn den Mann unterbrechen. Er verschluckte aber jede derartige Bemerkung und sagte nur: „Es ist eine weite Gedankenreihe, die Sie mir da eröffnen, und sie erregt mich tiefer, als Sie vielleicht glauben. Aber mir liegt noch eine Frage auf dem Herzen: Sie glauben also wirklich, daß das seit Mendelssohn wiederum in eine Bewegung gerathene Judenthum in den europäischen Ländern noch eine Zukunft habe?“

„Ich glaube es mit Tausenden und abermals Tausenden meiner Brüder und Schwestern, die heute mit mir unser fröhliches Laubhüttenfest feiern, wie mit Unzähligen, die es nicht mehr feiern. [631] Daß das Judenthum lebt und in seinen Wurzeln nicht abgestorben ist, können Sie in jeder Stadt und in jedem Dörfchen sehen, wo eine Gemeinde ist. Und warum wollen Sie es nicht leben lassen? Wurzelt es nicht, so gut wie das Christenthum, in einem höheren sittlichen Inhalt, der sich nur in besonderen, durch Geschichte und uraltes Herkommen geheiligten Formen offenbart, die Niemand stören und schaden und die Mancher nur fremdartig oder lächerlich findet, weil ihm die eigenen Gewohnheiten natürlich geläufiger und verständlicher sind? Muß denn Alles über einen und denselben Leisten geschlagen sein?“

Der Mann hatte die letztere Frage mit so eigenthümlicher Wehmuth betont, daß der große Tondichter seine Hand ergriff und sie herzlich drückte. „Sie haben mir,“ sagte er, „eine schöne Stunde bereitet und ich kann Ihnen wohl am Besten durch die Erklärung danken, daß es der Enkel Moses Mendelssohn’s ist, zu dem Sie gesprochen haben. Kommen Sie morgen zu mir.“ Hiermit übergab er dem Knaben seine Karte und war schnell in den Windungen der Anlagen verschwunden.

Als der Greis mit seinem Knaben am andern Tage in der Wohnung Mendelssohn’s erschien, breitete er mit thränenfeuchtem Auge und feierlicher Geberde, ein hebräisches Gebet murmelnd, seine Hände gegen den Meister aus und empfing dann von diesem Briefe, welche ihm selber eine beträchtliche Aufhülfe, dem Knaben aber auf Jahre hinaus in Berlin eine gute Erziehung nebst ausreichendem Unterhalte sicherten.

Dieser Knabe ist freilich kein Reformator der russischen Juden, sondern ein hochgebildeter, durch seine aufopfernde Menschenfreundlichkeit sowohl, als durch geistvolle schriftstellerische Leistungen ausgezeichneter Arzt geworden, der in der preußischen Stadt, wo er seit Jahren wirkt, sich einer weit verbreiteten Praxis und eines hohen Ansehens erfreut. Der zeitgemäßen Reform des mittelalterlichen Judenthums, und namentlich der Aufklärung seiner russischen Brüder wendet er aber, im Sinne seines Vorfahren, noch immer eine warme Aufmerksamkeit zu, wie er auch alljährlich, wenn das trauliche Fest der Laubhütten wiederkehrt, alle seine Lieben zu heiterem Mahle um sich versammelt und mit inniger Dankbarkeit der wunderbaren Schicksalswendung gedenkt, welche einst für ihn an diesem Abend aus dem altjüdischen Festsegen des längst zu seinen Vätern Heimgegangenen Großvaters entsprossen ist.




Als ich vor einiger Zeit auf dem Tische einer befreundeten Familie das nunmehr hier beifolgend mitgetheilte Bild Oppenheim’s fand, wurde ich durch eine unwillkürliche Ideenverbindung an die vorstehende Geschichte erinnert, welche von der Dame, der sie Mendelssohn erzählt hatte, niedergeschrieben und seit Jahren in meinen Besitz gekommen ist. Was hier und da im Ausdrucke und der Abrundung der einzelnen Wendungen der Hand der Erzählerin angehört, kann füglich dahingestellt bleiben. Dem Geiste sowohl als den Thatsachen nach ist der Vorgang keineswegs erdichtet, und kann wohl als Einleitung zu einer Erklärung altjüdischer Gebräuche und Feste dienen, die eben jetzt schon mannigfach ihr früheres Gepräge, die Festigkeit ihres Bestandes verloren haben und in einer Krisis, einem Uebergange zu neuer, dem Bewußtsein des heutigen Geschlechtes mehr angemessener Gestaltung begriffen sind.

Zu diesen Festen gehört auch das sogenannte Laubhüttenfest, bekanntlich eines der altbiblischen, schon vom mosaischen Gesetze (3. Buch Moses 23, 33–44) angeordneten Hauptfeste der Juden, das noch jetzt in allen jüdischen Gemeinden mit festlichen Abend- und Vormittagsgottesdiensten gefeiert wird. Ein Rest eigenthümlichen poetischen Schimmers, der von jenen uralten Tagen her dieses von sinnigen Gebräuchen durchwobene Fest umgeben hatte, ist ihm in allem Wandel der Zeiten und Anschauungen auch heut’ noch verblieben und in manchen Gegenden haben wir es von der christlichen Bevölkerung das „grüne Fest“ der Juden nennen hören. Ursprünglich in Palästina war es ein großes Nationalfest, das ganze Volk strömte aus allen Städten und Dörfern des Landes nach Jerusalem, das sich, zur Erinnerung des einstmaligen Zeltlebens Israels auf seinem Wüstenzuge, in ein einziges Lager frisch grünender Hütten verwandelte. Diese Bedeutung ist nach der Auflösung des jüdischen Staates allmählich hinter anderen, mehr im Familien- und Gemeindeleben wurzelnden, mit dem Laufe des Jahres und der Jahreszeit zusammenhängenden Deutungen zurückgetreten.

Das Laubhüttenfest fällt in jenen Monat des jüdischen Kalenderjahrs, der sich z. B. dieses Mal vom 17. September bis zum 17. October erstreckt und als ein eigentlicher Festmonat im Jahreslaufe der Juden bezeichnet werden muß. Die ersten zehn Tage dieses Monats heißen die zehn Bußtage. Sie beginnen mit dem Neujahrsfest und schließen mit dem höchsten und heiligsten aller jüdischen Feiertage, dem sogenannten Versöhnungsfeste, hebräisch Jom Kippur, in christlichen Volkskreisen „die lange Nacht“ genannt. Ist diese Zeit ernster Betrachtungen und Gemüthsbewegungen mit den wehklagenden Melodien ihrer Buß- und Bittgesänge, mit ihren strengen Fasten und feierlichen Versammlungen, ihren Sterbekleidern und Erinnerungen an menschliche Vergänglichkeit vorüber – es ist in der That eine Zeit tief ernster Sammlung, eine Zeit der Versöhnung und Erhebung für jedes der alten Sitte noch nicht abhold gewordene jüdische Haus – so tritt der Familienvater an einem der nächsten Tage in seinen Hof oder Garten, oder, wenn er Miether ist, auf das zu diesem Zwecke ausbedungene Fleckchen Erde und beginnt mit seinen dabei voller Freude behülflichen Kindern ein eigenthümliches Geschäft. Es werden Pfähle in die Erde gerammt, Bretter herbeigeholt, Nägel eingeschlagen und die Arbeiten des Hämmerns und Zimmerns, Fügens und Bauens so lange fortgesetzt, bis sich ein zierliches und lustiges, oben mit Tannenreisig oder anderen grünen Zweigen gedecktes Häuschen erhebt, das nun, je nach dem Wohlstande oder dem Geschmacke des Besitzers, innerlich mit aller Sorgfalt ausgeputzt, oft sogar tapeziert, mit Tisch und Stühlen versehen, mit bezüglichen hebräischen Bibelsprüchen, bunten Lampen und Papierguirlanden, vergoldeten Aepfeln und Nüssen und besonders mit jenen Resten von farbenreichen Herbstblumen geschmückt wird, die mitten in aller Freude so ernsthaft an die schwindende Sommerlust zu mahnen vermögen. Dieses in der That meistens sehr anmuthig aussehende, nach Feld und Wald duftende Häuschen, die stolze Freude der jüdischen Kinder, ist die aus dem alten Palästina stammende Laubhütte, in welche nun die Familie während der bevorstehenden Feiertage alle ihre Mahlzeilen und die damit verbundenen häuslichen Festceremonien verlegen wird.

Das Laubhüttenfest beginnt am fünften Abend nach dem Ausgange des Versöhnungstages und dauert neun volle Tage, von denen die zwei ersten und letzten sogenannte heilige Feste, die fünf mittleren nur Halbfeiertage sind. Wenn namentlich am ersten Abend die Familie nach beendigtem Gottesdienste aus der Synagoge heimkehrt und das noch frische grüne Häuschen von Hellem Kerzen- und Lampenlichte beleuchtet ist, wenn der Hausvater den dreifachen Segen über den Wein, über das Fest und über die Hütte spricht und die Hausgenossenschaft sich in festlicher Kleidung zum Mahle um den Tisch gruppirt, gewährt das an sich einfache Ganze wirklich einen so charakteristischen Anblick glücklichen Friedens und traulicher Heimlichkeit, wie er von Meister Oppenheim, dem berühmten Genremaler des altjüdischen Familienlebens, in unserem Bilde so vortrefflich aufgefaßt und in treuer, wahrhaft künstlerischer Weise wiedergegeben ist. In größeren wie kleineren Städten ist denn auch früher herkömmlich an diesem Abend die ganze christliche Bevölkerung auf den Beinen gewesen, um die Laubhütten zu sehen. Ja, selbst die Kinder königlicher und fürstlicher Familien wurden zu diesem Zwecke mit ihren Hofmeistern in die Häuser vornehmer Juden geschickt, wo ihnen aus goldenen Bechern der Wein kredenzt und von silbernen Schüsseln die Leckerbissen der jüdischen Tafel gereicht wurden. Denn wenn die religiösen Gebräuche verrichtet und die Tischgebete gesprochen sind, pflegt man das Verweilen in der Laubhütte durch weltliche Munterkeit zu würzen, und oft tönt noch in später Stunde Gesang, heiteres Gespräch und Gelächter heller Mädchenstimmen aus den erleuchteten Räumen in die Nacht hinaus.

Außer der Laubhütte kennt dieses Fest noch einen anderen gleichfalls schon im mosaischen Gesetze angeordneten, also ebenso uralten Brauch, den Feststrauß, der aus hohen, am unteren Ende mit Myrthe und Bachweide umwundenen Palmenzweigen besteht und zu dem auch ein sogenannter Paradiesapfel gehört, „Frucht vom Baume Hadar“, wie ihn die Bibel nennt. Dieser Strauß wird, trotz des hohen Preises, noch heute von jedem dem Gesetze ergebenen Juden angeschafft, er gehört am Laubhüttenfeste zu den Erfordernissen eines ehrbaren Hauses und christliche wie jüdische [632] Händler machen alljährlich in den verschiedenen europäischen Handelsstädten ein gewinnbringendes Geschäft namentlich mit den Paradiesäpfeln. Auch beim festlichen Gottesdienste in der Synagoge wird der Strauß benutzt, er wird in Processionen umhergetragen und der Vorbeter schüttelt und wendet ihn beim Absingen verschiedener Psalmen in eigenthümlichen Schwingungen nach den verschiedenen Weltgegenden. Eine Erklärung haben verschiedene Rabbiner versucht und unter Anderem wegen der Zusammenstellung so verschiedenartiger Producte ein Symbol der Eintracht und Verträglichkeit oder der Gleichheit vor Gott darin gesehen. Unserer Auffassung und dem ziemlich klaren Wortlaute der biblischen Vorschrift nach, hat die Anordnung keinen anderen Zweck gehabt, als eine Verherrlichung des heiteren Festes durch grünen Schmuck.

Fragen wir nun nach der Bedeutung, welche ein solches Fest noch im Bewußtsein der heutigen jüdischen Religionsgenossen hat, so glauben wir nicht mit Unrecht behauptet zu haben, daß es noch nicht allen harmlosen Glanz und Schimmer seiner früheren Poesie verloren hat. Es wird noch gefeiert als ein großes Erntedankfest und zugleich als das Schlußfest des sommerlichen Festcyclus. Denn die fünf Hauptfeste der Juden fallen sämmtlich in den Sommer und vom Laubhüttenfeste, das seinen Schmuck schon den Blumen des Spätherbstes entnimmt, bis zum Passah- oder Osterfest, auf dessen in der Gartenlaube bereits früher geschilderten Seder-Tisch schon die ersten grünen Kräuter des Frühlings erscheinen, giebt es während des ganzen Winters im Judenthum keinen eigentlichen Feiertag. Das Fest der Laubhütten beschließt also eine schöne, erhebungsvolle Zeit und steht zugleich mit seinen schon kurzen Tagen und langen Nächten dicht an der Pforte der düsteren und unheimlichen Tage; es verbindet sich also mit aller der Bangigkeit und den ernsten Stimmungen, von denen die Seele der Menschen beim Herannahen des Winters ergriffen zu werden pflegt. Darum ist es nicht blos ein heiteres, sondern auch ein wehmuthvolles Fest und darum wird namentlich sein allerletzter Tag mit ganz besonderer Feierlichkeit begangen. Er heißt der Tag der Gesetzesfreude und wird in den Synagogen durch processionsartiges Umhertragen der in der heiligen Lade befindlichen Thorahrollen (fünf Bücher Moses), in den Häusern durch Jubel und Tanz, durch fröhliche Mahlzeiten und ausgelassene Lustigkeit gefeiert. Auch ein Fest der Kinder ist dieser Tag. Mit bunten Fähnchen, auf denen brennende Lichter stecken, erscheinen sie in der Synagoge und schreiten dem Umzuge voran.

A. Fr.




Drei Salons.

Diese bangen, diese süßen
Zauberhaften Töne müssen
In das Land der Schatten dringen
Und die Todten wiederbringen.
 Lenau.

Ein Zauber ohne Gleichen strömt von den Compositionen Chopin’s aus. Wer jemals geliebt und gelitten, erliegt ihm ohne Rettung. Der Pulsschlag jener echten großen Leidenschaft, die so selten geworden in der Welt, durckzuckt sie mit hinreißender Gewalt. Wir empfinden mit einem Schauer des Entzückens, wie nur das Herz, ein großes, glühendes Herz der Boden sein konnte für diese wilden und schönen Blüthen der Chopin’schen Muse, und fühlen uns immer von Neuem versucht, eben deshalb ihrem ersten Keimen und Knospen nachzuforschen.

Wo tauchten sie denn zuerst auf, jene Mazurken, Walzer und Polonaisen mit ihren seltsamen bezaubernden Harmonien und Dissonanzen, und der Lust und dem Leid ihrer Accorde? –

Die Aristokratie Warschaus hatte an einem schönen Novembertag des Jahres 1825 eine Schlittenfahrt veranstaltet zu Ehren eines hohen und seltenen Gastes, des Fürsten Anton Radziwill, der auf der Reise nach Nieborow, seinem Schlosse, einige Tage in der alten Warszawa Rast hielt. Im Schlosse selbst war die Dienerschaft des Grafen bereits am Morgen eingetroffen und Alles war zum Empfange der Gäste bereit, als die Schlitten in der Dämmerung in dem Schloßhofe anlangten. Als die Nacht hereinbrach und man sich in dem Speisesaal des Schlosses versammelte, da hätte wohl Niemand in jenen Duftgestalten, aus Flor und Spitzen gewebt, jene pelzumhüllten Schlittenerscheinungen wiedererkannt, die kleinen Zofen hatten, trotz aller Versäumnisse, ihre Schuldigkeit gethan, eine Schaar Feen schien auf die arme Erde herabgeschwebt zu sein.

Die Gräfin Potocka in rosa Atlas, eine reizende junge Frau, machte die Honneurs mit bezaubernder Grazie, und der Fürst Radziwill saß neben ihr und der schönen Fürstin Czartoriska, deren herrliche Gestalt und üppiges Haar an die Frauen des Giorgione erinnerte. Die Stimmung der vornehmen Gesellschaft war eine ungezwungen heitere, und mit sichtlichem Interesse flogen die Blicke des hohen Gastes über diese glänzende Versammlung hin.

Es war bereits gegen das Ende des Soupers, als die Gräfin sich zur Fürstin wandte mit der Frage: „Wo ist unser Fréderic Chopin? Ich sehe nur Ihren Sohn drüben im Speisezimmer der Jugend, nicht aber seinen Freund.“

Die Fürstin neigte langsam das schöne Haupt und antwortete: „Wie können Sie denken, mon aimable amie, daß Chopin sich der Tafelstunde erinnern sollte in dem Schlosse, wo Sobiesky starb! War er doch bei dem Gedanken, diese geweihte Stätte betreten zu dürfen, wie im Fieber. Gleich nach dem Aussteigen lief er auf die Terrasse, wo der Held auf- und niederzuwandeln pflegte. Ich sah ihn seitdem nicht wieder!“

„Dann ist Ihr Schützling auf meinen Wegen gewandelt,“ sagte Fürst Radziwill, „denn auch ich hätte fast die Tafelstunde vergessen, auch ich feierte das Andenken des großen Mannes, und es war im Ahnensaal, als die zierliche Gestalt eines Knaben an mir vorüberstreifte. Wer ist der Glückliche, der sich der Huld der schönsten Frauen Polens erfreut?“

„Ein Musikgenie, ein Kind von fünfzehn Jahren aus Zelazowa Wola, der Spielgefährte und Studiengenosse meines Sohnes Borris, der mit zärtlicher Liebe an ihm hängt,“ antwortete die Fürstin. „Sein Herz für sein Vaterland und seine Freunde entzückt mich nicht minder als sein Talent. Ich hoffe –“

Ein Ausruf des Fürsten unterbrach sie. „Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken, aber ich bin plötzlich selber fassungslos. In diesem Augenblick bemerke ich, daß mich ein Unfall betroffen: ich verlor ein theueres Kleinod. Sehen Sie hier diese Kette. Sie trug eine Kapsel mit dem Bilde meines Kindes. Und heute ist Elisabeth’s Namenstag!“

Man suchte und ertheilte Befehle an die Dienerschaft, die Tafel wurde aufgehoben, der Fürst zog sich bleich und aufgeregt in seine Zimmer zurück – das Fest schien zerstört. Wohl eine Stunde verging, die Gesellschaft fand sich in dem Musiksaal wieder zusammen; von Zeit zu Zeit trat einer der Diener an den Grafen oder die Gräfin heran, um zu melden, daß alle Nachforschungen vergebens.

Die Hauptperson des Festes fehlte, man stand in rathlosen oder leise flüsternden Gruppen beieinander und eine bange Besorgniß wehte wie ein kalter Lufthauch durch die prächtigen Räume. Durfte man sich unter diesen Verhältnissen der gehofften Freude des Tanzes hingeben, ohne die Rücksicht auf den vornehmsten Gast zu verletzen? Und ohne Tanz war doch kein Fest denkbar. Wie viele Herzen hatten schon in der sichern Erwartung auf einen improvisirten Ball höher geschlagen! Welche Pläne und Hoffnungen, welche Fülle von Freuden wurden durch diesen kleinen grausamen Zufall zerstört!

Da wurde plötzlich die Thür des Saales aufgerissen und ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren erschien auf der Schwelle. Hoch und schlank aufgeschossen, in einfach dunkler polnischer Tracht, frappirte sein Kopf in diesem Moment durch eine ungewöhnliche Schönheit. Das zarte, feingeschnittene Gesicht glühte, die großen Augen leuchteten. „Ich habe das Bild auf der Terrasse Sobiesky’s gefunden!“ rief er mit dem Ausdruck des Triumphs und eilte auf die Gräfin zu, „o seht nur her!“ Er hielt ihr eine goldene Kapsel entgegen, deren Deckel aufgesprungen war. Ein Mädchenkopf, der Kopf eines bezaubernden Kindes wurde sichtbar. „Saht Ihr je etwas Lieblicheres?“ fragte er aufgeregt. „Es ist ein Engel!“

[633] „Welch’ ein Glück, mein Liebling! es ist die kleine Elise Radziwill und Du mußt selber hinauf gehen zum Fürsten, ihm sein Kleinod zu bringen. Geh’, Fréderic!“ drängte die Gräfin, freudig erregt.

Aber die gewohnte Schüchternheit des Knaben war unter diesen Worten wieder zurückgekehrt, seine Erregung schwand, tiefe Blässe überzog sein Gesicht, die langen Wimpern senkten sich wieder. „Ich will keinen Dank,“ sagte er dann kurz. . „Bitte, gebt es ihm statt meiner!“ Noch einen langen Blick auf das süße Kindergesicht werfend legte er seinen Schatz in die schöne Hand seiner Schützerin.

„Nun so geh’, mein Kind, zum Flügel, man wartet schon längst auf Dich voll Ungeduld, wir dürfen jetzt ohne Vorwurf tanzen und fröhlich sein!“

Eine Schaar reizender Frauen drängte sich um den Knaben. „Lieber Chopin, kommen Sie!“ baten süße Stimmen und glänzende Augen. Man zog ihn fort an das Instrument.

Eine Viertelstunde später zeigte der Tanzsaal ein lebensvolles Bild. Am Flügel saß der junge Chopin und spielte die Tanzweisen seines geliebten Vaterlandes, und die vornehmen Paare wirbelten durcheinander. Wie oft hatte er schon so gespielt! Sie wollten ja Alle nur zu seinem Spiel tanzen, alle die schönen Aristokratinnen in dem Salon der Fürstin Czartoriska, Potocka und anderer Königinnen der großen Welt. – „Seine Finger sprühen Funken!“ sagte man scherzend von ihm, „wehe, wenn sein eigenes Herz einmal in Flammen aufgeht, wie er jetzt unsere Herzen in Flammen setzt; es würde eine Feuersbrunst werden, die Niemand löschen kann!“

Und die schlanken Finger glitten über die Tasten bald im Mazurka-Rhythmus, bald im Polonaisentempo, oder im Walzertact, und die Augen glitten träumerisch über jenes Wogen und Schweben der prächtigen Gestalten. Er sah alle das „Neigen von Herzen zu Herzen“, von dem der Dichter sagt:

„Ach, wie so eigen schaffet es Schmerzen! –“

In solchem Gewirr widerstreitender Empfindungen wurden sie geboren, jene Tänze Chopin’s, aus dieser bewegten Fluth stiegen sie auf, die Perlen jener Weisen, die man so liebte und bei deren Klängen ein so wunderbarer Rausch die Tänzer erfaßte.

Wie schön diese kleinen Hände spielten, wußten damals nur Wenige. Die Meisten sagten: „er allein spielt so, daß wir dazu tanzen können, wie wir eben mögen!“ Wie viel Liebesglück sah der junge Chopin unter seinen Augen aufblühen und welken, wie früh und mit welcher tiefen heimlichen Trauer lernte er erkennen, daß Alles vergeht und stirbt – und das Schönste am schnellsten: der Frühling und die Liebe. —

An jenem Abend im Tanzsaal des Schlosses Willanow stand eine hohe Männergestalt lange schweigend und regungslos hinter dem Flügel, und zwei ernste Augen verfolgten mit dem Ausdruck von Bewunderung die schlanken Finger, die da über die Tasten glitten. Fürst Radziwill, der geistvolle Musikfreund und Kenner, lauschte staunend dem Spiel des Knaben. Mit dem Sonnenschein der Freude auf der edlen Stirn sah die Fürstin Czartoriska ihn später lange mit dem jugendlichen Freunde ihres Sohnes reden, und sah das Knabenantlitz freudig aufleuchten. Erst am andern Tage erfuhr sie aus Chopin’s Munde, wie der Fürst ihm gedankt für das wiedergefundene Kleinod. Anton Radziwill übernahm die fernere musikalische Ausbildung des Knaben auf dem Conservatorium zu Warschau unter der Leitung des vortrefflichen Elsner.

Am Abschiedstage spielte Chopin noch stundenlang vor seinem scheidenden Gönner im Salon der Fürstin Czartoriska, und in dem Boudoir der gefeierten Frau lauschten verschiedene Freunde des Hauses diesem seltenen Genuß, denn der wunderliche Knabe war sonst nie zu bewegen, außer zum Tanz, vor einem größeren Kreise zu spielen.

Aber auch der Fürst Radziwill setzte sich an den Flügel, um seinen dankbaren Zuhörern Bruchstücke aus jener wunderbaren Schöpfung „Faust“, die damals seine Künstlerseele erfüllte, zu geben, und er erklärte dem erregten Chopin den Zusammenhang des Ganzen und den Bau des Einzelnen. Die ergreifenden Osterchöre schwebten daher und die Augen des jugendlichen Hörers schimmerten freudig bei diesen Klängen aus einer besseren Welt.

„Sie müssen später nach Frankreich und Italien gehen und dann Rast halten bei mir in Berlin,“ sagte endlich der Fürst, „dann sollen Sie das ganze Werk hören und in vollendeter Ausführung, wie ich hoffe! Geben Sie mir die Hand darauf, daß Sie kommen!“

Und eine schlanke, zarte Hand sank in eine kraftvolle Männerhand.

„Werde ich dann,“ fragte der Knabe stockend, „auch den kleinen Engel sehen?“

„Sicher! Aber er dürfte dann wohl ein großer Engel geworden sein,“ lautete die lächelnde Antwort.

„Darf ich das Bild noch einmal sehen?“

„Da ist es!“

Und der Fürst zog die Goldkapsel hervor, der Deckel sprang auf und zwei dunkle Augen vertieften sich noch einmal in das holde Kindergesicht.

„Wir lieben uns sehr,“ sagte er mit einer Stimme, die vor Rührung bebte, „diese meine einzige Kleine und ich, und können uns nicht lange missen. Gott segne sie!“




Etwa sieben Jahre später saß Fréderic Chopin in Berlin im Salon des Fürsten Anton Radziwill, nicht mehr der scheue Knabe, ein ernster, junger Mann, ein aufgehendes Künstlergestirn ersten Ranges. Diesmal flogen nicht polnische Frauen mit ihrer Grazie unter den Klängen seiner Weisen an ihm vorüber, man saß in lautlosen Gruppen umher und lauschte jenen wunderbar schwermüthigen Weisen, die Chopin Notturno’s, „Träumereien der Nacht“ nannte.

Die Aristokratie der Geburt und des Geistes und die Vertreter der Kunst waren in dem Musikzimmer des fürstlichen Hauses versammelt, dessen Honneurs die liebenswürdige Fürstin machte. Man sah den alten Zelter dort und den jungen Humboldt, Bernhard Klein und Louis Berger, Varnhagen und dazwischen eingestreut wie Blumen die reizenden Frauen.

Neben dem Flügel stand eine schlanke Mädchengestalt, das Köpfchen ein wenig geneigt, in einem einfachen, weißen Kleide, das bis zur Spitze der kleinen Füße herabfloß. Die rosigen Lippen waren halb geöffnet zu einem träumerischen Lächeln, der ganze Ausdruck des holden Gesichtes zeigte ein Gemisch von Wehmuth und Entzücken. Tief gesenkt deckten die langen Wimpern die seelenvollsten Augen, ihr Blick hing unverwandt an jenen Händen, die eben die letzten Tacte des C-moll-Notturno’s spielten. Die ganze Erscheinung erinnerte an die zarte Schönheit einer eben erblühten weißen Rose. Es war die Prinzessin Elise Radziwill. Und als Chopin geendet, begegnete er zwei Augen, die in hellen Thränen standen. Und tiefer noch als damals beim Anschauen jenes Kinderbildes empfand die Künstlerseele vor dieser Mädchengestalt: „sie ist ein Engel!“

Die Prinzessin Elise Radziwill war die erste deutsche Frau, die den Zauber dieses wunderbaren Spieles und der wunderbaren Schöpfungen Chopin’s voll empfand und sich ihm rückhaltlos überließ. „Nie hörte ich solche Melodieen und nie werde ich Herzergreifenderes hören,“ sagte sie wiederholt, und während seines Aufenthaltes in Berlin hatte Chopin keine begeistertere Verehrerin dort, als die junge Fürstin. Fast jeden Abend verlebte der Schützling Radziwill’s im Musiksaale seines hohen Gönners, und man musicirte dort bis tief in die Nacht hinein. Dort war es auch, wo Chopin den Fürsten Cello spielen hörte, mit wahrer Meisterschaft, und den größten Theil des „Faust“ und die Gretchenlieder sang die süße Stimme der Prinzessin.

Schöne helle Tage zogen an dem jungen Musiker vorüber; es gab Stunden, wo er den Schmerz des Scheidens aus der theuern Heimath, an der seine Seele so leidenschaftlich hing, vergaß. Aber sie nahmen ein Ende; Chopin zog weiter nach Frankreich.

Eine weiße Rose schenkte die Prinzessin dem neuen Freunde beim Abschied. „Auf Wiedersehen!“ lächelte sie ihm zu.

Kaum zwei Jahre später lagen Kränze von weißen Rosen auf den Särgen von Vater und Tochter. Fürst Radziwill, der Componist der Osterchöre, starb in der Osternacht des Jahres 1833 und wenige Monate später folgte ihm sein geliebtes Kleinod.




Wieder sind Jahre im schnellen Fluge dahingezogen. Chopin spielt in einem kleinen Salon. Die Fenster stehen weit offen; eine helle Nacht, die glühende Nacht des Südens liegt auf der Erde. Eine fremdartige Vegetation ist es, die dem Auge begegnet, denn der Boden, auf dem die kleine grünumrankte [634] Villa steht, die Chopin eben bewohnt, ist die Insel Majorca im mittelländischen Meere. Palmen, untere denen nun einmal Niemand ungestraft wandelt, ragen stolz in die Luft, üppige Blüthenranken schlingen sich um die Säulen der Veranda, Blumen in den brennendsten Farben duften auf den Beeten, ein Gewirr von Riesenblättern bildet ein natürliches Laubendach. Der Himmel ist von den zerflatternden Schleiern eines vorübergezogenen Gewitters bedeckt, aber große Tropfen, wie unaufhaltsame Thränen, fallen nieder. Der Musiker ist allein. Im Zimmer herrscht süße Dämmerung; eine mattleuchtende Ampel hängt von der Decke herab. Von der Wand herüber schimmert eine gelbseidene Ottomane, auf dem Marmortische steht eine Schale mit Blumen und Ranken, die weit herabhängen, Tabourets in allen Ecken, zwischen Fenster und Flügel ein Schreibtisch, bedeckt mit Büchern und Papieren, ein Flacon dazwischen, darüber hingeworfen ein Battisttuch mit Spitzen besetzt. Vor dem etwas zurückgeschobenen Sessel liegt ein Sammetkissen und darauf stehen zwei kleine türkische Pantoffeln. Frauen- oder Kinderfüße haben sie abgestreift, diese zierlichen rothen, mit Goldfäden und Perlen gestickten Gehäuse. An den Wänden hängen Ansichten von Venedig, Portraitskizzen und Zeichnungen bunt durcheinander, über dem Flügel aber ein Aquarell: der Profilkopf einer Frau mit dunkelm Haar und Augen, die das Zimmer mit seltsamem Licht zu erfüllen scheinen.

Der einsame Spieler warf dann und wann einen Blick auf jenes Bild, das, vom Lichte der Ampel getroffen, zu leben und zu athmen schien, dann wieder neigte er sich und schaute, ohne die Hände von den Tasten zu nehmen, hinaus in die verschleierte Landschaft, die der Nacht entgegenträumte, und lauschte dem langsamen Tropfenfall. Es schien ihn zu quälen, dies eintönige Geräusch, eine Wolke lag auf seiner Stirn und die feinen Lippen zuckten. Ob er es wohl übertäuben wollte mit den mächtigen Klängen des F-moll-Concertes, der schönen Gräfin Potocka gewidmet, die jetzt über die Tasten rauschten? Der letzte Satz war es, der jetzt auftrat in seiner stolzen und melancholischen Schönheit.

Wie ganz anders, wie seltsam verwandelt klang heute das Spiel Chopin’s im Vergleich zu jenem Abend im Salon des Fürsten Radziwill, als die reizende Mädchengestalt der jungen Prinzessin neben ihm am Flügel stand! Damals war es schmerzliche Träumerei, ein Gewebe von Sehnsucht und Hoffnung, Wünschen und Verlangen, jetzt war die Erfüllung da, jeder Ton sagte es klar. Jenes wunderbare „Glück ohne Ruh“ war eingezogen in das leidenschaftlichste aller Herzen.

Fréderic Chopin stand damals vielleicht noch nicht auf der Höhe seines Ruhmes, obgleich Paris ihn anbetete und die Augen des musikalischen Deutschlands sich bereits bewundernd auf ihn richteten, aber er stand auf der Höhe seines Glückes. George Sand, die genialste Frau, hatte ihn nach Majorca begleitet, um selber die Genesung des so schwer erkrankten, von den französischen Aerzten aufgegebenen Freundes zu überwachen. Und er genas auch unter diesem Himmel oder – unter diesen Augen, die Liebe vollbrachte wieder eines ihrer stillen ewigen Wunder, der Todgeweihte wurde dem Leben erhalten, der Kranke erholte sich schneller, als sein geliebter Dämon es zu hoffen gewagt. Sie durften ja Beide ein Traumleben führen, wie es schöner nicht gedacht zu werden vermag – ein märchenhaftes Dasein, fern von einer lärmenden und kalten Welt, auf einer seligen Insel, wo Liebe, Musik und Poesie ihre Schleier um die Glücklichen webten, und die ideale Natur Chopin’s glaubte trotz Allem, was er in so früher Jugend gesehen, an eine Ewigkeit dieser berauschenden Seligkeit, denn

„– das Ende würde Verzweiflung sein!
Nein – kein Ende – kein Ende!“

Und während er noch dahin fuhr auf jenem goldenen Strome

„von dem Glanze selig blind!“

schlug eine schöne unruhige Frauenhand schon das Buch für immer zu, das den Titel trug: „Zwei Glückliche auf Majorca“. Ach, sie setzte schon die Feder an, um ein neues zu beginnen: „Die Rückkehr nach Paris“. George Sand sehnte sich zurück in jene bewegte Welt, die sie vor wenig Monden um des Freundes willen verlassen, und während er noch seine süßesten Träume träumte, war sie längst erwacht und sann darüber nach, wie sie es ihm sagen wolle, das grausame Wort: „Wir müssen heimkehren – oder scheiden!“

Noch immer fielen draußen die Tropfen, noch immer war die Geliebte nicht heimgekehrt von ihrem Spaziergange, regelmäßige Streifzüge, auf denen er sie ja, seiner Schwäche wegen, nie begleiten durfte. So lange hatte sie ihn noch nicht allein gelassen! Es war so todeseinsam um ihn her und wie Todesfurcht legte es sich auf seine kranke Brust. Geisterhaft schaute das Bild auf ihn nieder. Und der Gedanke stand auf: „Wie wenn sie stürbe und ihn auf einmal verließe – wie wenn sie nie wiederkehrte?“ Seine schmerzliche Wehmuth löste sich in Thränen, die Thränen wurden zu Tönen, die Finger Chopin’s berührten die Tasten, die bleiche Stirn senkte sich tiefer und tiefer: das wunderbare Präludium in Dēs-dur entstand in jener Stunde, mit seinen niedertropfenden Ges und As.

Er hörte nicht, der Träumer, wie sich Schritte nahten, wie die Thür geöffnet wurde und sie auf der Schwelle erschien, die Heißersehnte, um die er ahnungsvoll schon jetzt weinte, wie sie leise zum Flügel schlich, das schöne, üppige Weib, eine Blüthenranke durch das Haar gewunden, im leichten weißen Kleide mit dem Goldgürtel, in dem ein kleiner Dolch blitzte, Blumen in den Händen, den breitgeränderten Strohhut am Arme, helle Tropfen in den Locken. Sie war gekommen mit dem festen Entschluß ihm zu sagen: „laß uns eilig heimkehren, ich ertrage diese Luft und diese Ruhe nicht länger.“ Und noch Vieles war es, so Vieles, was sie ihm sagen wollte! Und nun stand sie wie gebannt plötzlich diesen Klängen gegenüber, und mußte zuhören, wie er um sie weinte, und glühenden Tropfen gleich fiel ihr Ton um Ton auf’s Herz. Und als der letzte verhallt war, da ließ sie die Blumen aus ihren Händen auf die Tasten fallen, schlang die Arme um den Freund und flüsterte halb lachend, halb seufzend: „Freund, armer Freund, ich habe Dich zu lange allein gelassen und nun siehst Du Gespenster! Verzeihe mir!“

Wo war das Dunkel nun geblieben, wo die Todesfurcht und die Thränen? In rosigem Licht schwamm ja das strahlende, geistvolle Angesicht der geliebten Frau vor seinen Blicken und ihre Lippen hauchten berauschende Worte in sein Ohr.

Draußen fielen noch die Tropfen, wer achtete länger darauf? Die kleinen Frauenfüße ruhten wieder in den goldgestickten Schuhen, und die üppige Gestalt auf den Polstern der Ottomane; Fréderic Chopin aber saß neben seiner Scheherazade und bat leise: „nun erzähle Du mir eine Geschichte und geh nicht wieder von mir!“




Wer sähe sie nicht auftauchen und vorüberschweben in den verschiedenen Schöpfungen Chopin’s, jene Frauengestalten, die für sein Herz und Leben bedeutungsvoll geworden? Wie sie verführerisch lächeln und im Tanze sorglos dahinfliegen, jene reizenden Polinnen aus dem Salon der Fürstin Czartoriska und dem Schlosse Willanow! Wie Fieber zuckt und glüht es in jedem Tacte seiner Mazurken, Walzer und Polonaisen. Aus dem Adagio des Concerts schauen uns die dunkeln Augen der Gräfin Potocka an, die wunderschönen Rahmen der Notturnos umschließen das Engelsgesicht der Prinzessin Elise, und in seinen Balladen erscheint manch anderer bezaubernder Frauenkopf ohne Namen. In jenem B-moll-Scherzo aber, diesem Byron’schen Gedicht in Tönen, mit seinem wilden Jubel und verzweifelnden Weh grüßt sie herüber, jene gefährliche, hinreißende Frau, die ihn „im Dunkeln allein gelassen“ – aber länger als an jenem Abend auf Majorca, und um die er geweint in seinem Des-dur-Präludium und – bis zu seinem Tode.

E. P.




[635]

Eine südamerikanische Hauptstadt.

Von Fr. Gerstäcker.


Mit so vielen deutschen Schiffscapitänen ich auch in früheren Zeiten zusammentraf, sobald das Gespräch auf Reisen kam, blieb ihre stete Frage: „Waren Sie schon in Angostura? – Nein? – ja da müssen Sie hin – Angostura müssen Sie sehen!“ und nun ergingen sich die Seeleute, die selten oder nie vom Lande erzählen, in den lebendigsten Beschreibungen dieser eigenthümlichen, fast noch wilden Region. Sie hatten dazu auch vollen Grund, denn Segelschiffe sind in der Regenzeit und bei angeschwollenem Strom oft gezwungen, viel länger und mühseliger in dem engen Fahrwasser des Orinoco-Delta aufzukreuzen, als ihnen selber lieb ist, und sie werden durch Windstille manchmal Tage lang zwischen den Büschen festgehalten.

Mir aber lag das Wort Angostura seitdem in den Gliedern, und doch war ich erst auf meiner letzten Reise im Stande Venezuela zu durchwandern. Diesmal aber auch gründlich, denn ich schnitt von dem nördlichen Hafen La Guayra über Caracas südlich bis zum Apure durch, folgte diesem Strom in einem Canoe bis in den Orinoco und erreichte endlich das langersehnte Angostura, von dem ich dem Leser hier eine kurze Skizze geben will.

Wenn man nach langer mühseliger Fahrt in einem Canoe den Orinoco herunterschwimmt und sich schon fast daran gewöhnt hat, an beiden Ufern Nichts als undurchdringlichen Wald – eine Wildniß zu sehen, die fast ausschließlich vom Tapir und Tiger begangen wird, bemerkt man plötzlich in der Ferne, auf einem niedrigen, allmählich abdachenden Hügel dicht zusammengedrängte helle Häusermassen, mit dunklen Punkten dazwischen. Es ist Bolivar – die Hauptstadt von Guyana, früher und auch häufig noch selbst jetzt Angostura oder „die Enge“ genannt, weil der gewaltige Strom sich hier in der That verengt, trotzdem aber doch noch eine ganz ansehnliche Breite hat. Mitten in seinem Fahrwasser liegen aber gewaltige Felsblöcke, welche die Strömung besonders nach der rechten Seite hinüber drängen, so daß es bei voller Höhe des Flusses fast unmöglich sein soll dagegen anzukämpfen. Wir indessen gingen stromab, und die Fluth war uns nur zu Gunsten.

Bolivar selber macht von weitem keinen besonders freundlichen Eindruck, denn es fehlt das Grüne zwischen den Häusern; es fehlen Bäume oder Palmen. Kahl und in der Sonne röstend liegen die Gebäude und zwischen ihnen wild zerstreut eine Menge braunfarbiger Felsblöcke, die nach einem sonnigen Tag noch mitten in der Nacht eine Gluthhitze ausströmen. So felsig ist dabei der Boden, auf welchem die Stadt steht, daß einzelne Häuser ordentlich in die Steine hineingemeißelt werden mußten. Uebrigens finden sich hier wieder, trotz der oft fallenden schweren Regen, die platten Dächer, wie weiter südlich in Buenos Ayres und Montevideo, was den ganzen Ort vor den übrigen Städten Venezuelas auszeichnet.

Bolivar hatte einst einen sehr bedeutenden Handel und Verkehr; wenn dieser auch durch die Revolution in vieler Hinsicht gestört wurde, so ist er selbst jetzt noch keineswegs unbedeutend und scheint sogar durch die mehr und mehr sich bevölkernden Goldminen wieder im Wachsen. Jedenfalls bildet es den Central- oder vielmehr Ausgangspunkt für alle in Guyana und den nördlichen, am Orinoco liegenden Provinzen gezogenen oder gewonnenen Producte – allerdings nur Rohproducte, bei denen besonders die Häute eine große Rolle spielen. Hirschhäute vorzüglich werden oft im Jahre bei Hunderttausend dort verschifft, denn die Gegenden am Apure und weiter hin am Rio Negro sind die wildreichsten des ganzen Landes. Außerdem bilden Balsam, Copahu, Tongabohnen wie Cacao nicht unbedeutende Exportartikel.

In jetziger Zeit freilich kommen diese Gegenstände nur in sehr geringer Menge den Orinoco herunter. Die durch das Innere streifenden Soldatenbanden. haben fast den ganzen Handel wie jedes Vertrauen zerstört, da man selbst keine Waaren mehr nach dem von den Amarillos oder Regierungstruppen besetzten Bolivar schaffen wollte.

Guyana befindet sich aber dabei in einer ganz eigenthümlichen Lage – in der besten freilich, die es sich unter solchen Umständen wünschen konnte, da es durch seinen Präsidenten außerhalb der Revolution Posto gefaßt hat und kaum gezwungen werden kann, wirklichen Antheil daran zu nehmen. Die Provinz Guyana ist fast noch einmal so groß, als die übrigen Staaten Venezuelas zusammen, bildet eigentlich, schon seiner geographischen Lage nach und durch den Orinoco von den übrigen getrennt, ein eigenes Reich für sich selber, und hat sich auch bis dahin fern von jeder thätigen Mitwirkung in der Revolution gehalten.

Juan Bautista dalla Costa, der jetzige Präsident, ist natürlich geborener Venezuelaner, stammt aber von europäischen Eltern ab, und zwar von einer italienischen Familie, wurde in Nordamerika erzogen und verbrachte später mehrere Jahre in Deutschland, vorzugsweise in Bremen. Er ist ein tüchtiger und gebildeter Mann, wie Venezuela nicht sehr viele aufzuweisen hat, dabei reich, also vollkommen unabhängig, und auch in ganz Venezuela – besonders in seiner Provinz, für die er Alles thut was in seinen Kräften steht – geliebt wie kaum ein Anderer.

Allerdings wünscht man in ganz Venezuela nichts sehnlicher, als ihn gerade an Falcon’s Stelle zum Präsidenten über die ganze Republik zu haben, und wohin ich auch kam, wurde mir nur der Name genannt. Wollte er sich an die Spitze der Revolution stellen, die in diesem Augenblick keineswegs unterdrückt ist, sondern gerade jetzt das ganze Land erfaßt hat, und der es nur an einem richtigen Kopf fehlt, die ganze Sache wäre im Handumdrehen beseitigt. Aber Dalla Costa selber hat keine Lust dazu – und verdenken kann es ihm wahrlich kein Mensch der die Verhältnisse von Venezuela kennt. In diesem Augenblick möchte ich eben so gern Finanzminister von Frankreich oder Oesterreich, als Präsident in Venezuela sein.

Trotzdem versuchte die Revolution Alles, um ihn in die Bewegung hineinzuziehen, und Depeschen auf Depeschen wurden ihm zu diesem Zweck gesandt. Das Land selber aber, fest überzeugt, daß es sich auf ihn verlassen könne, erließ aller Orten und Enden Vertrauensadressen, in denen man versprach, zu ihm zu stehen, was er auch immer beschließen möge. Da er nun genau die in seiner Provinz herrschende Stimmung kannte, gelangte kaum die Kunde nach Bolivar, daß Falcon selber gestürzt und geflohen sei und zwischen den beiden Parteien unterhandelt würde, als er unter dem Jubel der Bevölkerung die Provinz Guayana so lange für unabhängig erklärte, bis man sich eben im Norden über einen künftigen Präsidenten geeinigt und Frieden und Ordnung wieder hergestellt habe.

Aber er blieb dabei nicht stehen. In Bolivar befand sich bis jetzt das Fort, wie Polizei und Douane in den Händen der Regierung von Caracas. Von den Soldaten waren allerdings schon die Meisten desertirt und vielleicht noch etwa dreißig Mann übrig, die nicht gefährlich werden konnten, aber er durfte auch kein fremdes Commando länger im Lande dulden. Der Commandant wurde deshalb bedeutet, sich zurück nach Caracas zu begeben, das Soldatencorps einfach entlassen, aber mit Geld und Provisionen versehen, um nach den Minen gehen zu können. Ebenso nahm Dalla Costa die Douane – die bedeutendste Einkunft im Lande – in Beschlag und besetzte sie mit Guyanesen, und die ganze Umwälzung ging so friedlich vor sich, daß es in der That nur des Befehls bedurfte, um Alles zu reguliren. Es fiel kein Schuß, nicht einmal ein rauhes Wort, und vor der Hand regiert jetzt Dalla Costa als souveräner Präsident die ganze Provinz.

Der Handel in Bolivar ist zum großen Theil in den Händen von deutschen Kaufleuten. Deutsche Kaufleute importiren jedenfalls die meisten Waaren und selbst deutsche Handwerker, wenn auch noch in geringem Maße, haben sich dort niedergelassen. Früher besuchten auch sehr viele deutsche, besonders Bremer Schiffe Angostura, das scheint aber nachgelassen zu haben, theils wohl des durch die Revolutionen unterbrochenen Handels wegen, theils weil der Orinoco selber ein bösartiger Strom ist und in der Regenzeit, bei angeschwollenen Fluthen Segelschiffe oft zwanzig bis dreißig Tage gebraucht haben, um die gewaltige Strömung zu stemmen. Kauffartheischiffe müssen da schon eine sehr gute Ladung fest in Aussicht haben, wenn sie sich zu einer so langen Reise verstehen sollen, und gegenwärtig ist wenig oder gar keine Fracht zu bekommen.

Unter den Deutschen in Bolivar herrscht aber auch ein reges [636] geselliges Leben, sie haben ein freundliches Clublocal mit vielen deutschen Zeitungen und Manche von ihnen hübsche Sommersitze in der Nähe der Stadt, um dort unter den fächerblätterigen Morichepalmen und prachtvollen Mangobäumen die Sonntage zu verbringen. Ich selber werde Bolivar immer eine liebe Erinnerung im Herzen tragen, denn die guten Menschen dort haben mir die kurze Zeit meines Aufenthaltes zu einem Festtag gemacht und mich von allen Seiten mit Liebe überschüttet. Ich war ihnen kein Fremder, den der Zufall an ihre Küste geweht, und die Tage vergingen mir nur zu rasch.

Aber auch Präsident Dalla Costa nahm mich mit wahrer Herzlichkeit auf und war eigentlich die Veranlassung, daß ich Bolivar früher wieder verließ, als ich anfangs beabsichtigt hatte, indem er mir alle ihm zu Gebote stehende Mittel bot, um mir die Reise in die Goldminen Venezuelas – ein etwas anstrengender Spazierritt, wenn man so schon recht von Herzen wandermüde ist – zu erleichtern. Aber es war einer der interessantesten und vielleicht für Venezuela wichtigsten Punkte, die ich in dem weiten Land gesehen, und ich kann ihm nur aufrichtig dankbar dafür sein.

Angostura selber ist regelmäßig gebaut, so viel es wenigstens der mit Steinen übersäete Hügel, auf dem sie steht, erlaubt. Sie hat aber insofern eine nicht besonders günstige Lage, als dicht unter ihr eine weite Lagune einmündet, die in der trockenen Jahreszeit ihr Wasser so ziemlich vollständig verdunstet, und dadurch zuweilen Fieber erzeugt, wie zahllosen Insectenschwärmen Vorschub leistet. Dalla Costa aber, der schon viel für die Stadt gethan und besonders in letzter Zeit neue breite Wege darum her geöffnet hat, beabsichtigt ebenfalls die Lagune trocken zu legen, und das würde eine Wohlthat für die Stadt werden.

Der interessanteste Punkt in Bolivar ist das eigentliche Ufer des Orinoco und die beiden Häfen oder Anlandungsplätze, der eine oben für die kleinen Fahrzeuge, der andere etwas weiter unterhalb für Schiffe und Dampfer. Nähert man sich der Stadt, so sind es besonders die waschenden Negerfrauen, welche die Aufmerksamkeit gleich und entschieden fesseln, und man muß wirklich Waschfrauen in Venezuela selber gesehen haben, um sich einen richtigen, aber dann auch höchst lohnenden Begriff von ihnen zu machen. Es ist ein wahrer Genuß.

Diese nützlichen Wesen haben sich nämlich eine so praktische als malerische Tracht geschaffen, die man aber eigentlich mehr malerisch als schön, auf keinen Fall frauenhaft nennen könnte. Sie müssen fortwährend mit Füßen und Armen im Wasser sein, möchten sich aber auch nicht gern die Kleider naß machen und haben deshalb etwas erfunden, was sie nicht zwingt ohne Kleider zu erscheinen, aber auch zu gleicher Zeit Alles entfernt, was ihnen im Weg ist. Ihre Röcke stecken sie dabei so zusammen, daß sie wie weitbauschige, oft sehr kurze Schwimmhosen aussehen, die Arme sind vollständig entblößt und Halstücher fehlen gänzlich; so kommt es denn, daß man, wenn man sie von Weitem sieht, gar nicht recht weiß, ob es Männer oder Frauen sind, und nähert man sich ihnen und hört ihre Baßstimmen, so wird man erst recht irre. Man sieht oft zwanzig und dreißig von ihnen auf den großen braunen Steinplatten, unmittelbar am Wasserrand wirthschaften. Die Wäsche maltraitiren sie freilich auf das Grausamste; die feinsten Hemden werden auf eine Weise geschlagen und auf den Steinen abgerieben, daß es nur als ein Wunder erscheint, wenn sie eine einmalige derartige Behandlung aushalten, aber jedenfalls amüsiren sie sich vortrefflich dabei, denn das Lachen und Schwatzen, Schreien und Jubeln während ihrer Arbeit läßt sich kaum beschreiben.

Bunt genug sieht der Platz dabei ebenfalls aus, denn der braune dunkle Stein bildet einen vortrefflichen Hintergrund zu dem lebendigen Bild, auf dem sich die ausgebreitete und hie und da aufgeschichtete Wäsche ganz vortrefflich macht. Dazwischen sieht man auch eine Anzahl lebender Kinder und junger Mädchen, die sich vor einem vorbeitreibenden Canoe, in dem sie keinen Fremden, sondern nur Eingeborene vermuthen, nicht im mindesten geniren.

Ein kleines Stück weiter unten hat ein großer indianischer Bungo (ein großes Canoe) angelegt, das Casave, Hängematten und Schildkröteneier den Strom herabgebracht. Es sind Caraiben, und zwischen den Steinen, unmittelbar am Flusse, haben sie sich ihr Zelt aufgeschlagen, das heißt, nur eine Decke zwischen Stöcken schräg ausgespannt. Merkwürdiger Weise sind aber bei diesen die Männer weit mehr bekleidet, als die Frauen, und die jungen Mädchen besonders tragen nur eine Art von sehr kleinem Schurz und ein buntes Stück Zeug um die Taille, während die Indianer selber meist immer eine Art Poncho, oder hier Cobija genannt überhängen haben. Während diese aber ihre langen, dünnen Cigarren rauchen, kochen die Frauen vorn, dicht am Wasserrand, und setzen sich die kleinen Kinder in und außer dem Wasser herum. Die Furcht vor Kaymans scheint hier lange nicht so groß zu sein, als weiter oben im Apure.

Noch weiter unterhalb liegt eine Menge von Canoes, die eine Ladung stromab gebracht haben, oder sich eben wieder fertig machen, in ihre Heimath aufzubrechen. Andere halten über den Strom hinüber, einem dort angelegten kleinen, sehr unbedeutenden Städtchen zu, das in der Provinz Barcellona liegt. Nur die Felsenmasse ist ihnen dabei etwas im Wege, die Bolivar gerade gegenüber mitten aus der Fluth emporragt und sonderbarer Weise einen einzigen Baum auf ihrem Rücken trägt. Bei sehr hohem Wasserstande sollen jene jetzt ziemlich bedeutenden Felsmassen fast ganz von der Fluth bedeckt sein und dann eine furchtbare Strömung an ihnen vorbeirauschen. Jetzt fing die Regenzeit erst an und der Fluß konnte kaum vier bis fünf Fuß gewachsen sein.

Ich darf aber Angostura nicht verlassen, ohne eines Deutschen zu erwähnen, der so lange in Venezuela lebt, daß er dort nicht allein Kinder und Enkel, nein, sogar fünf Urenkel gezogen und außerdem jetzt den Namen Angostura in der ganzen Welt verbreitet hat. Ich meine den alten Herrn Dr. Siegert, einen der geachtetsten Leute in der Stadt und den Verfertiger des berühmten Angostura-Bitteren, ohne den jetzt schon weder Dampfer noch Segelschiff mehr die See befährt. Er ist mit einer Dame aus Venezuela verheirathet, und diese soll eigentlich – wie denn die dortigen Frauen überhaupt die meiste Kenntniß von einheimischen Pflanzen und Kräutern besitzen – das Geheimniß der Zusammenstellung entdeckt haben. Im Anfang wurde der bald beliebte Bittere denn auch nur im Kleinen fabricirt. Wie er aber mehr und mehr bekannt wurde, stieg der Bedarf mit der Nachfrage derartig, daß Herr Dr. Siegert seine beiden Söhne mit in das Geschäft nehmen mußte und jetzt die ganze Fabrikation wie den Versand großartig betreibt. Die venezuelanische Regierung wollte den Namen Angostura verwischen und den von Bolivar an seine Stelle bringen, aber unser deutscher Landsmann litt es nicht, sondern setzte dem alten durch seinen Angostura-Bitteren ein wenn auch flüssiges, doch bleibendes Monument.

Die Geschäfte liegen jetzt dort ziemlich darnieder – und wo ist in diesem Augenblicke eigentlich ein Platz in der ganzen Welt, wo sie blühen? Die Revolution kann aber doch nicht ewig dauern, und gewinnen die etwa sechszig bis siebenzig Leguas von Bolivar gelegenen Minen wirklich die Bedeutung, die sie ihrem Reichthum nach verdienen, so muß sich dort rasch Alles heben. Uebrigens befinden sich unsere deutschen Landsleute dort vortrefflich, und trotzdem daß sie, weit von der Heimath entfernt, gewissermaßen mitten in der Wildniß wie in einer Oase leben, haben sie ihr Herz noch dem alten Vaterlande zugewandt und nehmen das größte Interesse an seinen Fortschritten. Auch von ihnen gilt das Nämliche, wie von den übrigen Deutschen überall im Auslande: sie kennen keinen Particularismus – sie wollen ein einiges, großes, deutsches Vaterland und begrüßen mit Jubel jede Nachricht von daheim, die ihnen kündet, daß der norddeutsche – hoffentlich bald der deutsche – Bund wächst und sich kräftigt. Sie wissen am besten, daß nur dann unser Volk, unser Name auch im Auslande geachtet sein kann, wenn wir fest vereinigt stehen und dadurch den Rang unter den Nationen einnehmen, der uns gebührt.



[637]

Unterbrochene Zeitungslectüre.
Nach dem Originalgemälde von Webb in Düsseldorf..

[638]
Süden und Norden.
Eine bairische Dorfgeschichte von 1866.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Tonerl hatte die Augen niedergeschlagen, und die Hände in den Schooß legend, spielte sie mit dem Schürzenbande. „Ich dank’ Ihnen recht schön dafür,“ sagte sie. „Ich bin schon froh, wenn Sie mich net ganz vergessen haben.“

„Wie könnt’ ich das!“ rief Günther feurig. „Ich begreife selbst nicht, wie das zugeht, aber nachdem ich von Dir fort war, erkannte ich erst, wie sehr ich mich an Dich gewöhnt hatte! Der Gedanke an Dich hat mich auf Schritt und Tritt begleitet, und ich konnte die Zeit nicht erwarten, wo wir wieder in den Süden kommen würden, zu Euren schönen Bergen!“

Tonerl sah ihn mit aufleuchtenden Augen an. „Net wahr,“ sagte sie, „es ist schön in unsere Berg – es ist schön in meiner Heimath, in mein’ lieben Baierland?“

„Gewiß!“ entgegnete Günther. „Es ist ein Garten unter den Ländern – in dem die schönste Blume blüht, wenn es auch nur eine duftige Feldblume wäre! Wie aber ist es mit Dir? Hast auch Du meiner gedacht?“

„Ich?“ antwortete sie befangen. „Ich hab’ zu so was keine Zeit gehabt. Es giebt immer so viel Arbeit, und bei der Arbeit muß man seine Gedanken bei einander haben.“

„O, ich war eben auch nicht müßig,“ rief Günther wieder, „aber ich habe doch die Zeit gefunden, an Dich zu denken. Ich that es während der Arbeit. Jede ländliche Verrichtung, die ich vornehmen sah, erinnerte mich an Dich. Wenn der Hahn im Hofe krähte, erinnerte ich mich, wie ich Dich auf dem Funkenhauserhofe gesehen hatte, mitten unter Deinem Hühnervolke stehend, und wie sich Dir die Tauben auf Kopf und Schulter setzten, und wenn es Abend wurde, sah ich Dich, mit der Sichel in der Hand und die frische Grasbürde auf dem Kopfe, von der Wiese hereinkommen, wie das erste Mal als wir uns begegneten. Ich habe Abends nach der Arbeit an Dich gedacht und Morgens vor derselben. Wenn man will, bleiben immer gar viele Minuten übrig.“

„Wir haben keine Uhr, die so genau geht,“ entgegnete Tonerl ausweichend. „Wir können uns nur nach der Sonn’ richten.“

Günther schwieg und sah sie einen Augenblick von der Seite an. „Du willst nicht antworten, wie es scheint,“ sagte er dann. „Du willst nicht Ja sagen, weil Du das wahrscheinlich nicht kannst, und scheust Dich doch auch Nein zu sagen, weil Du denkst, daß es mich verletzen würde. Freut es Dich denn gar nicht, daß ich wieder da bin?“

„Ich müßt’ lügen, wenn ich auf die Frag’ Nein sagen wollt’,“ erwiderte sie nach einigem Besinnen. „Also ist’s wohl gescheidter, ich sag’s Ihnen, wie’s ist. Ja, es freut mich, und ich bin recht froh, daß Sie wieder da sind.“

„Nun, siehst Du,“ rief Günther entzückt, „so hab’ ich Dich gern. Das ist das liebe, offene Wesen, das mir immer an Dir so wohl gefallen hat. Ach warum –“

Er brach ab und verstummte; auch sie fand sich nicht bewogen, um die Fortsetzung des unvollendeten Satzes zu fragen. Eine Pause von ein paar Minuten trat ein, in welcher Jedes nach anderer Richtung an die Berge hinansah, als wäre dort Wunder irgend etwas Merkwürdiges zu sehen.

„Ich habe Dir auch ein Buch mitgebracht zum Andenken. Den ‚väterlichen Rath an meine Tochter‘, den Du im vorigen Jahre bei meiner Schwester gesehen, und worin Du so gerne gelesen hast.“

„Ach mein!“ erwiderte sie beschämt. „Ich hab’ ja das Wenigste davon verstanden.“

„Das schadet nicht. Du wirst es öfter lesen und dann Alles verstehen. Siehst Du, ich habe das Buch in meiner Jagdtasche mitgebracht.“

Er hatte dabei den Rücksack geöffnet und einen in schwarzes Leder mit Golddruck sauber gebundenen Band hervorgeholt, den Tonerl schüchtern und neugierig ergriff, indem sie vor dem Anfassen die Fingerspitzen an der Schürze abwischte.

„Aber das ist ja viel zu kostbar für mich!“ rief sie lachend, „Und warum haben Sie’s denn schwarz gemacht? Das sieht ja aus wie das große Buch, das der Meßner bei der Todtenvigil hat oder bei der Seelmeß’!“

„Wenn es Dir nicht gefällt, will ich es anders binden lassen. Hast Du eine Farbe, die Dir die liebste ist?“

„Wie Sie nur so fragen können! Freilich hab’ ich eine Leibfarb’, und das ist blab (blau), und das schon von wegen der Bedeutung. Das Schwarz das ist der Tod und die Traurigkeit und die Feindschaft – das Blau aber das bedeut’t die Treu’ und die Beständigkeit, und dann – ist denn das Blaue net auch die Farb’ von mein’ lieben Baierland?“

„Du sollst einen blauen Einband haben,“ rief Günther hastig. „Du sollst ein Zeichen der Treue haben, der Beständigkeit und der –“ Wieder erstarb ihm das Wort auf der Zunge; auch Tonerl war unruhig geworden und rückte unbehaglich auf ihrem Sitze hin und her. „Du bist so befangen, Mädchen,“ begann er wieder nach einiger Zeit. „Du siehst immerwährend um Dich – erwartest Du Jemand, oder ist Dir meine Gegenwart lästig?“

„Nein,“ sagte sie, indem sie nach dem Schürzenzipfel haschte, „ich erwart’ Niemand, und Sie sind mir auch gar net lästig, aber es wär’ mir doch lieber, wenn Sie gingen.“

„Nun, das nenn’ ich wenigstens offen gesprochen!“

„Soll ich nicht?“ fragte sie und richtete die großen, dunklen Augen fest auf ihn. „Sie sagen ja, daß Ihnen g’rad’ das an mir so g’fallt. Sehen S’, ich kann Ihnen gar net sagen, wie mich das freut, daß Sie zu mir ’kommen sind und haben mir ‚Grüß Gott‘ g’sagt, bevor die Andern alle kommen … Aber eben deswegen mein’ ich halt – es wär’ justament net nothwendig, daß ’s die Andern alle wissen.“

„Ah, ich verstehe Dich,“ sagte Günther lächelnd und sich rasch erhebend. „Du willst den Schein vermeiden.“

„Wenn ich aufrichtig sein soll – ja.“

„So sage mir auch, warum? Und welcher Schein wäre das, den Du vermeiden möchtest?“

Tonerl lachte fröhlich und doch nicht ohne Verlegenheit auf.

„Nix für ungut,“ sagte sie dann. „Aber das ist eine tappete Frag’. Das können Sie sich ja an die Finger abbeten …. wenn die Andern alle kommen und finden uns allein bei einander, müßten sie denn net denken, daß – daß wir Zwei –“

„Daß wir Zwei einander gut sind?“ sagte Günther, indem er näher trat und seinen Arm leise um ihre Hüfte legte. „Es wäre wohl möglich, daß die Leute so etwas denken würden – wäre Dir denn dieser Schein so sehr zuwider?“

„Gehen S’ fort, Herr Günther,“ sagte Tonerl herzlich, „ich bitt’ Ihnen gar schön.“

„Antworte mir zuerst! Dann will ich gehen. Wäre dieser Schein Dir so sehr unangenehm?“

„Gehen Sie aber nachher g’wiß?“ fragte sie, indem sie ihm mit offenem Lächeln kindlich in’s Gesicht sah. „Versprechen S’ mir das?“

„Ja.“

„Dann will ich Ihnen antworten,“ sagte sie, „und sag’ Ihnen, daß mir aller Schein zuwider ist … Ich halt’s überall lieber mit der Wahrheit.“

Damit hatte sie mit einer raschen, neckischen Bewegung sich aus seiner halben Umschlingung befreit und war in die Hütte entflohen. Unschlüssig sah ihr der junge Mann ein paar Augenblicke nach, als ob er mit dem Entschlusse kämpfte, ihr zu folgen. Dann blickte er nach allen Seiten herum, und als er nirgends eine Spur von Menschen bemerkte, eilte er raschen Schrittes wieder dem Walde zu, aus dem er gekommen war. Es gelang ihm auch, denselben zu erreichen, ehe die erwartete Gesellschaft auf der Blümelalm eintraf.

Diese war inzwischen schon ziemlich weit im Bergwalde hinangestiegen und machte eben auf einer Rasenblöße Halt, auf welcher eine majestätische Buche ihre Arme, wie ein Zelt zur Rast bei gutem und zum Schirm bei stürmischem Wetter, ausbreitete. Daneben stand ein durch ebenso ansehnliche Höhe und eine stattliche Krone ausgezeichneter Wildkirschbaum und unter ihm ein [639] halb verwitterter Bildstock, wie sie hier und da an Wegen und Stegen getroffen werden, mit einem wetterverblichenen, kleinen Gemälde daran. Der ganze Zug sah sich recht anmuthig an, und es hätte nur eines Rahmens bedurft, um daraus ein recht hübsches Bild von ländlicher Waldeinsamkeit zu schaffen.

Die Funkenhauser Bäuerin in ihrer Rüstigkeit hatte sich’s nicht nehmen lassen, voranzuschreiten als Wegweiser und Reiseführer, und der schwere Henkelkorb mit Eßwaaren, den sie am Arme trug, hinderte sie nicht, so rasch auszuschreiten, daß Frau Schulze, eine kleine, etwas beleibte Frau mit angenehmen Zügen von gütigem Ausdruck und einem Paar klarer, frischer Augen, mitunter ernstlich Mühe hatte, ihr folgen zu können, und von Zeit zu Zeit der Rast bedurfte. Neben Beiden in kleiner Entfernung hielt der Geisbub’, dessen rothe Sonntagsweste sich von der grünen Waldumgebung als einziger heller Farbenton abhob, gleich als wäre er von einem Maler mit Absicht leuchtend hineingesetzt. Er hielt die braune Liese am Zügel mit so stolz bewußter Haltung, als sei er ein Edelknecht und habe das Saumroß einer durchlauchtigen Fürstin zu führen. Das wohlgenährte Thier war ebenfalls stattlicher als sonst geschirrt und schien sich auch auf seinen Putz etwas zu Gute zu thun; denn alle Augenblicke schüttelte es den Kopf, daß die gelben Troddeln daran hin- und herflogen. Für die Reiterin selbst hatte Ambros wirklich trefflich gesorgt und an dem mit weichen Decken behangenen Sattel sogar etwas wie eine Lehne angebracht, worauf sie sich stützen und so den Ritt vollenden konnte, als ob sie in einem bequemen Stuhl säße. Ein helles, langes Sommerkleid war über die schlanke Gestalt gegossen, wie ein leichter sie ganz umhüllender Mantel; das fein geformte, aber eingefallene Angesicht war von jener durchsichtigen, wachsartigen Weiße, welche nur zu deutlich erkennen ließ, wie weit das Todeswerk der Zerstörung in ihrer kranken Brust schon um sich gegriffen hatte. Die Hand, mit welcher sie, leicht seitwärts geneigt, sich an der Lehne hielt, war zart und zum Durchscheinen mager. Blondes Haar von seltener Stärke und Schönheit fiel in reichen Locken darüber herab; es war das Einzige, was noch an die Erde und irdischen Schmuck zu erinnern schien; denn der eigenthümliche Glanz in den blauen Augen war etwas, was bereits nicht mehr diesen tiefen Regionen angehörte.

„Alwine,“ sagte Frau Schulze, die einen Augenblick hinzugetreten war, „wie ist Dir, mein Kind? Strengt Dich der Ritt doch nicht an?“

Sie nickte der Mutter freundlich zu, und aus den schönen Augen brach ein Strahl unendlicher Liebe und Lieblichkeit. „Nicht im mindesten, Mutter,“ sagte sie. „Mein getreuer Stallmeister hat für mich gesorgt, daß ich wie im Bette ruhe. Mir ist sehr wohl, Mutter, so wohl, wie ich mich lange nicht gefühlt habe. Besonders ist es die Waldluft, die mich erquickt, der Harzduft, der von den Tannen strömt. Wie beneide ich die Vögel, die Glücklichen, die immer in diesen immergrünen Zweigen wohnen dürfen! Ach, da begreift es sich wohl, daß es ihnen so leicht ist um die Brust, und daß sie fröhlich singen können!“

„Das macht mich recht glücklich, liebe Alwine!“ sagte Frau Schulze, indem sie verstohlen sich eine Thräne abtrocknete. „Auch Dir wird es wieder leicht werden in der Brust, auch Du wirst wieder singen, mein Kind. Du mußt nur heiter sein und den Sommer recht genießen. Nicht wahr, meine Liebe?“

Die Kranke reichte ihr die Hand herunter; dann trat Frau Schulze wieder zu der Bäuerin, welche noch immer vor dem Bildstock stand und denselben tiefsinnig betrachtete. „Ich habe mir das Ding auch schon angesehen,“ sagte sie, „ich kann aber nicht klug daraus werden, was es vorstellt. Ich sehe einen Baum, an welchem ein Ast bricht, einen Knaben, der herunterfällt, und eine Frau, welche unten voll Schrecken die Hände zusammenschlägt. Das soll wohl seine Mutter sein?“

„Ja wohl,“ sagte die Funkenhauserin, „das ist eine wahre Geschichte, die sich vor hundert Jahren, oder wie lang’s etwa her ist, auf dem Platz da zugetragen hat. Die Hauptsach’ aber ist die Mutter Gottes da über’m Baum. Die Mutter, das ist eine Bäuerin gewesen von da drüben aus dem nächsten Dorf. Die hat im Holz g’arbeit’t; während dem ist ihr Bübel auf den Kirschbaum den Kirschen nachgekraxelt, da ist der Ast ’brochen, und es ist ’runterg’stürzt; aber wie’s schon im Fallen war, hat sich die Frau in ihrer Angst verlobt, daß sie barfuß eine Wallfahrt machen wollt’ zur Mutter Gottes vom Birkenstein. Da ist das Bübel net g’fallen, sondern ist ’runter’kommen, wie wenn’s Jemand g’halten und langsam ’runterg’lassen hätt’.“

„Aber, liebe Funkenhauserin,“ sagte Frau Schulze mit leichtem Lachen, „das kann doch unmöglich wahr sein!“

„Warum net?“ entgegnete die Bäuerin verwundert. „Derselbige Stock steht schon bald in die hundert Jahr da, und das ist auch noch derselbige Kirschbaum; da muß’s doch wahr sein.“

„Freilich, das ist ein Grund, gegen den sich nicht viel einwenden läßt,“ fuhr Frau Schulze in einem Tone fort, der fast spöttisch klang, aber sie brach mitten in der Rede ab, denn ihr Blick traf in Alwinens tiefglänzendes Auge, das wie eine ernste Mahnung fest auf ihr ruhte.

„Die Frau hat vielleicht doch Recht, Mutter,“ sagte das Fräulein sanft und halblaut. „Wer weiß, ob sie nicht zu beneiden ist? Es heißt nicht umsonst: ,Selig sind, die da nicht sehen und doch glauben.‘“

Frau Schulze nickte ihrer Tochter zu und nahm mit der Bäuerin das frühere unterbrochene Gespräch über Wirthschaft und Haushaltung wieder auf, denn das war etwas, worin die beiden Frauen sich vorzüglich verstanden. Es gab da hunderterlei kleine Dinge, die einer Jeden anziehend und wohlbekannt waren, und über welche doch Jede der Anderen etwas Neues und Nützliches zu sagen wußte. Gartenbeet und Küchenschrank, Leinwandkasten und Flachsacker boten unerschöpfliche Anlässe dazu, und als die Bäuerin darüber klagte, daß in diesem Jahre so ungewöhnlich viele Bohnen wüchsen, und sie nicht mehr wisse, was mit der Gottesgabe anfangen, wenn man sie nicht dem lieben Vieh geben wolle, da war Frau Schulze gleich mit gutem Rathe zur Hand, und die Bäuerin ließ sich begierig erklären, daß man die Bohnen an einen Faden anreihen und dann überkocht und wieder getrocknet auf den Speicher hängen und so viele Monate lang bis tief in den Winter hinein aufbewahren könne.

So waren sie wieder ein gutes Stück Weges weiter gekommen, als hastigen Schrittes aus einem Waldwege Ambros hervorkam und plötzlich, selbst überrascht, den staunenden Frauen gegenüberstand.

„Ambros,“ rief die Funkenhauserin, als sie ihn erblickte, „wo kommst denn Du her, allein und so ganz erhitzt? Was ist’s denn mit dem Herrn Günther? Wo hast Du den gelassen?“

„Um Gotteswillen!“ rief Frau Schulze hastig. „Was ist’s mit meinem Sohne? Es ist ihm doch nichts zu Leide geschehen? Rede, Ambros! Wart Ihr nicht miteinander auf der Jagd?“

„O ja, ja,“ sagte Ambros mit unmuthigem Lachen, „wir waren auf der Jagd. Wir haben auch was g’schossen, und dem Herrn Günther ist nix zu Leid g’schehen. Er hat sich nur den Spaß g’macht und hat mich ein bissel zum Narren g’habt. Wir haben ausg’macht, daß er auf mich warten sollt’, bis ich den Bock ab’tragen hätt’, er aber hat sich aus dem Staub g’macht und ist fort, wahrscheinlich, um a bissel früher auf die Blümelalm zu kommen.“

„Und das ist Dir wohl nicht recht?“ fragte Alwine, zu welcher er an das Pferd herangetreten war und grüßend emporsah. Er vermochte aber nicht lange, ihren Blick auszuhalten, und sah unwillig und verwirrt zu Boden. „Du bist wieder einmal zornig,“ fuhr sie sanft fort, „nicht wahr? Und Du bist es deswegen, oder hast Du einen anderen Grund zum Unwillen?“

Ambros blickte noch immer nicht empor. „Es ist schon wahr,“ sagte er ärgerlich, „es hat mich verdrossen, daß er davon ist – aber das ist’s net allein. Ich hab’ mich g’ärgert, weil ich da droben im Steinwald wieder dem fremden Mannsbild begegnet bin, das schon seit ein paar Wochen sich bei uns ’rumtreibt und alle Weg’ und Steg’ aufschreibt und jedes Straßl und jede Brücken abzeichnet. Er hat mich auch angerufen und hat gefragt, ob’s net an andern und näheren Weg über den Gamskogel geben thät …“

„Nun, was ist daran Sonderbares?“ sagte Alwine. „Es wird ein Kartenzeichner sein oder Jemand von der Landesvermessung.“

„Kann sein, kann sein auch net,“ murrte Ambros. „Mir kommt der Mensch einmal verdächtig vor, und ich laß mir’s net nehmen, daß er was auskundschaften will. Ich hab’s ihm auch g’sagt. Wenn Sie einen anderen und näheren Weg wissen wollen, hab ich g’sagt, dann suchen S’ ihn selber; aber von Unsereinem müssen S’ net verlangen, daß wir ihn Ihnen zeigen.“

[640] „Immer dieser Unwille, dieser beständige Groll!“ entgegnete Alwine mit ihrem sanftesten Lächeln. „Dein Gemüth kommt mir vor wie ein gewittervoller Tag. Du bist sonst ein so braver Bursche, Ambros, und hast nur den einzigen Fehler an Dir, dieses heftige Wesen. Du solltest Dir vornehmen, es zu zügeln.“

„Will’s probiren,“ entgegnete Ambros nach einigem Zögern und Widerstreben, indem er dem Buben die Zügel des Pferdes aus der Hand nahm, um dieses selber zu leiten. „Ich kann Enk in nichts zuwider sein, Fräul’n.“

„No ja, da sieht man’s, was ein paar schöne Augen Alles können!“ rief die Funkenhauserin, welche herankommend die letzten Worte gehört hatte. „Sie können sich ’was einbilden, Fräul’n Wine, Sie richten bei dem Trutzkopf mehr aus, als wir Alle miteinander. Ich werd’s der Tonerl sagen, daß sie Ihnen die Kunst ablernt.“

Noch dunkler als sonst ward das Gesicht des Burschen von dem Roth überdeckt, welches ihm so leicht bei jedem Anlaß aufstieg. „Das ist ganz ’was Anders, Bas’,“ sagte er dann leise, zu dieser gewendet. „Das Tonerl hab’ ich gern. Ich gebet das Herz aus’m Leib für sie, und wer mir sie nehmen will, dem brich’ ich’n Hals ... Aber das Fräul’n, das g’mahnt mich immer an die Heilige, die in unserer Kirch’ auf’m Seitenaltar ang’malt ist, – weiß die Bäuerin, die mit die langen, lichten Haar’?“

„Die heilige Philomene,“ sagte die Bäuerin.

„Ja, die; an die mahnt sie mich, und wenn sie mit mir red’t, so ist’s mir g’rad’, als wenn ich in der Kirchen wär’.“

Schweigend schritt er wieder neben dem Thiere her, denn der Weg begann steiler und unebener bergan zu steigen. Es galt, die letzte Höhe durch den Bergwald zu überwinden. Von ferne zwischen den Bäumen ward es schon hell, und hie und da schimmerte mit grünem Lichte das Almthal herein. Jetzt war dasselbe erreicht. Ambros deutete nach der in der Mitte stehenden Sennhütte hin und rief: „Das ist die Blümelalm! Und da kommt ja auch der Herr Günther gerad’ vom Wald her auf die’ Sennhütt’n zu. Hat ihm also doch nichts g’nutzt,“ grollte er in sich hinein, „daß er mich hat anschmieren wollen. Er ist doch nur um ein paar Minuten früher als wir ’komma. – Die sind ihm nit z’ gut.“

Bald war die Gesellschaft an der Sennhütte angelangt, von Tonerl und Günther schon von Weitem mit lautem Zuruf empfangen und freundlichst begrüßt.

„Oho, Herr Günther!“ rief Ambros spöttisch. „Sie haben sich ja daher g’schlichen wie der Marder auf’n Taubenschlag. Nur ein bissel zu spät sind S’ gekommen! Sie können ja wieder ganz frisch marschiren, wie mir scheint. Thut Ihna der Fuß nimmer weh?“

„Nein,“ sagte Günther, indem er ihn, ebenfalls lachend, auf die Schulter klopfte. „Das war nur droben auf der schiechen Wand, aber wie ich in die Ebene herunter kam, da sind mir so schöne Sachen begegnet, daß mir alles Weh darüber vergangen ist.“

Ambros kniff den Mund zusammen, schoß einen wüthenden Seitenblick auf Toni und führte das Pferd beiseite dem Stalle zu. Nun ward die ganze Hütte durchwandert, ihre Reinlichkeit und Bequemlichkeit gepriesen und die Menge und Schönheit des stattlichen Viehes bewundert, das in gewohnter Weise zur Mittagszeit herankam, von seinem Milchreichthum entlastet zu werden. Dann ging es in die Stube, um von der Bergwanderung auszuruhen und sich die köstliche, frische Milch schmecken zu lassen, bis die Bäuerin aus den mitgebrachten Speisen ein Mittagsmahl bereitet haben würde. So bequem der Ritt gewesen, hatte er Alwinen doch ermüdet; sie hatte sich in das mit einem weißen Leintuch zusammengebundene Heubett der Sennerin, in den sogenannten Kreister, gelegt und war nach wenigen Augenblicken in einen sanften, tiefen Schlummer versunken.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Italienische Banditen in Chile. Während wir hier hören, daß Chile das den Araucanern noch nicht einmal abgenommene indianische Territorium mit deutschen Familien besetzen will, und die neuesten Zeitungen sogar wieder melden, daß die wilden Araucaner einen neuen Ueberfall ausgeführt und viele Menschen erschlagen haben, bringt eine englische Correspondenz aus Chile, nach Panama gerichtet, die Nachricht, daß die chilenische Regierung einen neuen Contract, und zwar mit der italienischen Regierung, abgeschlossen habe. Danach soll Victor Emanuel alle die eingefangenen Banditen und was er sonst in Italien los zu sein wünscht, nur auf Schiffe packen und nach Chile senden. Einen großen Theil für die Passage vergütet die chilenische Regierung, das Andere legt Victor Emanuel zu. Diese werthvollen Emigranten sollen nach der chilenischen Ansiedelung in der Maghellans-Straße geschafft werden.

Für Italien ist das nun jedenfalls sehr angenehm und uns hier in Deutschland berührt es nicht, aber wer sich darüber zu freuen hat, sind die deutschen Ansiedler in Puerto Monte und Chiloe, wie ebenfalls in Valdivia, denn daß sich jene wilden Charaktere nicht lange werden in den kalten und unwirthlichen Strecken der Maghellansstraße zurückhalten lassen, liegt auf der Hand.

Die Beispiele haben wir in allen Strafcolonien. Selbst in dem scharfbewachten Cayenne brechen die Sträflinge fortwährend aus, und in den Goldminen von Venezuela kann man ganze Trupps von ihnen sehen. Nirgends aber haben sie so günstige Gelegenheit, zu entkommen, wie gerade an der Westküste von Amerika, wo fortwährend Südwinde vorherrschen und die Strömung schon ein Boot, ohne Segel und Ruder, an der Küste hinaufführt. Ein Boot wissen sich aber solche überdies zur Verzweiflung getriebene Menschen immer zu verschaffen, und wenn sie die günstige Jahreszeit zu einem Fluchtversuch wählen, sind sie vollständig geborgen. Zahlreiche mit Büschen bewachsene Inseln bieten ihnen dabei zugleich, wenn nöthig, sichere Verstecke, oder auf der Fahrt Schutz gegen die Wogen des Oceans, und die deutschen Colonien, die allein nördlich von ihnen liegen, sind dann unausbleiblich auch ihr nächstes Ziel.

Unsere deutschen Landsleute in Puerto Monte und Valdivia mögen sich deshalb nur auf einen gelegentlichen Besuch italienischer Banditen gefaßt machen, den ihnen ihre für das Land in unleugbar thätiger Weise sorgende Regierung vorbereitet hat.

Fr. Gerstäcker.


Die unterbrochene Zeitungslectüre. (S. Abbildung auf S. 637.) Braucht es zur Erklärung unserer trefflichen Illustration eines besondern Hinweises auf das verrätherisch genug vom gastlichen Tisch herabhängende Zeitungsblatt, um in ihm eine Gabe jener berüchtigten Eris zu erkennen, deren Apfel einst die Götter entzweite und der noch heutzutage bei den Menschen dieselbe Wirkung thut? Wer wollte es etwa dem gnädigen Herrn auf seinem vom großen Weltverkehr abgelegenen Stammschloß verargen, wenn er seinen nothgedrungenen Umgang mit seinem Pastor, dessen Gewand sogar von der Mode der jüngeren Zeit noch nicht berührt ist, nicht so weit mißbrauchen läßt, die anstößigen Meinungen desselben ohne den Ausdruck entschiedener Entrüstung zu vernehmen?

Was in aller Welt mag aber der Milch der frommen Denkungsart hier so nachtheilig gewesen sein?

Verbirgt sich hinter den großen Brillengläsern des Schnupfenden ein National-Liberaler, der seine Opposition contra Mühler-Eulenburg vertheidigt gegen den feudalen Abonnenten der Kreuzzeitung? Oder hat der Gutsherr in seinem Eifer für den glaubensfesten Knak vergessen, daß er einem Mitgliede des Bremer Protestantenvereins gegenüber saß? Glaubt der Dampfende mehr an die Energie Bismarck’s, während der Schnupfende alle seine Hoffnungen auf die Gewandtheit Beust’s setzt? Schwärmt der Herr auf und zu nur für die Farben Schwarz-roth-weiß und springt dagegen der alte Jenaische Burschenschafter und jetzige Hochwürden für sein geliebtes Schwarz-roth-gold ein?

Suchen wir nun auch vergeblich nach der Ursache des plötzlichen Zwistes, den ein vielleicht an sich ganz unbedeutender Artikel der Zeitung hervorgerufen, so beruhigen uns doch verschiedene Andeutungen über die Tragweite desselben. Der Edelmann hat die Pfeife nicht weggeworfen, sondern er zieht nur vollere Wolken aus ihr hervor, und das wirkt zornstillend; und der geistliche Herr hat nicht die Flucht, sondern nur die Dose ergriffen. Das Hauptmerkmal ist aber der kluge neutrale Spitz, der es, bei aller Treue für seinen Herrn, auch mit dem Pastor, welcher ihm manches Wursthäutlein spendet, nicht verderben will und auch bei diesem Zerwürfniß erfahrungsgemäß denkt: „Es macht nix, sie werden schon wieder gut!“


Oppenheim’s Bilder. Wir glauben eine Pflicht gegen unsere Leser zu erfüllen, wenn wir ihnen mittheilen, daß die unserer heutigen Schilderung des Laubhüttenfestes beigedruckte Illustration, nach uns freundlichst ertheilter Genehmigung des Verlegers, einer kürzlich (in Heinrich Keller’s Kunstverlag) erschienenen zweiten Abtheilung der Oppenheim’schen Genrebilder aus dem altjüdischen Familienleben entnommen ist. Diese zweite Sammlung enthält, wie die erste, so allgemein anerkannte und von der Gartenlaube bereits rühmend erwähnte Abtheilung, wiederum sechs vorzügliche photographische Nachbildungen eindrucksvoller Originalgemälde Oppenheim’s, so daß dem Publicum nunmehr eine aus zwölf Bildern bestehende, durch ihren künstlerischen Werth sowohl als durch höchst charakteristische Momente und gemüthreich-poetische Auffassungen sich auszeichnende Galerie zur Verfügung steht. Die Anschaffung ist Seitens der Verlagshandlung sehr erleichtert, da jede der beiden Abtheilungen nebst trefflichen Erklärungen von Leopold Stein in drei verschiedenen Ausgaben zum Preise von achtzehn Silbergroschen bis zwei Thaler und zwanzig Silbergroschen erschienen ist. Auch einzelne dieser Blätter werden abgegeben und kosten, je nach ihrem Umfange, drei und einen halben Thaler, oder einen Thaler, oder fünfzehn Silbergroschen.



Inhalt: Ein Pistolenschuß. Aus den Erinnerungen eines russischen Officiers. – Aus den vier Wänden des jüdischen Familienlebens. Nr. 2. Das Laubhüttenfest. Mit Illustration. – Drei Salons. – Eine südamerikanische Hauptstadt. Von Fr. Gerstäcker. – Süden und Norden. (Fortsetzung.) – Blätter und Blüthen: Italienische Banditen in Chile. – Die unterbrochene Zeitungslectüre. Mit Abbildung. – Oppenheim’s Bilder.