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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[209]

No. 14.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Zur gefälligen Beachtung!

Für diejenigen Leser unseres Blattes, welche in unsern Abonnentenkreis erst mit diesem Quartale eingetreten sind, wiederholen wir, daß im Laufe desselben der Abdruck der nachstehend verzeichneten Novellen beginnen wird:

Im Hause der Bonaparte. Von Max Ring. – Das Mädchen von Liebenstein. Von Friedrich Bodenstedt. – Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. Die Redaction. 




Drei Blumen am Wege eines Hagestolzen.

Von Arthur von Loy.

„Könnten Sie sich entschließen, mein lieber Herr Präsident von Mebes, an einem Damenkaffee Theil zu nehmen?“ fragte mich Frau von K., als ich ihr heute Morgen in der Friedrichsstraße begegnete.

„Meine Gnädigste!“ stammelte ich erschrocken und besann mich auf einen passenden Vorwand, um absagen zu können.

„Nun, Sie werden noch einige Herren bei mir finden,“ fuhr Frau von K. ermuthigend fort, „allein die Hauptsache besteht darin, daß ich Sie mit drei einstigen Flammen, die Ihr Herz in früherer Zeit so heiß durchlodert haben, nach fünfzehnjähriger Trennung wieder zusammenbringen will. Sie ahnen wohl schon, von wem ich rede: Frau von Rüdel, ehemals unsere schöne Ada Schwanfeld, die Regierungsräthin Reich, früher Ihnen als Gretchen Hein bekannt, und Frau von Arnim, geborene Gräfin Gansberg, meine Nichte. Diese drei jungen Frauen sind augenblicklich in Berlin anwesend, ich habe sie mit ihren Männern und Kindern heute Nachmittag zum Kaffee eingeladen und möchte mir nun gern die kleine Genugthuung verschaffen, diese einst von Ihnen mit junggesellenhaftem Egoismus verschmähten Mädchenblumen Ihnen jetzt als glückliche, zufriedene Frauen vorführen zu können. Herr Präsident, ich rechne auf Ihr Erscheinen!“

„Mit Dank nehme ich Ihre gütige Einladung an,“ erwiderte ich schmunzelnd, „doch Sie haben mir da die Rolle des Esels zwischen zwei Bündeln Heu zuerkannt, während ich leider die des Fuchses spielen mußte, dem die Trauben zu hoch hingen.“

„Ach, liebster Präsident, leere Ausflüchte!“ rief Frau von K. lachend aus. „Eine von den Dreien hätten Sie damals durchaus heirathen müssen. Man denke nur, vor fünfzehn Jahren waren Sie ein leidlich hübscher, noch jugendlicher Ober-Regierungsrath, in einer kleinen Stadt unverheirathet lebend. Ist ein solcher Mann mit zweitausendfünfhundert Thalern jährlichen Gehalts nicht moralisch verpflichtet, ein armes hübsches Mädchen zu nehmen? Ganz Y. war damals Ihretwegen in Aufruhr, die Mütter zerrissen sich, die Väter ließen es sich Geld kosten, arrangirten Bälle und Landpartien, schenkten ihren Töchtern schöne neue Kleider – doch Sie blieben kalt und hart wie ein Kieselstein und gingen wieder fort, wie Sie gekommen waren – unbeweibt, – mit der Rangerhöhung als Präsident.“

„Meine Gnädigste, ich weiß, ich lohnte Ihre wohlmeinenden Heirathspläne stets mit Undank, aber ich küsse Ihnen die Hand für die süße Strafe, das eheliche Glück meiner einstigen Herzensköniginnen diesen Nachmittag mit eigenen Augen schauen zu dürfen.“

Damit zog ich den Hut und empfahl mich meiner Gönnerin. Langsam und gedankenvoll schlenderte ich die Straße hinunter. Mit Frau von K.’s Worten war ein Stück grünes Jugendland, sonnig hell, aus den Erinnerungsnebeln meiner Vergangenheit emporgetaucht. Ada Schwanfeld, – Gretchen Hein, – Gräfin Agnes Gansberg, diese Namen hatten heute so wunderbar an mein Ohr geschlagen, sie, die mich einst täglich wie freundliche Gedanken und neckende Falter umschwirrten und die dann jahrelang stumm waren. Die Namen, bei denen mein vierzigjähriges Herz gepocht wie ein banges Schülerherz, die letzten frischen Blumen an meinem Junggesellenwege, die holden Mädchengestalten wurden mir wieder lebendig, als hätte ich sie erst gestern gesehen.

Vor zwanzig Jahren kam ich als Ober-Regierungsrath nach Y., einer kleinen finstern Festung in Pr. Dort verkehrte ich viel in dem gastfreien Hause von Frau von K., deren Mann Commandant der Festung war. Frau von K., eine kinderlose Dame, hatte eine große Vorliebe für hübsche junge Mädchen, die sie gern zu sich einlud und noch lieber unter die Haube brachte. Gerade damals hatte sie sich drei besonders hübsche Edelsteine als Lieblinge auserkoren, damit diese in der goldenen Fassung ihres Schutzes und ihrer Gesellschaften glänzten: die einzige Tochter des Platzmajors, die sechszehnjährige Ada Schwanfeld, Gretchen Hein und ihre eigene Nichte, Gräfin Gansberg, oder, wie wir Junggesellen diese Drei in unserem Mittwochsclub bezeichneten: die Purpurnelke, der Sturmwind und – der rothe Titian.

Die interessanteste und bedeutendste dieser drei Grazien war unstreitig Ada, die Purpurnelke; noch besser hätte man sie vergleichen können mit einer traumhaft schönen wilden Blume des Südens, einsam im Geranke wehend. Sie wohnte mit ihrem Vater in einer ehemaligen Curie, einem alten finstern Gebäude [210] mit riesigen Sälen darin; dicht daneben stand, ein Monument kräftigerer schöpferischerer Zeiten, der prachtvolle gothische Dom, die Zierde der Stadt. Ein großer Garten lag dahinter mit schattigen Nuß- und Kastanienbäumen, durch eine Klostermauer von der übrigen Welt abgeschieden.

Dieses von der nivellirenden Neuzeit vergessene Stückchen Mittelalter war Ada’s Tummelplatz. An den Feiertagen brausten die Orgelklänge durch das mächtige Gebäude und tönten durch den blühenden Garten, rauschten durch die Baumwipfel. Zwischen mit Epheu umwachsenen Pfeilern sahen die gothischen Fenster des Domes wie ernste Augen auf das träumende Weltkind, welches oft stundenlang in der grünen krausköpfigen Laube saß, von Kletterrosen umrankt, wie Dornröschen, oder als habe sie eine Ahnung, daß sie noch einmal einem Hamlet begegnen würde, der ihr zuriefe: „Geh’ in ein Kloster!“

Ada’s Wesen war nicht leicht zu entziffern. Manche hielten sie für launenhaft und kalt, Viele für exaltirt, noch Andere proclamirten sie als „geistreiches Mädchen“, ein Begriff, welcher in einer kleinen Stadt ungefähr Folgendes einschließt: unordentlich, überspannt, etwas verrückt sein und weder nähen noch kochen können.

Die Purpurnelke war sehr schön, sie besaß positive Schönheit, doch sah sie selten recht eigentlich hübsch aus. Sie hatte gekräuseltes kohlschwarzes Haar, zusammengewachsene Brauen und prachtvolle schwarze Feueraugen, ein griechisches Profil, Perlenzähne, kleine weiße Händchen und – eine hübsche dicke Taille.

Ich spreche ernstlich, die starke Taille von Fräulein Ada habe ich stets zu deren Vorzügen gezählt, denn sie schien mir ein Beweis von Gesundheit und Mangel an Eitelkeit.

Im Ganzen war Ada Schwanfeld der Typus eines Mädchens, vor dem sich die meisten heirathsfähigen Männer fürchten. Weshalb eine stark ausgeprägte Individualität beim Weibe abschreckt, begriff ich zwar nie und glaube auch gern, daß dieser Geschmack uns zum Nachtheil gereicht; allein ich theilte damals die Schwäche meines starken Geschlechtes: zu sehr darauf zu hören, „was die Leute redeten“. Die Frauen machen nun einmal die Fama, und bei ihnen war Ada sehr unbeliebt. Wir Männer glauben der Fama stets auf’s Wort und untersuchen selten die Beweggründe der mit ihr befreundeten Damen, welche gar oft der Neid, die Bosheit und die eigene Unreinheit sind. Doch ist es nicht fortzuleugnen, Tadel schadet immer. Der Zauber von Ada’s Persönlichkeit wurde dadurch abgeschwächt, der warme Enthusiasmus zur ruhigen Beobachtung zurückgeführt. Ich stählte mich gewaltsam gegen mein eigenes Herz und beschloß zu warten, um die Vorzüge und Fehler meines Ideals genauer abwägen zu können und um nicht mit sehenden Augen dem Abgrunde zuzueilen.

„Wie sieht sie wieder aus!“ sagte eines Abends auf einem Balle Herr von Rüdel, ein reicher Gutsbesitzer aus der nahen Umgegend, als in der That die „Purpurnelke“ ihre Embleme ungewöhnlich kühn und schief in die schwarzen Locken gesteckt hatte. „Sagen Sie mir, Herr Ober-Regierungsrath, macht sie auch ganz gewiß keine Gedichte?“

„Ich vermuthe es stark,“ erwiderte ich, „jedoch Fräulein Schwanfeld ist noch sehr jung; sie überwindet vielleicht diese Neigung wieder.“ „Sie meinen, dergleichen sei nicht unheilbar?“ murmelte er nachdenklich.

Vier Wochen darauf wurden die Verlobungskarten von Fräulein Schwanfeld mit Herrn von Rüdel im Städtchen vertheilt. Bald darauf erfolgte meine Versetzung, und ich hatte bis heute die schöne Ada noch nicht wiedergesehen.

Und nun zu Gretchen Hein, – daß ich’s nur gestehe: sie hatte es mir am meisten angethan. Wie eine Knospe, wie ein junger Frühling war Gretchen anzuschauen. Silberhell tönte ihr fröhliches Lachen, die rosigen Lippen lieblich über zwei Reihen kleiner Perlenzähne geöffnet, ihre ganze Erscheinung, ihr kleines schelmisches Gesicht mit den blonden Wellenscheiteln, ihre schlanke Gestalt, ihr flinker Gang: Alles brachte Licht und Leben hervor!

Sie war die Tochter einer Officierswittwe, welche sich sehr einschränken mußte. Gretchens dürftige Toilette gab ihr nur einen Reiz mehr. Im knappen weißen Kleidchen, von einer verblichenen rosa Schärpe umflattert, triumphirte sie in ihrer frischen holden Anmuth über die meisten ihrer geputzteren Freundinnen. Am lebhaftesten schwebt sie mir vor im dunklen braunen Ueberrock, eine weiße gefältelte Halskrause, wie man sie wohl auf alten holländischen Bildern sieht, ihren Hals umgebend. Diese große Halskrause war Gretchens Venusgürtel und stand ihr entzückend; der Mittwochsclub nannte dies scherzenswerthe Institut „die Kaffeemühle“, wahrscheinlich weil es in der Form an den messingenen Kelch eines solchen Apparates erinnerte.

Gretchen selbst hieß bei uns Clubmitgliedern „der Sturmwind“, eine Bezeichnung, in der wir ihre unendliche Frische und rasche Gewandtheit zusammengefaßt hatten.

Nach dieser Beschreibung könnte man denken, Gretchen habe durchaus keine Fehler gehabt. Leider doch, einen! so sagte Fama. Sie war kokett! Eine kokette Frau zu bekommen, ist ein Schreckbild selbst für den leichtsinnigsten Mann. Ein wirksameres Geschütz hätte Fama nicht auf das arme Gretchen richten können.

Wir Männer konnten diesen Vorwurf nicht genügend entkräften; wir wissen nämlich niemals genau, ob ein Mädchen kokett ist oder nicht. Halten wir Eine für gefallsüchtig, so ist sie es manchmal gar nicht; glauben wir eine Andere ganz frei von dieser lieblichen Untugend, so übt diese sie oft im allerhöchsten Grade.

Weshalb ich Gretchen nicht geheirathet habe? Ja, fast hätte ich es gethan! Ein Wahn, ein Nichts hinderte mich daran, der jämmerlichste aller Gründe, mir selbst jetzt so unbegreiflich und unhaltbar erscheinend: ich konnte mich nicht entschließen! –

In meine Schwankungen fiel meine Versetzung. Gretchen verlobte sich bald darauf mit dem Regierungsrath Reich, einem Mann, der seinen Namen mit Recht führte. –

„Der rothe Titian,“ Gräfin Agnes Gansberg, war eine blendende Schönheit; nur Neider konnten sagen: „zu gesund“. Sie trug die Bürgschaft hausbackenen Glückes in sich: geistig unbedeutend und sehr praktisch erzogen. Darum dachte ich auch ernstlich daran, sie zu heirathen. Aber die hübsche Agnes hatte eine unangenehme Vorliebe für langgewachsene dünne Lieutenants und besaß eine Art Tanzwuth, wie ich leider ihre Lust zum Tanzen bezeichnen muß. Beide Passionen waren nicht dazu geeignet, einen kleinen breitschulterigen Ober-Regierungsrath, welchem bei der kleinsten Walzertour schwindlig wurde, besonders zu ermuthigen. Ich stieß gar bald auf einen baumlangen Rivalen, der die Polka auf eine ganz besondere Weise zu tanzen verstand und zwar keine Einnahme, aber dafür reichliche Ausgaben hatte. Verdrießlich zog ich mich zurück; als „angenehmer Alter“ mochte ich nicht bei der schönen Gräfin gelten. Unverrichteter Sache reiste ich nach Berlin ab, augenscheinlich zum Hagestolzen prädestinirt; denn wer in einer kleinen Stadt nicht zu einer Frau kam, kommt in einer großen niemals dazu.


Punkt fünf Uhr stieg ich die Treppe zu Frau v. K.’s Wohnung hinan. Alte Bekannte wiederzusehen, stimmt mich leicht wehmüthig; wie viele Mädchen, mit denen ich noch getanzt habe, sah ich als Mütter, – als Großmütter wieder! Ach, so eine Männerjugend überdauert manchen Mädchenfrühling! Nun sollte ich hier drei glücklichen Frauen begegnen, einstigen Flammen, die ohne mich so sehr – glücklich geworden waren.

Geräusch von Stimmen und klirrenden Tassen schwirrte mir entgegen. Ich trat in einen großen Kreis von geputzten Damen, der nur hin und wieder durch einige sparsam gestreute Männergestalten im schwarzen Frack oder in reicher Uniform unterbrochen wurde. Geblendet von Farben und Licht konnte ich anfangs Niemand erkennen und suchte ängstlich nach der Wirthin. Dicht neben mir sagte eine klare Frauenstimme wichtig zu einer Nachbarin:

„Liebste, Maier in der Kochstraße hat dreierlei Sorten von Butter; ich nehme stets das Pfund zu vierzehn Silbergroschen, sie ist ungesalzen, daher bekommt man ein größeres Pfund gewogen ...“

„Ich muß Sie unterbrechen, Frau Ada!“ kam Frau v. K. lächelnd herbei, „Sie übersehen im Feuereifer eines Gesprächs über Wirthschaftsangelegenheiten unsern lieben alten Freund, den Präsidenten von Mebes.“

Frau Ada sprang elektrisirt auf und begrüßte mich mit holder Ueberraschung. Wir fanden rasch die alte Art unseres Verkehrs wieder; pikant und geistreich, ganz dieselbe, träumerisch und bewegt zugleich, die interessante Ada von ehedem.

Ich sah sie an, die hingeflossenen fünfzehn Jahre der Trennung schienen mir ausgelöscht, das schöne Gesicht, umkränzt von schwarzen Flechten in fast unverändertem Blüthenschmelz, der nämliche Kinderblick in den großen dunklen Augen, nur um den Mund ein schmerzlich sanfter Zug. Sie mußte jetzt fünfunddreißig Jahre [211] zählen, dennoch war sie so glanzvoll schön, das; die Bezeichnung „Purpurnelke“ jetzt noch besser als damals auf sie paßte. „Die Blume ist schöner, wenn sie ihre duftenden Blätter ganz entfaltet; am Mittag strahlt und flammt die Sonne höher als am Morgen,“ singt Torquato Tasso von Leonore d’Este.

Wir sprachen von vergangnen Zeiten; Frau von Rüdel hatte ein pietätvolles Gedächtniß für alle Kleinigkeiten ihres Jugendlebens. Mitten in der eifrigsten Unterhaltung unterbrach sie sich plötzlich, zog ein Notizbuch aus der Tasche, riß ein Blättchen heraus und sagte entschuldigend: „ich will nur rasch die Butteradresse für die Dame neben mir aufschreiben.“

„Ihre poetische Ader hat wohl aufgehört zu fließen?“ erlaubte ich nur lächelnd zu fragen.

„O nein,“ erwiderte sie mit gutem Humor, „mein Mann hat sogar meine Gedichte gesammelt und in einem Prachtbändchen herausgegeben, doch er hat die kleine Bosheit geübt, mir alle tadelnden Recensionen, welche er auffinden konnte, mit einem Rothstift angestrichen, auf den Frühstückstisch zu legen.“

Herr von Rüdel kam herbei, um mich freundschaftlich zu begrüßen. Er hatte den letzten Theil unseres Gesprächs gehört und meinte nun, Ada’s Gedichte seien doch im Ganzen sehr günstig von dem Publicum aufgenommen; überhaupt beklage er, daß seiner Frau schönes poetisches Talent sich wegen Zeitmangels nicht in wünschenswerther Weise entwickeln könne.

O Ballabend! Du bist verrauscht, aber meine Erinnerung hält noch fest die ängstliche Frage: „macht sie auch ganz gewiß keine Gedichte?“ –

Eine große Gestalt mit einem eingefallenen Gesicht trat zu mir: „Herr Präsident, Sie kennen mich nicht mehr?“

Großer Gott, ist’s möglich, Gretchen Hein, die Regierungsräthin Reich? Welch’ trostlose Veränderung! jetzt in Wahrheit eine Tochter von Freund Hein, – ein lachender Todtenkopf. Ja, das Lachen, das alte süße silberhelle Lachen! Der Ton klang jetzt so gezwungen, er that mir weh. Aus dem kleinen Munde zwei große falsche Zähne hervor stehend, – o, es ist wohl ein böser Traum, ein Bild im Hohlspiegel, welches mich äffte?

Aus der Thür des Nebenzimmers guckten fünf bis sechs neugierige Kinderköpfe wie die Orgelpfeifen hervor. Gewiß sind das Alles Gretchens Kinder, dachte ich mit einem leisen Schauer; also ist sie doch eine glückliche Familienmutter. Ich fragte sie.

„Ich habe keine Kinder,“ sagte sie kurz, und ein dunkler Schatten verfinsterte ihr Gesicht.

„Komm’, Frau, empfiehl Dich der Wirthin; ich will fort,“ rief eine harte Stimme, die dem Regierungsrath Reich angehörte, einer langen nach vorn gebeugten Beamtenfigur, deren Gesichtsfarbe Leberleiden und Reizbarkeit der Stimmung ausdrückte.

Gretchen brach hastig das Gespräch ab, lief eilig ihrem schon vorangegangenen Gemahl nach, raffte im Vorzimmer ihre Sachen zusammen, stülpte sich den Hut auf, und stürmte die Treppe hinunter, von deren unterster Treppe es wie dumpfer Donner grollte: „Gretchen, Frau! komm’!“

Ach, der geflügelte freie Sturmwind in rührender Dienstbarkeit – wer hätte sich das je gedacht! Eine pflichttreue Frau ist ein edles Wesen, doch dürfen wir nicht dabei an Knechtschaft erinnert werden.

Als Trost für Gretchens unerwartet veränderte Erscheinung sollte mir nun die sicherlich glückstrahlende und blühende Frau von Arnim dienen, so hieß jetzt die Gräfin Gansberg.

Vergebens durchforschte ich den Kreis junonischer Frauengestalten, ich konnte sie nicht herausfinden. Die Purpurnelke kam mir freundlich zu Hülfe:

„Frau von Arnim sitzt dort an jenem Tisch, von Herren umgeben.“

Ich ging etwas zweifelhaft auf die Bezeichnete zu. Die Gestalt mit dem dünnen langen Halse schien mir nicht der „rothe Titian“ zu sein, höchstens ein „bleicher Guido Reni“. Aber sie war’s doch.

„Wir sind nach Berlin gezogen, weil es mir an geistiger Nahrung in der Provinz fehlte. Hier verkehre ich fast nur mit berühmten Leuten und Männern, die mir gewogen sind. Lesen Sie Gedichte? Ich werde Ihnen morgen ein Bändchen von mir zuschicken; es ist betitelt ,Lethefluthen’.“

Ich stand starr vor der Sprecherin. War’s ein Papagei, der Auswendiggelerntes hersagte, oder war’s die frische unbekümmerte und unbedeutende Agnes Gansberg? Dahin Frische und Schönheit, dafür war Müdigkeit und Langeweile eingetreten, doch schien es nicht die Ausspannung der Ruhe, sondern die Abspannung der Unruhe, des Jagens und Haschens zu sein. An Stelle der früheren Zuversicht und Unabsichtlichkeit sprach jetzt Unzufriedenheit und forcirte Koketterie auf ihren verblühten Zügen. Ach, und wie weit hatte sie sich in ihrer Wahl von ihrem einstigen Ideal entfernt! Dem sah der kleine wohlbeleibte Major von Arnim in keiner Weise ähnlich. Wie verschieden waren überhaupt die Exemplare dieser Ehemänner von dem Bilde, welches sich die drei Damen einst von ihren Zukünftigen entworfen hatten! Ist’s denn durchaus nothwendig, daß Ideal und Wirklichkeit so grell miteinander contrastiren? Nun, vielleicht sind sie glücklicher, als wenn eine Jede ihr personificirtes Phantasiebild geheirathet hätte.


Die Kaffeegäste hatten sich allmählich entfernt. Ich zündete mir eine Cigarre an, das Rauchen erlaubte mir meine gütige Gönnerin, und schob mich in einen Sessel neben Frau von K., welche nachdenklich auf dem Sopha saß. Ich sehnte mich lebhaft nach einem Plauderstündchen. Nach einer Pause, unterbrach ich das Schweigen und sagte seufzend:

„Ach, es ist traurig, daß unser langes schmerzreiches Leben oft hauptsächlich dazu dient, um die Wahrheit oder die Unhaltbarkeit von Gemeinplätzen festzustellen! So bin ich heute von dem viel angenommenen Glauben zurückgekommen, daß ein unbedeutendes praktisch erzogenes Mädchen mehr Chancen zum Glücke einer Ehe biete als ein geniales kluges Weib. Wenn man doch in der Jugend des Alters Erfahrungen hätte, wie viel sicherer könnte man sich das Glück erringen!“

„Ich habe auch spät etwas gelernt,“ erwiderte Frau von K., „ich glaube jetzt an die Existenz der Liebe.“

Ich lachte hell auf. „Gnädige Frau, dieses Vorhandensein sollten Sie erst jetzt entdeckt haben? Das Dasein der Empfindung, welche unsere Dichter schafft, das meiste Unglück in die Welt bringt und doch nur allein wirkliches Glück geben kann?“

„Gewiß,“ sagte Frau von K. ruhig. „Liebe schien mir bis dahin ein Wahn, ein Gespenst, welches nur in der Phantasie aufgeregter Menschen lebte, ein Gefühl, dem in sehr unvernünftiger Weise Werth beigelegt wird, das unsere Dichter aus Eitelkeit in den Himmel erheben, um dadurch sehr schädlich auf die Jugend einzuwirken. Ich selbst heirathete als sechszehnjähriges unmündiges Ding auf den Befehl meiner Eltern meinen vortrefflichen lieben Mann, später würde ich mich mit freiem Willen nicht mehr verheiratet haben. Ueberredung oder ein unabweisbares ,Muß’ treibt ein Mädchen zur Ehe; ich bin überzeugt, könnte man alle Einwirkungen der Art fortschaffen, es würde keine einzige mehr zu Stande kommen. Liebe und Liebessehnsucht sind mir, die heilige menschliche Empfindung der Verwandtenliebe ausgenommen, Gottlob fremd geblieben. Jedoch die Herzensgeschichte meiner drei Schützlinge hat mir über das Wesen der Liebe einen andern Aufschluß gegeben. Besonders hat mich meine Nichte Agnes tief gerührt, es erschütterte mich, daß eine so sanfte einfache Natur von der Liebe gleich einer vulcanischen Eruption getroffen wurde. Wie veränderte sie das putzsüchtige, nur an Bälle und Gesellschaften denkende Mädchen! Daß so viel edle Gefühle, so viel echte Weiblichkeit, so viel leidenschaftliche Kraft sich in diesem Innern erheben konnte, welches mir bis dahin stets den Eindruck eines stillen Binnensees gemacht hatte, nicht der Mühe werth, tief unterzutauchen: das hat mich von dem wirklichen Vorhandensein der Liebe überzeugt. Ich sah die Wellen hoch aufrauschen und erblickte die Perlen tief im Grunde, die Liebe sprengte die verhüllenden Muscheln. Liebe ist die Blüthe unseres Seelenlebens, genährt von Wasser und Feuer. Die arme Agnes ist gereift unter Kampf und Schmerz, die Blüthe trug die Frucht ihrer geistigen Entwickelung; wir Menschen bedürfen des Unglücks, um seelisch zu wachsen.“

„So hat Agnes Gansberg in der That eine unglückliche Liebe gehabt?“ fragte ich kurz.

„Ja,“ erwiderte Frau von K., „alle drei Damen haben einen Roman erlebt, der sich vor der Ehe abspann.“

Ich stutzte.

Frau von K. lächelte. „Sie, mein lieber Präsident, sind darin mit keiner Rolle bedacht, gar mancher ,Epouseux’ würde sich wundern, wenn er in seiner Zuversicht eine Einsicht in die Herzen [212] der heirathsfähigen jungen Damen haben könnte. Man läßt sich zur Liebe so wenig wie zum Essen zwingen. Das weibliche Herz ist ein unabhängiges, wunderbar starkes Ding, weich und spröde zugleich. Dieses Herz ist der stärkste Impuls, die treibende Kraft des Frauenlebens, es unterwirft sich nicht den Einschränkungen menschlicher Gesetze, sondern hat seine eigene Logik, die man freilich als eine solche nicht gelten lassen will. Ich bin der Ansicht, erzieht man ein Mädchen auch noch so rationell, wenn es das wirkliche Bild seiner umhertastenden Träume erblickt, so verliebt es sich tüchtig in eine hohe Gestalt, in ein paar schöne Augen, ja manchmal in reelle anerkannte Häßlichkeit, denn nicht immer sind die Ideale ,ideal’. Wenn Sie wollen, mein lieber Präsident, so erzähle ich Ihnen die Herzensgeschichten Ihrer drei Flammen.“

„Gewiß, meine Gnädigste, ich bin ganz Ohr.“

„Nun, wohlan denn,“ sagte Frau von K., verhüllte die blendende Lampe mit einem grünen Schirm, rückte sich in ihrem Sessel zurecht und begann:

„Bis zu ihrem achtzehnten Jahre war Ada Schwanfeld ein wildes, unbekümmertes Kind, das blutwenig in die beengte Geselligkeit der Festung Y. hineinpaßte. Bei ihr lagen das schwere Gold und die verhüllenden Schlacken dicht nebeneinander. Sie las, was ihr unter die Hände kam, beschäftigte ihre Phantasie mit Heldengestalten der Geschichte und mit lyrischen Dichtern. Die Herren ihrer Bekanntschaft interessirten sie nicht, von Heirathen wollte sie nichts wissen und bemerkte oft scherzend, sie sei dem Sturme vermählt, und in der That, sie lief bei Wind und Wetter, mit zerzausten Haaren und groben, ledernen Stiefeln, ohne Hut und Handschuhe in den Garten und in’s Feld. Leider hatte man versäumt, ihrem kindlichen Herzen echte Frömmigkeit einzupflanzen; sie war eine kleine Gottesleugnerin geworden. Sie hatte ein ungewöhnliches poetisches Talent, machte wirklich sehr schöne Gedichte und sehnte sich darnach, eine recht berühmte Frau zu werden.

Ein junger Maler kam unerwartet in unser Städtchen, um den berühmten gothischen Chor des Domes zu zeichnen. Es begleiteten ihn allerlei interessante Gerüchte. Er war streng katholisch, vornehm und reich, benutzte aber die Zinsen seines Vermögens, ja selbst den Erwerb seiner Kunst zu rein kirchlichen und wohlthätigen Zwecken. Er hatte ein schönes, blasses Gesicht, sah aus wie ein Gemälde von van Dyk; man erzählte sich in Y., er trüge auf seinem schlanken, edlen Leibe ein härenes Gewand unter den Kleidern, um sich zu kasteien. Der junge Maler hielt sich allen Gesellschaften fern, dennoch wurde er in kurzer Zeit der Held des Tages, der Löwe von Y.

Jeden Morgen besuchte er Schlag sieben Uhr die heilige Messe und passirte dabei das Haus des Major Schwanfeld. Ada begann plötzlich frühes Aufstehen zu lernen und schöpfte schon um dieselbe Zeit frische Luft vor der Hausthür. Sonntags besuchte sie den katholischen Gottesdienst und verspürte überhaupt die lebhaftesten Sympathien mit unserem ältesten Dogma. Die schöne Sitte, daß die katholischen Kirchen stets geöffnet sind, verlockte sie auch wohl, manchmal ein Stündchen in einem verborgenen Betstuhl träumend zuzubringen, während der Maler seine Studien im Chore machte.

Den vereinten Anstrengungen der Y’schen Familien gelang es endlich den Maler zu einigem Verkehr zu bewegen, er nahm Einladungen an und tanzte auch – ja, sogar einen Cotillon mit Ada – und begann, dem wahrhaft schönen und geistreichen Mädchen zu huldigen.

Da wurde immer katholischer und immer ,malerischer’. Stundenlang saß sie in der krausköpfigen Laube, von Kletterrosen umrankt, zu den Füßen des Domes, ihres steinernen Freundes, lauschte den brausenden Orgelklängen und dachte Dessen, der die fromme Stätte täglich betrat.

Beunruhigende Gerüchte tauchten auf, der eifrig katholische Maler werde nie eine Protestantin heirathen; er selbst hatte dies einer Verwandten Ada’s ausgesprochen. Leute, welche seine Familientraditionen kannten, bestätigten es. Ada hätte gewiß mit Ueberzeugung übertreten können, aber eine Convertitin? Würde er sie würdig finden, mitzuarbeiten an seinen kirchlichen Bestrebungen?

Das bang Geahnte traf ein, der Maler vollendete seine Bilder und reiste ab, ohne sich zu erklären. Ada war zerschmettert. Der alte Dom und der wilde grüne Garten, die ihre Kindheit und ihre erste junge Liebe beschirmt hatten, wurden nun die Zeugen ihrer Verzweiflung, in der sich ihre Seele oft sogar verirrte zu bösen Gedanken und gefährlichen Plänen. Der friedliche Klang der Orgel versöhnte ihr trotziges Herz nicht, und die stille Laube verbarg Schmerzen, von denen der fromme Maler wohl keine Ahnung hatte. Ada hat ihre erste Liebe nie vergessen, sie gedenkt ihrer als der schnell verschwundenen Morgenröthe einer hoffnungsreichen Zeit, und noch jetzt erkundet sie mit Theilnahme das Wohlergehen des Malers.

Er hat nie mehr nach ihr gefragt. Er kasteite sich wegen seiner Neigung zu einer Protestantin und wurde mehr und mehr Asket. Für ihn war die Episode in Y. die Versuchung des heiligen Antonius gewesen. Nach Jahren sah ich ihn wieder am Rhein, beschäftigt am Bau und an der Ausschmückung der herrlichen Apollinariskirche bei Remagen. Er war nun berühmt geworden und sah aus wie ein Klostermaler des Mittelalters, bleich, schlank, mit langen Locken. Seine Madonnen sind Idealbilder himmlischer Weiblichkeit, sie ähneln denen Raffael’s, alle sind blonde, sanfte Lichtgestalten, ganz das Gegentheil von Ada, aber unter seinen profanen Figuren, unter den Ketzern und Verdammten, sah ich öfter ein wunderschönes Weib, mit schwarzen Schlangenhaaren und mit Flammenaugen zum Himmel blickend, nach Erlösung schmachtend – das war Ada. –

Und nun beginne ich Gretchen Hein’s kurzen Jugendtraum, eine Novelle mit wenig Handlung, aber vielen Täuschungen. Gretchen lernte in einem Badeort die Verkörperung der Wünsche und Hoffnungen eines armen bürgerlichen Mädchens kennen. Graf Wyhrn war Majoratsbesitzer, schön wie ein junger Antinous, und dabei ungewöhnlich bescheiden und liebenswürdig. Er machte dem reizenden ,Sturmwind’ sehr den Hof und besuchte nach der Badesaison einen verheiratheten Freund in Y., offenbar mit der Absicht, Gretchen wiederzusehen. Aber Gretchen war krank und mußte wegen eines Zahngeschwüres vierzehn Tage zu Bett liegen. Als sie wieder hergestellt war, wurde sie eines Abends zum Thee eingeladen zu der Familie, wo Gras Wyhrn zum Besuch war; hier traf sie freudige Aufregung an, man proclamirte die Verlobung des Grafen mit der jungen Schwägerin des verheiratheten Freundes, einem Mädchen, welches ebenso arm und bürgerlich wie Gretchen war, nur lange nicht so hübsch.

Nach dieser Erfahrung fiel es wie Mehlthau auf Gretchens Schönheit und Heiterkeit, doch nützte ihr dieselbe insofern, als sie etwas besonnener wurde und endlich den Bewerbungen des soliden ältlichen Regierungsrathes Reich Gehör schenkte, der ihr jetzt wenigstens ein sorgloses Leben des Reichthums bereitet, wenn auch das Glück ausblieb, das sie verdiente. –

Agnes Gansberg’s Liebesroman ist ohne jeglichen grellen Uebergang gewesen; die meisten Herzen werden im Stillen gebrochen! Agnes sprach öfters von Liebe, so daß man leicht merken konnte, wie sehr sie ihr terra incognita war. Ich sagte dann wohl zu ihr: ,Kind, wie Du und die meisten jungen Mädchen sich die Liebe denken, das ist nur Phantasiegebilde der Eitelkeit und des Müßigganges. Aber wenn mir eine von Euch hochmüthigen putzsüchtigen jungen Dingern sagt: ich liebe Herrn Maier oder Müller-Schulze, ich kann nicht ohne ihn leben, dann will ich an Eure wahre echte Liebe glauben!’

Eines Abends fuhr ich mit meiner Nichte von einem Balle nach Hause. ,Wie hat Dir Herr Maier gefallen?’ fragte sie mich zwei Mal. ‚Kind, ich habe keinen Herrn Maier bemerkt,’ sagte ich müde und gähnend.

Andern Tags machte ein baumlanger Lieutenant Maier bei uns einen Besuch. Er schien ein intelligenter befähigter Mensch zu sein, man hörte viel Lobenswerthes von ihm und prophezeite ihm eine glänzende Laufbahn.

Ich nahm also Herrn Maier in meinen Salon auf. Er besuchte uns häufig zum Thee und widmete sich dann ausschließlich meiner Nichte, die unter diesem Einflüsse ein ganz anderes Mädchen wurde, sich vollständig nach seinem Geschmack ummodelte, studirte und gute Bücher las, ja es erging ihr wie Ottilien in den Wahlverwandtschaften, ihre Handschrift begann der des Lieutenants zu ähneln. Dabei war sie blendend schön geworden in ihrer Liebe; Titian’sche Farben- und Formenschönheit war geistig verklärt, und sie sah aus wie des Meisters schönste Gestalt seiner Kunst, wie Lavinia, Titian’s Tochter.

Trotz Maier’s Vortrefflichkeit und großer Liebenswürdigkeit schien er mir doch von kalt berechnender Natur und mit brennendem Ehrgeiz begabt zu sein.

[213]

Aus Immermann’s Kreis.
Originalzeichnung von L. Pietsch.
Grabbe. Uechtritz. Immermann. Lessing. Gräfin Lützow.

[214] Maier erhielt einen Ruf in den Generalstab nach Berlin. Jetzt mußte er sich erklären, falls er Agnes aufrichtig liebte. Meine Nichte war in einem entsetzlichen Zustand der Angst und Spannung. Der Tag seiner Abreise rückte immer näher.

Mir kam plötzlich der Gedanke, Maier wage nicht um eine Gräfin aus dem stolzen Hause der Gansberge anzuhalten, und ich faßte daher einen außergewöhnlichen Entschluß. Ich ließ ihn rufen und deutete ihm, so zart ich vermochte, ihre Liebe an. Er wurde sehr verlegen und stotterte etwas vom „Elend der Ehe“, welches er meiner Nichte nicht zumuthen könne. Ich sprach vom Warten, vielleicht auf eine Capitainsstelle. Da faßte ihn wahres Entsetzen. Seine Hand suchte die Thürklinke, er stieß einige Worte über die Unverantwortlichst, die Aussichten eines Mädchens zu verderben, von der Unannehmlichkeit eines langen Brautstandes hervor und war verschwunden.

Ich hatte einen Korb bekommen.

Agnes durfte niemals das Nähere dieses Auftritts erfahren. Das arme Mädchen verblutete sein Herz und hoffte immer noch. Wir lasen zwei Mal in den Zeitungen Maier’s Rangerhöhungen, doch er ließ nichts von sich hören. Agnes wurde eine Zeitlang menschenscheu, ihr Aeußeres veränderte sich traurig. Nur mit Mühe konnte ich sie bewegen, des kleinen Herrn von Arnim’s Hand anzunehmen, der ihr eine Versorgung bieten konnte. Nach ihrer Verheirathung ist sie wunderbarer Weise Schöngeist und Schriftstellerin geworden; das wunde, getäuschte Herz sucht Befriedigung.

Als ich im vorigen Sommer den Major von Maier, jetzt Schwiegersohn des Kriegsministers und geadelt, in Carlsbad wiedersah, geschah zufällig meiner Nichte Erwähnung. Der Major stutzte, besann sich und sagte: ,Ach, die Agnes Gansberg! jetzt erinnere ich mich, sie war ein gutes Mädchen, ein sehr gutes Kind.’

Arme Agnes, so viel Thränen, so viel Kummer, mit Liebe geharrt schmerzvolle Jahre hindurch, das arme Herz an das schwächste Hoffnungshälmchen angstvoll angeklammert, und kein anderes Zeugniß aus dem geliebten Munde als – ,sie war ein sehr gutes Mädchen’!“


Ich nahm rasch Abschied von der redseligen Erzählerin, um meine wehmüthige Empfindung über die Liebestäuschungen der drei Mädchen zu verbergen; die armen Blumen, welche meine Hagestolzlaufbahn geschmückt hatten, kamen mir wie verwelkt vor nach so vielem Leiden! Ich war aber doch froh, daß ich mich nicht verheirathet hatte, da es so offenbar Menschenschicksal ist, das Gegentheil von seinen Liebesträumen durch die Ehe zu verwirklichen!






Bilder aus dem Leben deutscher Dichter.
Im Landhause von Derendorf.
Mit Abbildung.

Jeder Dichter, seit den ältesten Tagen der Menschheit, hat das allgemeine Gesetz der Dinge, die uralte und ewig neue Erfahrung, daß der Höhepunkt jeder Laufbahn zugleich der Beginn ihrer absteigenden Neigung ist, besungen und beklagt – und sicher auch an seinem eigenen Leben erprobt. Auch in dem eines neueren, dem deutschen Volk besonders werthen und theuern Poeten, in dem Leben des Schöpfers des Münchhausen, des mannhaften Vaters der deutschen Dorfgeschichte, der nach langer Zeit der Dürre zum ersten Male wieder an den festen, harten, rauhen Fels des echten germanischen Volksthums mit dem Zauberstabe der Dichtung zu klopfen wagte und ihm den lautern Quell der Erquickung und Gesundheit entlockte, welcher noch manche kommende Generation erfrischen und kräftigen wird, wie er es uns gethan, – auch in Karl Immermann’s Leben wiederholt sich die gleiche Erscheinung, und zwar bei ihm in besonders hervortretender, bestimmt gezeichneter, rund abgeschlossener Gestalt. Und diese Glanzzeit seines Daseins gewinnt dadurch noch eine ganz eigenthümliche, erhöhtere Färbung und ein besonderes Interesse, daß ihr Aufsteigen wie ihr Versinken und Erblassen zusammenfällt und eng und innig verbunden ist mit dem der schönen Jugendblüthe einer größern geistigen Genossenschaft, welche in der modernen Culturgeschichte unseres Vaterlandes eine wichtige und ehrenvolle Stelle einnimmt: der Düsseldorfer Malerschule. Genau sogar bis auf die begrenzenden Jahreszahlen, innerhalb welcher diese Periode begriffen ist, trifft die seine mit der ihren zusammen: 1827 und 1839 können hier wie dort den Beginn und den Abschluß markiren, zwischen welchen sich eine schöne, reiche Entwicklung abspinnt, die des Rückblicks „mit einem heitern, einem nassen Aug’“ wohl werth ist.

Dergleichen Glanzzeiten in des einzelnen Mannes Geschichte sind kaum denkbar, ohne daß irgend eine weibliche Gestalt auf deren erfreulichem Bilde mit erschiene, bei ihrem Heraufführen oder an ihrem Ende wirksam betheiligt wäre. Das trifft für Immermann in ebenso eminentem Grade zu, wie nur für Goethe. Es war zu Münster in Westphalen, wo der 1810 von Magdeburg dorthin versetzte dreiundzwanzigjährige Auditeur, den die Pflichten der Militärgerichtsbarkeit und die juristischen Studien nicht an der Cultur seiner schönen poetischen Begabung verhindern konnten, zum ersten Male der Frau gegenübertrat, welche auf die Gestaltung seines ganzen Daseins einen so entscheidenden Einfluß üben sollte, wie er nur je von einer jener berühmten Dichterfreundinnen auf die Poeten ausging, welche in ihnen ihre Musen verehrten und verherrlichten. Die liebenswürdige, mit jedem Reiz, den schöne Anlage, vollendete Geistes- und Lebensbildung, Vornehmheit und natürliche Anmuth einem Weibe verleihen können, geschmückte Gattin von Lützow’s, des kühnen Führers der schwarzen Schaar, Elise geborene Gräfin von Ahlefeldt, bedurfte in verwickelten Vermögens- und Geschäftsangelegenheiten des rechtskundigen Rathes und Beistandes, den sie bei Immermann suchte. Er seinerseits fand in der schönen Dame, welche noch dazu in dem für einen Zwanzigjährigen so gefährlichen Altersverhältniß zu ihm stand (sie zählte sechs Jahre mehr als er), den Gegenstand schnell erregter schwärmerischer Bewunderung, der all’ seine poetische Gluth zu hellen Flammen entfachte. Während der vier Jahre, die dieser Aufenthalt in Münster währte, floß unter dem beglückenden Einfluß der Freundin, welche sich darin gefiel, die Leonore dieses modernen Tasso zu sein, der Strom seiner dichterischen Production so reich und voll dahin, daß man schwer versteht, wie seine juristische Amtsthätigkeit dabei zu ihrem Recht kommen mochte. Die Pflichten derselben setzten übrigens diesem ersten Beieinanderleben ein Ende. Immermann wurde nach Magdeburg, seiner Vaterstadt, als Criminalrichter berufen. Als ihn zwei Jahre später Frau von Lützow dort wiederfand, war auch in ihrem Leben eine tiefgreifende Wandlung vorgegangen: sie war aus Gründen, die unserer Darstellung fern liegen, von ihrem Gatten geschieden.

Jedenfalls konnte sie für ihre Seelenwunden keinen heilsameren Aufenthalt wählen, als Magdeburg und die Nähe Immermann’s. Seine leidenschaftliche Freundschaft für die so Geprüfte war nur gewachsen. Aber vergebens drang er in sie, den Trost durch einen zweiten Gatten für die Fehler des ersten anzunehmen. Sie erwog den Unterschied des Alters und verweigerte des Dichters Hand. Wohl aber willigte sie darein, als er 1827 als Landgerichtsrath nach Düsseldorf berufen wurde, ihm dorthin zu folgen. Es dünkte ihrer hochgestimmten Seele so schön und so – möglich, den Traum einer idealen Gemeinschaft in die Wirklichkeit führen zu können, dem edlen Freunde alles Störende, Gemeine, Widrige, alle Noth und Unruhe des Lebens fern zu halten; über seinem Schaffen zu wachen, als „holde Treiberin, Trösterin“, und stolz und kühn des Geredes der Menge über die Seltsamkeit eines solchen Ausnahmeverhältnisses nicht zu achten. Als Sitz dieses Poetenglücks wurde ein Landhaus in Derendorf in der Nähe Düsseldorfs erwählt, von einem prächtigen großen Garten umgeben, wo Blumenduft, Blätterwehen und von breitem Rebenlaub gedämpfter Sonnenglanz in das stille Arbeitszimmer des Dichters und in die stattlichen, elegant und behaglich eingerichteten Räume drang, in welchen die Freunde und die auserwählten Geister, die sich ihnen anschlossen in herzlicher Neigung, sich gemeinsam des von jenem Geschaffenen, von jedem aus eigenem und fremdem Schatz Hinzugebrachten erfreuten.

Für Düsseldorf war gerade in jenen Jahren ein neues, frisches [215] Kunst- und Geistesleben aufgegangen, so daß Immermann bei seinem Eintritt eine Welt fand, wie sie, um seinem Dichtergenius die rechte und gedeihliche Atmosphäre, seinem Dasein den günstigsten Boden zu geben, nicht entsprechender hätte gedacht werden können. 1826 war Wilhelm Schadow von Berlin dem Ruf als Director der Düsseldorfer Akademie dorthin gefolgt und hatte einen Kreis von jungen Schülern mit hinübergebracht: Lessing, Bendemann, Hübner, Sohn, Hildebrand, Schirmer, Jünglinge von ungewöhnlicher Begabung, von ehrlicher Begeisterung für romantische Kunstideale erfüllt. Mit überraschend schnell entwickeltem künstlerischem Können legten sie bald genug glänzendes, thatsächliches Zeugniß für dieselben ab in jenen Bildern, welche zwei Jahrzehnte hindurch die Gegenstände des Entzückens und der Bewunderung des vaterländischen Publicums, und nicht blos dieses allein, waren, Bilder aus romantisch angeschauter Geschichte, aus der Sage und Poesie, aus der Landschaft und einem freilich nicht mit unbefangenem Auge betrachteten Volksleben.

Die moderne Kunstentwickelung hat diesen Standpunkt überwunden. In Düsseldorf selbst sind grundverschiedene Richtungen der Malerei zur höchsten Geltung gekommen; man hat anders sehen, anders empfinden, anders zeichnen und malen gelernt. Aber jene Zeit mit ihrer hoffnungs- und glaubensvollen Freudigkeit, ihrem hochfliegenden Streben wird unvergeßlich bleiben, wie die weltbekannten Schöpfungen, die ihr erwachsen. Ein enger Verkehr des Immermann’schen Hauses mit diesen Künstlern konnte nicht ausbleiben. Die „Düsseldorfer Schule“ blieb nie unvertreten im Gartensalon zu Derendorf. Und auch für andere Interessen noch, als die ihr eigenen, fand sich dort der gastliche Vereinigungspunkt. Der dramatische Dichter mochte der lebendigen Wechselwirkung mit der Bühne nicht entbehren; sein großes Vorlesertalent führte ihn mit den Schauspielern und den Bühnenfreunden in nahe Berührung, und seinem Verständniß, seiner durchdringenden und überlegenen Geisteskraft fügte man sich willig. Der Lieblingsplan des Bühnendichters kam zur Verwirklichung. Vom Beirath wurde Immermann zum Leiter der Düsseldorfer Bühne. Ein einjähriger Urlaub gab ihm die Zeit und die Freiheit dazu, Actienzeichnungen in dem anfangs lebhaft dafür interessirten Publicum schafften die Geldmittel herbei.

Er konnte eine Zeit lang hoffen, daß es so ehrlichem Bestreben, so wirksamer Unterstützung durch tüchtige, kundige Männer, unter denen Felix Mendelssohn und Friedrich v. Uechtritz, der Landgerichtsrath, Dichter und liebenswürdige Enthusiast, besonders zu nennen sind, gelingen müßte, „den Widerstand der stumpfen Welt“, die Gleichgültigkeit, die Gewöhnung der Masse an triviale, fade oder rohe Kost zu überwinden, und von dieser Düsseldorfer Bühne aus, wenn er sie erst zur deutschen Musterbühne erhoben haben würde, die Regeneration des vaterländischen Theaters ausgehen zu sehen. Man weiß, welche schmerzlichen Enttäuschungen diesen Hoffnungen schon nach drei Jahren folgten, wie sich jene bekämpfte Stumpfheit und Gleichgültigkeit gegen die Arbeit: die Bühne aus der theatralischen Versumpfung zu erheben zum würdigen Schauplatz der edeln Gebilde echter Dichtung, als unüberwindliche Mächte erwiesen, welchen auch ein so energischer Wille unterliegen mußte, da die ihm zu Gebote gestellten materiellen Mittel nur zu bald versiechten. 1837 nahm Immermann vom Düsseldorfer Theater wie vom Grabe seiner liebsten Träume Abschied, und lange noch wirkte der bittere Schmerz in seiner Seele nach.

Während der Zeit seiner Bühnenleitung, zum Theil durch diese mit veranlaßt, war zu den Anderen auch eine der originellsten Gestalten der deutschen Poetengilde, Dietrich Grabbe, in Immermann’s Kreis getreten. 1801 war er zu Detmold geboren, der Sohn des dortigen Zuchthausinspectors.

Trotz der vergiftenden Einflüsse, welche eine rohe, halb verrückte, dem Trunk ergebene Mutter auf des Kindes geistige und körperliche Entwickelung geübt hatte, war er zu einem vielseitigen Wissen in fleißiger Arbeit und zur Ausbildung eines dichterischen Genies gelangt, in welchem Größe und Gemeinheit, gründliche Ungeheuerlichkeit und Schwächlichkeit seltsam mit einander gemischt erscheinen. Wie ehemals Immermann hatte auch er das Amt eines Auditeurs bekleidet, dasselbe in krankhaften Launen, die sein Wollen, ihm zum Unheil, bestimmten, ausgegeben, und war nach Frankfurt übersiedelt. Unfähig, mit jenem gewaltigen Talent der dramatischen Dichtung, das sich verachtend über alle Schranken der wirklichen Bühne hinwegsetzte (einem Talent, von dem seine damals bereits erschienenen Dramen „Gothland“, „Don Juan und Faust“, „Hannibal“, Zeugniß ablegen konnten), die Mittel der Existenz zu erwerben; ebenso unfähig, der verderblichsten Leidenschaft zu entsagen, die ihn im Trunk die Quelle der Kräftigung seiner kranken Natur und auch wohl – der Begeisterung suchen ließ, lebte er hier in tiefem Elend, als Immermann’s Einladung nach Düsseldorf seinem an diesen gerichteten verzweifelten Hilferufs antwortete. Immermann that hier, was er vermochte, das Dasein des Gastes freundlicher zu gestalten, zog ihn in die engste Intimität seines Hauses, ohne sich durch die Formlosigkeit seiner Sitten, durch die Unfähigkeit oder den verächtlichen Widerwillen, sich den gültigen geselligen Bräuchen und Regeln zu fügen, weder in seinen Bemühungen noch in der Schätzung der wilden Größe dieses Genius beirren zu lassen. Deutlicher hat sich selten wohl das geistige Wesen eines Mannes in seiner körperlichen Erscheinung ausgeprägt, als dieses über Gebühr verlästerten und andererseits maßlos glorificirten Poeten.

Sein wohlgetroffenes Portrait zeigt eine prachtvoll gewölbte riesenhafte Stirn, ein tiefes seelenvolles Auge, eine feine Nase bei einer wahrhaften Verkümmerung der untern Gesichtspartieen, die bis zur verschwindenden Unbedeutendheit des Kinns, also gerade jenes Theils des Antlitzes geht, in welchem noch jeder Physiognom mit vollem Recht den Maß-und Werthanzeiger menschlicher Charakterkraft und Tüchtigkeit erkannt hat. Dazu eine Gestalt, in welcher kein Stück zu dem andern zu passen, wo Körper und Extremitäten in stetem Widerstreit zu stehen schienen, jede Bewegung eckig, roh und ungeschlacht herauskam.

Eine solche Figur muß eine seltsame Zuthat gewesen sein zu dem Kreise, der sich um Immermann’s imponirende Persönlichkeit und seiner Freundin vornehme und herzgewinnende Gestalt in jenem Gartenhause zusammenschloß. Mit Begeisterung erzählen die Zeugen jener glücklichen Tage heut’ noch von den darin verlebten Stunden reinen, erhebenden Geistesgenusses und der edelsten Geselligkeit.

Dem Bericht eines Mitlebenden über einen solchen Abend in Derendorf ist auch das Bild erwachsen, das hier eine Scene, wie sie sich dort oft wiederholt haben mag, in einer Gruppe der hervortretendsten Charaktere jenes Kreises zu veranschaulichen sucht. Das Licht eines schönen Sommerabends fällt durch das Weinlaub, das die Fenster und die Saalthür umgiebt und überschattet, und durch die schweren Seidenvorhänge in den nach den bescheidnern Ansprüchen jener Tage elegant und behaglich eingerichteten Gartensalon, den neben zahlreichen Bildern, an welchen die jungen künstlerischen Freunde manchen Antheil haben mögen, ein großes Bild König Friedrich Wilhelm des Dritten schmückt. Der Abendschein trifft die breite mächtige Stirn des „Mannes im braunen Ueberrock“ (wie er sich selbst in der Geschichte seines Münchhausen’s einführt), der eben die letzte Seite eines Manuscripts umschlägt, aus dem er seinen Gästen vielleicht sein neuestes Product, oder eine Scene aus den Epigonen, dem Trauerspiel in Tirol, dem Tulifäntchen oder dem Merlin vorgelesen hat.

Auf jener Stirn, wie Stahr sagt, „von dem dunkeln, schon hie und da in’s Graue spielenden Haar mäßig beschattet, spiegelte sich eine gehaltene Hoheit und Ruhe, welche durch die kräftig geschlossenen Lippen und das scharf und tief blickende Auge zu dem Charakter strengen Ernstes und fester Entschlossenheit gesteigert wurde.“

Neben ihm im niedrigen Fauteuil, mit inniger Antheilnahme zu ihm hingeneigt, mit den schönen sanften und tiefen Augen an den beredten Lippen des Freundes hängend, lehnte dann wohl Frau von Lützow, Gräfin Ahlefeldt, das immer noch jugendliche Antlitz von den braunen Locken umflossen, die feine jugendschlanke Gestalt in ein einfaches, mit schwarzen Spitzen besetztes Seidenkleid gehüllt.

Drei Gäste sehen wir an diesem Abend vor dem runden Tisch des Salons versammelt: in sich zusammengedrückt, den Kopf in dem hohen Rockkragen der dreißiger Jahre tief versunken, die geballte Faust am Kinn, die andere auf dem Schenkel, Grabbe. Neben seinem Sessel stehend, Herrn v. Uechtritz (geboren zu Görlitz 1800), der hier dem Beschauer jenes edel und delicat geschnittene Profil weist, welches die Düsseldorfer Maler damals oft genug in ihren romantischen Geschichtsbildern zu verwerthen verstanden. Mehr aber noch, als mit seinem Gesichtsschnitt diente er [216] der dortigen Malerschule durch die „Blicke“, die er in die Düsseldorfer Kunst- und Künstlerwelt that, – schrieb und veröffentlichte. Dieses für die betreffenden Verhältnisse wichtige und interessante Buch enthält namentlich die dankenswerthesten Mittheilungen über die künstlerische und menschliche Persönlichkeit des jungen Mannes, der hier, an der andern Seite des Tisches sitzend, zu ihm, dem Freunde hinüber blickt, C. F. Lessing’s.

Der große Künstler gehört bekanntlich derselben Familie an, die uns den unsterblichen Gotthold Ephraim Lessing gab. Durch eine außerordentlich späte geistige Entwickelung als Kind fast zu ernster Besorgniß Anlaß gebend, hatte er diese als Jüngling glänzend beschämt und stand mit zwanzig Jahren als ein Meister der Malerei da, dessen Ruhm sein „trauerndes Königspaar“, sein „Klosterhof im Schnee“ und manches andere aus dem tiefen Grund einer mit aller Poesie deutscher Romantik gesäugten, schwermuthvollen, lauteren Jünglingsseele erblühte Werk geschichtlicher und besonders landschaftlicher Kunst weit über des Vaterlandes Grenzen hinausgetragen hatte. Neben der Kunst galt seine Hauptneigung, so schien es, der Jagd, die ihn träumerisch, die Büchse im Arm im Felde und im geliebten grünen Forst „still und wild“ mit kaum geringerer Lust umherschweifen ließ, als die, welche ihm die Befriedigung eines stets regen und mächtigen künstlerischen Schaffensdrangs reichlich gewähren mochte. Die Jagdlust aber prägt entschiedener, als jede andere, ihrer Jünger äußere Erscheinung zu einer bestimmten charakteristischen Form aus, und nicht nur der kurze grüne Jagdrock des Malers, sondern die kühn gebogene echte Jägernase mit dem mächtigen blonden Schnauzbart darunter hätten den Fremden in dieser noch vom Militärdienst her straff gehaltenen soldatischen Gestalt weit eher das „Schooßkind Dianens“ als den Maler der zarten, träumerischen Schwermuth vermuthen lassen, aus welchem sich freilich noch der unvergleichliche Darsteller der großen vaterländischen Helden des freien Geistes und der erhabenen Tragödien der Erlösungskämpfe dieses letzteren entwickeln sollte.

Der Flügel an der Wand steht geöffnet. Vielleicht klingt eben jetzt schon des Capellmeisters Felix Mendelssohn leichter Schritt draußen auf den Kieswegen des Gartens, vielleicht bringt er den Director Wilhelm Schadow, Sohn und Hildebrandt mit von der Stadt heraus, und wenn draußen das Mondlicht auf den schweigenden Büschen liegt, die Blumen stärker duften und die Kerzen den traulichen Raum durchschimmern, tönen noch als Schlußaccord des schönsten Abends unter den beseelten Fingern des hochbegnadigten Tonmeisters jene Tasten im reizenden phantastischen Elfenreigen des Sommernachtstraums, der eben damals in seiner Seele reifte.

Fünf Jahre später (wenn ich diesen Abend in das Jahr 1834 verlege) stand dieser Salon von diesen Bewohnern und diesen Gästen verlassen. Die Freundschaft des Dichters mit der geistvollen Gräfin hatte das gewohnte Ziel jedes derartigen Verhältnisses, das künstlerische Männer für eine Zeitlang an bejahrtere Frauen fesselt, gefunden; die edle Dame hat vielleicht alle Qualen Charlottens von Stein in der eigenen Brust durchzumachen gehabt, sie aber jedenfalls mit besserer Fassung und ruhigerer Würde zu tragen verstanden als die tiefgekränkte Freundin Goethe’s. Immermann hatte sich dem ihr gegebenen Versprechen zum Trotz ohne ihr Wissen verlobt und einem jungen lieben Wesen und, nachdem 1839 die Gräfin ihn und Düsseldorf verlassen, sich in dem Herbst desselben Jahres vermählt: die Natur behauptete ihr unverlierbares Recht, der lange durchgefuhrten Verleugnung derselben und einer raffinirten Vergeistigung gegenüber. Er sollte sein junges Glück nicht lange genießen. Zehn Monate später am Geburtstag Goethe’s trug man den Dichter des Münchhausen zu Grabe! – Gräfin Ahlefeldt lebte inmitten eines geistreichen Kreises von hervorragenden Männern und empfindsamen hochgebildeten Damen bis zu ihrem 1855 erfolgten Tode in Berlin.

Grabbe hatte, von Krankheit und Unruhe verbittert und umhergetrieben, Düsseldorf 1836 wieder verlassen, um in demselben Jahr in seiner Vaterstadt Detmold das Ziel seines verwüsteten Lebens zu finden. In dem Gedicht, das der tieferschütterte Freiligrath diesem „Titanen der Schwäche“ wie ihn ein bekannter Literarhistoriker scharf, aber richtig würdigend bezeichnet, auf das Grab legte, hat er angesichts dieses Schicksals das berühmt gewordene Wort gefunden: „Das Mal der Dichtung ist ein Kainsstempel“ – eine Ansicht, von der ihn die Erfahrung des eigenen spätern Dichterlebens, dem sich gerade der Dichtung Gabe als das hohe Glück, als die Segen-, Trost- und Freudenquelle so reichlich erwiesen, sicher bekehrt hat. Herr von Uechtritz und Lessing sind allein übrig. Jener dichtete und dieser lebte und malte rüstig weiter bis auf diesen Tag. Unsern Lesern von dem, was er seit jenen Abenden in „Immermann’s Kreis“ geschaffen, erst noch erzählen zu wollen, wäre ein überflüssiges Unternehmen: sein Name und seine Werke leben im Herzen seines Volkes.

L. P.





Pariser Bilder und Geschichten.
Industrielle Ausbeutung der Thierwelt in Paris.
Von Ludwig Kalisch.

Man hat schon so viel über die menschliche Bevölkerung von Paris gesprochen! Ich will es versuchen, von dem Loos der Thiere in der Hauptstadt Frankreichs zu sprechen. Dieses Loos ist für die meisten derselben durchaus kein freundliches. Soll ich mit den Pferden beginnen? Für diese war Paris von jeher eine Hölle und wird gewiß auch künftig eine Hölle bleiben. Es hat sich an ihrem Schicksal nur das geändert, daß jetzt eine gewisse Anzahl von ihnen nach einem mehr oder minder mühseligen Lebenslauf verspeist wird. Sie haben ebenso wenig wie die Menschen durch diese gastronomische Neuerung gewonnen. Seit die Hippophagie ihre eifrigen Anhänger gefunden und sich mehrere Pferdemetzger in der Hauptstadt etablirt haben, schwebt mancher Pariser in steter Angst, den lebensmüden Droschkengaul, der ihn heute nach dem Bastillenplatz schleppt, vielleicht schon morgen im Magen herumschleppen zu müssen. Was treibt der Mensch in Paris nicht Alles, um essen zu können, und was wird in Paris nicht Alles gegessen! Wer übrigens einen Begriff von abgelebten, abgequälten Pferden haben will, der gehe an einem Sonnabend auf den Pariser Pferdemarkt. Es ist nicht selten, dort ein Pferd für zehn Franken verkauft zu sehen, und es ist möglich, daß der Käufer seine Voreiligkeit bereut. Nirgendwo in der Welt wird dem armen Pferde so viel zugemuthet wie in Paris.

Die Esel werden gleichfalls zu Zwecken der Küche verwendet. Aus ihrem Fleisch werden nämlich Würste fabricirt. Besonders lecker soll ihr Gehirn sein, woraus zu ersehen ist, daß in den Eselsköpfen mehr steckt, als sich die Philosophie träumen läßt. Eine bedeutende Rolle spielen in Paris die Eselinnen, deren Milch in gewissen Krankheiten so heilsam wirkt. Jeden Morgen sieht man diese munteren Thiere mit kleinen Glocken am Halse heerdenweise durch die verschiedenen Stadtviertel traben und vor den Häusern halten, wo ihre strotzenden Euter dem Siechen wohlthätigen Trank spenden. Trotzdem, daß die Eselinnen vor den Hausthüren gemolken werden, ist man doch nicht immer sicher, die Milch unverfälscht zu erhalten. Die melkende Person nämlich hat wohl zuweilen eine kleine mit einem Röhrchen versehene Wasserflasche im Aermel versteckt und läßt während des Melkens eine gute Dosis Wasser aus dem Röhrchen in die Milch träufeln.

Nicht blos wegen ihrer kostbaren Milch, sondern auch zum Theil als Zugthiere werden die Ziegen gehalten. In den elysäischen Feldern ziehen sie zu vieren und in glänzendem Geschirr an Kinderkutschen gespannt die frohen Kleinen und werfen bei schönem Wetter den Eigenthümern einen hübschen Gewinn ab, denn der Platz, kostet zehn Sous für eine Fahrt von einigen Minuten. Wie von den Menschen, verlangt man in Paris auch von den Thieren die möglichste Vielseitigkeit. Da ich von den Ziegen spreche, muß ich auch des Ziegenhirten Jacques Simon erwähnen, der seine aus zweiundfünfzig wohlgenährten Individuen bestehende Heerde dicht hinter dem Collège de France im — fünften Stocke weidete. Der Leser lache nicht; was ich behaupte, ist [217] buchstäblich wahr. Jacques Simon war als sechszehnjähriger Knabe nach Paris gekommen, hatte anfangs als Maurergehiilfe sich durchgeschlagen, wurde später Ausläufer bei einem Bankier, las viele Schäferromane, träumte von Menalkas, Tityrus, Damötus, Mopsus, Alphesiböus, Daphne, Chloe, Phyllis und wie sonst die Helden und Heldinnen heißen, die seit Theokrit und Virgil bis auf Geßner und Florian in allen Idyllen auftreten, und führte eines Tages eine Chloris heim, deren Augen sein Herz entzündet hatten. Nach zehn Monaten kam seine Gattin mit Zwillingen in die Wochen. Das war kein doppeltes Glück, sondern ein zweifaches Unglück, da Simon viel Mühe hatte, sich und sein Weib zu ernähren. Ein härterer Schlag sollte ihn ein Jahr später treffen. Die fruchtbare, ich hätte fast gesagt: die furchtbare Frau Simon wurde nämlich von Drillingen entbunden. Die Wöchnerin und die Kleinen waren sehr schwach, und da der Arzt den Genuß von Ziegenmilch anrieth, machten die Frauen aus der Nachbarschaft der armen Familie zwei Ziegen zum Geschenke.

Die Mutter starb jedoch bald mit den drei Neugeborenen und ließ Jacques Simon mit den Zwillingen und dem Ziegenpaar zurück. Simon miethete einen Speicher, wo er die Ziegen unterbrachte, deren Milch nun die Damen aus dem Stadtviertel abkauften. Die Zunahme seiner Kundschaft erforderte eine Ausdehnung seines Geschäfts. Sobald er nun eine genügende Summe zurückgelegt hatte, schaffte er sich eine neue Ziege an, bis er nach und nach eine vollständige Heerde auf dem Speicher hatte. Jeden Tag trieb er, als Schäfer gekleidet, seine Lieblinge aus, von denen jede ihren eigenen Namen trug. Seit einiger Zeit ist er und das Haus und die Straße verschwunden. Die Nachbarschaft wird aber nicht sobald den harmlosen Mann und seine Heerde vergessen, die jeden Tag fünf Treppen herabsteigen mußte, um frische Luft zu schöpfen. –

Ebenso ist Hunden und Katzen ein wichtiger Platz im Pariser Thierleben zugetheilt. Die ersteren sind in allen Racen und Spielarten vertreten. Besonders reich ist Paris an Luxushunden, und ich sah vor Kurzem auf dem Schooß einer Dame ein Havaneserhündchen, für das man ihr zweitausend Franken geboten hat. Die unnützen Bestien werden immer am theuersten bezahlt. Wie die Pferde werden auch die Hunde auf einem Markte, der sich auf dem Boulevard de l’Hôpital befindet, zum Verkauf ausgestellt. Dieser Markt wird auch wohl von vornehmen Damen besucht. Eine ganz eigenthümliche Industrie macht den Pariser Hundebesitzern viel Sorge. Nirgendwo nämlich ist die Hundedieberei so systematisch ausgebildet, wie in der Hauptstadt Frankreichs. Die Hundediebe bedienen sich zur Ausführung ihrer sträflichen Absichten eines unfehlbaren Mittels. In einem Zwerchsack, den sie auf dem Boden nachschleichen lassen, haben sie gewisse Substanzen versteckt, deren Geruch jeden Hund unwiderstehlich anzieht. Das Thier folgt dem Verführer, der, an einem einsamen Ort angelangt, es, wenn es zur ordinären Race gehört, sogleich abmurkst, wenn es aber ein Luxushund ist, lebend in den Zwerchsack steckt. Das Fett des getödteten Hundes wandert in die Fabrik, wo es in Thierschwärze verwandelt wird; was den Luxushund betrifft, so späht der Dieb im Stadtviertel herum, wo er den Diebstahl begangen, und sobald er an einer Ecke einen Zettel gewahrt, der in großen Buchstaben eine Belohnung dem redlichen Finder des verlorenen und genau signalisirten Hundes verheißt, übergiebt er das vierfüßige Corpus delicti einem seiner Freunde und Mitstrebenden, der sich beim Eigenthümer als redlicher Finder einstellt, die Belohnung in Empfang nimmt und mit dem Diebe theilt.

Die Katze ist das Lieblingsthier der Pariser. Die Pariser Katzen gehören fast sämmtlich der Angorarace an, sind von außerordentlicher Größe und nehmen sich mit ihrem langen seidigen Haar sehr stattlich aus. Sie sind auch viel sanfter als die deutschen Katzen und fehlen in keinem Pariser Hause. Man findet selten eine Concierge-Loge, die nicht eines dieser Thiere beherbergte. Sie werden ungemein verhätschelt, sind aber doch nicht sicher, eines natürlichen Todes zu sterben. Wenn die Nacht mit ihrem Sternenmantel die Erde umhüllt, lauert auf sie der schnödeste Verrath. Gar mancher hoffnungsvoller Kater verläßt die angenehme Zimmerwärme, um ein Schäferstündchen zu feiern, zahlt aber seinen kurzen Liebeswahn mit seinem Leben. Es giebt nämlich in Paris Individiuen, die von der Katzenjagd leben. Jeden Abend gehen sie, von einem zu dieser Jagd wohlabgerichteten Hunde begleitet, durch vereinsamte Straßen, und wo sich eine Katze blicken läßt, wandert sie schnell in’s Jenseits. Ihr Fell wird dem Kürschner verkauft; die anderen sterblichen Ueberreste werden zu irgend einem Speisewirth im Faubourg getragen, der sie seinen Gästen in einer unbeschreiblichen, reich mit Zwiebeln versehenen Sauce als Kaninchen vorsetzt. Sind denn aber die Kunden so leichtgläubig? Giebt es Niemanden unter ihnen, der trotz der unerforschlichen Sauce und der heuchlerischen Zwiebeln unwiderlegbarere Beweise als die Versicherung des Wirthes begehrt, daß ihm ein wirkliches Kaninchen vorgesetzt wird? Freilich giebt es solche Skeptiker, aber auch diese werden hinters Licht geführt und zwar auf folgende Weise. Der Katzenjäger, der mit den Fellen seiner Erschlagenen handelt, treibt auch einen Handel mit Kaninchenfellen. Er bezahlt dieselben den Köchinnen seines Stadttheils etwas theuerer, unter der Bedingung jedoch, daß sie mit den Fellen ihm auch die Kaninchenköpfe zuschicken. Diese Kaninchenköpfe spazieren zugleich mit den Katzenleibern zum Speisewirth. Jede Katze wird dann mit einem Kaninchenkopf servirt, so daß selbst der ungläubigste Consument anbeißt. Gewiß ist es schon vorgekommen, daß ein armer Teufel, der das plötzliche Verschwinden seiner Katze betrauerte, ohne es zu ahnen, mit den Ueberresten der theuren Freundin seinen Hunger stillte. Schmeckt denn aber Katzenfleisch wie Kaninchenfleisch? Naive Frage! Hat noch kein Heuchler durch süße Redensarten Dein Herz betrogen? hat noch kein Redner, kein Schriftsteller durch künstlich zugespitzte Sophismen Deinen Geist berückt? Nichts sieht der Wahrheit ähnlicher, als die Lüge. Wäre das nicht der Fall, so würde diese gewiß nicht jener so oft den Rang streitig machen. Wie das Herz und den Geist, kann man auch den Magen leicht hintergehen, wenn man sich einigermaßen geschickt anstellt. Wie in der Literatur, ist auch in der Küche nichts verrätherischer, als eine scharf gewürzte Sauce.

Die zahlreichsten, wenn auch sicherlich nicht die beliebtesten Thiere in Paris sind die Ratten. Sie stecken in allen Gossenrinnen und es bleibt kaum ein Haus von ihnen verschont. Sobald die Nacht gekommen, huschen sie zu Tausenden aus ihren Schlupfwinkeln und suchen ihre Nahrung auf den Kehrichthaufen und unter den Abfällen vor den Hausthüren. Bei diesen Ausflügen büßt gar manches dieser Thiere das Leben ein, denn die Pariser machen beständig Jagd auf die widerwärtigen Nager. Aber trotz aller Verfolgungen durch Feuer und Wasser, durch Hunde, Gift, Fallen und Knüttel, vermehren sich dieselben so sehr, daß ein ausgerottetes Thier bald durch mehrere ersetzt wird. Nun, die Ratte wird ebenfalls von der Industrie ausgebeutet. Man erlegt sie nicht nur im Großen und verkauft ihre Felle, sondern sie werden auch gefangen und müssen sich zu wüthenden Kämpfen hergeben. Sehr wenige Leute wissen, daß, wie in London, auch in Paris Rattenkämpfe stattfinden. Es giebt nämlich Individuen, welche die eingefangenen Ratten nähren und dann mit einem paar Dutzend derselben und mit einigen abgerichteten Hunden sich zu den Liebhabern begeben, wo die Ratten freigelassen werden und gegen die Hunde den blutigen Strauß zu bestehen haben, der ihnen trotz ihrer heldenmüthigen Vertheidigung immer das Leben kostet. Gewöhnlich wird ein solches Schauspiel in den Ateliers der Thiermaler gegeben, und der Impresario der unglückseligen vierfüßigen Truppe reichlich belohnt. –

Sprechen wir jetzt von den Vögeln und beginnen wir mit dem Kanarienvogel, der ein Liebling der Pariser und besonders der Pariserin ist. Das Hagestolzenthum jeder Classe, namentlich der arbeitenden, sucht in diesem gefiederten Sänger einen angenehmen heiteren Gesellschafter. Wer in Paris ohne Familie lebt, fühlt sich hier mehr vereinsamt als – London etwa ausgenommen – irgendwo. Die Ouvrière, die im Dachkämmerchen vom frühen Morgen bis spät in die Nacht arbeitet oder früh ausgeht und Abends in ihre enge, dunkle Zelle zurückkehrt, spart sich’s oft am Brod ab, um einen Kanarienvogel hegen zu können. Es giebt nicht nur Vogelhändler in allen Theilen der Weltstadt, sondern es befindet sich hier auch ein Vogelmarkt, der an Sonn- und Feiertagen sehr lebhaft besucht wird. Da werden nicht nur europäische, sondern auch tropische Vögel verkauft und getauscht. Die ärmere Classe begnügt sich mit Kanarienvögeln, Rothkehlchen, Hänflingen und was sonst um einen billigen Preis trillert und zwitschert. Man hat in Paris sogar mehrere Vogelerziehungsanstalten, wo vorzüglich Kanarienvögel trefflichen Gesangunterricht erhalten und es bei einigem Talent in kurzer Zeit weiter bringen, als die Zöglinge des Conservatoriums. Der Unterricht dauert etwa zwei Monate und kostet zehn Sous wöchentlich. [218] Diese Anstalten befinden sich in den Arbeitervierteln, wo die Vorliebe für Singvogel besonders stark ist.

Freilich nicht Jeder kann auf diese Vorliebe so viel Zeit und Kosten verwenden wie der vor einigen Jahren in Paris verstorbene Kämmerling Seiner Allergetreuesten Majestät des Königs von Portugal, Gama Machado, dessen Testament einen der merkwürdigsten Processe veranlaßte. Herr Machado hatte das Studium der Vögel zu seinem Lebenszwecke gemacht. Er beobachtete ihren Instinct, ihre Vervollkommnungsfähigkeit, ihre Eigenarten und unterhielt in seiner Wohnung auf dem Quai Voltaire unzählige Vögel aus allen Himmelsstrichen. Er schrieb einige ausgezeichnete Artikel über die zarten Geschöpfe und stand in beständigem Briefwechsel mit den berühmtesten Ornithologen, die von ihm mancherlei lernten und ihn deshalb sehr hoch schätzten. Man kann sich leicht denken, daß der Unterhalt dieser Thiere bedeutende Ausgaben verursachte, da jedes derselben einer besondern Pflege, einer eigenthümlichen Nahrung, einer ihm zusagenden Temperatur bedurfte. Sie verlangten auch einen großen Aufwand von Zeit und Mühe, und Herr Machado hätte gewiß seiner Lieblingsneigung entsagen müssen, wenn er nicht in seiner Haushälterin Elisabeth Perrot eine Gehülfin gefunden hätte, welche über vierzig Jahre unausgesetzt die zwitschernden, pfeifenden, plaudernden, kreischenden Zöglinge treulichst pflegte und dabei ihre Gesundheit opferte. An einem Junimorgen 1861 starb der Kammerherr. In seinem mit nicht weniger als dreiundsechszig Codicillen versehenen Testamente hinterließ er der genannten Haushälterin eine Jahresrente von dreißigtausend Franken mit der Verpflichtung, den hinterlassenen Vögeln die gewohnte Sorgfalt angedeihen zu lassen. Das Begräbniß des Kammerherrn war höchst sonderbar. Er hatte in seinem Testamente den Wunsch ausgesprochen, Punkt drei Uhr bestattet zu werden. Als sich nun um drei Uhr der Leichenzug in Bewegung setzte, hinter welchem, beiläufig gesagt, ein Lieblingsstaar des Verblichenen im Käfig nachgetragen wurde, kam eine dichte Schaar in tiefe Trauer gehüllter Leidtragender aus dem benachbarten Tuileriengarten herbeigeschwärmt. Es waren dies die Raben, denen Herr Machado gewöhnt war, täglich Punkt drei Uhr mehrere Schüsseln gehackten Fleisches vor seinem Fenster serviren zu lassen, und damit dieselben Zeugen seiner Bestattung seien, hatte er diese auf die genannte Stunde festgesetzt. Das Testament wurde nun von des Kammerherrn Verwandten angegriffen, welche die Pension von dreißigtausend Franken für die Pflege unvernünftiger Thiere übermäßig fanden. Das Tribunal entschied jedoch für die Aufrechthaltung des Testamentes. –

Die reiche und vornehme Classe kauft besonders Papageien. Dieselben werden, wenn sie gute Redner sind, sehr theuer bezahlt. Daß die Papageien ein sehr hohes Alter erreichen, ist bekannt. So erzählt Alexander von Humboldt, daß er in Südamerika einen sehr geschwätzigen Papagei gesehen, dessen Sprache kein Mensch mehr verstand, weil diese von einem Stamm gesprochen worden, der bereits von der Erde verschwunden war. Ich habe auf dem Pariser Vogelmarkt Papageien gesehen, an deren Geplauder man vergleichende Philologie studiren konnte. Ich bin sogar einem begegnet, der deutsch sprach. Er schien indessen keine sonderlich feine Erziehung genossen zu haben, denn er begrüßte Jeden, der sich seinem Käfig näherte, mit dem wenig schmeichelhaften Ruf: „Dummkopf! Esel!“ Als ich diese Heimathsklänge vernahm, bekam ich Heimweh. Die Papageien stoßen auch Namen von Männern und Frauen aus, die vielleicht schon vor mehreren Menschenaltern das Zeitliche gesegnet. Einige, die vieler Herren Länder gesehen, sprechen wohl mehrere Sprachen durcheinander. Solche Worte und Namen sind nicht immer eine Empfehlung. Als ich einst in Havre die Quais durchwanderte, sah ich vor einer Matrosenkneipe einen prachtvollen Papagei, der unter allerlei putzigen Bewegungen und Geberden beständig „0 Ciel!“ und „Mon Dieu!“ rief. Ein Matrose, der die Kneipe verließ, nahete sich dem Thiere und richtete an dasselbe mehrere Worte, die stark nach Schiffstheer rochen. Da trat die Wirthin heraus und wies den Matrosen mit der Bemerkung zurecht, daß der Papagei für ein Frauenkloster in Paris bestimmt sei; sie habe ihn deshalb nur fromme Worte ausstoßen gelehrt, man würde aber das Thier nicht kaufen, wenn es unanständige Ausdrücke hören ließe, und sie würde dadurch einen bedeutenden Verlust erleiden.

Ein sehr glückliches Leben führen die Vögel im Tuileriengarten. Die kleinen Rentiers, die jeden Tag so viel Stunden todtschlagen müssen, füttern dort die Spatzen und die Tauben. Letztere sind so gefräßig, daß oft Dutzende von ihnen durch Ueberfütterung am Schlagfluß sterben. Sonderbarer Tod in einer Stadt, wo Tausende der begabtesten Menschen unablässig schaffen und sorgen müssen, daß sie nicht durch das Gegentheil dem Tod in die Arme fallen!

Paris ist auch die Hochschule für Thiere aller Art. Es werden hier die verschiedensten Säugethiere, die verschiedensten Vögel zu Kunststücken abgerichtet. Die Hunde und unter ihnen die Pudel werden besonders zu Künstlern ausgebildet, aber auch Hasen und Kaninchen produciren auf öffentlichen Plätzen in den Arbeitervierteln ihre Talente. Von den gefiederten Thieren sind es die Finkenarten, die Kanarienvögel, die Stieglitze, die Dompfaffen, die ihre Geschicklichkeit bewundern lassen. Früher waren es alte Soldaten, die sich mit der Abrichtung von Thieren beschäftigten; jetzt wird diese brodlose Kunst in Paris viel weniger ausgeübt, da ein großer Theil der alten Straßen niedergerissen und in den neuen vornehmen Straßen die Bevölkerung nicht naiv genug ist, um sich an solchen Vorstellungen zu ergötzen.

Ich darf in dieser Skizze die Thiere im Pariser Pflanzengarten nicht vergessen. Obgleich diese keine andere Bestimmung haben, als im Dienste der Wissenschaft gefüttert zu werden, so ist ihr Loos doch keinesweges ein beneidenswerthes. Sie erhalten nicht nur ihre Nahrung auf Kosten ihrer Freiheit, sie sind noch obendrein so eng zusammengepfercht, daß sie bald hinsiechen. Die Stärke eines Löwen oder Tigers widersteht nicht lange der Gefangenschaft und keines der reißenden Thiere erreicht im Jardin des Plantes ein hohes Alter. Ihre Nahrung ist eben auch nicht sonderlich. Sie werden, nebenbei gesagt, zum Theil mit confiscirtem Fleisch genährt. Was nämlich auf den Pariser Fleischmärkten von der Pariser Polizei als untauglich befunden wird, schickt man sogleich nach dem Pflanzengarten. Die grasfressenden Thiere, besonders die Hirsch- und Gazellenarten, verkümmern bei dem ihnen so kärglich zugemessenen Raum noch schneller. Die Gazellen zumal, diese anmuthigsten aller Vierfüßler, erlahmen nach kurzer Zeit und schleppen sich mit verbogenen Beinen mühsam einher.

Auch der Affen muß ich hier erwähnen, für die einst Thiers im Pflanzengarten eigens einen aus Gußeisen bestehenden Rundbau errichten ließ, der unter dem Namen „Palais de singes“ (Affenpalast) sehr populär ist und vor welchem sich täglich Jung und Alt versammelt, um sich an Purzelbäumen der Vierhänder zu ergötzen, denen der Mensch so ähnlich sieht. Nach der Behauptung einiger Naturforscher stammt die Menschheit von den Affen ab. Adam und Eva sind Chimpanses gewesen, die im Paradiese lustig auf den Zweigen herumsprangen. Die heutigen Affen sind in der Cultur zurückgeblieben, während die Menschen rüstig fortgeschritten. So behaupten die Gelehrten; die Affen behaupten vielleicht das Gegentheil.

Neben dem Pflanzengarten ist auch der Acclimatisationsgarten zu nennen, der vor einigen Jahren von einer Privatgesellschaft in Boulogner Gehölz angelegt worden ist und von dem Pariser Publicum sowie von den Fremden sehr stark besucht wird. Dort befindet sich auch ein hübsches Aquarium, das indessen hinter dem vor Kurzem geschaffenen auf dem Boulevard Montmartre weit zurücksteht. Der Pariser, der kaum über das Weichbild der Stadt hinauskommt, kann nun in einem Glaskasten ein Stück Ocean und dessen vielbewegtes Thierleben anstaunen. Die Bewohner der Meerestiefen haben es sich gewiß nicht träumen lassen, daß sie einst in einer Pensionsanstalt auf den Boulevards vor einem sehr gemischten Publicum sich ihren Tafelfreuden hingeben würden. In diesem Aquarium werden besonders die Polypen, die seit Victor Hugo’s „Travailleurs de la mer“ die allgemeine Neugierde erregen, mit ganz besonderm Interesse betrachtet. Dieses ungeheuerliche Thier hat einen starken Appetit und scheut kein Mittel, um ihn zu befriedigen. Die Pariser sahen sogar jüngst zu ihrem nicht geringen Erstaunen, daß eines dieser Thiere seinen Genossen ohne alle Gemüthsbewegung verschluckte. Die Existenz der Meerbewohner erinnert die Pariser an ihre eigene Existenz. Paris ist ebenfalls ein Ocean, wo Jeder nur an sich denkt und der Selbsterhaltungstrieb oft unter den Allernächsten die zu verschlingenden Opfer sucht.



[219]

Die Majestät an der Ziehflasche.

Aus dem zoologischen Garten zu Dresden.

Thiere sind, sagt Hippel, unsere Grenznachbarn. Die Grenzregulirung des Thierreichs hat den Naturphilosophen viel Kopfzerbrechen gekostet. Während die Philosophen des Alterthums, Aristoteles, Plinius, begeistert von den Seelenthätigkeiten der Thiere sprechen, nennt Descartes letztere Maschinen ohne irgendwelchen Verstand und Empfindung. Der Mensch, der so gern, als Herr der Schöpfung sich fühlend, mit souveränem Stolz auf Alles herabsieht, was fliegt und kriecht, wird bald von diesem Wahne und seinen schlimmen Folgen geheilt, wenn er herabsteigt zu dem Thiere und sich die Mühe nimmt oder, richtiger gesagt, das Vergnügen macht, sein Thun und Treiben aufmerksam zu betrachten. Er wird dann zu der Einsicht gelangen, daß es jedenfalls tausend Menschen giebt, die weit mehr Maschinen sind als Thiere, und tausend Menschen, statt deren Gesellschaft man lieber, ohne als Misanthrop zu erscheinen, die Gesellschaft harmloser Thiere wählt. Die neuere Naturwissenschaft, welche die Thierwelt nicht mehr blos von der Studirstube aus beschreibt, ist zu einer unparteiischeren, richtigeren Erkenntniß des geistigen Verhältnisses des Menschen zum Thiere wieder gelangt, welches Verhältniß Scheitlin treffend in die Worte zusammengefaßt hat: "Alles Thier ist im Menschen, aber im Thier ist nicht aller Mensch."

In der Liebe des Thieres zu seinen Jungen, in der Anhänglichkeit, womit dasselbe für seines Gleichen entbehrt und arbeitet und kämpft, liegt eine gewisse Sittlichkeit. So überraschend und rührend aber auch oft die Züge sind, welche nach dieser Richtung hin das Thier dem Menschen näher rücken, so werden wir doch immer der Thierwelt gegenüber daran erinnert, daß dieselbe von der bewußten Kindesliebe des Menschen weit entfernt bleibt, denn sobald sich der Fortpflanzungstrieb wieder einstellt, existiren die Jungen nicht mehr für das alte Thier. Aus diesem Grunde mußte man im zoologischen Garten zu Dresden die im August vorigen Jahres geworfenen Löwenzwillinge schon in den ersten Wochen von der Alten entfernen und, um sie vor der letzteren Mißhandlung zu schützen, in einem anderen Käfig unterbringen. In einem früheren derartigen Falle hatte man eine Hündin als Amme bestellt, der junge Löwe war jedoch dabei eingegangen. Man beschloß, diesmal die Thiere mit Kuhmilch mittels der Flasche aufzuziehen, und bediente sich hierzu einer gewöhnlichen Kindertrinkflasche mit Gummisauger, welche die Thiere auch, nach kurzem Widerstreben, sehr schnell willig und gern annahmen.

Die Art der Fütterung, das Aufbäbeln, mit der wilden Löwennatur in der Idee wenigstens so grell contrastirend, hatte etwas Komisches, und immer fanden sieh zahlreiche Zuschauer zu diesem Lustspiele ein. Die Thiere, jungen Fleischerhunden nicht unähnlich, liessen ihr Spiel, liefen unruhig hin und her, wenn die Stunde der Fütterung kam, knurrten und winselten und richteten sich am Gitterwerk auf, wie die Hunde mit den Vorderpfoten bettelnd. Reichte ihnen dann der Wärter die Flasche, so legten sie sich ruhig hin, nahmen, ohne den Hals der zerbrechlichen Glasflasche durch irgend eine Tölpelei zu gefährden, einer nach dem andern den Sauger regelrecht in das Maul und liessen es sich wohlschmecken. Sie vertilgten zusammen täglich schließlich gegen neun Kannen Milch. Es muß dahinstehen, inwieweit die Milch frommer Denkungsart der Löwennatur bekommt; bis jetzt, im achten Monat ihres Lebens, in welchem die Thiere bereits Kaninchenfleisch erhalten, haben sie sich ganz wohl dabei befunden. Die gefährlichste Periode im Löwenleben ist die ungefähr mit dem achten Lebensmonat anhebende Periode des Zahnens, die meisten und zwar besonders die männlichen Löwen gehen darüber zu Grunde; nicht blos in der Gefangenschaft, auch in der Freiheit. Im Allgemeinen giebt es viermal soviel weibliche Löwen, als männliche, obschon durchschnittlich nicht weniger Löwen als Löwinnen geboren werden. Man will diese Erscheinung auch durch die tödtlichen Kämpfe erklären, mit denen die Männchen, um die Gunst der Löwinnen werdend, sich befehden.

Die hier von Leutemann ’s geschickter Künstlerhand portraitirten Löwen sind übrigens nicht die ersten ihres Geschlechts, welche im Dresdner Garten geboren worden sind. Gegen neun Stück haben bereits in der kurzen Zeit, seit welcher unser zoologischer Garten besteht, hierselbst das Licht der Welt erblickt. Der größere Theil davon ist gediehen, verkauft und pro Stück mit fünf- bis achthundert Thalern bezahlt worden. Auch die unnatürliche Löwenmutter, von welcher die abgebildeten Zwillinge abstammen, ist eine Eingeborene des Gartens. In einem früheren Wochenbette zeigte sie sich getreuer ihrer Mutterpflicht. Als sie nach vier Wochen die Wochenstube verlassen und ihren gewöhnlichen, dem Publicum zugänglichen Käfig wieder beziehen sollte, setzte sie sich diesem Ansinnen entgegen und trug die Jungen, sobald sich eines herauswagte, ängstlich in den dunkeln Verschlag zurück. Sie säugte die Jungen gegen neun Monate lang. Die Löwenmutter mit ihren Kindern, wenn diese wie Kätzchen munter miteinander spielten, während die Alte mit geruhiger Würde an dem kindlichen Treiben sich erfreute, bot ein überaus fesselndes Familienbild. Ueberhaupt ist zur Ehre des Löwengeschlechtes noch zu bemerken, daß Pflichtvergessenheit, wie die hier in Betracht kommende, immmerhin eine Ausnahme von der Regel ist. Man hat in der Gefangenschaft, in Thierbuden selbst, da es nichts Seltenes ist, daß eine Löwin hier Junge wirft, oft beobachtet, daß die Löwin für letztere die größte Zärtlichkeit zeigt. In der Freiheit soll die Löwin, so lange die Jungen saugen, höchst selten das Lager verlassen; der Löwe sorgt für die Nahrung und schützt sie und ihre Jungen mit großer Aufopferung. Er lebt, indem er lange Zeit noch bei der säugenden Löwin bleibt, gewissermaßen mit dieser, was kein anderes Raubthier thut und welcher Zug geistigen Wesens — wie Brehm in seinem trefflichen „Thierleben“ sagt — den Löwen allein schon groß macht.

Neben dem Leben des Löwen hatten wir kürzlich auch sein Sterben zu beobachten im Dresdner Garten eine Gelegenheit. Das kranke sterbende Thier, der Fall der Kraft, die Majestät und Schrecken athmete und jetzt, vom Giftpfeil tödtlicher Krankheit getroffen, gebrochen einem Mächtigeren unterlag, bot einen traurigen, ja fast tragischen Anblick dar. Es war eine Lungenkrankheit, welche das Thier hinraffte, die Krankheit, welcher von tropischen Thieren in der Regel am schnellsten die Affen, weniger sonst die großen Katzen in unserem Klima zum Opfer fallen. Auf letztere, auf Löwen und Tiger, äußern unsere klimatischen Verhältnisse durchaus nicht den nachtheiligen Einfluss, den man wenigstens früher anzunehmen pflegte: Man kennt Fälle, daß Löwen in europäischer Gefangenschaft gegen sechszig Jahre gelebt haben; freilich muß immer zugestanden werden, daß sie auch bei der besten Pflege ziemlich früh altern und viel von ihrer ursprünglichen Schönheit einbüßen. Wie auf ihre Lebensdauer, ebenso scheint auf ihre Fortpflanzung die Gefangenschaft in unserem Klima keinen nachtheiligen Einfluß auszuüben. Vor zwei Jahren hat in England die Löwin Alexandra in Mander’s bekannter Menagerie neun Junge geworfen, ein in der Naturgeschichte des Löwen höchst seltener Fall von Fruchtbarkeit.

Die Löwenbekanntschaft der Dresdner ist nicht von heute und gestern. Schon in früheren Jahrhunderten wurden in Dresden Löwen, der Kampfspiele wegen, gehegt. In einem kurfürstlichen Befehle vom Jahre 1554 wird angeordnet, daß auf der Elbbrücke ein Bau „zu Behaltung etzlicher Löwen“ ausgeführt werden sollte. Dieses Löwenbehältniß, das dem Befehle gemäß hergestellt wurde, befand sich angeblich unter dem ehemaligen Brückenwächterhäuschen und diente wirklich seiner Bestimmung, denn bei einem 1558 im Schloßhofe abgehaltenen Kampfjagen wird der „Brückenlöwen“ gedacht. Die Thiere wurden später umquartiert in das 1612 erbaute Löwenhaus auf der Schössergasse und 1722 nach Neustadt in den Jägerhof. Das Löwenhaus auf der Schössergasse mit einem viereckigen, niedrigen Thurme, „in welchem unterschiedene Arten rarer wilder Thiere in absonderlich dazu gemachten Behältnissen oder Fängen verwahrt wurden“, ward erst 1834 abgetragen. Im Jägerhof, unter August des Starken Regierung, spielte eine der zahlreichen Löwengeschichten, welche Lenz berichtet. Er erzählt: Ein Wärter stand mit dem Löwen, der seiner Fürsorge anvertraut war, im besten Einvernehmen und pflegte stets das Futter in den Käfig hinein zu bringen und dem Thiere vorzusetzen Gewöhnlich trug der Wärter dabei eine grüne Jacke. Eines Tages ging der Wärter zur Kirche und hatte sich dazu schwarz gekleidet. Nach der Kirche brachte er, noch in dieser Kleidung, dem Löwen Futter. Die ungewöhnliche Kleidung befremdete das

[220]

Beim Frühstück.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

Thier, es stutzte, sprang unwillig auf und schlug seine Pranken um die Schulter des Mannes. Dieser redete ihm sanft zu, und die bekannte Sprache brachte auch den Löwen halb zur Besinnung. Zweifel durchkreuzten seine fürchterlichen Mienen, doch ließ er nicht los. Leute, welche dazukamen, holten die Wache, und einige Mann derselben erboten sich zu schießen, da kein anderes Mittel, dem Löwen beizukommen, sich zeigen wollte. Der Wärter, der den Löwen lieb hatte und denselben schonen wollte, bat noch zu warten und glaubte allein mit dem Löwen fertig zu werden. Wohl eine Viertelstunde capitulirte er mit seinem fürchterlichen Feinde, der schlechterdings nicht losließ, wild die Mähne schüttelte und mit dem Schweif sich peitschte, während sein Auge unheimlich aufblitzte. Endlich konnte der geängstigte Mann die fürchterliche Situation nicht mehr ertragen; er bat, man solle schießen. Die Musketiere legten durch das Gitter, an und trafen den Löwen so, daß er auf der Stelle zusammenstürzte. Aber fallend hatte er im Todeskampfe Arm und Rückgrat des Wärters zerquetscht und zerbrochen. Beide lagen todt da.

C. Clß.


Der Präsident auf der Anklagebank.
Von einem Augenzeugen.

Wenn je durch die beglaubigten Jahrtausende der Geschichte des Menschengeschlechtes eine Nation schwer, ja, man kann wohl sagen, grausam für ein einmal begangenes Unrecht, für einen Principienverrath bestraft worden, so ist es die amerikanische; wenn je der schauerliche Fluch des alten Judengottes, „daß die Sünden der Väter bis in’s dritter oder vierter Enkelglied hinab gerächt werden sollen,“ wie die orakelartigen Worte unseres deutschen Dichterlieblings über das Fortwuchern der „bösen That“ irgendwo [221] zur Wahrheit geworden, so ist es in den Vereinigten Staaten geschehen. Die Väter der Republik erkauften, in dem nicht gerechtfertigten Wahne, daß die Sclaverei bald aussterben werde, die Einigkeit, indem sie die Freiheit dafür hingaben, und die Nation büßt das Vergehen mit einem mehr als siebenzigjährigen Despotismus der Sclavenhalter, mit einer alle Classen durchdringenden Corruption, mit Kriegen im Interesse der Sclaverei geführt, mit dem Hinschlachten von einer halben Million Menschen im Secessionskriege, mit einer Schuldenlast von nahezu dreitausend Millionen Dollars, mit tausend- und aber tausendfachem Morde der braven Unionsleute und armen Schwarzen im Süden, mit Verarmung, Geschäftsstockung und Sinken des Nationalcredites, dem Assassinate ihres geliebten Präsidenten und mit der Schmach und dem Unglücke, einen Menschen wie Andreas Johnson seine Stelle einnehmen zu sehen.

Andreas Johnson, der nordcarolinische Schneider, der sich bis zum Senator von Tennessee aufgeschwungen, dem sein Feuereifer gegen die Secessionisten (die südstaatlichen Sonderbündler) und seine beredte Vertheidigung der Union die Ernennung zur zweiten Stelle in der Republik eingetragen, dessen bescheidene Geburt und frühere beschränkte Verhältnisse nur dazu dienten, in dem Volke noch annehmbar zu machen - denn das amerikanische Volk liebt es, der Welt zu zeigen, daß bei ihm auch der Geringste sich durch Tugenden und Verdienste zu den höchsten Aemtern aufschwingen kann - , er, der als Militär-Gouverneur von Tennessee mit Feuer und Schwert gegen die Secessionisten gewüthet und den Schwarzen Zutheilung von confiscirten Ländereien versprochen und ihr Moses zu sein sich erboten hatte, - dieser Mann wurde mit der nicht unterdrückten Befürchtung gewählt, daß er dem Süden gegenüber zu unversöhnlich und hart auftreten würde. Und als was hat er sich ausgewiesen? Die Weltgeschichte kennt kaum einen Menschen von größerer Tücke und Heuchelei, von ärgerer Verlogenheit, von einer größeren politischen Nichtswürdigkeit! Nichts, was er der Sache der Freiheit und der Union versprochen, hat er gehalten, Alles, was er im feierlichen Reden den Schwarzen zugesagt, hat er ihnen vorenthalten oder zu hintertreiben gesucht, fast sämmtliche Verräther hat er begnadigt, jeden Despotismus hat er versucht! Wie aber ist dies anscheinende psychologische Räthsel zu erklären? Es sei mir gestattet, diese Erklärung zu versuchen, und zwar umso mehr, als auch in Deutschland, wie ich die Sache auffasse, die Elemente zum Erzeugen von Johnsons vorhanden waren und wohl noch sind und als auch vor fast zwanzig Jahren angehende Johnsons sich vorfanden und vielleicht noch jetzt sich vorfinden. Möge Deutschland nie der Fluch treffen, ihnen eine einflussreiche Stelle anvertraut zu sehen!

Um den Mann Johnson ganz kennen zu lernen, den Mann, der in einem Sclavenstaat in Armuth geboren, aus einer dem so genannten "weißen Schund" angehörigen Familie stammend, seinen ganzen glühenden Haß nicht dem Institute der Sclaverei, sondern den Sclavenhaltern zuwandte, der wie alle Unterdrückte eine Genugthuung darin fand, eine Menschenrace, die noch tiefer stand, als er, die Schwarzen, mißhandeln zu können, wie er selbst mißhandelt wurde - um diesen Mann kennen zu lernen, um die Geduld des amerikanischen Volkes vollständig zu ermessen und um jeden Leser der Gartenlaube in den Stand zu setzen, für sich selbst als Mensch und als ein aus dem Gesammtverbande der Menschheit berufener Geschworener mit voller Sachkenntnis zu urtheilen, muß ich etwa drei Jahre zurückgehen zu dem Momente, als er, von der republikanischen Partei mit Lincoln gegen die demokratischen Candidaten General Mac Clellan und Pendleton erwählt, sich anschickte, Nashville, die Hauptstadt von Tennessee, zu verlassen, um der Einsetzung Lincoln’s und seiner selbst im Capitole zu Washington am 4. März 1865 beizuwohnen.

Den Abend vor seiner Abreise sagte er im Vertrauen zu einem Freund: „Alles ist im Wirrwarr, und Ordnung kann nur durch die Demokratische Partei (zu der er früher gehörte) hergestellt werden.“

Also dieselbe Demokratische Partei, die den ganzen Krieg und Wirrwarr veranlaßt, die alles Mögliche während desselben gethan hatte, um den Süden siegreich daraus hervorgehen zu lassen? Den nämlichen Gedanken sprach er auf seiner Durchreise in Cincinnati einem dortigen Richter und Lichte der Demokratischen Partei aus.[1] Er bereitete demnach absichtlich die Rebellen und ihre Freunde heimlich auf seinen Verrath vor und ermuthigte sie zum Widerstande, während er vor der Welt sich als blutgierigen Rebellenfresser geberdete.

Der 4. März 1865 tagte; die Einsetzung sollte stattfinden, Lincoln sollte das Steuer wieder übertragen werden, das die amerikanische Nation seinen getreuen Händen für vier weitere Jahre anvertrauen wollte. Johnson, der nordcarolinische Schneider, sollte das hohe Amt des Vicepräsidenten antreten und dadurch den Triumph einer dem Herzen jedes Arbeiters theuren Idee verwirklichen. Er war der Repräsentant einer durch Vorurtheil verachteten Classe. Seine Hand war mit einem der bescheidensten Handwerke beschäftigt gewesen. Ihm stand weder Reichthum, Erziehung, noch gesellschaftliche Bildung zur Seite. Er hatte angefangen, lesen zu lernen in einem Alter, in dem die meisten jungen Leute in Amerika ihre volle wissenschaftliche Ausbildung erhalten haben und die Collegien verlassen. Alle diese Schwierigkeiten überwindend, war er von Stellung zu Stellung gestiegen bis zur zweitem im Bereiche der Republik. Jeder Arbeiter fühlte sich erhoben in seiner Erhebung, denn sie bewies, daß in dem freien Amerika die allerhöchste Stelle für den Niedrigsten zugänglich war. Und wie faßte er diesen Moment auf? Vor einem Schnapstische betrank er sich, wagte es, sich in zweideutigen Scherzen über Frau Lincoln („die aufgedonnerte Königin“) zu ergeben, die er in den Saal zu führen hatte, schwankte in den Congreß hinein und hielt eine unwürdige Rede, in der er den wohlfeilen Muth hatte, den Repräsentanten der fremden Mächte Ungehörigkeiten zu sagen und ihnen die Faust drohend entgegen zu strecken. Das war der Repräsentant der Arbeiter! „Seht hin,“ so konnte jeder ihrer Feinde ausrufen, „auf euren Vertreter, auf euren hochgestellten Plebejer, auf euren Schneider-Senator! Das ist die Folge eurer demokratischen Institutionen. Ein Bauer bleibt ein Bauer. Die Fähigkeit zu regieren rollt nur in den blauen Adern von Herren, wie wir sind, die aus den Schenkeln von Königin entsprossen sind. Das sind die Früchte der Demokratie!“

Das amerikanische Volk verzieh diese Schmach, aber es begrub sie in das Innerste seines Herzens und, stolz auf sein Land und über Alles stolz auf den Namen eines amerikanischen Gentleman, wurde es jedes Mal roth, wenn es sich daran änderte, daß der betrunkene Vicepräsident die fremden Gesandten mit der Faust bedroht und sie wegen ihrer aristokratischen Geburt verhöhnt hatte. Es kam der 22. Februar 1866, der Geburtstag des „Vaters des Vaterlandes“, der zweithöchste Festtag des amerikanischen Volkes. Präsident Johnson erschien in den Straßen der Hauptstadt, umgeben von ihrem Pöbel und denen, welche die Ermordung seines edlen Vorgängers mit Jubel begrüßt hatten, von denen, die während vier Jahren die Freiheitskämpfer des Nordens in der Schlacht, in den gefangenen Höhlen, in Wald und Feld gemordet hatten, und klagte den Congreß als Usurpatoren an, während er den hohen Greis Stevens, den Führer des Hauses, und den verdienten Senator Sumner als Gegenstände des Hasses und der Gewaltthat der wüthenden Bande empfahl.

Nebenbei sprach er durch seinen Umgang mit berüchtigten Frauenzimmern und dadurch, daß diese die allein bevorzugten Begnadigungsagenten waren und dies als ein großartiges Geschäft betrieben, jeder Moralität Hohn. Das war der Privatmann A. Johnson.

Der Präsident Johnson setzte ohne den Schatten einer Autorität und ohne Zuziehung des Congresses in den Südstaaten solche provisorische Regierungen ein, daß binnen ganz kurzer Zeit die Sclavenhalter wieder alle Macht in den Händen hatten und die Lage der armen Farbigen, welche Alles für die Union und ihre Verteidiger aufgeopfert und von denen über zwanzigtausend als Soldaten ihre Treue mit dem Tode besiegelt hatten eine viel verzweiflungsvollere war, als vor der Secession. Denn damals mußten ihre Herren sie wenigstens ernähren, kleiden und pflegen, jetzt wurde ihm mit Hohn zugerufen: "Ihr seid ja frei, geht nach dem Norden, der muß euch ernähren!"

Zwei Jahre lang kämpfte der Congreß mit diesem unwürdigen Verräther im Interesse der Freiheit, der Rechte der Farbigen, deren Befähigung zum Stimmrecht, zu Stellen - zollweise mußte jedes Stückchen Freiheitsboden vertheidigt und erobert werden, stückweise mußte der Congreß ihm einer nach der andern seiner Befugnis entziehen und sie besseren Händen [222] übertragen, einen nach dem anderen ihrer großen Feldherrn mußte die Nation abgesetzt und entehrt sehen, für kein anderes Vergehen, als weil sie den Willen der Nation und nicht die Willkür Johnsons befolgen wollten, - in Memphis, in New Orleans wurden durch seine Veranlassung Unionsleute in Massen von wütenden Rebellenbanden hingeschlachtet. Nirgends fanden die Unionsleute und Schwarzen Schutz, in Texas allein wurden deren seit Einstellung der Feindseligkeiten über zweitausend ermordet! Das innerste Steuersystem wurde in die Hände seiner Creaturen gelegt, die den Staatsschatz in einem Jahre bei der Branntweinsteuer allein für über dreihundert Millionen bestahlen; alle Departements (Ministerien) waren zu einem Pfuhle der Corruption und Nichtswürdigkeit herabgewürdigt worden, so daß jeder Mann mit einem letzten Funken von Redlichkeit sich davon entfernt hielt, während der Auswurf der Gesellschaft täglich in wichtige Ämter einrückte. Auf den Bericht des Generalstaatsanwalts Stanbery wurden Postdiebe, Fälscher, Falschmünzer und untreue Cassenbeamte dutzendweise begnadigt, und derselbe Beamte hatte die Frechheit, in dem Supreme-Court (dem obersten Gerichtshofe) zu erklären, daß er die vom Congreß erlassenen Gesetze nicht vertheidigen wolle. Das Flottendepartement verschleuderte und stahl viele Millionen, und sein stumpfsinniges Haupt machte es sich zum Vergnügen, die besten und redlichsten Officiere zu verfolgen, weil sie keine Anhänger der Administration waren. Der Schatzsekretär (Mac Culloch) sah ruhig zu, wie viele Millionen in die Taschen von Dieben wanderten, von Parteigängern geraubt oder in einer Casse gewendet wurden, um bei den Wahlen Bestechungen in großartigen Maßstabe vornehmen zu können. Der Secretär des Innern (Browning) ließ den nichtswürdigsten Landschacher zur Anschwellung der Taschen der Landhaifische und zum Nachtheil der Einwanderer ebenso ruhig geschehen, wie die betrügerischen Indianercontrakte und die bezahlte Ausdehnung von Patenten. Gegen das Postdepartement wurden die Anlagen so dringend, daß der Congress sich genöthigt sah, ein Untersuchungscomité zu ernennen, während das Orakel im Staatsdepartement (Seward) widerwärtiger und oft beleidigender Selbstverherrlichung seine ganze Pflicht im Schreiben von schwülstigen, unverdaulichen Depeschen fand, ohne den Muth zu haben, die Rechte der Nation und ihrer Bürger zu vertreten.

Und noch immer schwieg die Nation, noch immer trug sie das Joch, daß ihr ein roher, unsittlicher, verrätherischer Zufallspräsident aufgelegt. Noch immer verwarf die Majorität des Hauses den Antrag auf Anklage „des größten Verbrechers der Weltgeschichte“, wie ihn mehrere Redner jüngst nannten. So conservativ ist ein wahrhaftfreies und seiner macht sich bewußtes Volk! Gleich dem starken Mann im Vollgefühle seiner körperlichen Kraft, seines sittlichen Werthes, seiner geistigen Errungenschaften, nimmt es vielen Hohn der Zwerge hin, die da träumen, sie könnten seiner ganz Herr werden. Aber „es kommt ein Tag, da wird Euch Herren grauen!“.

Und er ist gekommen, dieser Tag!

Zweimal hatte ich die prächtige Halle der Repräsentanten trostlos und, ich will es gestehen, mit Wuth im Herzen verlassen. Die Massen des Capitols, sie schienen mir auf einer einzigen Brust zu legen und diese Brust die meine. „Wann,“ so fragte ich mich, „werden diese Advocaten und Aemterschacherer endlich den Muth finden, dem verwegenen Verbrecher im Weißen Hause ein Halt! zuzurufen und die Nation zu retten?“ Ist es denn Schicksalsschluß, das keine Nation ungestraft unter Bajonneten wandelt, auch wenn ihr der Stahl zur Selbstvertheidigung aufgedrängt wird? Kann denn der herrliche alte Stevens, der Cato des Hauses, das nie schweigende Gewissen des Hauses, noch immer nicht zur Ruhe kommen, den er lebt ja nur noch in dem Gedanken, sein Volk von Schande und Verderben zu retten?"

Da schlug die Stunde! Ein leises Schnurren des gouvernementalen Räderwerkes hatte dem aufmerksamen und vertrauten Beobachter verrathen, daß sich etwas Ungewöhnliches vorbereite!

Präsident Johnson hatte im August 1867 den Kriegsecretär Stanton suspendirt, weil er - der einzige im Cabinett - dessen verrätherischen und gesetzwidrigen Verfahren nicht zustimmen wollte. General Grant war interimistisch mit dem Kriegsdepartement betraut worden. Einer der ersten Beschlüsse des Senates nach seiner regelmäßigen Versammlung im December vorigen Jahres war gewesen, am 13. Januar 1868 die Suspension Stantons als gesetzwidrig Aufzuheben, worauf Grant sofort das Departement Stanton wieder zurückstellte.

Es folgte dann eine sehr unerträgliche Correspondenz zwischen Präsident Johnson und General Grant über die Frage, ob letzterer ersterem nicht versprochen gehabt habe, das Departement an ihn, den Präsidenten, und nicht an Stanton zurückzuerstatten, deren unwidersprüchliches Ergebnis war, daß der Präsident sich bemüht hatte, Grant zu veranlassen, das Gesetz zu verletzen, indem er dem Senatsbeschlusse nicht nachkäme. Es klang wie Kinderspiel, wenn wir lasen, daß Johnson sich erboten hatte, die dafür gegen Grant auszusprechende Geld- und Gefängnißstrafe zu zahlen, resp. abzusetzen. Ein zweites ebenso wichtiges Ergebniß jenes (natürlich veröffentlichten) Briefwechsels war die Überzeugung, daß entweder der Präsident oder General Grant ein Lügner war. Die populäre, auf die Vergangenheit Johnson’s gegründete Annahme, daß dieser der Lügner sei, fand in den Antworten der Cabinettsmitglieder, während Äußerung Johnson gefordert hatte, ihre Bestätigung.

Die Correspondenz schloß mit einer sehr energischen Erklärung des General Grant, deren letzte Worte ich hier anführen will, das sie als charakteristisch für den Mann sowohl wie für die Art und Weise, wie in den Vereinigten Staaten Jedermann auch dem höchsten Beamten gegenüber seiner Rechte und seine Stellung vertritt, auch für europäische Leser von Interesse sein dürfte wie. „Das Verfahren, zu welchem ich mich nach Ihrer Annahme verpflichtet haben soll, würde gegen das Gesetz verstoßen haben, während dasjenige, welches ich befolgen werde und von dem ich stets annahm, daß Sie es kannten, mit dem Gesetze übereinstimmen und keinen Befehle meiner Vorgesetzten zuwiderläuft. Und nun, Herr Präsident, entschuldigen Sie mich, wenn ich erkläre, daß, wenn meine Ehre als Soldat und meine Lauterkeit als Mann so heftig angegriffen wurden, ich diese ganze Angelegenheit von Anfang bis zu Ende nur als einen Versuch ansehen kann, mich in eine Auflehnung gegen das Gesetz zu verwickeln, für welche Sie zögerten die Verantwortlichkeit zu übernehmen, um auf diese Weise meine Stellung vor dem Volke zu ruinieren. Bis zu einem gewissen Grade bin ich in diesem Schluße durch Ihren letzten Befehl bestärkt worden, wodurch ich angewiesen werde, den Befehlen des Kriegsecretairs, meines Vorgesetzten und Ihres Untergebenen, keine Folge zu leisten, ohne daß Sie jedoch seine Autorität widerrufen, der ich dennoch nicht horchen soll. Mit der Versicherung, Herr Präsident, daß nichts Geringeres als die Rechtfertigung meiner persönlichen Ehre und meines Charakters mich zu meinem Antheile in diesem Briefwechsel bewegen konnte, habe ich die Ehre zu sein etc. etc. U.S. Grant, General.“

Dieses Ereigniß, dessen Folgen natürlich eine heftige Spannung zwischen dem Präsidenten und dem General der Armee war, stürzte alle tief angelegten Pläne des Ersteren über den Haufen. Es waren dieselben aber keine anderen, als den General so an sich und seine Absichten zu fesseln, daß der Congreß es nicht wagen würde, sich im länger zu widersetzen, und daß, wenn er es dennoch thäte, bei einem geschlossenen Staatsstreiche das Militär, oder doch der General der Armee, auf des Präsidenten Seite stände. Daß dies Johnson’s Absicht war, darüber hegte Niemand einen Zweifel, der die Schritte desselben seit zwei Jahren beobachtet hatte.

Johnson mußte nun ein Mittel finden, um dem ihm als Feind gegenüberstehenden Grant, durch dessen Hände, nach einem im verflossenen Jahre erlassenen Gesetze, alle militärischen Ordres zu gehen hatten, wo möglich das Heft zu entreißen, oder doch einen mächtigen militärischen Gegner in der Bundeshauptstadt gegenüberzustellen. Er erließ daher mit Umgehung des Kriegssecretärs Stanton, den er absolut ignorierte, als oberster Kriegsherr des Heeres und der Flotte zwei Befehle, in deren erstem er ein neues Militärdepartement, das atlantische, mit dem Hauptquartier in der Bundeshauptstadt bildete und in deren zweitem er den Generallieutenant J. Sherman zum Brevet-General der Armee ernannte und ihm das neugebildete Departement übertrug. Allein das nichtswürdige Manöver hatte nur den Erfolg, auch Denen die Augen zu öffnen, die noch immer sich nicht von des Präsidentenabsichten hatten überzeugen können, und der gegen den Congreß und die Freiheiten des Landes gezielte Schlag fiel auf die Hand zurück, die ihn geführt. Kein Officier oder Beamte durfte es wagen, die erste Ordre ohne Zustimmung des Congreßes auszuführen, da derselbe versammelt und das Land nicht im Kriege war, und General Sherman telegrafirte sogleich [223] und ehe er noch dem Präsidenten seine Ablehnung der ihm zugedachten Ehre und Stellung brieflich einsandte, an seinen Bruder, den Senator Sherman, daß er weder die Stelle noch die Ernennung zum Brevet-General annehmen werde, und bat ihn, im Senate die Verwerfung beider Maßregeln zu beantragen.

Präsident Johnson gab gleichwohl sein Spiel noch nicht verloren, sondern ernannte den Generalmajor G. H. Thomas, den Sieger von Nashville zum Brevet-Generallieutenant und Brevet-General der Armee und übertrug ihm das neue Departement. Die Antwort dieses bravsten unserer General-Officiere verdient hier einen Platz. Er telegraphirte an den Präsidenten des Senates, Benjamin Wade: „die Morgenzeitungen von Banisville (seinem Hauptquartier in Tennessee) kündigen amtlich an, daß gestern mein Name an den Senat geschickt wurde, um meine Ernennung zum Brevet-Generallieutenant und Brevet-General zu bestätigen. Für mein Verdienst in der Schlacht von Nashville wurde ich zum Generalmajor in der Vereinigten Staaten-Armee ernannt. Meine Verdienste während des Krieges verdienen keine so hohe Auszeichnung, und es ist auch jetzt zu spät, um sie als Lohn für meine Kriegsdienste ansehen zu können. Ich bitte den Senat daher dringend, die Bestätigung zu verweigern.“ Der feine Spott, der in den zweimaligen Hervorheben der früheren Kriegsdienste mit Bezug auf die künftigen Absichten des Präsidenten liegt, beweist, daß die Feder des alten Haudegen ebenso scharf ist als ein Schwert.

Der Präsident scheint nur noch einen letzten Versuch bei dem den District Columbia commandirenden General Emory und dann sogar bei einem Obersten eines hier liegenden Infanterie-Regimentes gemacht zu haben, aber auf unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen zu sein.

Ich erinnere mich der Zeit, sie ist nicht lange verflossen, es war gegen Ende des Secessionkrieges, wo besonders die um das Geschick unserer republikanischen Regierungsform so außerordentlich ängstlich besorgten englischen (Secessions-)Blätter nicht schwarz genug die Gefahr malen konnten, in der die Republik von der Dictatur eines der bedeutendsten Generale schwebte, und wo mir einmal ein bekannter englischer Diplomat die Unabwendbarkeit dieses entsetzlichen Geschenkes mit solcher Klarheit bewies, daß ich ihm lachend sagte: „Sie malen das mit solch’ wahren Farben, als ob Sie selbst daran glaubten!“ Damals wunderte sich die Welt, daß das ungeheuere Heer und seine Generale wie durch Magie beim Klang der Friedenstrompete verschwanden. Ist nicht diese jüngste Beispiel vom Sinne für und Gehorsam unter das Gesetz eine noch viel erhebende Erscheinung?

Nachdem Präsident Johnson auf diese Weise durch die Pflichttreue der General matt gelegt war, kehrte er, nach Besinnung von nur wenigen Tagen, zu seinem ersten Plan, den Kriegssecretär Stanton loszuwerden und die Stelle durch eines seiner Geschöpfe zu ersetzen, zurück. Am Freitag den 21. Februar erließ er einen Befehl, wodurch Stanton abgesetzt und an seine Stelle der Generalsadjutant Lorenzo Thomas, - er hatte also doch einen St. Arnaud gefunden, - zum interimistischen Kriegssecretär ernannt wurde. Thomas begab sich mit diesem Befehl in das Kriegsdepartement, legte ihn Stanton vor und verlangte von ihm die Uebergabe desselben. Stanton erklärte ihm jedoch, daß der Präsident in Abwesenheit des Congresses kein Recht habe, ohne Zustimmung des Senates ihn seiner Stelle zu entlassen und sie anderweit zu besetzen, weigerte sich bestimmt, das Kriegsdepartement an Thomas zu übergeben und befahl diesem, sich in sein Bureau zu begeben und seinen Arbeiten als Generalsadjutant obzuliegen. Er schickte augenblicklich Abschriften der Befehle des Präsidenten an die Vorsitzenden des Senats und ein entsprechendes Haus.

Die Aufregung, welche die Nachricht von diesem Schritte des Präsidenten im Congresse, in der Bundeshauptstadt, und - durch Telegrafen zugleich über die Union verbreitet - im ganzen Lande hervorrief, war eine ungeheure, - eine solche, wie ich sie nur im März und April 1861 gesehen. Aber kein guter Bürger war zweifelhaft, was nun zu thun, und selbst die Rebellen (Secessionisten, Kupferköpfe und Demokraten), traten nur schwach für Johnson ein, da er ganz ohne ihren Rath gehandelt hatte.

Am Sonnabend Morgen (22. Februar) wurde L. Thomas auf eine Beschwerde des Kriegsecretärs Stanton, daß er sich unbefugt amtliche Rechte anmaße und ihn, Stanton, in der Verrichtung seiner Obliegenheiten störe, auf Befehl des Präsidenten des Oberstengerichtshofes des Districtes durch den Marschall verhaftet, jedoch nach kurzer Verhandlung gegen Bürgschaft, sich am 25. Februar wieder stellen zu wollen, vorläufig entlassen.

Secretär Stanton hatte die Nacht über im Kriegsdepartement-Gebäude zugebracht, um jeden Augenblick bereit zu sein, einem Gewaltsschritt des Präsidenten oder seiner Creatur L. Thomas entgegenzutreten, und ein Gang nach diesem Gebäude Nachts um elf Uhr überzeugte mich, daß den nöthigen militärischen Maßregeln getroffen waren, um jedem Versuche von Gewalt sofort zu begegnen. Die Umgebungen desselben waren mit Doppelposten besetzt und die Rondeofficiere eifrig beschäftigt, dieselben zu instruiren; in mehreren Privatlocalen erblickte ich Wachen, die ich früher nie wahrgenommen. Stanton, der Carnot unserer Republik, der unbeugsame, unermüdliche Gegner der Rebellen, hat seitdem weder bei Tag noch bei Nacht seinen Posten nur auf einen Augenblick verlassen und wird, wie ich höre, es auch nicht eher thun, als bis die Anklage gegen den Präsidenten entschieden ist. Sein Bureau ist stets angeführt von Officieren, Beamten, Mitgliedern des Congresses und Patrioten aus dem ganzen Lande, die mit ihm berathen und ihm den wohlverdienten Dank des amerikanischen Volkes für die treue Wacht aussprechen, welche er für dessen Freiheiten und Rechte hält. Auf die Bemerkung eines derselben: „Secretär! denken Sie nicht, daß dies ein etwas sonderbar Platz zum Frühstücken ist?“ antwortete Stanton lächelnd: „O nein! Während der Rebellion pflegte ich oft hier zu Mittag und zu Abend zu speisen und das Morgengrauen fand mich häufig noch an meinem Arbeitstische.“

Während des Freitag-Nachmittags war aber auch der Congreß nicht unthätig gewesen. Im Senate wie im Hause war die Mittheilung Stanton’s verlesen worden. Ersterer schloß um zwei Uhr sein Thüren zu einer „Executive session“, und als sie, wie es heißt nach einer sehr stürmischen Sitzung, um sieben Uhr Abends wieder geöffnet worden, veröffentlichte der Vorsitzende des Senates (und Nachfolger Johnson’s, wenn dieser abgesetzt wird) folgenden Beschluß:

„Der Senat der Vereinigten Staaten in Executivsitzung am 21. Februar 1868. Nachdem der Senat die Mittheilung des Präsidenten, wonach er den Kriegssecretär Edwin M. Stanton abgesetzt und den Generalsadjutanten der Armee zum interimistischem Kriegssecretär bestellte, gelesen und Betracht gezogen, beschließt er, daß dem Präsidenten nach der Constitution und den Gesetzen der Vereinigten Staaten nicht die Machtvollkommenheit zusteht, den Kriegssecretär abzusetzen und irgend einen anderen Beamten interimistisch die Erfüllung der Obliegenheiten desselben zu übertragen.“

Eine Abschrift dieses Beschlusses wurde dem Präsidenten Nachts um halb elf Uhr ausgehändigt.

Im Hause der Volksrepräsentanten trug der immer fertige F. B. Washburn, sobald Stanton’s Mittheilung verlesen war, darauf an, dieselbe dem Reconstructionscomité (es ist dasjenige, welches alle die Rebellen Staaten betreffenden Angelegenheiten vorzuberathen hat) zum Berichte zu überweisen, was auch geschah.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Ein unwiderstehlicher Dichter. Lamartine ist zwar als ein trefflicher Dichter, als ein liebenswürdiger Mensch und geistreicher Mann bekannt, aber durchaus nicht als ein guter, sparsamer Wirth, den seine Finanzen befinden sich stets in einem höchst zerrütteten Zustande. Dabei vergeudet er nicht etwa das Geld nach Art gewisse Genies in thörichter Weise, er lebt einfach und zurückgezogen, aber er giebt Anderen mehr, als er vor sich selbst verantworten kann. Diese Gutmüthigkeit wird vielfach gemißbraucht, und so befindet er sich selbst in steter Geld Verlegenheit.

Als er sich deshalb vor einigen Jahren an die französische Nation gewendet hatte und im Wege der öffentlichen Sammlung bedeutende Summen erhielt, wurden dieselben von einem aus Lamartine’s Freunden gebildeten Comité übernommen und verwaltet. Der Dichter wünschte nun eines Tages eine Summe von vierzigtausend Franken zur Deckung eines Wechsels, aber das Comité verweigerte ihm rundweg die Ausfolgung einer so beträchtlichen Summe; Louis Ulbach, der Secretär des Comité’s, hatte die wenig beneidenswerthe Aufgabe, in Lamartine's Auftrag das Verlangen zu [224] stellen und ihm dann die abschlägige Antwort zu überbringen, die ökonomischen Bedenklichkeiten der Freunde und die Klagen des Abgewiesenen mit anzuhören.

Lamartine gab indessen die Hoffnung noch nicht auf, sondern lud die sämmtlichen Mitglieder des Comités zu einer Besprechung in seiner Wohnung ein, und so erschienen denn richtig auch Alle, und zwar Varin, Emile Péreire, Beaumont, Hachette, Chambomer, Eb. Texier und Louis Ulbach, in dem Salon des Dichters in der Rue de la Ville-l’Evêque.

Die Haltung sämmtlicher Herren war ziemlich kühl und steif, sie hatten sich sichtlich gegen alle Einwirkungen der alten Freundschaft gepanzert, namentlich der Buchhändler Hachette hatte sich innerlich gelobt, entschieden unerbittlich zu sein, da ihm die steten Geldklemmen des Dichters ein wahrer Gräuel waren. Er ergriff denn auch zuerst das Wort, und zwar in ziemlich scharfen, energischen Ausdrücken, indem er den armen Lamartine etwa wie ein strenger, unzufriedener Vormund behandelte, der dem Mündel eine Zurechtweisung angedeihen läßt; er redete die Sprache der unbarmherzigen Vernunft, der bittersten Klugheit und sprach lange. Als er endlich geendet, wollte Beaumont, der nicht durch seine Rednergabe glänzte, auch sein Theil dazu geben und sagte herablassend:

„Lieber Freund, wir können Ihnen nicht helfen, Sie haben nun einmal den schlimmen Ruf eines durchlöcherten Korbes, in den man nichts legen darf.“

Auch die Andern ergingen sich in mehr oder weniger geistvollen und schonungslosen Bemerkungen, aber der so gegeißelte Dichter hörte das Alles mit unvergleichlicher Sanftmuth und Würde an, ohne nur ein Zeichen von Ungeduld von sich zu geben; er saß rittlings auf seinem Stuhle mit gefalteten Händen und wartete lächelnd, bis seine Freunde mit ihren Vorstellungen zu Ende sein würden. Dann bat er, ihnen antworten zu dürfen, und begann zu sprechen – einfach, ohne Pathos oder Gesticulationen, aber wunderbar ergreifend und zum Herzen dringend – er sprach mit majestätischer Ruhe von sich selbst, von seinen Freunden, seinen Gläubigern, wie er in seine jetzige Lage gekommen etc. Er sprach fast eine halbe Stunde, und Alle lauschten ihm voll Entzücken. Hachette erröthete vor Verlegenheit, Péreire hatte Thränen in den Augen, Alle waren tief ergriffen. Es war einer der schönsten Triumphe, den die wahre Beredsamkeit jemals gefeiert; als Lamartine geendet hatte, herrschte anfangs ein tiefes Schweigen, dann frug Hachette:

„Wie viel Geld wünschen Sie?“

„Ich habe zuerst vierzigtausend Franken gefordert, aber ich glaube, die Sache wird sich mit dreißigtausend abthun lassen.“

„Wenn wir Ihnen jetzt fünfzigtausend geben,“ meinte Péreire, „würden Sie uns dann eine Weile Ruhe vergönnen können?“

„Gewiß.“

Lamartine erhielt die Vollmacht, sich fünfzigtausend Franken auszahlen zu lassen, und die Herren verabschiedeten sich, indem sie es verschworen, sich je wieder einer solchen Erfahrung auszusetzen.

„Nun,“ sagte Ulbach unten im Hofe zu den Andern, „wo bleiben denn Ihre Schwüre? Das lohnte sich wohl der Mühe, mir erst die Sache so rund abzuschlagen!“

„Ja, was hilft das Alles ?“ entgegnete Péreire, „man kann ihm einmal nicht widerstehen, wenn man ihn reden hört.“




Lichtstrahlen aus „Deutschlands trüber Zeit“.[2] Von einem Augenzeugen des „kriegsrechtlichen“ Mords, welcher im Juli 1809 in Braunschweig an vierzehn gefangenen Kampfgenossen Schill’s verübt worden ist, erhalten wir berichtigende und ergänzende Mittheilungen, die wir der Schilderung jener Unthat des Tyrannenübermuths sogleich nachfolgen lassen müssen. Unser Gewährsmann schreibt uns: Ich selbst, damals ein Knabe von dreizehn Jahren, habe die zur Hinrichtung bestimmten Krieger des Schill’schen Corps hier in Braunschweig einbringen sehen. Es waren jedoch deren sechszehn, nicht vierzehn: zwei retteten sich durch Flucht.

In den Gefängnissen, und namentlich in der Mosthaus-Reitbahn und auf dem damaligen Proviantboden neben der Brüderkirche, hatte man nämlich den Gefangenen gestattet, innerhalb der durch Mauern wohlverwahrten Höfe oder Gänge sich am Tage und unter militärischer Bewachung in freier Lust zu ergehen, und dies war wenigstens von jenen Zweien dazu benutzt wurden, die Oertlichkeit nach einer Gelegenheit zum Entfliehen zu durchspähen.

Ein Gefangener der Mosthaus-Reitbahn hatte eine Thür entdeckt, welche zu einem in die Bohlwegsstraße mundenden Seitengäßchen führte. In der Mitternacht vor dem Hinrichtungsmorgen gelingt es ihm, dieses Gäßchen und den Bohlweg zu erreichen. Er eilt in voller Todesangst die Straße entlang, noch ohne jeden Hoffnungsstrahl, auf welche Weise er in seiner Kleidung aus der wohlgehüteten Stadt entkommen soll. Da dringt ihm ein schwacher Lichtschimmer durch ein Fensterchen über einer Thür entgegen. Er wagt’s, er klopft an die Hausthür, er klopft wiederholt, bis der Hausbesitzer öffnet. Es war ein Kaufmann, Namens Engelbert Bartels. Niemand darf ihm verargen, daß sein Schrecken beim Anblick und dem offenen Geständnis; und Hülfeflehen des Flüchtlings ebenso groß war wie die Angst des auf den Knieen vor ihm liegenden Mannes. Er stellte sich und diesem all’ die Gefahr vor, der er sich aussetzte, wenn er der furchtbaren Rache und Gewalt Napoleon’s ein Opfer entziehe; – aber endlich siegte das gute deutsche Herz über die augenblickliche Schwäche. Bartels stärkte den Entflohenen mit Speise und Trank, versah ihn mit unverdächtiger Kleidung und zeigte ihm einen Ausschlupf aus der Stadt. Glücklich muß er entkommen sein, denn hätte man ihn irgendwo erwischt, so wäre dies, bei den großen Anstrengungen, welche die Behörden zu seiner Habhaftwerdung aufgewendet, der Öffentlichkeit gewiß laut genug zugegangen.

Das Gelingen der zweiten Flucht ist durch den Geretteten später selbst bestätigt worden. Er saß auf dem Proviantboden. Derselbe war mit Bodenöffnungen (wahrscheinlich zur Auf- und Abbeförderung von Lasten etc.) versehen, über welchen Drahtgitter oder Eisenstäbe befestigt lagen. Ein solches Gitter erbrach unser Mann und ließ sich, es auf Tod und Leben wagend, hinabfallen. Es schlug zu seinem Glück aus, mit ganzen Gliedern kam er zur Erde. Hier mußte er am Tage eine Thür gesehen haben, denn in tiefster Finsterniß fand er sie und weckte durch sein Pochen die Magd eines hier wohnenden Schreibmeisters Müller. Das kluge Mädchen ward seine Retterin, und der Gerettete war dankbar. Nach den Befreiungskriegen erschien „ein vornehmer junger Herr“ in Braunschweig, fragte nach jener Magd und suchte sie auf dem Dorfe auf, wo sie jetzt wohnte. Auf dem befreiten Boden des Vaterlandes konnte er nun im Lichte der Sonne seinen Dank aussprechen für jene kühne Rettungsthat in der Nacht der Angst, und er soll sich der That würdig gezeigt haben.

Sollten von beiden damals Geretteten noch Angehörige vorhanden sein, so wird es sie freuen, das Andenken an ihre Väter noch heute erhalten und geehrt zu sehen.

Wenn wir aber am Schlusse unseres Artikels bedauerten, daß die Zahl der Mitkämpfer jener Unglücklichen wohl fast ganz erloschen sein möge, so können wir heute einen der Alten noch als rüstig Lebenden nennen: Karl Bogislav Kasischke, am 16. October 1780 geboren, 1806 als einer der Blücherhusaren bei Lübeck gefangen und wieder entflohen, schloß, Einer der Ersten, in Naugard sich Schill an und machte als Husar alle kühnen Züge des Corps mit, schlug sich in Stralsund durch und entkam nach Berlin. Jetzt lebt der alte Held bei seinem Sohn, Postexpedienten in Baerwalde. Ihm einen Ehrengruß!




Der „Verwundete der Gartenlaube“, dessen frische und lebensvolle Selbstbekenntnisse seiner Zeit die lebhafte Theilnahme unserer Leser und mehr noch unserer Leserinnen in Anspruch genommen (vergl. Nr. 43, Jahrg. 1866[WS 1]), hat nun dem friedlichen Ausbau des Werkes, bei dessen blutiger Begründung ihn die erste Kugel traf, seine ganze Thätigkeit gewidmet; wie er schon im Februar 1867 – damals noch unsicher an den Langensalzaer Krücken schreitend – durch seinen in mehreren Ausgaben erschienenen „Almanach“ ein geschickter Führer in die Volksvertretung des neuen Staatswesens wurde, so hat er es jetzt unternommen, in einem größeren Werke, unter zuvorkommender Unterstützung der Bundesbehörden und hervorragender Parlamentsmitglieder und Gelehrter, die Entwickelung unseres staatlichen Lebens zu verfolgen und in umfassenden Darstellungen zu fixiren. Das Werk heißt „Annalen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins“ und soll in jährlich acht starken Heften die jeweilige Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik der großen politischen und wirthschaftlichen Gebiete behandeln, gleichzeitig der Legislative vorarbeitend, wie denn das erste Heft reiche Materialien zu den Berathungen des Zollparlaments enthält. Fachleuten gegenüber bedarf das zeitgemäße Unternehmen keiner Empfehlung, im Interesse der Verbreitung nützlicher Kenntnisse aber wünschen wir unserem alten Mitarbeiter Georg Hirth, daß seine „Annalen“ in den weitesten Kreisen Beachtung und – recht zahlreiche Abonnenten finden mögen!

L. L.





Zu Carl Vogt’s Vorlesungen. Viele unserer Leser werden sich noch der fesselnden Darstellungen aus der Erdgeschichte erinnern, welche ein Herr Rohde aus Hamburg vor einigen Jahren in Deutschland und der Schweiz mittels Hydro-Oxygen-Gaslichtes gab. Wie wir hören, hat nun Hr. Rohde, durch die Vorlesungen von Professor Vogt angeregt, die Urgeschichte als dritte Abtheilung seinen Darstellungen zugefügt und wird demnächst eine neue Rundreise mit seinem Apparate antreten, welcher gestattet, diejenigen Belehrungen, die Prof. Vogt der Natur der Sache nach nur kleineren Kreisen zu Theil werden lassen konnte, überall hin zu verbreiten. Wir machen auf diese bevorstehenden Vorstellungen von Rohde im Voraus aufmerksam, da sie auch für die Hörer von Prof. Vogt’s Vorträgen eine willkommene Erinnerung bilden werden.



Inhalt: Drei Blumen am Wege eines Hagestolzen. Novelle von Arthur von Loy. – Bilder aus dem Leben deutscher Dichter. Im Landhause von Derendorf. Mit Abbildung. – Pariser Bilder und Geschichten. Industrielle Ausbeutung der Thiere in Paris. Von Ludwig Kalisch – Die Majestät an der Ziehflasche. Aus dem zoologischen Garten zu Dresden. Mit Abbildung. – Der Präsident auf der Anklagebank. Von einem Augenzeugen. – Blätter und Blüthen: Ein unwiderstehlicher Dichter. – Lichtstrahlen aus Deutschlands trüber Zeit. – Der Verwundete der Gartenlaube. – Zu Carl Vogt’s Vorlesungen.



Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Melchior Meyr,
Gleich und Gleich.
Erzählung aus dein Ries.
Elegant broschirt Preis 27 Ngr.

Dieses frische Bild aus dem Volksleben ist ein wahres Kunstwerk unter den novellistischen Erscheinungen der Neuzeit. Mit dem ganzen Reichthum der Lebenswirklichkeit und zugleich der Anschauung des Poeten schildert der bekannte Verfasser das Rieser Landvolk, wie es sich in seiner Seele gespiegelt, und hat durch die verwendeten Züge des Lebens und der Sitte ein Bild geschaffen, das den Leser fesseln und erfreuen wird.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Ich entnehme diese Thatsachen, sowie manche folgende, den von einem Comité des Congresses niedergesetzten, bis jetzt nicht veröffentlichten Zeugenvernehmungen, die siebenhundert gedruckte Seiten umfassen. D. Verf.
  2. Vgl. Gartenl. Nr. 10, S. 158, dieses Jahrgangs.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Nr. 47