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Artikel „Scheitlin, Peter“ von Ernst Götzinger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 30 (1890), S. 734–736, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Scheitlin,_Peter&oldid=- (Version vom 24. April 2024, 18:11 Uhr UTC)
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Scheitlin: Peter S., St. Gallischer Gelehrter, Prediger und Schulmann, ist geboren am 4. März 1779 zu St. Gallen als der Sohn eines Kaufmanns. Nachdem er die damals recht ungenügenden Schulen seiner Vaterstadt und zwar bis zur Vollendung des theologischen Curses besucht, benützte er einen längeren Aufenthalt in Göttingen und Jena, um seinem Bildungs- und Wissensdrange ein höheres Genüge zu bieten. In Göttingen zog ihn namentlich Blumenbach an, der ihn, freilich vergebens, für eine Stelle als Naturforscher im Dienste der Afrikanischen Gesellschaft Englands zu gewinnen suchte. Im J. 1803 in die Heimatb zurückgekehrt, versah S. vorerst ein Pfarramt in der Glarnerischen Gemeinde Kerenzen, bis er 1805 zum Professor der Philosophie und Naturkunde am reorganisirten Collegium seiner Vaterstadt ernannt wurde. Hier in St. Gallen hat er dann bis zu seinem am 17. Januar 1848 erfolgten Tode eine so energische Thätigkeit entfaltet und eine so reiche Wirkung hinterlassen, daß er unbedingt [735] der geistig hervorragendste Bürger St. Gallens seit der Reformation genannt werden darf. Er vornehmlich war es, der den Sinn und das Interesse seiner Mitbürger, die seit Jahrhunderten nur ihrer Industrie und ihrem Handel dienten, in mannichfaltigster Art für edlere Bildung zu gewinnen wußte. S. ist für seine Vaterstadt der etwas späte Hauptrepräsentant des Aufklärungszeitalters geworden, wobei er in vieler Beziehung an Herder erinnert. Mit Herder hat er gemeinsam den weiten Horizont seiner geistigen Interessen, eine große Hochachtung vor der Bibel, eine von frühester Jugend an vorhandene Lese- und Wissensbegierde, die, ohne oberflächlich zu sein, mehr darnach trachtet, dem persönlichen Bedürfnisse zu genügen, als einzelne wissenschaftliche Erfolge zu erringen. Auch bei Scheitlin arbeiten Verstand, Gemüth und Einbildungskraft miteinander, wie er denn von seinen Schülern und Genossen mehr als Meister denn als Lehrer und Schriftsteller geehrt wurde. Auch S. besaß eine Apologeten-Natur, der es Bedürfniß war, mehr den ganzen Kreis edler Humanität auszubilden und die Einzelgebiete des geistigen Lebens, Religion, Kunst, Wissenschaft, Kirche und Schule, häusliches und geselliges Leben miteinander versöhnend zu verbinden. Wie Herder hatte sich S. mehr durch äußere Umstände als durch innere Berufung dem geistlichen Stande gewidmet, der ihm zwar am Herzen lag und von dem er sich nie lossagte, so wenig seine Natur dazu angethan war, sich auf das geistliche Amt und die damit verbundenen Interessen zu beschränken. Aus allen seinen Schriften spricht der Prediger und Erzieher. So ist es denn auch zu begreifen, daß die Erinnerung an diesen Mann, der fast ein halbes Jahrhundert weitaus der angesehenste Mann seiner Vaterstadt war, doch bei den Nachlebenden auffallend schnell erblaßte, ein letzter Zug, der sein Schicksal an dasjenige Herder’s knüpft.

Von den vielen Functionen, Thätigkeiten und Wirkungsgebieten, an denen S. Antheil genommen hat, seien, abgesehen von seinem Lehramte, dem Professorate, das er bis zu seinem Tode inne hatte, im besonderen erwähnt: von seinen geistlichen Aemtern die Stelle eines ersten Stadtpfarrers und Decans, sein Antheil an der Gründung des Waisenhauses, der städtischen Hülfsgesellschaft, der litterarischen Gesellschaft, seine Bethätigung an der „Singgesellschaft zum Antlitz“, an der Gesellschaft schweizerischer Naturforscher und der schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft, die durch ihn erfolgte Gründung des wissenschaftlichen Vereines und des St. Gallischen Künstlervereins, der kantonalen landwirthschaftlichen Gesellschaft, die reiche Thätigkeit an den Verhandlungen des Gewerbevereins und des Gesellenvereins. Auch Scheitlin’s reiche schriftstellerische Thätigkeit trägt zum großen Theil den Stempel des Persönlichen, der unmittelbaren Gegenwart Gewidmeten, des Apologetischen. Vom Jahre 1808 an, in welchem die „Beobachtungen und Phantasien auf einer Reise durch Brandenburg und Sachsen“ erschienen, ist kein Jahr, in dem nicht eine Schrift von ihm gedruckt worden wäre. Doch sind vorläufig das Meiste Gelegenheitsschriften, Broschüren, Vorträge, Vereinsgeschichten, Nekrologe und Flugblätter. Willkommene Anregung zu größeren Arbeiten bot später der Umstand, daß einer seiner Söhne (C. P. Scheitlin) eine schnell aufblühende Verlagsbuchhandlung (Scheitlin und Zollikofer) gründete. In diesem Verlage erschienen in erster Linie drei in der deutschen Schweiz weit verbreitete Erziehungsschriften: „Agathon, ein Führer durchs Leben für Jünglinge“, 1842; „Agathe, für Jungfrauen“, 1843, und „Ida, ein Buch für liebende Mütter, 1846. Eine andere Gruppe erzählender Volks- und Jugendschriften besteht aus: „Pankraz Tobler“, 1828, James Clifford, der arme Mann im Tokenburg, Friedrich der Thierquäler, Bartholome Kelli. An Erwachsene wenden sich die Schriften: „Religion, Natur und Kunst, vorzüglich in ihrer Verbindung“, 1836, und „Das Elend der Tellus, ein Versuch, das Publicum in das [736] große Räthsel hineinzuführen“, 1842. Letzteres Buch ist gleichsam ein Abschluß von Scheitlin’s Bemühungen auf dem Felde des öffentlichen Armenwesens, für das er schon im J. 1820 durch die Schrift: „Meine Armenreisen im Kanton Glarus und der Umgebung der Stadt St. Gallen in den Jahren 1816 und 1817“ schriftstellerisch thätig gewesen war. Jetzt, im „Elend der Tellus“ erweitert sich ihm dieses Gebiet zu einer großen tellurischen Erscheinung, man könnte die Schrift ein ergänzendes Capitel zu Herder’s Ideen nennen. „Er habe“, sagt der Verfasser in der Vorrede, „durch eine lange Reihe von Jahrzehnten herab die Geschichte und den Zustand der Erde und der Menschheit, und in einer Menge der mannichfaltigsten Verhältnisse Böse und Gute, Unglückliche wie Glückliche kennen gelernt. Er glaube, daß diese Kenntniß wenigstens zu einer Darstellung berechtige. Es gehörte immer zu seinen schönsten Freuden, hochachtungs- und liebenswürdigen Menschen und Glücklichen, aber auch zu seinen größten Leiden, solchen, die sich selbst vorsätzlich wegwarfen und Schmerzbeladenen zu begegnen.“ – Scheitlin’s geistvollste Arbeit und zugleich die einzige, die seine schriftstellerischen Verdienste in weiteren Kreisen verbreitete, ist der „Versuch einer vollständigen Thierseelenkunde“, 2 Bde. Stuttgart und Tübingen 1840, bei Cotta. Thierbeobachtung war von Jugend auf Scheitlin’s Lieblingsstudium gewesen, jetzt verarbeitete er, in schon höherem Alter, seine Beobachtungen, Erfahrungen und Kenntnisse zu einem großen Werke, dessen drei Hauptabschnitte eine Geschichte der Ansichten der Thierpsychologen, dann Thatsachen und endlich Anwendungen enthielten. Als Leitfaden diente Carus’ Geschichte der Psychologie, für die alten Völker Creuzer’s Symbolik, für die Thatsachen größtentheils Oken. „Ich wollte durch meine Ansichten nicht den Menschen erniedrigen, jedoch das Thier höher stellen und dem Menschen näher bringen, die zu groß gemachte, widernaturgeschichtliche, unwahre Kluft zwischen Thier und Mensch kleiner machen und Achtung und Liebe zu den niedrigeren Wesen lehren und geschichtlich begründen. Schwärmte ich, so schwärmte ich für eine gute Sache, für ein großes Ding – für die ganze lebendige, denkende, empfindende Thierwelt, die um uns hersteht, mit uns umgeht, mit der wir leben, weben und sind.“ Scheitlin’s Thierseelenkunde ist durch seine Thierbeobachtungen noch heute geschätzt, doch scheint eine reichere Anerkennung dadurch gestört, daß der theologisch-philosophische Aufklärungsstandpunkt des Verfassers zur Zeit der Veröffentlichung des Buches im Ganzen ein veralteter war. Im J. 1861 ist im Garten der Kantonsschule Scheitlin’s Marmorbüste aufgestellt worden.

Vgl. über ihn das Neujahrsblatt: Peter Scheitlin, der „Professor“ zu St. Gallen, von K. E. Mayer. St. Gallen 1880.