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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[257]

No. 17.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Die Herrin von Dernot.
Von Edmund Hoefer.
(Fortsetzung.)


„Ich darf Esperance nicht allein gehen lassen,“ sagte Leopold wie zur Entschuldigung zu den Geschwistern und folgte der bereits Davonschreitenden. Sie führte ihn eine Nebentreppe aufwärts und über einen dunklen Gang bis zu einer kleinen Thür. Da stand sie und sprach rasch und leise: „Verkenne mich nicht, denke an das, was ich Dir gestern sagte. Und sieh, auch Tante Kunigunde hat einmal geäußert, daß der Vater Dernot um alter Sünden willen fliehe, und auf mich hab’ er’s übertragen, weil ich auch von meiner Mutter her noch Rechte darauf habe und man es mir daher nicht abstreiten könne. – Das will ich nun alles wissen. Und jetzt komm’ – ich fand den Platz gleich anfangs einmal. Er ist für uns wie gemacht.“

So war es in der That, denn da sie eintraten, fanden sie sich in einer Art kleiner Loge, die frei aus der Ecke des Saals in ziemlicher Höhe hervorsprang – vielleicht war der Platz vordem bei festlichen Gelegenheiten für die Musik bestimmt gewesen.

Auf dem Tisch unten im Saale in der Nähe eines der großen Fenster waren die Reste des Frühstücks zusammen und auf die Seite geschoben, und auf dem dadurch gewonnenen Platz hatte der Justizrath mehrere Schriftstücke vor sich ausgebreitet. In der Fensternische dahinter lehnte Herr von Brose und besah angelegentlich seine Finger; vor dem Tisch und fast in der Mitte des Saals sah man die große, hagere Gestalt des alten Müllers, diesmal in einen langen dunklen Rock gehüllt, auf dessen Kragen das weiße Haar weit herabfiel. Ihm gegenüber und neben dem sitzenden Geschäftsmann stand der Baron, hoch aufgerichtet und die Rechte fest auf den Tisch und eines der Schriftstücke gelegt. Sein Gesicht war noch geröthet, die weißen Brauen auf die zugleich düster und stolz blickenden Augen herabgezogen, und er sprach eben in vornehmem Tone: „Vor allem bitte ich nicht zu vergessen, wen Ihr vor Euch habt: nicht bloß den Baron Treuenstein und Herrn von Dernot, sondern auch den Staats- und gebietenden Minister – Hoheit haben meinen Wiedereintritt gewünscht,“ wandte er sich in nachlässigerem Tone gegen Brose, „und ich habe gestern Morgen eingewilligt. Das Land braucht eine festere Hand, als die seines bisherigen Leiters.“

„Das mag alles sein,“ wurde die Stimme des Müllers laut, „und wenn ich mit dem Herrn Staatsminister zu thun habe, werd’ ich es an dem schicklichen Respect nicht fehlen lassen. Heut aber und hier habe ich nur mit dem Herrn Baron zu thun, der sich auch den Herrn von Dernot nennt; und wenn sich da der Minister einmischen oder vordrängen wollte, so wär’s – wie vor Alters. Aber,“ fügte der trotzige alte Mann mit der gleichen Härte und Starrheit hinzu, „es ist nicht mehr wie vor Alters. Der Fürst und unsere Stände dulden nicht Unrecht noch Gewalt.“

Die Stirn Treuenstein’s wurde noch finsterer und Brose besah immer eifriger seine Finger. Der Justizrath sagte aber nach einem mißbilligenden Kopfschütteln: „Bleiben wir bei der Sache. Seine Excellenz ist geneigt, den alten Streit mit den sogenannten freien Hofbesitzern womöglich gütlich zu Ende zu bringen. Und wenn die betreffenden Documente wirklich in eurem Besitz sind und die Ansprüche bestätigen, so legt sie endlich einmal vor und die Sache kann schnell abgethan werden.“

„Das ist die Sache nicht,“ erwiderte der Müller ungebeugt. „Meine und der Anderen Rechte hat man vor Alters nicht beugen und fortdisputiren können und wird’s auch jetzt nicht vermögen. Ich rede nicht von dem Hof, der gehört den Besseling seit hundert fünfzig Jahren und darüber, und die Besseling waren von jeher freie Leute. Davon red’ ich nicht, sag’ ich; darum wäre der Herr Baron nicht nach Dernot und ich nicht auf’s Schloß gekommen. Ich rede davon, daß die Herrschaft Dernot von den Baronen von Treuenstein mit Sünde erworben ist und mit Sünde festgehalten wird. Das wissen die Herren von Treuenstein seit fünfzig Jahren und wissen’s, daß wir es nicht ruhen lassen –“

„Am Ende sind Sie selber der rechte Erbe, Meister,“ unterbrach ihn der Justizrath spottend.

Der Müller schaute ihn fest an und fuhr fort: „Daß wir’s nicht ruhen und uns nicht irren lassen, was man auch versucht, ob man uns da einen jungen Baron von Treuenstein schickt, der eigentlich gar nicht einmal einer ist –“

Es wurden zwei Laute im Saale hörbar – einer, dumpf und zugleich knirschend, kam sichtbar und hörbar aus dem Munde des zusammenzuckenden und dann sich hoch aufrichtenden Barons, und ein zweiter, wie eine Art von tiefem Stöhnen, das die Herren überrascht aufsehen und selbst den Müller eine Pause machen ließ. Aber sie sahen niemand, von dem es hätte ausgehen können, und indem fuhr Augustin auch schon wieder fort:

„– oder ein junges Fräulein, das man die ‚Herrin von Dernot‘ geheißen, weil man denkt, der Name habe hier einen guten Klang und das junge Ding möge uns erbarmen. Aber es hilft alles nichts. Dernot gehört seinem Herrn, und der ist jetzt da, und die Klage ist in der Hand unseres Fürsten. Mag der Herr Baron es leugnen, wenn er’s kann: als er von unserer [258] Klage erfuhr, da ist ihm angst geworden um sein Kind, und er ist hergekommen und hat’s gewagt, was er vierzig Jahre lang nicht wagte, dem Augustin –“

„Mensch – wessen erfrechst Du Dich!“ brach der Baron mit vor Zorn halberstickter Stimme aus. Sein Gesicht war verzerrt.

„Leugnet’s, Herr Baron!“ sagte der Müller unbewegt. „Ihr habt eben gedacht, der Augustin könn’ es an Euch oder an Euren Kindern rächen wollen, daß Ihr zum alten Unrecht noch eignes fügtet und vordem seine Schwester betrogen und ihr Kind verleugnet habt. Dafür hab’ ich mich revanchirt, und wenn Ihr damit fertig seid, so ist’s abgethan. Ich bin kein Kinderfresser, sag’ ich. Von derentwegen dürft Ihr mit den Euren immer hier sein. Aber das Recht auf Dernot, das behält sein rechter Herr, ob Ihr fern seid oder hier; das geben wir nicht auf, sondern kämpfen es durch, gegen Fürsten und Minister. Und damit Ihr das auch von mir hört, darum kam ich auf’s Schloß.“

„Ich nehme Sie zu Zeugen für die Frechheit und die Beleidigungen dieses Menschen, meine Herren!“ rief der Minister mit heiserer Stimme und wollte fortfahren, als der Justizrath ihn unterbrach: „Excellenz legen diesen sinnlosen Aeußerungen, Drohungen und Angriffen eines, wie mir scheint, halb kindischen alten Mannes wohl allzuviel Gewicht bei. Mir däucht, wir sollten ruhig seine sogenannte Klage und seinen Beweis erwarten. Er wird wohl ausbleiben –“

„Wenn der Glaube Eure letzte Stütze ist, da seid Ihr dem Falle näher, als Ihr denkt,“ unterbrach ihn die harte Stimme des Müllers. „Der Beweis ist leicht, denn eine vom Baron August beglaubigte und unterzeichnete Abschrift des Testaments ist jetzt in unsern Händen, und darin heißt es von Wort zu Wort – die Herren können auch hier als Zeugen dienen –“

„Wir erlassen Ihnen das, mein werther Meister,“ fiel der Justizrath ein. „Wir werden gemäß Ihrer Drohung ja –“

Er wurde in diesem Augenblick durch zwei gleichzeitig eintretende Störungen unterbrochen. Von dem erwähnten kleinen Balcon herab erklang die Stimme Esperancens, welche sich über die Brüstung vorbeugte, in hellem, festem Ton: „Ich aber, die Herrin von Dernot, erlasse Ihnen diese Angabe nicht, da ich dieselbe sonst möglicherweise niemals erführe – wie lautet das Testament?“

Und wie gesagt, noch während dieser Worte, welche alle Anwesenden ihre bestürzten Blicke zu der Loge und dem kühnen Mädchen erheben ließen, trat in die große Thür des Saals, indem er anscheinend einen draußen Stehenden zurückstieß, – Franz Burgsheim und wollte sich – sein männlich schönes Gesicht zeigte die Spuren von Erhitzung und Aufregung – dem alten Müller nähern. Die Anderen hatten ihn vor der Erscheinung droben vermuthlich kaum bemerkt oder hielten ihn der Beachtung nicht werth; Augustin sah ihn jedoch und winkte ihn mit einer heftigen Bewegung zurück.

„Bei Gott im Himmel!“ rief der Baron in diesem Moment wie ganz außer sich, „es ist die Ungerathene und der – der Bastard! Bin ich nicht mehr Herr in meinem Hause?“

Und da sagte Augustin so hart wie je: „In Dernot nicht, denn es ist nicht Euer Haus. – Das Fräulein aber soll seinen Willen haben – es ist sein Recht das zu wissen,“ fuhr der Alte mit einer so festen Stimme fort, daß jede Unterbrechung ausgeschlossen wurde. „Der Baron August sagt in seinem Testament, daß er seinen Sohn August Dernot von der Wilhelmine Besseling, mit der er, wie es damals hieß, in Gewissensehe gelebt, legitimiren lassen wolle und zu seinem Erben einsetze – die Mutter sei frei geboren und ehrbaren Standes und Rufs gewesen, wie es für eine Frau von Dernot genüge. – Das Testament hat er in einer Abschrift seinem Sohn gegeben und ihm auf’s Gewissen gebunden, es nicht aus der Hand zu lassen. Er hat’s wohl geahnt,“ sprach der Greis unerbittlich weiter, „daß es kommen möge, wie es gekommen – daß dies Testament ihm das Leben kosten und verloren gehen könne. Das möchte sich auch noch beweisen lassen. Der Schloßengel muß auch davon reden können. – Der August aber, den Sohn mein’ ich, ist feig gewesen und hat sich einschüchtern lassen. Von seinem Testament hat er keinem zu sagen gewagt, auch mir nicht, der ich doch sein Vetter, und ist davon gelaufen und fort geblieben. Und wenn ich ihn habe mahnen lassen, hat er nicht gewollt. Aber Recht verjährt nicht. Jetzt ist das Testament da und sein Erbe auch, und –“ der Greis wandte sich und winkte Bergheim mit einer gebieterischen Bewegung heran – „hier steht der Erbe und Herr von Dernot.“

„Burgsheim – also doch!“ sagte Esperancens Stimme vernehmbar von oben herab, und es war, als ob an leises Bedauern durch die Worte bebe. Allein es achtete jetzt niemand darauf, sondern alle Blicke waren auf den jungen Mann gerichtet, der bisher, wie schon vorhin gesagt, fast unbemerkt geblieben. Die Augen des Barons besonders hafteten auf ihm mit einem Ausdruck des Entsetzens und der Brust des Herrn entrang sich ein Seufzer, der beinahe wie ein Stöhnen klang.

Der junge Mann war vorgetreten. Das dunkle Auge flog mit raschem, offenem Blick über die Herren am Tisch, hinauf zu der kleinen Loge und blieb fest und ernst an dem alten Müller haften. „Ich hatte also Recht zu glauben,“ sagte er, „daß es Unheil geben würde, wenn Ihr auf das Schloß gingt, Ohm. Da bin ich Euch nach und kam, wie ich sehe, zur rechten Zeit. Ich hab’ es Euch schon neulich gesagt und wiederhol’s: Ihr macht die Rechnung ohne den Wirth. Ich bin nicht um dieser sogenannten Erbschaft willen hergekommen und will nichts von ihr, ebenso wenig –“

„Wie der Feigling, Dein Vater!“ unterbrach ihn Augustin, dessen starres Gesicht momentan von einem wilden Hohne verzerrt wurde. „Thu’s, ich gebe Dein Recht und Erbe nicht auf.“

„Ich bin alt genug, für mich selbst zu entscheiden,“ erwiderte der Jägersmann ernst. „Ob mein Vater vor Drohungen wich, oder ob er’s that, weil seine Legitimation eben niemals erfolgte und er kein wirkliches Recht erhalten hatte, – das weiß ich nicht. Er hat mir nichts zu rächen hinterlassen. Ich bin mit meinem Namen und meiner Habe zufrieden –“

„Nur die Augen möchtest Du noch, die es Dir angethan,“ fiel Augustin von neuem mit dem früheren Ausdruck ein, und unter der lang überhängenden weißen Braue hervor flog das scharfe blaue Auge mit grimmigem Lächeln hinauf zu der Loge und wandte sich dann, noch hohnvoller, zu Franz zurück.

Der Jäger maß ihn ein paar Secunden lang mit festem und finsterem Blick von oben bis unten, wandte sich dann jedoch ohne Erwiderung gegen den Tisch und sprach mit ruhiger Stimme: „Wie ich gesagt, so bleibt’s. Das Testament im Nachlaß meines Vaters ist für uns ohne Werth. Ich bin der Erbe von Dernot nicht – schreiben Sie’s auf, mein Herr, wenn Sie es für nöthig halten. Guten Morgen.“ Und nach flüchtigem Gruß gegen die Anwesenden verließ er den Saal.

Einen Augenblick stand der alte Müller wie betäubt. Dann flog jener Ausdruck des Hohns noch einmal durch das runzelvolle Gesicht, und indem er die Hand erhob und schüttelte, sagte er mit einer Art von heiserem Lachen: „Einer mehr oder weniger – das heißt nichts. Ich werde mit euch allen fertig.“ Und damit ging er ohne Gruß, den dreieckigen Hut auf den Kopf drückend, der Thür zu und verschwand.

Der Baron war in den Stuhl gesunken, neben dem er bisher gestanden. Die Arme hingen schlaff herunter, sein Gesicht war blaß und er athmete schwer.




8. Nun fall’ du Reif, du kalter Schnee!

Das war ein sehr ernster Herbst, der von 1847, und mit dem Winter wurde es nicht besser, sondern immer ernster: die Gewitterwolken thürmten sich ringsumher auf und zogen näher und näher, und wohin man auch sah, überall schon lagen ihre Schatten schwer und beängstigend, und man sehnte sich schier, daß nur der erste Blitz zucke und der Donner über die Lande rolle. Dann erst durfte man wieder aufathmen, sei es auch im Sturm und Kampf; so wie jetzt, glaubte niemand länger noch fortleben zu können, weder die Einzelnen, noch die Völker.

Der bedenkliche Anfall, der den Baron Treuenstein zum Schluß jener an überraschenden und erschütternden Momenten reichen Morgenverhandlung niedergeworfen, war von der ausgezeichneten Natur des Herrn schneller überwunden worden, als es die erschrockenen Seinen und der aus der nächsten kleinen Stadt herbeigerufene Arzt anfänglich gefürchtet hatten. Ein paar Tage noch mußte man auf dem öden Schlosse verweilen; dann brachen sie auf und kehrten in die Residenz zurück, wo das Palais am Plan sie aufnahm, in dem nun wieder wie sonst alle Fäden der Regierung [259] und Verwaltung zusammenliefen. Denn die Nachricht, mit welcher der Baron seine Umgebung in Dernot überrascht hatte – selbst der Justizrath erfuhr erst hier davon –, bestätigte sich: Treuenstein hatte sich, wie man erfuhr, nach langen Verhandlungen dazu verstanden, das Ministerportefeuille wieder zu übernehmen.

Wo man von dem Unfall des Herrn erfahren hatte – und dies war, ohne daß sich das Wie hätte angeben lassen, hier und da geschehen –, nahm man seinen Wiedereintritt bald mit Kopfschütteln, bald mit Schadenfreude und überall mit Spannung auf, da man schließen zu dürfen meinte, daß sich in seinem Auftreten und seiner Thätigkeit nothwendig irgend welche Folgen der Krankheit offenbaren müßten. Darin hatte man sich indessen gründlich getäuscht. Man fand den Minister auf seinem Posten genau in derselben Verfassung wieder, in der man ihn von seiner Stelle vor sechszehn Jahren hatte zurücktreten sehen. Geistesfrische und Klarheit, Ueberblick und Arbeitskraft verriethen nirgends ein Nachlassen, und was seine Auffassung und Behandlung der öffentlichen Zustände betraf, mußte man zugestehen, daß seine – sagen wir einmal: Energie, noch gewachsen war; er hielt die Zügel und führte sie mit eiserner Hand und trat jeder freieren Regung im Ländchen mit jener unerbittlichen Härte entgegen, welche die letzte Zeit vor seinem Zurücktritt gekennzeichnet hatte. Jetzt hatte er obendrein den Fürsten, der damals sein Widersacher, völlig auf seiner Seite. Ja man wußte, daß der Herzog grade um dieser Entschiedenheit und Kraft willen den alten Diener unter jeder Bedingung hatte wieder gewinnen wollen. Das bisher herrschende nachgiebige und nachsichtige, hin und herschwankende System schien ihm ungenügend, wo nicht gefährlich, in einer Zeit der Erschütterungen, wie man sie überall fürchten zu müssen glaubte.

In seinem Hause und den Seinen gegenüber zeigte der Minister bei weitem weniger Strenge und Entschiedenheit, wenn auch selbstverständlich die gleichmäßige gute und heitere Laune des auf jenem anmuthigen Landsitz in behaglicher Freiheit hinlebenden Privatmannes vor den drängenden und zum mindesten ernsten Geschäften des Staatsmannes nicht immer zu der alten freundlichen Herrschaft gelangen konnte. Der Baron konnte seinem Familienkreise und dem Ausruhen in demselben nicht mehr so viel Zeit widmen wie bisher, und die kleinen Interessen aller oder einzelner, an denen er früher gutmüthig und freundlich Theil genommen, waren nunmehr kaum noch für ihn vorhanden. Ja, dies schien selbst von dem gelten zu sollen, was zuletzt diese Menschen und ihren Frieden so tief erschüttert und ihre liebevolle Verbindung unheilbar zu zerreißen gedroht hatte.

Was den Vater seiner eigenmächtigen Tochter und ihren Begleitern nachgezogen und was er an ihr und in dem einsamen alten Schloß zu erleben gehabt, war von ihm niemals wieder, auch nur mit der leisesten Hindeutung erwähnt worden. Selbst gleich anfangs, da er aus seiner Betäubung zu sich kam und noch ein paar Tage auf dem Schauplatz der Begebenheiten verweilen mußte, war dies nicht geschehen, und nachdem er bei seiner Rückkehr in die Residenz den betreffenden Exclamationen der Tante Kunigunde auf das Rauhste ein Ende gemacht, blieb seine Lippe streng und kalt geschlossen. Kein Wort des Tadels – aber freilich auch keines einer eigentlichen und wirklichen Vergebung wurde laut, nichts von besonderer Strenge, von einer Beschränkung der Freiheit Esperancens wurde sichtbar. Joseph ward mit dem alten Wohlwollen zur Fortsetzung seiner Studien auf die Universität entlassen; die jungen Mädchen setzten ihre Lebensweise nur mit den durch den Aufenthalt in der Residenz gebotenen Abänderungen unbehindert fort und fanden den Vater und Oheim in den, wie gesagt, freilich seltenen Ausruhestunden kaum weniger zugänglich, freundlich und zutraulich als sonst. Und wie ernst sein Wille, daß das Geschehene abgethan bleiben sollte, offenbarte sich am deutlichsten und drückendsten an dem unverbrüchlichen Schweigen, das er über seinen Sohn und die Begegnung mit ihm beobachtete. Selbst in Dernot hatte er seiner und seines Verbleibens nicht mehr gedacht.

Wir sagten schon, daß mit diesem Verstummen und Gehenlassen nirgends eine auch noch so leise Andeutung des wirklichen Vergebens und Vergessens verbunden gewesen – die Leser erinnern sich, daß der Baron sich niemals zu dergleichen verstanden hatte. Und daß es noch weniger als ein Zeichen der Gleichgültigkeit oder Verachtung aufzufassen war, offenbarte sich zuweilen in einer Weise, welche die nächste Umgebung des Ministers auf das Tödtlichste erschreckte und zugleich bewies, daß der Unfall, welcher in Dernot ihn niedergeworfen hatte, leider nicht vollständig überwunden worden war.

Als er, von Dernot aufbrechend, noch ein wenig angegriffen neben dem Kammerherrn im Wagen saß und sich die vorsichtige Unterhaltung des Begleiters, wie es schien, gern gefallen ließ, hatte er sich plötzlich aus seiner Ecke aufgerichtet und war mit einem Ton, wie noch niemand ihn so klagend von ihm vernommen, und mit aufdringenden Thränen in die Worte ausgebrochen: „Giebt es einen bejammernswertheren Menschen als mich, Brose? Finde ich meinen Sohn, meinen Prachtjungen, dessen Tod man mir vorgelogen, nun nur am Leben, um ihn mir durch diesen Unmenschen von neuem abgelogen und ihn selbst mich verleugnen zu sehen, ihn nicht an mein Herz ziehen zu sollen, ihn nicht anerkennen zu dürfen!“ – Und da Brose ganz verwirrt meinte: „Aber, alter Freund, der Leopold –“ unterbrach ihn Treuenstein mit jähem Zorn: „Wer redet von dem – Bastard? Von Franz sprech’ ich, von meinem Sohn, meiner Liebe, meinem Stolz – von Anna’s Kinde, den der Unmensch, der Augustin –“ und indem seine Stimme zum Murmeln herabsank, deckte er die Hand über die Augen und lehnte sich, wie vom Schmerz übermannt, verstummend in die Ecke zurück.

Der Kammerherr war über diese seltsame Phantasie des sonst so klaren Freundes derartig erschrocken, daß er wirklich einige Zeit brauchte, bevor er sich gefaßt hatte und eine Antwort versuchen konnte. „Aber, lieber alter Freund,“ sagte er zagend, „wie um Gottes willen kommt Ihr auf solche Gedanken? Seht doch den jungen Menschen nur an – jener, Euer Sohn, müßte ja mindestens zwei-, dreiundvierzig Jahre zählen, und dieser da ist bestimmt nicht über fünf- oder sechsundzwanzig!“

Der Baron ließ die Hand von den Augen sinken und sah seinen Nachbar, anfangs wie betäubt, bald jedoch mit hellerem und klarerem Ausdruck an. „Glaubt Ihr das wirklich, Brose?“ fragte er noch stockend.

„Ei, mein Himmel, darüber kann gar kein Zweifel sein, Treuenstein!“ rief der Kammerherr mit einem Versuch zu lachen. „Dies ist ja eine ganz unbegreifliche –“

„Sagt’s nur: Thorheit – freilich Thorheit!“ fiel der Baron, die Brauen zusammenziehend, ein. „Euer Einwand ist schlagend. Weiß der Teufel, wie mir der verrückte Einfall gekommen,“ fügte er finster hinzu und legte die Hand an die Stirn. „Es muß hier nicht richtig sein – wie käm’ es mir sonst? Reinen Mund, Brose!“

Der Anfall war damit freilich vorüber gewesen und Brose schwieg wirklich; nur gegen den langjährigen Kammerdiener des Barons äußerte er sich, denn es schien ihm nothwendig zu sein, daß zum mindesten ein Vertrauter von diesem Zustande wisse und auf seine mögliche Rückkehr gerüstet sei. Er hatte leider Gelegenheit, den Diener selbst in die Behandlung einzuführen, da der Baron in den Tagen, welche der Kammerherr noch bei den Freunden in der Residenz verweilen konnte, der gleichen Phantasie unterlag, diesmal Nachts beim Auskleiden, und bei weitem nicht so schnell durch Brose’s und des Dieners Zureden beruhigt. Und auch seitdem trat dieser Zustand von Zeit zu Zeit ein – blitzgleich, ohne die leisesten Vorzeichen, welche die Umgebung des Ministers hätten aufmerksam machen und sich auf das Kommende rüsten lassen können, meistens freilich Nachts, nach einem besonders anstrengendem Tage, nach Aerger und Aufregung, ein paar Mal aber auch Abends im Familienkreise – wer stand dafür, daß er nicht einmal auch zu noch unglücklicheren Stunden und in fremder Umgebung hervorbrach?

Man durfte vor einer solchen Möglichkeit wohl zittern. Den herzzerreißenden Klagen über den ihm entzogenen Sohn schlossen sich zuweilen die wüthendsten Zornausbrüche gegen den Müller an und ein paarmal wurden Anklagen gegen Treuenstein’s Vater und seine erste Gemahlin laut, die, wenn auch plötzlich wieder mißtrauisch oder mit einem Rest von Besinnung abgebrochen und seiner Umgebung kaum verständlich, doch genug offenbarten, um einem Fremden die bedenklichsten Einblicke in das Familienleben des Ministers zu eröffnen. Am betrübendsten aber war, daß selbst vom Arzt keine rechte Hülfe zu hoffen war: wie hätte man diesen bei den jähen Anfällen nur so schnell zur Stelle schaffen sollen? Hinterdrein aber, wenn der Baron aus dem tiefen Schlaf, der dem Ausbruch zu folgen pflegte, völlig frisch und frei [260] erwachte, ließ sich noch weniger thun: die vorsichtigsten Bitten und Fragen reizten den Herrn zu der bedenklichsten Heftigkeit, und wie er einmal geartet war, blieb jedermann im Zweifel darüber, ob er von dem Anfall gar nichts wisse, oder ob er nur über denselben nicht gesprochen haben, an ihn nicht erinnert sein wolle.

Ein Zeichen gab es indessen dennoch, aus dem man vielleicht schließen durfte, daß die unglückliche oder thörichte Phantasie auch zu sogenannten freien Stunden den Geist des Ministers beschäftige: in dem kleinen Gemach neben seinem Cabinet, das selbst für seine Nächsten nur ausnahms- oder gar heimlicherweise zugänglich ward, hingen seit der Rückkehr von Dernot die beiden Bilder, deren wir Leopold gegen Esperance erwähnen hörten – das der armen Euphemia von der Not und das des Großonkels August. Wo sie bisher gewesen und wie sie an ihren jetzigen Platz gekommen, erfuhr man nicht. Ernst, der Kammerdiener, und einigemale auch Esperance und Kunigunde sahen den Baron zuweilen vor ihnen stehen und mit finsterem, forschendem Blick sie gleichsam Zug für Zug studiren. Er wandte sich, wenn er sich gestört sah, hastig und sichtbar zürnend ab.

Herr von Brose sollte in den Tagen, welche er nach der Dernoter Reise in der Residenz verweilte, noch einmal Gelegenheit zu einem neuen, einem anderen Mitglied der befreundeten Familie zu leistenden Dienst erhalten und mußte denselben leisten, wie unerwartet er ihm auch kam und wie schwer er ihm wurde.

Am Morgen, der zu seiner Abreise bestimmt war, erschien Esperance in seinem Zimmer; das Mädchen war, wie er schon aus dem Ausdruck ihres Gesichts und ihrer ganzen Erscheinung schließen konnte, in sehr ernster und – sagen wir: entschlossener Stimmung, und ihre ersten Worte schon zeigten die völlige Richtigkeit solches Schlusses. Ohne weitere Einleitung sagte sie dem Herrn, daß sie ihn um Aufklärung über einige Punkte bitten müsse, die seither hier und in Dernot zur Sprache gekommen und ihr unverständlich geblieben seien. Bei ihm, der seit so vielen Jahren mit ihrem Vater auf das Engste befreundet und vor allen auch sein Gefährte auf jenem früheren Dernoter Aufenthalt gewesen sei, dürfte sie am ersten die genügende Kenntniß und hoffentlich auch die Liebe zu ihr voraussetzen, welche ihm die gewünschten Mittheilungen erleichtern, ja zur Pflicht machen müsse. Von jetzt an, fügte das Mädchen ernst hinzu, scheine ihr Recht auf Dernot unbestritten, und wie Zustände und Verhältnisse einmal seien, könne sie möglicherweise bald dazu berufen werden, den Namen ihrer Familie und diese selbst fortan zu vertreten.

„Aber mein liebes Kind,“ sagte Brose wirklich bestürzt, „Ihr Vater –“

„Lassen wir das alles gehen, Kammerherr,“ unterbrach sie ihn beinah finster. „Machen wir keine Winkelzüge, wo wir uns doch ohne Worte verstehen. Wie es um den Papa steht und wie viel trauriger es noch in der nächsten Stunde schon stehen mag – ist mir zum mindesten sicher ebenso klar wie Ihnen, und es nützt nichts, sich eine schlimme Möglichkeit oder vielmehr Wahrscheinlichkeit zu verbergen. Was die Treuenstein’sche Erbschaft betrifft, geht mich keinenfalls etwas an; anders aber ist es mit Dernot: seine Testamentsbestimmung lautet unableugbar, daß Dernot mein ist und daß ich vom vollendeten achtzehnten Jahr an den Besitz desselben antreten und ohne fremde Einmischung oder Beaufsichtigung für mich behaupten darf. Sie sehen, er hat sich und mich für ungewisse Fälle sichern wollen und überdies, trotz meiner anscheinenden Windigkeit, Vertrauen zu meinem Charakter gehabt. Daß ich dies jetzt, wo ich selbst an mein Recht auf Dernot glauben kann, nicht täuschen werde, trauen Sie mir zu; es wird an mir nicht fehlen, wenn jemand versuchen sollte, sein Unrecht meinem Recht entgegen zu setzen.“

Herr von Brose saß vor dieser Auseinandersetzung völlig verstummt und mußte sich gewissermaßen ernstlich zusammen nehmen, um zu glauben, daß die ernste Sprecherin da vor ihm, diejenige, welche mit solcher Fassung von möglichen Verlusten und Leiden, vor allem aber mit solchem ungewöhnlichen Interesse von Gut und Besitz und Erhaltung desselben redete, ein junges, schönes, reiches und vornehmes Mädchen, daß es Esperance sei, in deren heiterem und übermüthigem Kopfe, in deren sorglosem Herzen selbst die Ihren auch jetzt so viel Ueberlegung, Berechnung nicht geahnt hatten. Seine Miene, sein Blick, sein Kopfschütteln mochten ihr seine Gedanken wohl andeuten, und bevor er noch zur Antwort kam, sagte sie plötzlich: „Mißverstehen und verkennen Sie mich nicht, Papa. Wenn ich mich in dieser Weise auf Dernot und seinen Besitz capricire, geschieht es nicht aus Eitelkeit oder Habgier, sondern weil es, wenn der Vater stürbe, vermuthlich das Einzige bleibt, was wir für uns und denjenigen behalten, den ich trotz des abscheulichen Worts, mit dem ihn der Vater nannte, und trotz des alten Müllers Andeutungen, dennoch für meinen Bruder halten und lieben will. Und da bin ich bei meiner ersten Frage,“ fügte sie im gleichen, entschlossenen Tone und mit festem Blick hinzu; „was für ein Recht hat der Vater, durch dieses Wort sich selbst, seine Gemahlin und seinen Sohn zu entehren? Reden Sie, Kammerherr – keine lange Auseinandersetzung, nur eine kurze Erklärung.“

„Aber mein liebes Kind,“ sprach der alte Herr sehr verlegen, „wenn ich davon auch wüßte – Sie können doch nicht wollen, daß ich Ihnen, dem –“

„Unsinn, Brose,“ unterbrach sie ihn ungeduldig. „Sehen Sie mich an – sehe ich Ihnen wie ein kindisches oder – schlechtes Geschöpf aus? Nochmals: keine langen Auseinandersetzungen, sondern ein kurzes, aber bestimmtes Wort. Hat er ein Recht?“

Herr von Brose rückte verlegen hin und her. Er schlang seine Finger durcheinander und sah sein schönes Gegenüber bald mit einer Art von Verzweiflung an, bald schaute er mit schwermüthigem Ausdruck vor sich nieder. Eines mußte er zugestehen: die da vor ihm war wirklich nicht mehr das junge Mädchen, dem solche Erörterungen fremd bleiben mußten, sondern es war ein stolzes, in sich klares und entschiedenes Weib, voll Willenskraft und Lebenssicherheit – wie konnte man da an die Jahre denken und an gesellschaftliche Regeln und Grundsätze, denen die da sich nicht mehr beugte, sondern die sie selber dictirte!

(Fortsetzung folgt.)




Klosterzelle und Familienstube.


Noch immer ist, zum Trotz aller fortschreitenden Bildung, in dem Theile Deutschlands, in welchem Rom über die Priester herrscht, das verleumderische Treiben nicht beseitigt, welches den Reformator Luther als einen Auswurf der Menschheit darzustellen wagt. Aus Achtung vor der Wahrheitsliebe unserer deutschgesinnten katholischen Landsleute widmen wir hauptsächlich ihnen den folgenden Artikel. Denn wenn wir heute unseren katholischen Brüdern deutschen Stammes und Herzens zurufen: sehet hier den Martin Luther, der das Augustinerkloster zu Wittenberg zum ersten deutsch-protestantischen Pfarrhause umgewandelt, betrachtet das erste Bild einer deutschen Pfarrerfamilie, nach welcher Tausende in Deutschland als stille Pflanzstätten züchtigen und frommen Familienlebens, edler Bildung und reiner Lebensfreude gegründet worden sind! so geschieht dies um unserer deutschen Ehre willen, die jedem katholischen Patrioten so heilig ist, wie allen Andersglaubenden unserer Nation. Ein großer Mann ist eine Zierde seines Volks; auf seiner menschlichen Erscheinung darf kein Makel haften. Mögen unsere Landsleute von anderem Glauben der geistlichen Kampfbahn des Mannes ihre Theilnahme versagen und ihr fern bleiben: der unerschrockene Held, der für seine Ueberzeugung den Kampf mit der damals gefürchtetsten Macht der Welt unternahm, Kerker und Scheiterhaufen wagte und selbst vor Kaiser und Reich nicht erzitterte, – der Held verdient aller Deutschen Stolz zu sein. Aber jedem deutschen Herzen kann er nahe treten, von ihm begriffen und verehrt werden, wenn wir in dem todesmuthigen, bis zur Härte starren Reformator zugleich einen echt deutschen, gemüthvollen, edlen und guten Menschen erkennen. Der Streit auf dem Felde des Glaubens wird leider stets mit so viel Erbitterung geführt, daß der Wahrheit allein nicht immer die Ehre verbleibt; aus Haß wird auch des Gegners menschliches Bild verzerrt und für die falsche Gestalt das Vorurtheil gepflegt durch ganze Generationen. Es muß eine Zeit kommen, wie die unsere, wo man endlich in der immer heller aufstrahlenden Liebe zum gemeinsamen Vaterland zu unterscheiden beginnt,

[261]

Dr. Martin Luther’s „Cantorei im Hause“.
Nach dem Oelgemälde von G. Spangenberg.

[262] was der heimische Boden Gutes, Schönes und Großes erzeugt und was die herrschsüchtige Fremde uns angethan hat. In solchen Zeiten wird auch der Ruf gehört: Gerechtigkeit in der Geschichte und durch die Geschichte für die vielen verkannten Männer unseres Volkes. Und diesen Ruf richten wir an unsere katholischen Brüder im Vaterlande, damit dem Manne Gerechtigkeit werde, der es verdient hat, daß nicht nur die eine Hälfte der Nation ihn als ihren Glaubensherold hoch halte, sondern auch die andere in ihm den wackeren, treuen deutschen Mann und den guten, edlen sittlich reinen Menschen ehre.

Als Martin Luther auf der sichern Wartburg sein Bibelwerk und damit den Grundbau der neuen Kirche vollendet, geschah sein letzter entscheidender Schritt, der ihn dahin führte, wo wir ihn in unserem nach Spangenberg’s schönem Oelgemälde gezeichneten Bilde vor uns sehen, der Schritt, der den Mönch zum Hausvater erhob und die Klosterzelle zur Familienstube weihte.

Daß die priesterlichen Cölibatsgesetze dem Wortlaute der Lehre Jesu und dem Geiste des Christenthums direct widersprächen, hatte er längst dargethan. Die Ehe war auch für die Geistlichen der neuen Kirche ein menschliches und bürgerliches Recht geworden. Dennoch zögerte Luther vor diesem letzten Schritt. Aufforderungen seiner Freunde, durch sein Beispiel der freien urchristlichen Auffassung der Ehe das unwiderrufliche Siegel aufzudrücken, hatte er zurückgewiesen; lieber wäre es ihm offenbar gewesen, wenn ein im Rang höher Gestellter, ein Kirchenfürst, ihm darin vorangegangen wäre, und dazu hatte er den Kurfürst und Erzbischof von Mainz ausersehen. Diesem schrieb er: „Ich kann nicht einsehen, wie ein Mann ohne Gottes Zorn und Ungnade allein und ohne Weib bleiben mag; und schrecklich ist’s, so er ohne Weib sollte gefunden werden im Tode … Denn was will er antworten, wenn Gott fragen wird: Ich habe dich zum Manne gemacht, der nicht allein sei; wo ist dein Weib?“ – Und später schrieb er ihm, wohl als jener sich des Antrags weigerte: „Wenn meine Ehe Euer Kurfürstlichen Gnaden eine Stärkung sein möchte, wollte ich gern bald bereit sein, Euer K. Gnaden zum Exempel vorher zu traben.“

So geschah es. Katharina von Bora ward Luther’s Gattin; dieser Schritt erwies sich als doppelt wichtig und segensreich, denn nun hatte die Reformation einen stillen, friedlichen Heerd gewonnen, eine Familie, wo die Kämpfer sich versammelten, wo sie ausruhten im häuslichen Kreise, wo Allen so wohl ward, wenn Frauensinn und Frauenhand den trüben Blick der Männer zu klären suchte. In Luther’s Haus kamen die Freunde, kam besonders Melanchthon oft und hörte still zu, wenn Luther mit seinen Kindern musicirte. Das nannte dieser seine „Cantorei im Hause“. Es ist bekannt, wie Luther die Musik liebte, wie er sie trieb in seinen Freistunden schon auf der Schule, auf der Universität, im Kloster, sein ganzes Leben hindurch. Er war ja nicht allein ein kräftiger Liederdichter, zu vielen seiner Lieder schuf er auch die Melodie. Mit welcher Tiefe, Kraft und Wahrheit er Wort und Melodie zu dichten wußte, beweist das Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“, dieser Schlachtgesang, dieses Triumphlied des Protestantismus, diese ewige Jubelhymne auf den Feldern des Fortschritts. „Wer die Musicam verachtet,“ schrieb er, „mit dem bin ich nicht zufrieden. Denn die Musica ist ein Geschenk Gottes, nicht ein Menschengeschenk. So vertreibt sie auch den Teufel und macht die Leute fröhlich. Ich gebe nach der Theologie der Musica den nächsten Locum und die höchste Ehre.“ Darum pflegte er die Musik in seiner Familie. Hatte er für das Volk gearbeitet den lieben Tag hindurch, hatte er gepredigt in der Kirche, gelehrt in dem Hörsaale, wo die studirende Jugend seine Worte ihm von der Lippe nahm, hatte er mit seinen Berufsgenossen, den Rüstzeugen und Mitkämpfern in jener Zeit, berathen, bedacht und beschlossen, wie es im Drange der Umstände nöthig, oder hatte er an seinem Schreibtische gesessen und gearbeitet an volksthümlichen Schriften, die er für viel wichtiger erkannte, als glänzende Disputationen vor Gelehrten: der Abend mußte doch nach solch’ mühevollem Tage in der Regel einige Stunden für die Familie abgeben. Da wurde gesprochen, gescherzt, gespielt, gesungen, den Gesang begleitete er gewöhnlich mit der Laute oder auch mit der Flöte. Ein frommer und dabei fröhlicher Geist wehte durch das Haus; Luther’s Ehe war eine der glücklichsten, welche die Erde gesehen.

Wollen wir einen tiefen Blick in Luther’s Vaterherz thun, so müssen wir den Brief lesen, welchen er von Coburg aus an sein erstes Söhnchen, das kleine Hänschen schrieb. Damals war der Reichstag in Augsburg, den aber Luther als noch „Geächteter“ nicht mit besuchen konnte. Um dennoch in der Nähe zu sein, blieb er auf der Veste Coburg, und hier schrieb er an sein damals vierjähriges Hänschen:

„Mein herzliebes Söhnlein! Ich sehe gern, daß Du wohl und fleißig lernest und betest. Thu’ also, mein Söhnlein, und fahre fort. Wenn ich heimkomme, will ich Dir einen schönen Jahrmarkt mitbringen. Ich weiß einen hübschen lustigen Garten. Da gehen viele Kinder drinnen, die haben güldene Röcklein an, und lesen schöne Aepfel unter den Bäumen, und singen und springen und sind fröhlich, haben auch schöne kleine Rößlein mit güldenen Zäumen und silbernen Sätteln. Da fragte ich den Mann, dessen der Garten ist, weß Kinder die wären? Da sagt’ er: es sind die Kinder, die gern beten, lernen und fromm sind. Da sprach ich: lieber Mann, ich hab’ auch ein Söhnlein, heißt Hänschen Luther, möcht’ er nicht auch in den Garten kommen, daß er solch schöne Aepfel und Birnen essen möcht’ und solche feine Rößlein reiten und mit diesen Kindern spielen? – Da sprach der Mann: wenn er gern betet, lernt und fromm ist, so soll er auch in den Garten kommen, – Lippus und Jost auch, seine Spielgesellen, und wenn sie alle zusammen kommen, so werden sie auch haben Pfeifen, Pauken, Lauten, und allerlei Saitenspiel, werden auch tanzen und mit kleinen Armbrüsten schießen. – Und der Mann zeigte mir eine feine Wiese im Garten, zum Tanzen zugerichtet, da hingen eitel güldene Pfeifen, Pauken und feine, silberne Armbrüste. Aber es war noch früh, daß die Kinder noch nicht gegessen hatten. Darum konnt’ ich des Tanzens nicht erwarten, und sprach zu dem Manne: ach, lieber Herr, ich will flugs hingehen, daß er ja fleißig bete und wohl lerne und fromm sei, auf daß er auch in diesen Garten komme. – Da sprach der Mann: es soll ja sein, geh’ hin, und schreib ihm also.

Darum, liebes Hänschen, lern’ und bete ja getrost; und sag’ es Lippus und Jost auch, daß sie auch lernen und beten, so werdet ihr miteinander in den Garten kommen.

Hiermit sei dem allmächtigen Gott befohlen, und grüße Muhme Lenen, und gieb ihr einen Kuß von meinetwegen.

Dein lieber Vater Martin Luther. Anno 1530.“

Nur aus einem reichen, tiefen, poetischen Gemüthe, nur von einem Vater, der glücklich ist in Weib und Kind, kann solch’ ein Brief kommen. In diesem Briefe spiegelt sich nicht nur das Vaterherz, auch das Haus, die Ehe, das Familienleben, das ganze volle Glück des gewaltigen und doch so kindlichen Mannes.

Außer diesem Hänschen schenkte ihm sein liebes Weib, seine „Frau Doctorin“ oder sein „Herr Käthe“, wie er sie in seinen Briefen in Scherz und Freude oft nannte, noch fünf andere Kinder: Elisabeth, die bald nach der Geburt wieder starb, dann Magdalene, Martin, Paulus und Margaretha.

Freud und Leid dieses schönen, fast einundzwanzigjährigen Ehestandes bis in’s Einzelne zu schildern, gäbe ein Buch; wir müssen uns auf wenige kleine Bilder daraus beschränken. Herrlich ist sein Hoffen und sein Gebet an seinem Hochzeitstage in Erfüllung gegangen. „Lieber himmlischer Vater (so betete er damals), dieweil du mich in deines Namens und Amtes Ehre gesetzt hast, und mich auch willst Vater genannt und geehrt haben, verleihe mir Gnad’ und segne mich, daß ich mein liebes Weib, Kind und Gesinde göttlich und christlich regiere und ernähre.“ – Und mitten in seinem Leben konnte er sagen: „Meine Käthe ist mir in Allem gehorsam und fügsam, mehr als ich zu hoffen gewagt hätte. So daß ich mich reicher schätze als den Crösum!“ –

Wie noch heutzutage in jeder glücklichen Familie war für Luther und die Seinen die schönste Freude des Sommers der Garten und des Winters der Christbaum. Im Freien, im Anschauen und Genusse der Natur ging ihm stets das Herz auf, und wie er so gern die Schöpfung mit seinem frommen sinnigen Dichterauge betrachtete und bewunderte, so übte er darin früh seine Lieben und wies die Freunde seines Hauses darauf hin. Denn im Garten war er am liebsten im Kreise seiner Familie und seiner Freunde, die gleichsam zur Familie gehörten. Da wurde gespielt mit den Kindern, die Aller Freude waren, da wurde ihnen die Natur lebendig gemacht durch Märchen und Geschichten, da wurde gesungen und musicirt, da gab Jedes seines Herzens Bestes, und selbst die Kunst schlich mit ihrem Bilderbuch herbei, wenn Lucas Cranach, der kunstreiche Mann, an den Freuden der Familie Theil nahm. Für Luther aber blieb die Schöpfung auch im [263] Kinderkreise eine göttliche Zeichensprache des Unsichtbaren, Höheren; in der innigen Naturfreude seines beschaulichen Gemüths verglich er einst sogar die Bibel mit einem schönen Walde, und er konnte wohl mit frommer Freude hinzufügen: „es ist kein Baum darinnen, an dem ich nicht mit meiner Hand geklopfet habe.“

Der Garten, an welchem Luther im Winter seine Augen weidete, waren seine Kinder, die er ja immer als den herrlichsten Segen Gottes pries. Das liebe alte deutsche Christfest unter den Lichterstrahlen des bunt geschmückten Tannenbaums bereitete auch in Luther’s Hause den Kindern ihren heiligsten Abend. Der Maler Gustav König und unser Schwerdtgeburth haben uns solche Weihnachtsbescherungen gezeichnet. Des letztern köstliches Bild schmückt viele Familienstuben. Auf König’s Darstellung in seinen Bildern aus des Reformators Leben sitzt Luther vor dem Christbaum, die treue Gattin ihm zur Linken die Hand drückend und sein jüngstes Töchterlein ihm auf dem Schoß, und der kleine Paulus zeigt ihm sein neues Steckenpferd, während Reiter, Trompeten, Aepfel und andere Lust schon auf dem Fußboden Platz gefunden haben; Luther’s liebster Freund Melanchthon macht sich mit Hänschen zu schaffen, denn da sind nun all’ die „hübschen lustigen Gärten, vielen Kinder, Aepfel und Birnen, schönen kleinen Pferdlein mit goldenen Zäumen und silbernen Sätteln, Pfeifen, Pauken und feine silberne Armbrüste,“ von denen des Vaters Coburger Brief verheißen hatte. Nun schießt Hänschen richtig nach den goldenen Aepfeln am Christbaum, und hinten am Tisch freut „Muhme Lene“ sich mit dem kleinen Martin an einem neuen Bilderbuch; vor ihnen sitzt Magdalenchen neben ihrem Puppenwäglein und hält den Christengel, den man ihr von der Spitze des Tannenbaums herabgereicht, selig lächelnd über ihr liebes Kindeshäuptlein empor, sie, die nur allzufrüh selbst ein Engel sein sollte.

Wen all die Liebe des Mannes im Glück nicht für ihn erwärmen könnte: „Luther am Sarge seines Töchterleins Magdalena“, der Anblick des Mannes in seinem tiefsten Schmerz und seiner höchsten Gottergebenheit – kann ungerührt nur ein Auge lassen, aus dem kein Herz spricht. Unsere Leser kennen die ergreifende Scene.[1] Die Tage der häuslichen Sorge und Trauer mehrten sich auch bei Luther mit den wachsenden Jahren; Krankheit und Tod von Eltern, Verwandten, Freunden schoben Wolken auf Wolken vor die Sonne des häuslichen Friedens, es ward einsamer in ihm, während die drohenden Stürme von außen immer näher gegen sein großes Werk der Reformation heranrückten. Wie er am Sarge seines Töchterleins ausgerufen: „Ich wollte, daß ich und meine Kinder und ihr Alle sollt so hinfahren, denn es werden böse Zeiten folgen,“ – so sprach er vor seinem letzten Gang, als er Abschied von seiner Familie nahm, um in Eisleben Frieden zwischen ihm befreundeten Fürsten zu stiften und – dort zu sterben, wo er geboren war: „Die Welt ist mein müde, so bin ich ihrer müde; wir werden uns leicht trennen, gleichwie ein Gast die Herberge nicht ungern verläßt;“ – aber bei seinen Lieben, bei seiner lieben Käthe und seinen Kindern ist sein Herz und weilt sein Geist bis zum letzten Augenblick. „Laß mich in Frieden mit Deiner Sorge; ich habe einen bessern Sorger als Du und alle Engel sind. Darum sei in Frieden, Amen!“ Das waren seine letzten Zeilen an seine Gattin.

So steht der Doctor Martin Luther vor uns als ein kerndeutscher Mann, dem die Ehre seiner Nation nächst Gottes Ehre das Höchste war, der den Papst bekämpfte als den welschen Feind des deutschen Geistes, der nicht um „Gedankenfreiheit“ vor Königsthronen bettelte, sondern sie erfocht, aber freilich auch ein so harter Fels, daß er weicher geschaffene Freunde oft verletzte, ein Kopf von Eisen, unter dem ein Kindesherz in der Brust schlug. Auch er hat zuweilen geirrt, denn er war ein Mensch, aber jeder Gerechte wird mit uns einstimmen in das Urtheil des Mannes, der vor Tausenden befähigt war, an einen Luther den Maßstab zu legen; Lessing sagt: „Luther steht bei mir in einer solchen Verehrung, daß es mir lieb ist, einige Mängel an ihm entdeckt zu haben, weil ich in der That sonst der Gefahr nahe war, ihn zu vergöttern. Die Spuren der Menschheit, die ich an ihm finde, sind mir so kostbar wie die blendendste seiner Vollkommenheiten.“ Also, ihr Deutschen allerwärts: Gerechtigkeit dem Luther in der Geschichte und durch die Geschichte! –




Erinnerungen an einen großen Todten.
Von Dr. Max Schasler.
I.


Es war etwa ein Jahr, nachdem der große Meister der neuern deutschen Malerei, Peter von Cornelius, Rom – sein künstlerisches Mekka, wohin er immer pilgerte, sobald neue und große Ideen in ihm auf Gestaltung drangen – zum letzten Male verlassen hatte, um mit seiner jugendlichen Gattin für immer nach Berlin überzusiedeln, d. h. im Frühjahr des Jahres 1862, als ich zum ersten Mal mit ihm zusammentraf. Ich hatte längere Zeit in den Parterreräumen seines Hauses neben dem Raczynski’schen Palais am Exercirplatz verweilt, um den in denselben aufgestellten Cartons zum Campo Santo eine freie Stunde ruhigen Studiums zu widmen, als er plötzlich hereintrat. Ich hatte ihn früher noch nicht gesehen, erkannte ihn aber auf den ersten Blick: eine kaum mittelgroße Gestalt, aber trotz seiner vierundsiebenzig Jahre ungebeugt, wenn auch schon etwas langsam in den Bewegungen; auf dem etwas kurzen Halse ein seltsamer, wie aus Granit gehauener Kopf; die schlichten und noch völlig schwarzen Haare zu Seiten einer Stirn fallend, die, ohne gerade sehr hoch zu sein, durch ihre mächtige Breite und Wölbung die Welt von Gedanken ahnen ließ, die sich dahinter verbarg; eine entschieden vorspringende Nase von kraftvoller Bildung; ein Mund, dessen Unterlippe ein wenig vorstand, während rings Falten von charakteristischer Modellirung herumlagen: so schritt er langsam, in einen langen, mit Pelz gefütterten Oberrock gehüllt, auf mich zu und erwiderte mit gewinnender Freundlichkeit meinen ehrfurchtsvollen Gruß.

Wir standen vor dem ‚Sturz Babels‘, jener gewaltigen Schöpfung des Meisters, der größten vielleicht nächst den ‚Apokalyptischen Reitern‘. Ich hatte ihm meine Karte hinaufgeschickt, hielt es jedoch für passend, ihm mich persönlich vorzustellen. – Jene erste Begegnung und die wenigen Worte, welche wir wechselten, werden mir immer unvergeßlich bleiben. Wir haben später viele und lange Gespräche gehabt, da ich das hohe Glück genoß, in seine Häuslichkeit Zutritt zu erlangen; aber jene erste kurze Begegnung steht mir lebhafter als alles Andere vor der Erinnerung.

„Also, Sie sind Herausgeber einer Kunstzeitung, d. h. Kritiker,“ bemerkte er nach einiger Zeit. „Eine vortreffliche Sache die Kritik, wenn sie richtig gehandhabt wird. Aber das ist heutzutage selten. Das Geschlecht der Winckelmanns und Lessings scheint ausgestorben, selbst hier in dem kritischen Berlin.“ – Er schien eine Entgegnung zu erwarten und fragte dann, als ich schwieg, mit einer gewissen Schärfe, indem er auf den Carton wies: „Nun, sagen Sie mir einmal Ihre Meinung darüber; geniren Sie sich nicht, ich habe gelernt, den Tadel zu ertragen und das Lob zu verachten.“

Ich gestehe, daß ich mich einigermaßen in Verlegenheit befand, eine Frage dieser Art so kurzweg zu beantworten, erwiderte daher, daß ich zu hohe Achtung vor seinem Künstlergeiste hegte, um voraussetzen zu dürfen, daß er nur allgemeine Phrasen von ‚Großartigkeit‘, ‚gewaltiger Composition‘, ‚Ideenreichthum‘ und dergleichen erwarte; er werde wohl am besten wissen, daß ein solches Werk nicht als Einzelproduct zu beurtheilen, sondern nur im Zusammenhange mit der ganzen Ideenfolge, der es angehöre, zu verstehen sei und daß diese ganze Ideenfolge ihrerseits wieder nur auf Grund einer tieferen Charakteristik seiner, des Meisters, künstlerischen Anschauungsweise gewürdigt und begriffen werden könne. Was aber das Loben und das Tadeln beträfe, die er als Alternative für die Kritik hingestellt habe, so handele es sich darum meiner Ansicht nach gar nicht, sondern um ganz andere Dinge, zunächst um ein objectives Begreifen des Werkes nach Inhalt und Form und sodann um eine ebenso objective Charakteristik desselben, woraus allein das Publicum ein richtiges Verständniß schöpfen könne. Ob in dieser Charakteristik nebenher ein Lob oder ein Tadel oder, was bei einer wahrhaften Kritik [264] meistens der Fall sein werde, beides enthalten sei, das wäre weder die Hauptsache noch der Zweck der Kritik.

„Das läßt sich hören,“ meinte Cornelius mit größerer Freundlichkeit im Ton, „ich freue mich, daß Sie die Kritik so ernst auffassen.“

„Ich fasse sie als eine Wissenschaft auf, und die Wissenschaft ist ernst,“ bemerkte ich.

„Richtig,“ fiel er mit einer gewissen Ironie ein, „die Wissenschaft ist ernst, das Leben auch, blos die Kunst soll ja heiter sein. – Aber ich sage Ihnen,“ fuhr er plötzlich mit starker Stimme fort, „die Kunst ist das Allerernsteste von den Dreien; freilich nicht, wie sie heutzutage getrieben wird, als ein Cultus der Materie, sondern wie sie von den alten großen Meistern und, Gott sei Dank, auch noch von einigen tüchtigen Kerlen heutiger Zeit getrieben wird … Doch, kommen Sie mit herauf; hier ist’s kalt, ich kann Rom immer noch nicht vergessen und den warmen italienischen Himmel, mich friert’s hier in Berlin …“ Leider konnte ich seiner freundlichen Einladung nicht Folge leisten, und so forderte er mich in liebenswürdigster Weise auf, ihn recht bald zu besuchen.

Dies war mein erstes, unvergeßliches Zusammentreffen mit Cornelius. Der Eindruck, den er damals auf mich machte, war um so tiefer, als mir der Grund davon erst später, nachdem ich oft bei ihm gewesen und Manches mit ihm gesprochen, ganz klar wurde: es war die kindliche Einfachheit, die wahrhaft menschliche Natürlichkeit seines persönlichen Wesens, in Verbindung mit dem tiefen männlichen Ernst seines Charakters und der zwar von allem Fanatismus freien, aber doch leidenschaftlichen Wärme seiner Ueberzeugung. Er war ein ganzer Mann, milde in der Form, nachsichtig gegen Andersdenkende, aber strenge, wenn auch zurückhaltend, in seiner Verdammung alles Scheinwesens und unerbittlich gegen das, was er die ‚Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst‘ zu nennen pflegte.

Ich glaube, seinem Andenken keine bessere Huldigung darbringen zu können, als durch Mittheilung einiger seiner Aussprüche, die noch in meiner Erinnerung geblieben sind. Im Allgemeinen lebte Cornelius sehr zurückgezogen, doch liebte er es, Sonntags einen kleinen Kreis von Freunden an seinem Mittagstische zu sehen. Außer seinem Schwager, dem Geheimerath Brüggemann, und dessen Frau (Cornelius’ Schwester), welche der jungen Gattin des Meisters, die damals noch wenig Deutsch sprach, mütterlich zur Seite stand, war es besonders der langjährige Freund von Cornelius, der Professor Xeller, den ich, wenn mir die Ehre einer Einladung zu Theil wurde, dort gewöhnlich antraf. Hier, bei einem guten Glase Wein, entwickelte der sonst so ernste Künstler in seinen Gesprächen eine ruhige Heiterkeit und, besonders in seinen Erzählungen aus früherer Zeit, eine drastische und oft humoristisch gefärbte Lebhaftigkeit, welche ebenso rührend wie anziehend war und jeden Zwang verbannte.

Er regte nicht nur seine Gäste zu heiteren Mittheilungen an, sondern ging ihnen auch oft mit gutem Beispiel voran. Dabei besaß er ein ganz eigenthümliches Talent der Darstellung. Ohne seine gewöhnlich ruhige und bestimmte Weise des Sprechens zu ändern, nur mit Beimischung einer gewissen treuherzigen Jovialität im Ton, erzählte er zuweilen kleine humoristische Scenen aus seinem Leben, die ungemein erheiternd waren. So erinnere ich mich einer Mittheilung aus seinem früheren römischen Aufenthalt, worin er schilderte, wie einer der Gebrüder Riepenhausen einmal in der Campagna von einem der dort ziemlich wild umherschweifenden Stiere verfolgt worden war. Dergleichen brachte er mit einem gewissen trocknen Humor vor, welcher wahrhaft drastisch wirkte, und bewies dadurch, daß er, weit davon entfernt ein asketischer Grübler zu sein und trotzdem daß sein großer Geist sich mit den erhabensten Ideen trug, auch wie andere Menschen heiter und unbefangen fühlte. Wo die Gelegenheit sich darbot, mischte er gern einen unschuldigen Scherz ein. So erinnere ich mich, daß, als ich das erste Mal bei ihm zu Mittag geladen war, er nach Vollendung des Mahles bemerkte: „Nun, Kinder, müßt Ihr mir eine halbe Stunde Zeit zum Kaffeekochen geben. Dabei darf mich Keiner stören. Nachher plaudern wir weiter.“ Verwundert fragte ich, als wir das Zimmer verließen, Xeller, warum Cornelius denn selbst Kaffee koche? – „Ach,“ erwiderte dieser, „das ist nur eine Redensart von ihm; so sagt er immer, wenn er ein kleines Nachmittagsschläfchen halten will.“ Als wir nach der halben Stunde dann wieder zusammen kamen, machte ich in scherzhafter Weise die Bemerkung, man merke wohl, daß er den Kaffee gekocht; denn er sei ausgezeichnet. „Nicht wahr?“ erwiderte er ernsthaft, „ja, das versteht keiner besser als ich, außer dem Xeller vielleicht noch.“ Denn er merkte wohl, daß Xeller mir die Lösung des Räthsels gegeben, und dafür strafte er ihn auf diese ironisch-gemüthliche Weise.

Er zeichnete damals an dem Carton zu dem Altarbilde „die Todten begraben“ u. s. f. und ich folgte mit lebhaftem Interesse der Ausbildung der Composition, in der er eine bei ihm seltene Weichheit der Empfindung offenbarte. In dem großen Eckzimmer der Nordwestseite seiner Wohnung hatte er seine Künstlerwerkstatt aufgeschlagen, da ihm das Treppensteigen – die Ateliers waren in den unteren Räumen belegen – zu beschwerlich war. Er zeichnete gewöhnlich bis nach elf Uhr und machte dann, wenn es das Wetter irgend zuließ, einen einsamen Spaziergang entweder auf dem großen Platz, an welchem sein Haus lag, in der Richtung nach dem Kroll’schen Etablissement hin, oder in den anstoßenden Gängen des Parks. Zuweilen suchte ich ihn dort auf und wanderte mit ihm auf und ab. Er sprach dann nicht viel, außer wenn ihn etwas tiefer bewegte, aber dann in seiner ruhigen und energischen Weise und mit großer Bestimmtheit.

So kamen wir einmal, ich weiß nicht mehr durch welche Gedankenverbindung, auf die verschiedene Stellung des Katholicismus und des Protestantismus zur Kunst zu sprechen, und ich fragte ihn, ob es wahr sei, wie Manche glaubten, daß die bekannte Figur in dem Predigertalar unter den Verdammten des „Jüngsten Gerichts“ in der Ludwigskirche zu München Luther darstellen solle.

„Und was wäre Ihre Ansicht darüber, wenn es sich so verhielte?“ fragte Cornelius dagegen.

„Aufrichtig gesagt, ich würde es nicht billigen.“

„Natürlich, Sie sind ja Protestant,“ bemerkte er.

„Nicht deshalb, sondern weil bei einem Werke von dieser tiefreligiösen, allgemein-christlichen und zugleich allgemein-menschlichen Bedeutung eine confessionelle Opposition der Art, namentlich von Ihrem Standpunkt aus, kleinlich erscheinen würde.“

„Von meinem Standpunkt aus! Was wissen Sie, was weiß die Welt von meinem Standpunkt? Ich bin Katholik, und aus voller Ueberzeugung.“

„Ja, aber, wie ich denke, mehr aus künstlerischen als aus religiösen Gründen,“ warf ich ein.

Cornelius sah mich einen Augenblick an, sein Auge leuchtete. Dann sagte er einfach:

„Die Kunst, wie ich sie verstehe, ist von der Religion nicht zu trennen, sie ist selbst eine Religion. Was hat die sogenannte Reformation für die Kunst gethan? Sie hat den Glauben ernüchtert, die Empfindung erkältet, die Kraft der Ueberzeugung gebrochen. Die Bilderstürmerei war nicht das Schlimmste. Aber sehen Sie sich heute um in der Kunst. Was bedeutet das heutige Kunststreben, was bedeutet die moderne Cultur überhaupt? Prosaische Aufklärerei, verständige Berechnung, schlaue Speculation und, was das Schlimmste ist, die Anbetung des goldenen Kalbes in den verschiedenen Formen. Daß der Materialismus zur Herrschaft gekommen ist, verdanken wir der Reformation und den Reformatoren, besonders Ihrem Luther. Das Geschäft der Bilderstürmerei, d. h. der Entwürdigung und Erniedrigung der Kunst, wird bis auf den heutigen Tag fortgesetzt, und am meisten durch die Künstler selbst.“

„Was konnte Luther dafür? War er nicht in seinem Recht gegen die Verderbniß der Kirche? Oder leugnen Sie diese?“

„Ich leugne sie nicht. Ich bin kein blinder Fanatiker, ich weiß den Mann wohl zu würdigen und habe Respect vor seiner Energie. Aber, bewußt oder unbewußt, hat er, um das, was er für Aberglauben und Verderbniß hielt, zu stürzen, auch den Glauben untergraben, er hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Der Zwiespalt der Gemüther, den er in die Welt gebracht, hat wie ein Gift an der Menschheit gefressen, bis sie das geworden ist, was sie heute ist: materiell, speculativ, nüchtern und egoistisch. Und dann, was nennen Sie Protestantismus? Was ist sein eigentlicher Inhalt? Die katholische Kirche hat nur einen Glauben; in ihr ist kein Zweifel, kein Scrupel. Aber wie ist es mit der protestantischen bestellt? Ist es Luther oder Zwingli, Calvin oder Wiklef, der Recht hat? Bis auf die Lichtfreunde und andere moderne Erfindungen der Aufklärerei herab ist es immer nur das Streben nach Verflachung und Ernüchterung, worin sie übereinstimmen; in allem Anderen gehen sie unter sich noch weiter auseinander, [265] als sie vom Katholicismus abweichen. Ich kann es begreifen, daß man an die Stelle des Glaubens, wenn man einmal nicht glauben kann, die philosophische Ueberzeugung, d. h. an die Stelle des Gemüths den calculirenden Verstand, an Stelle der poetisch-religiösen Empfindung die nüchterne Reflexion setzt, aber dazwischen ist ein Abgrund. Darum danke ich meinem Schöpfer, daß ich als Katholik geboren und erzogen bin.“

Was ich dem greisen Meister, der mit jugendlichem Eifer gesprochen hatte, auf diese Ansichten, die ich von meinem Standpunkte aus nur in bedingter Weise theilte, antwortete, gehört nicht hieher. Allein ich glaubte, diese Aeußerungen, welche ich noch an demselben Tage mir notirte und die ich daher fast ihrem Wortlaut nach verbürgen kann, anführen zu müssen, weil sie für die eigenthümliche Denkweise des Mannes charakteristisch sind. Er war ein Feind jeder Halbheit. Was er dachte, fühlte – dachte, fühlte er ganz, und darin lag seine Größe, die Klarheit, Einfachheit und Energie seiner Empfindung. In der Idee, die er erfaßte, ging er ganz und unbedingt auf; aber er ließ sie auch ganz und unbedingt in sich aufgehen; er wurde nicht von ihr beherrscht, sondern er beherrschte sie und entließ sie aus sich gestaltet und mit dem unverkennbaren Stempel seiner eigenen Größe bezeichnet.

Er hatte auf meine anfängliche Frage in Betreff der Figur mit dem Predigertalar auf seinem „Jüngsten Gericht“ nicht geantwortet. Da er sonst ziemlich unverhohlen über Alles sich aussprach, so hütete ich mich wohl, meine Frage zu erneuern, weil er offenbar darauf nicht antworten wollte. Hatte er eine Concession an den baierischen Confessionalismus gemacht, oder war diese ganze Auslegung eine irrige? Für mich blieb über diesen Punkt ein Zweifel. – –

Selten, aber dann mit einer gewissen ironischen Bitterkeit, sprach er über die modernen Kunstrichtungen. Ich versuchte zuweilen, die Genre- und Landschaftsmalerei als berechtigte Gebiete zu vertheidigen, er wollte jedoch davon nichts hören. „Diese Leute,“ meinte er, „brüsten sich mit der Naturwahrheit und der große Haufe jauchzt ihnen natürlich Beifall zu. Ich habe tiefe Ehrfurcht vor der Natur, sie ist von je meine Lehrmeisterin gewesen; aber was die heutige Kunst Naturwahrheit nennt, ist nur die flache und gedankenlose Natürlichkeit, der sinnliche Schein der rohen Materie. Sie bilden sich ein, Maler, Künstler zu sein, aber sie sind nur Copisten. Wenn ihnen das Modell fehlt, geht ihnen auch der Gedanke aus. Und der Gedanke allein ist es, durch welchen der wahre Künstler die Natur zum Kunstwerk erhebt.“

Ich nannte Kaulbach. Cornelius schwieg einen Augenblick, als wollte er eine plötzliche Erregung niederkämpfen, und sagte dann mit ruhiger, aber doch, wie mir schien, bewegter Stimme: „Kaulbach kommt mir wie der verlorene Sohn vor, nur mit dem Unterschiede, daß er nicht reuig zurückgekehrt ist, wie dieser. Auch er ist ein Anbeter des goldenen Kalbes geworden; ein großes, doch für die echte Kunst verlorenes Talent. Das Beste, was er gemacht, ist sein ‚Reineke Fuchs‘; das, was mir am meisten mißfällt, sind seine Malereien im Neuen Museum: es fehlt ihnen nicht nur die echte künstlerische Weihe, die Größe des Stils, sondern auch der äußere Zusammenhang. Er hat Dinge hineingeschoben, wie die ‚Hunnenschlacht‘ und die ‚Zerstörung Jerusalems‘, die gar nicht hineingehören, blos weil sie schon vorhanden waren. Das thut kein wahrer Künstler, der Respect vor der Kunst und vor sich selber hat. Ich habe ihn aufgegeben.“ Er fügte noch Mehreres, sein persönliches Verhältniß zu Kaulbach betreffend, hinzu, was ich verschweigen muß.

Nur einmal habe ich Cornelius ärgerlich und gereizt gesehen. Gewöhnliche Dinge, gelegentliche Unbequemlichkeiten etc. konnten ihm nichts anhaben, sie reizten nur seinen Humor. Allein das Geringste, was seine Kunst betraf, regte ihn auf, wenn er das Gefühl auch zu unterdrücken versuchte. Es war von dem Einfluß die Rede, den er auf das Ausland ausgeübt; er nannte die beiden Belgier Guffens und van Swerts und meinte: „Das sind ein paar tüchtige Kerle, welche ganz im ernsten deutschen Stil arbeiten und die deutsche Kunst in Belgien zu Ehren bringen. Allen Respect vor ihrem Streben! Von denen könnten unsre deutschen Maler lernen.“

„Halten Sie diese Richtung für malerisch?“ fragte ich.

„Malerisch?“ gegenfragte er heftig. „Halten Sie mich für einen Maler?“

Ich war erschreckt über seine Heftigkeit und bat ihn, mich nicht mißzuverstehen. Aber er drang auf eine bestimmte Antwort.

„Sie sind ja Kritiker,“ rief er, „so lassen Sie denn einmal Ihre kritische Weisheit leuchten. Ich weiß sehr wohl, daß es Leute giebt, die da meinen, ich könnte nicht malen. Freilich, was man heute unter Malerei versteht und was in meinen Augen nichts ist als gedankenleere Farbenkleckserei, dafür würde ich mich bedanken … Doch, sagen Sie Ihre Ansicht.“

„Ich sprach von der Richtung, nicht von der Technik,“ erwiderte ich, auf Alles gefaßt, „und diese Richtung ist durch ihre rein idealistische Natur über das Malerische hinaus auf eine höhere, abstractere Technik angewiesen.“

„Nun, und was ist denn dies,“ fragte er mit einer gewissen Ironie im Ton, „für eine Technik?“

„Es ist der Carton. Ich gestehe offen, es ist meine innigste Ueberzeugung: Ihre Richtung, so erhaben sie ist, ja gerade wegen ihrer Großartigkeit und Erhabenheit, ist doch wesentlich cartonmäßig, wenigstens kommt die ganze Gedankentiefe des Inhalts, den Sie so groß und wahrhaft monumental gestalten, nur im Carton zur höchsten künstlerischen Geltung.“

„Und so meinen Sie, daß meine Cartons nicht gemalt werden könnten?“

„Sie können gemalt werden, aber die Gemälde werden nicht die volle Erhabenheit, nicht die reine spiritualistische Wirkung besitzen, wie die Cartons.“

„Wissen Sie was, Sie verstehen nichts von Malerei. Guten Morgen.“

Er wandte mir den Rücken und ging langsam – wir befanden uns draußen auf dem Platz – nach seinem Hause zu. Ich stand und sah ihm mit beklemmtem Herzen nach. Ich hoffte immer noch, daß er sich umwenden würde, aber er that es nicht, und ich begab mich in tiefer Niedergeschlagenheit nach Hause; ich war überzeugt, daß ich ihn nicht wiedersehen würde.

Doch ich irrte mich. Schon am andern Tage erhielt ich eine Einladung zu einer Spazierfahrt. Es war seine Gewohnheit, Nachmittags mit seiner Frau zuweilen spazieren zu fahren. Hier lernte ich erst die Größe seines Herzens, die ganze Liebenswürdigkeit seines Charakters kennen. Es ging durch den Thiergarten, den Canal entlang nach Tivoli hinauf. Während der Fahrt wurde wenig und Unbedeutendes gesprochen. Oben angekommen, suchten wir einen stillen Platz unter den Bäumen; und bald standen drei schäumende Seidel Actienbier vor uns. Cornelius war sehr heiter. Von unserer gestrigen Differenz erwähnte er nichts; nur als ich unterwegs auf der Rückfahrt den Wagen verließ, gab er mir die Hand und sagte: „Kommen Sie morgen früh, wenn Sie können.“ Ich sagte zu, begierig, was er mir zu sagen habe.

„Hören Sie, lieber Doctor, ich habe über unser neuliches Gespräch nachgedacht, und wenn ich Ihnen auch nicht Recht geben kann – ich werde Ihnen Ihren Irrthum ein ander Mal beweisen – so habe ich doch Unrecht gehabt, grob gegen Sie zu sein, weil Sie Ihre Ueberzeugung aussprachen. Wohlan, das erfordert eine Buße. Sie müssen mich um irgend Etwas bitten, worin ich Ihnen gefällig sein kann. Sagen Sie, was kann ich für Sie thun?“

Und dies sagte er in einer so milden, herzlich-offnen Weise, daß ich auf’s Tiefste bewegt war. Ich wußte nicht, was antworten, und ergriff, durch ein unwiderstehliches Gefühl getrieben, seine Hand und küßte sie.

„Nein, nein,“ rief er, „so kommen Sie nicht fort. Ich muß Ihnen durchaus einen Gefallen thun. Sprechen Sie!“

Da fuhr mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Ich trug mich damals gerade mit der Idee einer photographischen Portraitgalerie berühmter Männer, wovon später auch das erste Heft unter dem Titel ‚Pantheon‘ erschienen. Ich hätte sonst nicht gewagt, Cornelius eine solche Zumuthung zu stellen, wie ich sie beabsichtigte, weil ich seine Abneigung dagegen kannte. Jetzt aber schien mir der Augenblick günstig.

„Wohlan,“ sagte ich zögernd, denn ich kannte die Schwierigkeit der Sache, „wollen Sie wirklich etwas für mich thun, dann gestatten Sie, daß ich Sie photographiren lasse.“

„Photographiren?“ sagte er enttäuscht, „wozu? Wissen Sie nichts Besseres?“

Aber einmal im Zuge, hörte ich nicht auf zu bitten; ich stellte ihm vor, daß er durchaus nicht nöthig haben sollte, deshalb [266] zum Photographen oder überhaupt aus dem Zimmer zu gehen. Es daure nur wenige Minuten u. s. f. Seine Frau kam dazu, sie war für mich eine Bundesgenossin in diesem Falle.

„Pietro, ich würde es thun,“ meinte sie.

„Nun denn, meinetwegen!“ murrte er etwas verdrießlich, und ich eilte fort, um meinen Freund, den Photographen A. Schwendy, zu avertiren. Am andern Tage fand die Sitzung statt; Cornelius war genöthigt, sich der Operation zweimal zu unterwerfen, weil sie das erste Mal mißlang. Dafür war die zweite Aufnahme eine desto gelungenere. Kein anderes Portrait giebt den energischen Ausdruck dieses bedeutenden Gesichts, die ganze Modellirung dieses merkwürdigen Kopfes in so entschiedener und treuer Weise wieder wie dieses.[2]

Ich habe die ganze kleine Episode hauptsächlich deshalb so ausführlich erzählt, weil sich in ihr die Herzensgüte und die wahrhafte Humanität des großen Künstlers so lebendig wiederspiegelt.

Diese Erinnerungen aus den letzten Lebensjahren des großen Künstlers, wie aphoristisch sie auch seien, mögen den Lesern der Gartenlaube als Einleitung zu der kurzen biographischen Charakteristik dienen, welche ich nun von Cornelius, als einem der merkwürdigsten Geister und edelsten Charaktere der neueren Zeit, zu entwerfen versuchen will.




Photographien aus dem Reichstag.
IV.


Auf den Bänken der äußersten Linken sitzt das grollende Häuflein der Polen wie eine finstere Mahnung an das alte Unrecht, nur um bei jeder Gelegenheit ihren Protest gegen die Gewalt der Thatsachen zu erheben. Ihre beiden Hauptvertreter sind die Herren Kantak und Dr. Niegolewski; der Erste, eine hohe, kräftige Gestalt, mit einem interessanten Gesicht, das nur durch eine krankhafte Bildung der Nase verunstaltet wird, drückt sich leicht und fließend in der deutschen Sprache aus und vertheidigt die Rechte seines Volkes mit großer Kraft und Energie. Dagegen erscheint Herr Niegolewski als die verkörperte Klage, als die lebendige Elegie der polnischen Nation. Ein tiefer, innerer Schmerz lagert in den bleichen Zügen, in der düster gefalteten Stirn, in den dunklen, zurücktretenden Augen. Unwillkürliches Mitgefühl ergreift den Hörer, wenn der Redner mit dumpfer Stimme und erschütterndem Pathos von der einstigen Größe, von dem traurigen Schicksal seines unglücklichen Vaterlandes spricht und durch seine vergeblichen Klagen und Beschuldigungen nur die gerechten und darum doppelt schmerzlichen Entgegnungen der deutschen Mitglieder des Reichstags und besonders die wahrhaft vernichtende Kritik, die historische Beleuchtung des Ministerpräsidenten hervorruft.

Minder tragisch sind die hier am Ende des Saales auf der rechten Seite sitzenden Vertreter der dänischen Interessen, die Herren Krüger und Ahlemann aus Nordschleswig, welche sich ebenfalls durch ihr fortwährendes, erfolgloses Protestiren bemerkbar machen. Ihre Einwürfe gehen schon deshalb meist spurlos vorüber, weil Beide auf der Tribüne wegen ihres eigenthümlichen Dialekts unverständlich bleiben, obgleich sie allerdings deutsch sprechen, oder vielmehr buchstabiren, da es ihnen ausnahmsweise gestattet ist, ihre Propositionen abzulesen. Dabei bildet das rothe, blühende Gesicht des Herrn Krüger einen heitern Contrast mit seinen traurigen Beschwerden, wogegen man Herrn Ahlemann, einem hagern, blassen Herrn, mit kränklicher Gesichtsfarbe, tiefliegenden Augen und einem leisen, klanglosen Organ, mehr Glauben schenkt, wenn er über die Verletzung der Nationalität Klage führt und sich gegen jede Annexion feierlichst verwahrt.

Ein bedeutendes Contingent von hervorragenden Persönlichkeiten hat uns Hannover geliefert und zwar in allen Farben und politischen Nuancen, eifrige Particularisten, treue Anhänger des verjagten Königshauses und entschiedene Verehrer des Grafen Bismarck, tüchtige Kämpfer für die deutsche Einheit unter der Führung eines mächtigen Preußens. An ihrer Spitze steht der rühmlichst bekannte Präsident des Nationalvereins, Rudolph von Bennigsen, gleich ausgezeichnet als politischer Charakter und trefflicher Redner. Jahre lang kämpfte er in der zweiten hannoverschen Kammer gegen das Ministerium Borries, als Hauptführer der Opposition gegen eine maßlose Reaction. Noch größere Verdienste erwarb er sich um das gesammte deutsche Vaterland als er am 19. Juni 1859 in Gemeinschaft mit fünfunddreißig gleichgesinnten Politikern die von ihm abgefaßte Erklärung abgab, daß die bestehende Bundesverfassung zum Schutze Deuschlands nicht mehr genüge und einer starken, von einer freisinnigen Volksvertretung getragenen Centralgewalt weichen müsse. Seine Worte fanden einen mächtigen Wiederhall in dem Herzen des deutschen Volkes und gaben den ersten Anstoß zu den bekannten „Eisenacher Beschlüssen“ und zu der Gründung des „Nationalvereins“, dessen Präsident Bennigsen bis jetzt gewesen ist. Seine ganze Erscheinung, die hohe, vornehme Gestalt, das offene, meist freundliche, grundehrliche Gesicht, das den norddeutschen Typus nicht verleugnet, flößt unbedingte Achtung und Vertrauen zu dem echten Edelmann ein, der als entschiedener Demokrat stets mit seinem Volke Hand in Hand geht und kein anderes Privilegium beansprucht, als der Sohn seines Vaterlandes zu sein. Seine Reden, besonders die berühmte Interpellation über Luxemburg, zeugen für die Lauterkeit seiner Gesinnung, für die Größe seines Talents und bilden einen wahrhaften Glanzpunkt, einen denkwürdigen Moment in den Verhandlungen des Reichstags. Bennigsen spricht klar und ruhig, gewöhnlich mit den Händen auf dem Rücken, selbst mit einer gewissen Zurückhaltung, als hätte er mit einem unsichtbaren Hindernisse zu kämpfen. Erst nach und nach wird sein Vortrag lebendiger und fließender, gewinnt er mit jedem neuen Satz an Sicherheit und Kraft, übt er einen mächtigen Eindruck, indem er nicht die fliegende Hitze eines schnell verrauchenden Enthusiasmus, sondern die wohlthuende Wärme männlicher Ueberzeugung hinterläßt. Wenn er spricht, herrscht stets lautlose Stille im Saale.

In seiner nächsten Nähe sitzt sein Freund, der Bürgermeister Miquél, ein angehender Dreißiger, von mittlerer Statur, mit dunklen Augen, schwarzen Haaren und interessanten Zügen, die an seine Abstammung von einer geachteten französischen Emigrantenfamilie erinnern. Nachdem er in Göttingen Jurisprudenz studirt, in Paris sich längere Zeit mit volkswirthschaftlichen Arbeiten beschäftigt und später sich in seiner Heimath als Anwalt niedergelassen hatte, wurde er in die zweite hannoversche Kammer gewählt, wo er neben Bennigsen einen bedeutenden Einfluß durch seine genauen Finanzkenntnisse gewann. Mehrere glänzend geschriebene Flugschriften, darunter „die Ausscheidung des hannoverschen Domanialgutes“, erregten das größte Aufsehen durch die vernichtende Kritik dieser verwerflichen Maßregel. Zugleich entwickelte Miquél als Ausschußmitglied des Nationalvereins eine große, wenn auch nicht immer zweckentsprechende Thätigkeit, wobei er sich öfters von seinem sanguinischen Temperament und seinen subjectiven Gefühlen leiten ließ. Im Reichstag bekennt er sich jetzt, durch die jüngsten Ereignisse belehrt, zu einer mehr realistischen Auffassung der gegebenen Thatsachen, ohne darum seine freisinnigen Ideen zu verleugnen, wofür seine ganze Stellung und seine meist brillanten Reden ein sprechendes Zeugniß ablegen. Umgekehrt wie sein Freund Bennigsen fesselt Miquél von vornherein durch einen gewissen Esprit, das geistige Erbe seiner französischen Vorfahren, durch schlagende Aperçus, zutreffende Bilder und Vergleiche die Aufmerksamkeit der Hörer, geräth aber zuweilen durch eine selbstgefällige Breite in Gefahr, den ersten Eindruck abzuschwächen. Dagegen versöhnt ein Zug persönlicher Liebenswürdigkeit und großer Gutmüthigkeit selbst die Gegner mit seinen widersprechenden Ansichten und bildet gleichsam den Grundton dieser nach allen [267] Seiten so reich begabten Natur. Mit den Genannten stimmen in allen wichtigen Fragen der wackere Bürgermeister Grumbrecht aus Harburg, seit 1863 Mitglied des ständigen Ausschusses des deutschen volkswirthschaftlichen Congresses, der tüchtige Anwalt Weber aus Stade und Dr. Ellissen, ebenso bekannt als gelehrter Sprachforscher und Mitarbeiter der früheren Halle’schen Jahrbücher, wie als beredtes Mitglied der hannoverschen Opposition und zeitweiser Präsident der zweiten Kammer.

Die folgenden Herren, welche vorzugsweise auf der rechten Seite sitzen, erinnern unwillkürlich an die „Unzufriedenen“ in Goethe’s „Walpurgisnacht“, oder an die Verse des Dichters:

Es sind hannöversche Particularisten und fast ohne Ausnahme Mitglieder der dortigen, einst so einflußreichen Aristokratie. Unter ihnen gilt der frühere Justizminister von Windthorst als der Bedeutendste, obgleich er weniger durch sein oratorisches Talent, als durch seine Gewandtheit sich zum politischen Parteiführer eignet. Als Minister gelang es ihm, sich sogar mit einem gewissen liberalen Nimbus zu umgeben, dagegen stand er beim Volk als Katholik in Verdacht, den Ultramontanismus zu begünstigen. Im Reichstag ist er nirgends hervorgetreten, dennoch wird er für einen entschiedenen Gegner der preußischen Annexion gehalten und auf ihn das Sprüchwort angewendet, daß stille Wasser tief sind. Offener spricht der Freiherr von Hammerstein seine Meinung aus, ein ältlicher, etwas steifer Herr, mit einem verdießlichen Gesicht, der zuweilen seine rhetorische Lanze zu Gunsten der alten Zustände einlegt und gegen Windmühlen wie Don Quixote kämpft. Dasselbe versuchte auch Herr von Münchhausen, eine hohe etwas übergebeugte Gestalt, mit vornehm aristokratischen Zügen, der unter dem König Ernst August eine Zeit lang an der Spitze des hannöverschen Ministeriums stand, später zur Opposition gehörte und jetzt im Reichstag seinen Schmerzensruf ertönen ließ, wofür ihm Graf Bismarck in seiner bekannten Antwort eine wahrhaft vernichtende Abfertigung zu Theil werden ließ. An demselben Strange zieht der frühere Finanzminister von Erxleben, ein kleiner, magerer Herr, dem man den Zahlenmenschen sofort ansieht. Auch zwei bürgerliche Abgeordnete erscheinen als Anhänger des Particularismus, der bekannte Staatsrath und Rechtslehrer Zachariä aus Göttingen, fein und geschickt lavirend, und der Redacteur der „deutschen Volkszeitung“, Eichholz, ein geborener Preuße, was ihn jedoch nicht abhält gegen die Politik des Grafen Bismarck eine entschiedene Opposition zu machen und trotz seiner demokratischen Gesinnung König Georg und dessen Ansprüche so wie die Prätendentenschaft des Augustenburgers zu vertheidigen.

Im Gegensatz zu diesen hannöverschen Particularisten neigen sich die Abgeordneten Nassau’s fast ohne Ausnahme zu einem innigen Anschluß an Preußen. Unter ihnen ragt vor Allen der Obergerichts-Procurator Braun aus Wiesbaden hervor, eine kräftig männliche Erscheinung, jugendlich frisch, zum Parteiführer wie geschaffen, bekannt durch seine bedeutenden Arbeiten auf dem Gebiete der Volkswirthschaft. Er ist unstreitig einer der besten Redner des Reichstags und sein schönes, sonores Organ, der warme, zu Herzen dringende Ton sichern ihm stets einen großen Erfolg, unterstützt durch seine ansprechende Persönlichkeit. Mit einem umfangreichen Wissen verbindet Braun eine unermüdliche Thätigkeit, eine mehr süddeutsche Lebendigkeit, die vortheilhaft gegen norddeutsche Professorenweisheit und Schulabstractionen absticht. Er ist nichts weniger als Idealist, sondern durchaus praktisch, hier und da selbst materialistisch, kein Freund von politischen Träumen und Illusionen, kein blasser Schwärmer, sondern ein Mann der That, der realen Verhältnisse, der erreichbaren Ziele; wie es scheint, nicht ohne politischen Ehrgeiz und vielleicht berufen, noch eine bedeutende Rolle zu spielen. Auch er hat sich zu einer Schwenkung nach Rechts be – quemt.

Ein neckender Zufall hat zwei der größten Contraste auf dieselbe Bank geführt; nur durch einen Platz von einander getrennt sitzen hier die beiden Repräsentanten von Geld und Geist, Millionär und Dichter, Rothschild und Gustav Freytag neben einander. Der Vertreter der Stadt Frankfurt, die sechste Großmacht, der König der europäischen Börse und absolute Beherrscher des Geldmarkts ist ein starker, gedrungener Herr, breitschultrig, kurzhalsig, mit einem klugen, nicht uninteressanten Gesicht, eingerahmt von mächtigen, üppig wuchernden „Favoris“, welche man in Berlin „Haarcoteletten“ zu nennen pflegt, während der starke Kopf weniger an die üppigen Locken „Simson’s“, als an den kahlen Scheitel des „Elisa“ mahnt, obgleich eine sorgfältig gepflegte Frisur die hervorschimmernden Blößen geschickt bedeckt. Man rühmt Rothschild’s Verstand und Einsicht in allen praktischen Fragen, obgleich er im Reichstage als guter Rechenmeister nur der Regel folgt, daß Reden Silber, Schweigen aber Gold sei. Sein Nachbar, der liebenswürdige Dichter der Valentine, der Journalisten etc., der Verfasser von „Soll und Haben“, zeigt eine schlanke Figur und einen geistig durchgearbeiteten Kopf, der halb den Denker, halb den Dichter ahnen läßt. Auf den Ersteren deutet die schöne, breite Stirn, von dunkelblondem Haar umgeben, auf den Letzteren die träumerischen und doch wieder auch scharf beobachtenden Augen und ein sinnender Zug des interessanten Gesichts. Ob der Dichter eben so gut zu reden, als zu schreiben weiß, läßt sich aus seiner Wirksamkeit im Reichstag nicht entscheiden, da ihm zum größten Bedauern seiner zahlreichen weiblichen Verehrer auf der Tribüne, durch den angenommenen Schluß der Debatte die Gelegenheit geraubt wurde, sein Talent zu zeigen, als er sich zum Wort in einer wichtigen Frage gemeldet hatte; seine Befürwortung einer Petition aber war zu unerheblich, um ein Urtheil über seine Begabung zu fällen.

Wie Hannover liefert auch das Königreich Sachsen Vertreter der verschiedensten politischen Richtungen, neben den streng Conservativen und Liberalen selbst mehrere Social-Demokraten, wie die Herren Stauß, Schraps, Streit[WS 1] und Bebel. Letzterer, ein noch junger Mann, mit blassem, scharf geschnittenem Gesicht und noch schärfer eindringender Stimme, erinnerte durch die Art und Weise seiner Beredsamkeit in der Frage über den Anschluß der süddeutschen Staaten an die rothen Vögel der Revolution. Seine Worte klangen wie Sturmgeläute und warfen zündende Funken in die Versammlung, welche über die ungewohnte Sprache in keine geringe Aufregung gerieth, so daß Herr Lasker sich veranlaßt fand, in harten Ausdrücken, die ihm einen Ordnungsruf des Präsidenten zuzogen, die Rede des Herrn Bebel zu kritisiren. In demselben Sinne, wenn auch gemäßigter, sprach der bekannte Professor Wigard aus Dresden, der Typus eines ungebeugten Freiheitskämpfers aus dem Jahre 1848, trotz der grauen Haare und des ergrauten Demokratenbartes voll jugendlicher Begeisterung, jedoch mehr berufen, sich in einer Volksversammlung als in dem Norddeutschen Parlament Gehör zu schaffen. Auffallend still verhalten sich dagegen die liberalen Herren Schaffrath, Minkwitz, Heubner und Rewitzer, deren Schweigen um so mehr gegen ihre frühere Beredsamkeit in der sächsischen Kammer absticht. Trotzdem ziehen diese Männer, deren Namen einen guten Klang in ganz Deutschland haben, die Aufmerksamkeit auf sich. Unter den Conservativen Sachsens machten sich besonders Herr von Thielau und Geheimrath von Wächter bemerkbar.

Aus den übrigen deutschen Ländern sind noch erwähnenswerth Fries für Sachsen-Weimar, Forkel für Coburg, der wackere Julius Wiggers, der das liberale Bürgerthum in Mecklenburg-Schwerin würdig vertritt, der witzige Salzmann, welcher den Kladderadatsch an der „Karoline“ von Reuß gerächt, Meier von Bremen, dessen Rede über das deutsche Marinewesen die größte Anerkennung verdiente und auch fand, endlich Dr. Rée aus Hamburg, ein echter Demokrat, voll Geist, Bildung und Charakter.

Aus diesen verschiedenen Bestandtheilen ist nun das Norddeutsche Parlament zusammengesetzt, welches die große Aufgabe der Einigung Deutschlands zu vollbringen hat. Es fehlt hier nicht an bedeutenden Männern, an tüchtigen Kräften, an berühmten Namen; daneben freilich findet man die particularistische Beschränktheit, die feudale Selbstsucht und Standesüberhebung, die schwankende Gesinnungslosigkeit, welche sich von dem Erfolg nur zu leicht bestimmen läßt, die Halbheit und starre Einseitigkeit nur zu zahlreich vertreten. Statt eines organischen Ganzen bildet der Reichstag ein Conglomerat entgegengesetzter Ansichten und Interessen, gleichsam einen Niederschlag der letzten bewegten Jahre, dem der innere Zusammenhang mangelt. Aber die Gewalt der Thatsachen, das Gewicht und der Druck der ehernen Nothwendigkeit üben ihre zwingende Macht auf die widerstrebenden Elemente und schaffen Compromisse, welche unter andern Verhältnissen nicht zu Stande gekommen wären.

Wir sind ärmer an Illusionen, aber auch an Täuschungen [268] geworden, wir haben unsere idealen Wünsche den realen Forderungen anpassen gelernt, die nationale Machtfrage in ihrer Bedeutung anerkannt und darum uns zu mancher Concession herbeigelassen. Nicht ohne Opfer wird der Tempel der Einheit vollendet und wir müssen, nachdem die Mauern erst feststehen, den inneren Ausbau der günstigeren Zukunft überlassen, ohne darum die Hände in den Schooß zu legen. Verglichen mit der Frankfurter Nationalversammlung des Jahres 1848 ist das Norddeutsche Parlament ärmer an Begeisterung, an großen Gedanken und weittragenden Ideen, nicht von dem belebenden Athem der Freiheit durchweht, nicht von jenem allgemeinen Enthusiasmus getragen, aber dafür besonnener, frei von phrasenhafter Ueberschwänglichkeit, von unerreichbaren Träumen, von maßlosen Bestrebungen, weiser an staatsmännischer Einsicht, an praktischer Thätigkeit. Beide verhalten sich zu einander wie der begeisterte Jüngling zum gereiften Mann, aber die Natur des deutschen Volkes bürgt dafür, daß es seine Jugendideale nicht für immer vergessen, sondern mit der Wirklichkeit versöhnen und über die Einheit nicht die Freiheit, dieses höchste aller Güter, aufgeben wird.

Nun der norddeutsche Reichstag geschlossen ist, beschränken wir uns in unserer nächsten Skizze auf die Charakteristik der eigentlich maßgebenden Persönlichkeiten.




Deutsche Rettungsstationen.


„Nein, lieber Herr, Beschreibungen und Phantasie reichen nicht aus, sich das wahre Bild von den Gefahren, Mühseligkeiten und Leiden auszumalen, welche das Leben an unseren durchgehends gefährlichen Küsten zu einem so harten machen. Viele Reden fließen nicht vom Munde des wahren Unglücks, der schweren Sorge und Herzensangst, die so oft dort herrschen, man muß dem Allen in’s Auge gesehen haben. Nur wer an der Küste wohnt, hat ein Herz für die Noth der Seeleute. Ihr Binnenländer schwärmt in Euren Zeitungen von deutschen Flotten, wo aber mit der kalten That, ja nur mit der Hand in die Tasche geholfen werden soll, da geht Euch das Meer nichts an.“

Diese unumwundenen Worte mußte ich neulich von einem alten Seemann hinnehmen, als ich versucht hatte, ihm den uralten, den Deutschen ganz besonders eigenthümlichen Zug nach der See, das daraus entspringende Streben nach Seemacht und den Unmuth der Nation über die bisherige Vernachlässigung derselben und über die Vereitelung der volksthümlichen Begründung einer deutschen Flotte auseinander zu setzen.

Trotz des Scheins der Wahrheit seines Vorwurfs hatte der Mann dennoch Unrecht, weil er die Schuld augenblicklicher Zustände unberücksichtigt ließ, als die bisherige geringe Theilnahme des Binnenlandes an dem Ehrenwerte der deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger seinen Zorn erweckte.

Wir haben diesem Unternehmen bereits drei Artikel gewidmet,[3] in welchen das Rettungswesen an den deutschen Küsten ausführlich und durch Illustrationen verdeutlicht besprochen und namentlich die nationale Zusammenfassung der vorher vereinzelten Versuche durch die Gründung der genannten „deutschen Gesellschaft“ auf dem Vereinstage zu Kiel, am 29. Mai 1865, dargelegt und der Unterstützung der Nation empfohlen worden ist.

Wenn nun bis heute dennoch die Theilnahme des Binnenlandes hinter den Erwartungen der Küste weit zurückblieb, so kann dafür der das ganze innere Deutschland aufregende Kampf um die politische Neugestaltung des Vaterlandes doch wohl zu genügender Entschuldigung dienen. Nur die Augen, nicht die Herzen des Binnenlandes sind gerade in den beiden Jahren der ersten Entwickelung unseres Seerettungswesen von den Küsten abgezogen worden. Der alte Zug im deutschen Volke lebt noch, und es bedarf sicherlich nur einer klaren Hinweisung auf denselben, um auch im Binnenlande die werkthätige Theilnahme Aller, denen bei den starken Ansprüchen, welche die jüngsten Tage an die Opferwilligkeit der Opferfähigen machten, die Mittel für patriotische Zwecke noch zu Gebote stehen, der „deutschen Gesellschaft für Rettung Schiffbrüchiger“ zuzuwenden.

Deshalb nehmen wir diesen Gegenstand abermals auf. Nach einem neueren Berichte der Gesellschaft vom Februar d. J. sind durch ihre Anstalten seit ihrem Bestehen vier Male Menschenleben aus Todesgefahr gerettet worden. Daß sie nicht mehr gethan, sei dem glücklichen Umstand zu danken, daß unsere Küsten seit dem Sommer 1865 wenig Unglücksfälle aufzuweisen gehabt, wenigstens nicht im Bereiche der Rettungsstationen. Von diesen bestehen bis jetzt zweiundzwanzig, und zwar auf Amrum, Sylt, in Travemünde, in Büsum, für Rügenwaldermünde und Treptowerdeep (Bezirksverein Stettin), auf dem Weserfeuerschiff (Bezirksverein Bremen), zu Leba, zu Koppalin und auf Wangerooge, sämmtlich Stationen mit Rettungsbooten; dazu kommen fünf Raketenapparate, ferner elf Boots- und eine Mörserstation der Vereine zu Emden und zwei Bootsstationen zu Hamburg. Im vorigen Jahre wurden endlich noch zwei Raketenstationen auf Sylt (Bezirksverein Husum), eine Bootsstation für Warnemünde, ferner Raketenstationen für Warnemünde, das Fischland (Bezirksverein Rostock), Rügenwaldermünde und Treptowerdeep, und endlich Boots- und Raketenstationen für Hela und Bodenwinkel (Bezirksverein Danzig) gegründet. Als ein 1866 gewonnener großer Fortschritt wird die Vervollkommnung des bisherigen ziemlich mangelhaften Raketenapparates durch die Hülfe des preußischen Staates anerkannt, welcher im Feuerwerkslaboratorium zu Spandau die nöthigen Apparate der Gesellschaft anfertigen läßt. Die Zahl der Küstenbezirksvereine hat sich seit unserm letzten Bericht von 1866 nur von dreizehn auf vierzehn vermehrt.

Bezirksvereine des deutschen Binnenlandes bestehen bis jetzt nur in siebenunddreißig Städten, obwohl die Gesellschaft in einhundert und einem Binnenplatze Vertreter hat, und da zu der Einnahme vom zweiten Halbjahr 1865, welche nicht ganz achtzehntausend fünfhundert Thaler betrug, die Küstenländer das Meiste beisteuerten, so ist die Bemerkung gerechtfertigt, aber auch doppelt betrübend, daß gerade Städte wie Berlin, Dresden, Breslau und München mit weit geringeren Summen verzeichnet seien, als die kleinsten Küstenorte, und daß von Städten wie Köln, Nürnberg, Hannover, Stuttgart in dieser Sache noch gar nichts zu melden sei. In Leipzig ist man soeben in der Bildung eines Bezirksvereins begriffen.

Oft bedarf’s im Leben nur der Kenntniß über die Kosten und den wahren Werth eines Gegenstandes, um uns auch mit unseren guten Wünschen ihm näher zu bringen. Ein Rettungsboot kostet durchschnittlich fünfhundert Thaler und der gesammte Beiapparat dazu – Zubehör, Karren und Bootsschuppen – gegen elfhundert, ein Mörser-Apparat zweihundert Thaler. Also mit der verhältnißmäßig so geringen Summe von sechszehn- bis achtzehnhundert Thalern kann man eine Rettungsstation gründen, welche möglicherweise Hunderte von Menschen im Verlaufe weniger böser Seejahre für das Leben erhält. Würde nicht mancher Reiche, der für Wohlthun und Ehre ein Herz hat, sich ein ebenso schönes als dauerndes Denkmal stiften durch ein Vermächtniß für einen solchen Zweck, eine Gründung dieser Art? Aber auch der patriotische Mittelmann braucht vor der Theilnahme nicht zurückzuschrecken; schon für einen Thaler jährlichen Beitrags kann er Mitglied der Rettungsgesellschaft werden, und daß ihm dieser Thaler bei jeder Nachricht von der Rettung Schiffbrüchiger an einer deutschen Küste die herrlichsten Zinsen trägt, wer zweifelt daran?

Und wie führt der edle Sinn der Männer, welche die Leitung dieses Werks der Menschenliebe als freie Verpflichtung auf sich genommen haben – denn die gesammte Verwaltung und Vorsteherschaft fungirt unentgeltlich und nur kostenfrei – von einer Verbesserung und Vervollkommnung des Ganzen zur andern! Es war nämlich ein großer Uebelstand, daß für die Rettung mittels der Raketen- und Mörserapparate die Schiffbrüchigen selbst nicht eingeübt waren und darum manche Rettung sehr erschwert oder ganz vereitelt werden konnte. Diesem Uebelstand ist, wie der erwähnte Bericht sagt, nun theilweise dadurch abgeholfen worden, daß von Staatswegen befohlen ist, auf allen Schifffahrts- und Steuermannsschulen das Rettungswerk praktisch und theoretisch zu üben; ferner ist in Aussicht gestellt, daß jedem Schiffe, welches die deutschen Küsten verläßt, eine in deutscher oder englischer Sprache geschriebene Instruction für Schiffbrüchige mit auf den Weg gegeben

[269]

Rettung Schiffbrüchiger mittels Raketenapparat und Rettungsboot.

[270] wird, und endlich sollen die deutschen Consuln an den überseeischen Hafenplätzen seiner Zeit allen nach unseren Küsten abgehenden Schiffen die betreffende Instruction verabfolgen. Auf diese Weise wird das norddeutsche Rettungsverfahren in kurzer Zeit allgemein bekannt werden. Der Verbesserung des Raketenapparats durch preußische Hülfe haben wir schon gedacht. Eine Probe mit demselben, welche die Vollkommenheit des Ganzen ergab, fand unter Mitwirkung preußischer Marineofficiere, unter ihnen der bekannte und verdiente Corvettencapitän Werner, am 30. December des vorigen Jahres bei Bremerhafen statt und wird vom Bericht folgendermaßen geschildert: „Es war zu dem Zwecke vom Schiffer Hagemann ein Blockschiff hergeliehen und mit einem Mast versehen, dann in die Mitte der Weser, ungefähr zweihundert Fuß vom rechten Ufer entfernt, vor Anker gelegt worden, während dreiundzwanzig Navigationsschüler unter Anführung des Capitäns L. Geerken sich in die Rolle der Rettungsmannschaften und der Schiffbrüchigen theilten. Alles ging vortrefflich, schon zwanzig Minuten nach dem Abfeuern der Rakete konnte sich der Steuermann H. Kallenberg in den Rettungsstuhl (sogenannte Lifeboje mit hosenartigem Einsatz) setzen und völlig trocken das Ufer erreichen; dasselbe Manöver machte der Steuermann H. Bödeker eben so glücklich gleich hinterher und unter dem großen Jubel der versammelten Zuschauer.“ – Auch die Wiederbelebung anscheinend Ertrunkener erforderte besondere Vorkehrungen und mußten genaue Instructionen über die erprobtesten Wiederbelebungsversuche, soweit sie bis zum Eintreffen eines Arztes von Laien ausführbar sind, jedem Ortsausschuß einer Station zugetheilt werden. Der Leser sieht, daß bei diesem Unternehmen dem Herzen so viel Antheil wie dem Kopf zugefallen ist, und gerade darum wird auch sein Herz sich gern demselben erschließen.

Zu diesem besten Fürsprecher für alle Werke der Menschen- und Vaterlandsliebe soll auch unser Bild reden, welchem wir noch Folgendes zur Erklärung beifügen müssen. Unsere früheren Illustrationen in der Gartenlaube von 1861 und 1865 stellten nur den Raketenapparat und seine Anwendung dar. Unser jetziges Bild zeigt uns auch das Rettungsboot, und zwar im Kampf mit der Brandung, wegen welcher zugleich ein Raketen- oder Mörserapparat zu Hülfe genommen ist. Letzteres geschieht stets an steilen Küsten, bei unüberwindlicher Brandung oder auf schwierig zu passirenden Strandstrecken. Rettungsboote, sagt unser Bericht, bieten den Vortheil, erstarrte und vor Entkräftung bewegungsunfähige Menschen, auch ohne deren Zuthun, in Sicherheit bringen zu können und schon mit dem Wasser Ringende noch zu retten. Oft ist jedoch die Gewalt der Wogen so stark, daß das Boot mit Ruderkraft nicht an das verunglückte Schiff zu bringen ist. Das gefährlichste Manöver für das Boot ist übrigens das Anlegen an das große Fahrzeug, denn hierbei kann es mit solcher Gewalt gegen den großen, festliegenden Körper geschleudert werden, daß es selber verunglückt und seine Besatzung sich nur in glücklichen Fällen durch Schwimmen und mit Hülfe der Korkjacken – mit welchen wir auch die Matrosen auf dem Boote unserer Illustration bekleidet sehen – sowie mitgenommener Bojen und Matratzen retten kann. – Angesichts dieser drohenden Gefahr begreift nun der Leser die Aufregung in der Frauen- und Kindergruppe und in den Männergestalten unseres Bildes. Ihr angststarres Auge hängt an dem Rettungsboote, wo ihre Lieben mit dem fürchterlichen Elemente kämpfen. Wie laut die Brandung donnert, hat unser Künstler trefflich durch den Mann in der Mitte der Vordergruppe angedeutet, der durch die Hand am Munde die Stimme verstärkt, um von den Nächsten verstanden zu werden. Wir verdanken die Zeichnung demselben Künstler, Leich, welcher uns früher auch einen andern „Helden in Sturmesnöthen“, Cornelis Dito, dargestellt hat. Möge der Anblick dieser Scene die rechte Wirkung nicht verfehlen, möge er vor Allem dazu beitragen, daß der alte Seemann unseres Eingangs von seinem Vorurtheil gegen den nationalen Zug auch der Deutschen des Binnenlandes nach der See und deutscher Seeehre recht bald durch neue Beweise der That geheilt werde.

H. v. C.




Der Bau des Finkennestes.
Von Karl Müller.


Je sorgfältiger und gewissenhafter der Naturforscher beobachtet, je tiefer er einzudringen sucht in das Wesen und die Eigenthümlichkeiten der Geschöpfe, desto mehr überzeugt er sich von der Unabsehbarkeit des zu erforschenden Gebietes und von der Nothwendigkeit der Concentrirung der Kräfte des Einzelnen auf abgegrenzte Gebietszweige. Wenn es jemals fruchtbar und Nutzen bringend gewesen ist, „ein Steckenpferd zu reiten“, so war es die Forschung des naturwissenschaftlichen Specialisten. Keineswegs soll damit gesagt sein, daß sein Blick nicht über die Grenzen seines Lieblingsstudiums hinaus schweifen dürfte, behüte! denn Vielseitigkeit des Wissens und Strebens kann nur da schaden, wo Oberflächlichkeit mit ihr im Bunde steht. Aber die Hauptthätigkeit muß sich in einem engeren Rahmen bewegen und eine Hauptaufgabe die Aufgabe des ganzen Lebens sein. An Solchen wird es nie fehlen, welche die Resultate der Forschung in dickleibigen Bänden zusammenzustellen wissen, aber nicht sie sind die Forscher, sondern diejenigen, welche sich selbst auf den Weg machen, mit eignen Sinnen wahrnehmen und mit aufopferndem Fleiß unmittelbar aus den Tiefen der herrlichen, prächtigen Natur schöpfen.

Wie ist mir diese Wahrheit in diesen Tagen wieder so anschaulich und klar geworden, in diesen Tagen des verjüngten Lebens, wo weniger schon der grüne Schmuck des Naturgewandes, als die ahnungsvollen Lieder gewisser Sänger unserer Gärten und Wälder und andere lebhafte Aeußerungen des mächtigsten Seelentriebes dieser Thierchen unsere Aufmerksamkeit fesseln.

Ein zutrauliches Edelfinkenpaar hatte sich am 28. März meinen Blicken verrathen, als ich Morgens um zehn Uhr in einem sonnig gelegenen Garten auf- und abging. Ich sah es dem Finkenmännchen an der gekrümmten Haltung und den gesenkten Flügeln an, und seine feinzirpenden Töne bestätigten mir es, daß es der glückliche Gatte des stilleren Weibchens war, welches in seiner Nähe auf dem Knotenpunkte dreier anderthalb Zoll dicker Aeste eines jungen Zwetschenbaumes in anderthalb Manneshöhe zu bauen begann. Die Stelle war wahrscheinlich erst am frühen Morgen oder am Tage zuvor zum Nistplätzchen erkoren worden, denn kaum meinem scharfen Auge bemerklich hatte das Weibchen einen Anfang zum Neste durch Anheften einiger Flechten gemacht. Es regte sich in mir die Lust der Beobachtung, und ich beschloß, die Stufenleiter des Nestbaues in der Weise, wie wir Brüder es uns zur Aufgabe gestellt haben, zu verfolgen. Der Vogel nahm, an Menschen gewöhnt, keine Notiz von mir, obgleich ich mich ihm auf kaum fünf Schritte näherte und an den Stamm eines Baumes mit dem Rücken anlehnte. Eben war der Finke mit seiner Arbeit fertig geworden, und ich sah ihn auf einen alten, in der Nähe stehenden Apfelbaum fliegen, wo er von den Aesten und dem Stamme, an welchen er sich kletternd anklammerte, feine Flechtenblättchen ablöste und zur Niststätte trug. Mit einem fröhlichen „Ju!“ kam er an und setzte sich in die für das Nest sehr geeignete Vertiefung des Quirls. Doch erhob er sich sogleich wieder, beugte sich mit Kopf und Vorderleib über den Astrand gerade nach mir zu und heftete mit gesträubten Kopffedern unter nicht zu verkennender Anstrengung das Baumaterial, so weit er hinunter reichen konnte, an, öffnete mit eigenthümlich vibrirender Bewegung des Kopfes den Schnabel, drückte denselben seitlich an und strich schmierend über die Flechten hin, wie etwa ein Buchbinder das Falzbein zum Glätten anwendet. Dies dauerte wenige Secunden, worauf sich der Vogel in derselben Weise, wie vorher, entfernte und von demselben Baume, ja so ziemlich von denselben Stellen neue Flechten holte. Um Alles untrüglich zu beobachten, nahm ich einen sogenannten Operngucker zu Hülfe. Nach Verlauf von zehn Minuten, während welcher Zeit der Finke ab und zu flog, unterbrach er plötzlich seine Thätigkeit und ließ sich auf dem Rasen nieder, um Nahrung zu suchen. Das Männchen that desgleichen und hüpfte viele Schritte von dem Weibchen entfernt umher. Deutlich bemerkte ich seine Erregtheit, und als die Gemahlin sich erhob, um die unterbrochene Arbeit fortzusetzen, flog [271] es auf einen benachbarten Baum, um Wache zu halten und Zeuge von dem weiblichen Fleiß zu sein.

Nach einiger Zeit besuchte unser Baukünstler andere Bäume und auch bemooste Mauern. Siehe! da kam er zurück, bald mit Moos, bald mit Flechten, bald mit Insectengespinnsten versehen, welch’ letzteren Stoff er über die ersteren zog und an der rauhen Rinde anhing oder um einen jungen Trieb schlang. Außer Gespinnsten und Speichel gebrauchte er jetzt noch kein anderes Bindemittel. Daß der Speichel nicht durch die Zunge auf das Baumaterial übermittelt wurde, konnte ich daran erkennen, daß sie beim Oeffnen des Schnabels sich nirgends anlehnte, sondern frei gehoben wurde. Vielmehr wurden die Stoffe theils im Schnabel schon angefeuchtet, zum Theil trat aber auch der Speichel an den Mundwinkeln beim Andrücken des Schnabels und beim Glätten mittels desselben hervor. Bei jeder neuen Zuthat untersuchte der sich niedersetzende, mit den Flügeln arbeitende und nach verschiedenen Richtungen sich drehende Künstler die Grundlage. Am Nachmittage entfernte sich das Edelfinkenpaar von der Niststätte, und das Weibchen kehrte nicht mehr mit Baustoff zurück.

Am nächsten Morgen um neun Uhr ging ich wieder zur Stelle und fand, daß eine fingerdicke Wand ringsum aufgebaut war. Je weiter nun der Baumeister fortschritt, desto mannigfaltiger zeigte er sich im Besuche von Oertlichkeiten, wo er Material aufnahm. Aus Mauerlöchern, offenen Holzböden, zerfallenen Ställen und aus aufgeschichtetem Holz in den Nachbarhöfen holte er Gespinnste, auf der Straße nahm er dünne Cordelstückchen, Zwirnsfädchen und Wolle auf, die er ebenfalls als Heftemittel verwendete, aber auch großentheils planlos in das Nest einfügte. Viele schmale Bastschnüre von Birken- und Tannenholz, welches ein Bäcker in seinen Garten gesetzt hatte, waren zu gleichem Zweck bestimmt und wurden namentlich in die Nestwand eingeflochten. Gewahrte das aufmerksame, kunstsinnige Thierchen eine störende Unebenheit, sofort war der geschäftige Schnabel bereit, zu ordnen, zu ebnen und auszugleichen. Kam es mit neuem Baustoff, so bemerkte ich niemals eine Verlegenheit an ihm in Hinsicht der Stelle, wo er angebracht werden sollte; es war vielmehr, als habe der Meister den Plan hierzu schon vorher beim Wegfliegen entworfen, oder als übersehe er bei der Ankunft mit einem einzigen Blick alle Mängel und Bedürfnisse. Das Herzutragen des Baustoffs geschah je nach dem leichteren oder mühsameren Auffinden desselben unter Zwischenräumen von einer bis zu zwei Minuten. Von Zeit zu Zeit stellte ich eine kleine Leiter an, um das Nest genau zu untersuchen. Dies that ich aber nur dann, wenn der Vogel eben sein Nest verlassen hatte. Mehrmals zankte das Männchen und lockte, mich umflatternd, das Weibchen herbei, allein sobald ich herabgestiegen war und die Leiter wieder entfernt hatte, beruhigte sich das Paar. An den Mundwinkeln des Finkenweibchens entdeckte ich einige nasse Federchen. Es mag sein, daß dies vielleicht von dem Thau herrührte, den die Sonne noch nicht überall weggeleckt hatte; auch konnte der Umstand Antheil hieran haben, daß der Vogel aus feuchten Mauerhöhlen Spinnewebe hervorholte. Ich will mich durch keine vorgefaßte Meinung zu verwegenen, unsicheren Schlüssen hinreißen lassen, ich will auch meine Beobachtungen und Untersuchungen noch nicht für geschlossen und fertig erklären. So viel aber bleibt unumstößlich, daß die anstrengenden Bewegungen des Kopfes mit geöffnetem Schnabel, sowie das Hin- und Herschmieren mittels des letzteren auf Speichelabsonderung hindeuten.

In der Nacht vom zweiten auf den dritten Tag fiel Schnee, der erst vor den Blicken der steigenden Sonne schmolz. Die rauhe Witterung verursachte, daß der Finke seine Thätigkeit öfters unterbrach und mehr der Nahrung nachging. Dennoch schritt der Bau sichtlich voran.

Am vierten Morgen um neun Uhr hatte die Nestwand eine Höhe von mehr als zwei Mannesfinger Dicke erreicht. Immer mannigfaltiger und wählerischer zeigte sich der Baumeister beim Aufsuchen von Material, auch entfernte er sich oft weiter als gewöhnlich und kehrte nicht so rasch von seinen Excursionen zurück. Während des Bauens schien er sich jetzt auch mehr Besonnenheit und ordnenden Kunstsinn zur Aufgabe gemacht zu haben. Ich sah, daß er mit den Flügeln und der Brust mehr arbeitete, sich eifriger im Neste drehte und wendete, einzelne Moos- oder Flechtentheilchen ansetzte und wieder wegnahm, um sie an eine andere Stelle zu heften, oder auch vielleicht zu rauhe Stoffe prüfend im Schnabel hin und her wendete und schließlich fallen ließ. Verließ er das Nest, so geschah es jetzt mit dem Lockruf „Fink“. Da, wo dasselbe auf der Grundlage der Aeste aufgerichtet oder an dieselben angelehnt war, verwendete der Finke am wenigsten Sorgfalt auf den Bau, dagegen erschien der zwischen den Aesten aufgerichtete Theil in schöner Wölbung und durchaus solid. Da die Aeste an sich schon eine Wandung bildeten, so wurden sie nur sehr dünn mit Baustoff überzogen.

Am fünften Morgen erreichte das Nest fast seine vollkommene Höhe und der Rand neigte sich in bedeutender Wölbung nach Innen. Außer dem bisher gebrauchten Stoff kamen schmale Papierstreifchen spärlich in Anwendung, welche nebst dünnen Stengelchen in die innere Nestwand eingeflochten wurden, auch bediente sich der Künstler fein zerschlissener Hälmchen und eben so feiner Würzelchen zum Flechtwerk. Er kam mir noch erregter vor, als am vorhergehenden Morgen, ab und zu ließ er sein „Ju pink!“ ertönen, während das zuweilen in seiner Begleitung ankommende Männchen ihm antwortete. Sein Verweilen im Neste war von längerer Dauer; ich sah von erhöhtem Standpunkt aus, daß das Anschmiegen und Andrücken der Brust und des Leibes mit über den Rücken zur Höhe gerichteten Flügeln geschah, deren Federn dadurch auseinander zu stehen kamen. Die Bewegungen des Vogels erschütterten das ganze Nest, und wenn er sich still niederdrückte, so schlossen sich seine Augen zur Hälfte und der Schnabel wurde hoch gehoben. Viertelstundenlang trug er nichts als Gespinnste herzu, deren Fädchen er nach allen Richtungen hin zog und oft über große Theile des Nestes schlang. Bisweilen erhob er sich, sprang auf den Nestrand, faßte ein loses, von der Luft entführtes Ende mit dem Schnabel und zog es in das Nest hinein. Noch um ein Uhr Mittags sah ich ihn im Neste sitzen und bauen, später nicht mehr, und als es ziemlich stark zu regnen anfing, begab ich mich wiederholt zur Stelle, um zu sehen, ob der Künstler auch sein Nest vor Nässe zu schützen suche. Beide Finken aber waren weder zu sehen, noch zu hören.

Am sechsten Morgen um neun Uhr war das Nest bis auf die innere Auspolsterung vollendet. Auf den Grund des Inneren legte Frau Finke Flechten- und Mooskrausen und drückte sie mit Füßen und Leib nieder. Mitunter glättete und überzog sie mit Speichel noch den Nestrand. Das Verhältniß zwischen Männchen und Weibchen hatte sich unterdessen inniger gestaltet. Das bewegte Spiel der Minne begann von Seiten des Ersteren unter Verfolgung und Neckereien, so daß das bauende Weibchen viel seltner das Nest besuchte, ja einige Mal wurde es sogar von dem erregten Hahn in seiner Arbeit geradezu gestört.

Am siebenten Morgen kamen die Pferdehaare an die Reihe, welche neben und unter feinen Hälmchen eingeflochten und mit Gewebe hier und da von dem Nestrande aus überzogen wurden, wobei der Vogel sich hinten hob, um mit dem Schnabel im Inneren arbeiten zu können. Größere Besorgniß gab sich jetzt in ängstlich wiederholtem „Pink“ kund, wenn ein Raubvogel von ferne sich zeigte und die seiner spottenden Bachstelzen ihm im Bogenfluge durch die Luft folgten, oder wenn eine lüsterne Katze daher schlich. Die Liebe zum Neste war mehr und mehr gestiegen, während des ungeduldigen Männchens Zärtlichkeitserweisungen noch immer mit einem Benehmen zurückgewiesen wurden, welches etwa zu verstehen gab: ich liebe Dich sehr, aber jetzt habe ich zum Schönthun und Kosen noch keine Zeit. Gegen Mittag fügte der Künstler noch mehrere Büschel feiner Katzen- und Marderhaare als Polster in das Nest ein und beendete damit seine Arbeit für diesen Tag.

Der achte Tag erschien als derjenige, an welchem das Nest zur völligen Vollendung kam. Büschel von Kuhhaaren und Federchen gaben dem Polster die erwünschte Dicke und Wärme.

So stand das Meisterwerk des unscheinbaren Vogels vor meinen musternden Blicken, der Bewunderung selbst der genialsten menschlichen Baukünstler werth, als ein Zeugniß der wunderbaren Seelenkräfte, welche in den mannigfaltigsten Formen im Leben der Geschöpfe sich offenbaren.




Inhalt: Die Herrin von Dernot. Novelle von Edmund Hoefer. (Fortsetzung.) – Klosterzelle und Familienstube. Mit Illustration. – Erinnerungen an einen großen Todten. Von Dr. Max Schasler. I – Photographien aus dem Reichstag. IV. – Deutsche Rettungsstationen. Mit Abbildung. – Der Bau des Finkennestes. Von Karl Müller. – Auch eine Dotation. – Erste Quittung der Freiligrath-Dotation.

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Auch eine Dotation.
An alle Deutsche im Vaterland und in der Ferne.


Ein deutscher Lenz! Von heller Lerchenweise
Vom Schlaf geweckt, so steigt er neu empor;
Mit gelben Himmelsschlüsseln schließt er leise
Uns auf des Rosenreiches gold’nes Thor.

5
Welch’ buntes Spiel der Farben und der Lichter!

O, welch’ ein wonnig Duften dort und hier!
Es ist der hohe Festtag für den Dichter
Der deutsche Lenz in seiner Blumenzier!

Ein deutscher Dichter späht umher vergebens

10
Nach eines deutschen Lenzes sonn’gem Blau’n;

Ein Dichter, nah’ dem Abend seines Lebens,
Darf nicht den Frühling in der Heimath schau’n!
Ihm hüllen dumpfen Dampfes dichte Massen
Das lichte Blau des Frühlingshimmels ein;

15
Er schafft in Londons rußgeschwärzten Gassen

Vom frühen Morgen bis zum Abendschein!

Er, der das Lied sang zarter Blumengeister,
Der uns des Südens glühend Reich erschloß,
Er, den die Welt ehrt als den Sängermeister,

20
Er zäumt nicht mehr sein stolzes Flügelroß!

Er sieht am Rheinstrom nicht die Reben blühen,
Sieht nicht Westphalens Eichenforst und Tann;
Er kämpft um Brod, er kämpft mit sauren Mühen
Bei fremdem Volke, ein verbannter Mann!

25
Fast zwanzig Jahr’ verbannt vom Heimathheerde,

Verbannt in Englands Nebelqualm und Rauch!
Noch grünt dein Saatfeld, liebe, deutsche Erde!
Trägst du nicht Korn für deinen Dichter auch?
Verbannt der Dichter, weil er Wort geliehen

30
Dem, was tief innen lodernd ihm gebrannt!

Du sollst ihn liebend an den Busen ziehen
Den deutschen Dichter, deutsches Vaterland!

Er blieb dir treu in jeglichem Gedanken,
Dir schlägt sein Herz, wie es dir immer schlug.

35
O, hol’ ihn heim! Noch wachsen Rebenranken

Und Saaten in dem deutschen Land genug.
Ruf’ ihn zurück, der lang an Babels Bächen
In stummem Leid gerungen und geschafft!
Ruf’ ihn zurück, eh’ ihm die Jahre brechen

40
Die ungebeugte, frische Manneskraft!


Er hat gebaut dir hohe Liederdome,
Sein ganzes Leben galt dir einzig nur!
O, ruf’ ihn heim vom gelben Themsestrome,
Bau’ ihm ein Hüttchen auf der deutschen Flur.

45
Gieb endlich Ruh’ dem alten Ruhelosen!

Nicht sei sein Grab dereinst am fremden Strand!
O, flicht zum Lorbeer nun des Glückes Rosen
Um’s Haupt des Dichters, deutsches Vaterland!

Emil Rittershaus.

Für Ferdinand Freiligrath, für den edlen Dichter eines großen Volkes, ertönt unser Ruf. Sein Name ist bekannt, so weit die deutsche Zunge klingt, denn seine Lieder leben im Herzen unseres Volkes.

Sein Lebenslauf ist kein froher und sorgenfreier gewesen. Nach den Jahren der Bewegung, die auch ihn aus dem Volksleben herausrissen, die seinen regen Geist mächtig erfaßten, war er gezwungen das Brod der Verbannung zu essen. Ein bitteres Loos für einen deutschen Dichter! Auf englischem Boden gelandet, belastet mit der Sorge um eine zahlreiche Familie, begann sein Kampf um die Existenz. Er hat ihn tapfer durchgeführt. Indem er sich seinem Berufe, seinen Pflichten gegen Weib und Kind ausschließlich widmen mußte, lehnte er seine Leier an die Seite und nur selten noch entlockte er ihr Töne, die dann aber hinüberklangen über den Canal und Wiederhall fanden im deutschen Lande.

So hat er die Herzen unserer Jugend entflammt, so hat er in unser aller Brust zu erhalten gewußt die Frische und Begeisterung für das Gute, Edle und Schöne, ohne welche der Genius unseres Volkes das hohe Ziel der Größe unseres Vaterlandes, welches heute nicht allein mehr in unsern Hoffnungen lebt, niemals erreichen würde.

Das Ziel, nach dem er unter angestrengter Arbeit strebte, hat er nicht erreicht. Nach fast zwanzigjährigen Mühen und Sorgen auf fremder Erde, am Abend seines Lebens stehend, schaut er in eine ungewisse, unsichere Zukunft.

So wenden wir uns an die deutsche Nation. Ihre Pflicht ist es, dem ergrauten Dichter die Lebenssorgen zu erleichtern und ihm dadurch den Dank und die Anerkennung seines Vaterlandes darzubringen.

Wie oft ist es unserm Volke vorgeworfen worden, daß es die Todten zu feiern, den Lebenden nicht zu huldigen weiß! Die eigenen Worte Freiligrath’s rufen wir ihm zu:

O lieb’, so lang Du lieben kannst!
O lieb’, so lang Du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo Du an Gräbern stehst und klagst!

Es sei ein Weck- und Mahnruf!

Die Unterzeichneten, persönliche Freunde des Dichters aus dem Wupperthal, in welchem er einige Jahre seines Lebens verbrachte, sind zunächst zusammengetreten, um die Initiative zu einem Nationalgeschenk für Freiligrath zu ergreifen. Sie fordern die Freunde und Verehrer des Dichters auf, in allen Städten Special-Comités zu gleichem Zwecke zu bilden, oder sich dem hiesigen Comité anzuschließen. Zugleich ersuchen wir alle Zeitungs-Redactionen um gütigen Abdruck dieses Aufrufs und um Entgegennahme von Beiträgen.

Wir hoffen somit in den Stand gesetzt zu werden, dem verdienten Manne zu seinem Geburtstage im Sommer oder spätestens zu Weihnachten einen ansehnlichen Fond übergeben zu können – im Auftrage der Geber und im Namen des deutschen Volkes.

Barmen, im April 1867.

F. A. Bölling. Ludw. Elbers. Ernst von Eynern. Reinh. Neuhaus. Emil Rittershaus. Eduard Schink. Karl Sibel.




Es ist uns von ebengenanntem Comité der ehrenvolle Auftrag geworden, mit dem Aufrufe zur Stiftung einer National-Dotation für Ferdinand Freiligrath in der Gartenlaube zuerst an die Oeffentlichkeit zu treten. Indem dies hiermit geschieht, schließen wir uns den Worten der Barmer Freunde des Dichters mit ganzem Herzen an. Wir wenden uns vor Allem an die deutsche Familie allerwärts, in deren Lebenskreise der Dichter so herrliche Perlen gestreut; an die deutschen Patrioten, deren Edelster Einer der Dichter selbst ist; an die deutschen Sänger und Sängerbünde, welche Freiligrath’s Lieder so oft mit Begeisterung gesungen: Jedermann, dem je der Dichter einen Augenblick verherrlicht und die Seele erhoben, hat das Recht und die Pflicht, Mitgenosse dieser Dotationsstiftung zu sein.

In Rheinlands Metropole steht an der Spitze des Comités: Classen-Kappelmann.

Für diejenigen unserer Leser, denen des Dichters letzte Schicksale unbekannt sind, bemerken wir ausdrücklich, daß nur fremde Schuld, daß das plötzliche Aufhören des Geschäfts, dem er Jahre lang seinen ganzen Fleiß gewidmet hatte, ihn und seine Lieben schwerer Sorge überantwortet, und daß um so lauter die Theilnahme für den rastlosen Mann und den edlen Dichter zu sprechen hat.

Die Redaction der Gartenlaube bietet freudig die Hand zur Durchführung auch dieses nationalen Unternehmens und wird Dotationsbeiträge annehmen und öffentlich quittiren.

Redaction der Gartenlaube.




Freiligrath-Dotation. Wir freuen uns, schon heute und noch vor dem eigentlichen Beginn der Sammlungen über folgende Dotationsbeiträge quittiren zu können! W. in Barmen 50 Thlr., B. das. 150 Thlr., N. N. das. 150 Thlr., E. und K. das. 100 Thlr., L. das. 150 Thlr., S. das. 100 Thlr., G. das. 100 Thlr., E. das. 30 Thlr., die Redaction der Gartenlaube in Leipzig 170 Thlr. Summe der ersten Quittung: 1000 Thlr.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. S. Gartenlaube, Jahrgang 1860, S. 12.
  2. Von Cornelius existiren mehrere Portraits aus verschiedenen Zeiten seines Lebens. Unter denen der späteren Zeit zeichnet sich eine Profilzeichnung von Bendemann durch monumentale Auffassung und idealen Stil aus. Sie trägt das Datum „7. August 1862“ und die von Cornelius darunter gesetzten Worte: „Die Natur ist die Frau, der Genius der Mann. Wenn beide sich in Liebe vereinen, erzeugen sie unsterbliche Kinder, schön und herrlich wie sie selber.“ Sodann haben ihn Schrader (für das Kölner Museum) und Oskar Vegas (für das Antwerpener Museum) in Oel gemalt. Aber eine Originalphotographie nach dem Leben existirt außer der obengenannten nicht. Dieselbe ist kürzlich in dem „Künstleralbum“ meiner deutschen Kunstzeitung, „Die Dioskuren“, veröffentlicht worden.
    D. V.
  3. Vgl. Gartenlaube 1861 Nr. 51, 1865 Nr. 23 und 1866 Nr. 22.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vergleiche die Berichtigung: Die Herren Stauß und Streit gehören der nationalliberalen Partei an und haben auf dem Reichstag überhaupt nicht mitgewirkt.