Die Gartenlaube (1867)/Heft 11
Die Familie der Freiherren von Treuenstein, Herren von Dernot, gehörte zu den edelsten und, was noch viel besser ist, angesehensten und geachtetsten ihrer engeren Heimath. Seit unvordenklicher Zeit waren aus ihr die Staatsmänner des kleinen Landes hervorgegangen und zwei von diesen, Vater und Sohn, hatten fünfzig Jahre lang und länger als allmächtige Minister an der Spitze aller Geschäfte gestanden. Man weiß, was diese Stellung und ein solcher Titel im vorigen Jahrhundert zu bedeuten hatte und wie furchtbar mehr als einer der allgewaltigen Herren gegen das Wohl des Landes und seiner Bewohner sündigte. Die Treuenstein verstanden jedoch auch auf diesem Posten sich ihren alten guten Ruf zu erhalten; ihnen folgte nicht der Fluch des Landes. Von schreiendem Unrecht und rücksichtsloser Willkür erfuhr man niemals etwas und nie sagte ihnen Jemand nach, daß sie ihren eigenen Vortheil zum Schaden Anderer im Auge gehabt. Zwar wurden in der damals zur Aufbesserung der Finanzen beliebten Weise auch hier einmal ein paar Tausend Landeskinder an Holland und England verkauft, aber es geschah, wie man sehr wohl wußte, auf den ausdrücklichen Befehl Serenissimi und gegen den Willen seines damaligen Ministers, und dieser lehnte, wie man gleichfalls erfuhr, obendrein die ihm überwiesene Gratification für das abgeschlossene Geschäft so entschieden ab, daß er darüber von seinem Gebieter ein paar Wochen lang fast ungnädig angesehen wurde.
Der edle Herr ertrug diesen Zwischenfall mit philosophischem Gleichmuth; er war, auch ehe er von einem kinderlos verstorbenen Bruder die Herrschaft Dernot geerbt, schon durch sein und seiner beiden Gattinnen Vermögen der reichste Mann im Lande und weder abhängig noch ehrgeizig genug, um dem Glanz und der Macht seiner bisherigen Stellung und der Laune des Gebieters seine Grundsätze zu opfern. Dies wurde indessen auch nicht von ihm verlangt, denn der Fürst lenkte gegen den alten unentbehrlichen Diener und Freund wieder ein und erhielt ihm seine Gnade unverändert bis an’s Ende. Und nicht anders stellte sein Nachfolger sich zu dem Minister, ja als dieser endlich zur Zeit des Wiener Congresses hochbejahrt starb, wurde sein Sohn, der das Land bisher in Paris und neuerdings in Wien auf das Würdigste vertreten, auf den Posten berufen, welcher nun schon ein Eigenthum der Treuenstein zu sein schien. Es war der dritte Minister dieses Namens und Fürst und Volk durften sich alsbald wirklich seines Besitzes rühmen. Denn er war einer von den wenigen Staatsmännern jener Zeit, die sich dem Metternich’schen System nicht vollständig beugten und in dem ihnen anvertrauten Lande wenigstens einer Art von Fortschritt huldigten.
Leopold August von Treuenstein war ein Mann, der die Liebe der Seinen, die Ergebenheit seiner Freunde und die Ehrfurcht und Hochschätzung Aller, die ihm nahe kamen, in vollstem Maße zu verdienen schien und dies Alles sicherlich auch noch in höherem Grade, als es in Wirklichkeit der Fall, sein eigen genannt haben würde, wären nicht in seiner Natur und seinem Charakter zuweilen Züge sichtbar geworden, die fast unheimlich schroff mit dem contrastirten, was man an ihm verehrte, seine Umgebung bestürzten und zurückschreckten und ihn selbst – man sah das wohl – nicht glücklich machten, ja hie und da zu den unangenehmsten Folgen führten.
Er war der tiefsten und zartesten Empfindung fähig, er war voll Schonung und Milde, voll Freisinnigkeit und Großartigkeit der Auffassung und des Urtheils. Das Leben und Lebenlassen verstand Niemand behaglicher zu üben und freundlicher zu gewähren, als er, und einen frischen, heiteren Lebensgenuß gönnte er unbefangen sich und Anderen. Aber wer sich auf dies Alles verließ, hatte zuweilen unter dem schwersten Rückschlag zu leiden, da an dem Baron nicht selten alle diese, trefflichen Eigenschaften in das Gegentheil umschlugen oder durch andere jäh auftauchende Züge beeinträchtigt und aufgehoben wurden – ohne Vorzeichen, ohne sichtbare Veranlassung, wie Blitze, die plötzlich aus einer bisher kaum beachteten Wolke hervorschießen.
Seiner tiefen Empfindung stand eine häufig bestürzende Unbeständigkeit gegenüber; der Mann, der meistens so vorsichtig oder so entschlossen, mit klarem Auge, mit unbestechlichem Rechtsgefühl vorschritt, ließ sich, zumal im Privatleben, nur gar zu leicht durch Gelegenheit, Zufall, Eindruck des Augenblicks sorglos fort- und weiter ziehen, als er es vor sich und Anderen verantworten konnte. Und den Stunden der Milde und Schonung, der Billigkeit und Einsicht folgten andere, voll von Strenge und Härte, von Vorurtheilen und Eigensinn, von einer unglückseligen Leidenschaftlichkeit endlich und einem furchtbaren Jähzorn, die, so schnell sie auch gewöhnlich vorüberrauschten, weder von den durch sie Betroffenen, noch von dem Baron selbst jemals vergessen und überwunden wurden. Ja, von Versöhnlichkeit fand sich, auch in den gleichgültigsten derartigen Fällen, wenig oder nichts an ihm. Er selber schwieg meistens hartnäckig über das Vorgefallene und verlangte ein ähnliches Schweigen auch von Anderen. Die Zeit sollte ausgleichen und wieder herstellen. Aber sie that das nicht immer.
Als blutjunger Mensch hatte Leopold ein Mädchen geliebt, dessen Familienadel kein alter, dessen Vermögen gering und dessen Vater endlich mit dem seinen sich vordem einmal ernstlich überworfen hatte. Daher blieb dem jungen Paare auch nur die Entsagung [162] übrig; beide Väter waren gegen die Verbindung und verheiratheten ihre Kinder so bald wie möglich in einer ihnen mehr zusagenden Weise. Die jungen Leute mußten sich in dies Geschick finden und fanden sich auch darein, nur gab es Stimmen, welche behaupteten, daß Leopold’s oben erwähnte Unbeständigkeit, seine Neigung zu den Frauen und die schrankenlose Ausnützung des Glücks, das er bei denselben haben sollte, erst von jener Zeit an bei ihm bemerklich geworden seien.
Des Barons Ehe war keine unglückliche. Die Gatten hatten keine Ansprüche auf ein ausschließliches Gefühl, auf besondere Herzenswärme erhoben; sie waren äußerlich in ungestörter Harmonie, im Stillen Jeder für sich den eigenen Weg gegangen und hatten Sorge getragen, daß derselbe den des Anderen nicht unnöthig kreuze. Und als die Dame nach zwanzigjähriger Ehe starb, betrauerte Leopold sie aufrichtig und hielt ihr Andenken stets in Ehren.
In der nächsten Zeit folgten im Leben des Barons Ereignisse, welche die Vorzüge und die Mängel seiner Natur im hellsten Licht zu zeigen schienen. Es war am Hofe kein Geheimniß, daß eine anmuthige und liebenswürdige, unvermählt gebliebene Prinzessin dem stattlichen, geistvollen Mann eine ernste Neigung zugewendet und daß Leopold sich dagegen keineswegs unempfindlich gezeigt habe. Der regierende Herr begünstigte dies Verhältniß seit dem Tode der Frau von Treuenstein sichtbar; trotzdem aber gedieh dasselbe nicht zu dem erwarteten Schluß. Der Baron verlobte sich plötzlich mit der seit Kurzem gleichfalls verwittweten Geliebten seiner Jugend und führte sie wenige Monate später als Gattin in sein Haus. Sein Auftreten den Herrschaften gegenüber sollte das ehrenvollste und schicklichste gewesen sein und mußte jedenfalls befriedigt haben. Eine Abnahme der Gunst wurde nicht bemerklich, im Gegentheil erstreckte sich dieselbe alsbald auch auf die neue Baronin.
Die Verbindung der beiden alten Getreuen schien eine sehr glückliche zu sein; man sah Beide einander mit einer Herzenswärme, mit einer Liebesinnigkeit zugethan, die man dem Baron zum mindesten kaum recht zugetraut hatte, und Beide verhehlten nie und nirgends eine tief innere, glückliche Befriedigung, welche nicht nur die Ihren, sondern auch ihre gesammte Umgebung für die „so lange und hart Geprüften“ erfreuen und mit Zutrauen an die Dauer ihres Glücks erfüllen mußte. Trotzdem tauchten bereits nach einem Jahre hier und da Gerüchte auf, nach denen Glück und Frieden dieser Ehe auf das Bedenklichste gefährdet sein sollten. Man flüsterte sich von der Wiederanknüpfung alter Verbindungen, ja von einer neuen Liaison zu, welche den Baron der kaum gewonnenen Gattin entzöge, und man wollte wissen, daß Frau von Treuenstein solche Ausschreitungen mit nichts weniger als Gleichgültigkeit aufnehme. Es sollte schon zu traurigen Scenen gekommen sein.
Da indessen solche Scenen keinen Augenzeugen gehabt zu haben schienen und selbst die Vertrautesten keine andere Abnahme der Herzlichkeit beider Gatten bemerken konnten, als diejenige, welche durch die Dauer und Sicherheit des Besitzes zu einer erklärlichen und natürlichen wurde; da es endlich nirgends zu einem sogenannten Eclat kam, schwiegen die Gerüchte nach einer Weile wieder, traten aber leider von Neuem und bestimmter auf, als die Baronin nach dreijähriger Ehe bei der Geburt ihres einzigen Kindes plötzlich starb. Man glaubte diesen Todesfall durch die Entdeckung einer neuen, der armen Frau Gott weiß wie bekannt gewordenen Untreue des Gatten veranlaßt.
Allein eine Bestätigung dieser traurigen Sage ergab sich auch jetzt nicht. Wenn überhaupt Jemand existirte, der Genaueres und Wahres von der Sache wußte, so bewahrte er das gewissenhafteste Schweigen, und das Benehmen des Barons Leopold selber widersprach dem Gerüchte sogar auf das Entschiedenste. Der Verlust der Gattin war für den stolzen, kraftvollen Mann sichtbar ein niemals überwundener Schlag, und so wenig er seine tiefe Trauer zur Schau trug, so wenig wich er zurück, wo eine Aeußerung derselben natürlich war.
Dies zeigte sich am deutlichsten bei der Taufe der armen verwaisten Kleinen. Sie solle die Namen der geliebten Seligen erhalten, sagte der Vater mit Thränen in den Augen zu dem Geistlichen, gerufen solle sie aber „Esperance“ werden. „Denn in ihr,“ fügte der Baron hinzu, „vereinigt sich meine Hoffnung auf die Wiedervereinigung mit derjenigen, die sie mir als höchstes Pfand ihrer Liebe hinterlassen, und die andere, daß dies geliebte Kind das Glück und Licht meines Lebensabends sein werde.“
Es war fast, als habe der Baron mit diesen Worten etwas Prophetisches ausgesprochen, denn es folgte eine Zeit, in der das Glück, das ihm bisher treu geblieben, ihn, wie die Meisten es ansehen möchten, verlassen zu wollen schien, im Grunde freilich durch seine eigene Schuld. Denn die Kehrseite seiner Natur und seines Charakters war aller Welt niemals so sichtbar geworden, wie in diesen nächsten Jahren. Der Herr erschien zuweilen wie ausgetauscht; es zeigte sich eine Verbitterung, eine Härte und Schroffheit an ihm, wie man sie bisher nur in seltenen Fällen und nur als eine augenblickliche beobachtet hatte; er widersetzte sich, im schärfsten Widerspruch mit seinen seitherigen Regierungsgrundsätzen, der in den Jahren 1830 und 1831 auftauchenden freieren Strömung und den überall an die Throne klopfenden berechtigten Volkswünschen auf das Starrste und überbot noch beinah die von Wien und Berlin dictirte Strenge. Er opponirte sogar dem Fürsten und dem Erbprinzen, welcher Letztere ohnehin schon seit einiger Zeit dem Minister Zeichen der Erkaltung gegeben, so leidenschaftlich, daß ein Bruch nicht ausbleiben konnte und man anscheinend ohne Bedauern auseinander ging. Der Minister zog sich auf seine Güter zurück.
Am Baron zum mindesten wurde niemals ein solches Bedauern sichtbar; wir erfuhren, daß von Versöhnlichkeit in dem Charakter Leopold’s nichts zu finden, wenigstens nichts zu merken war, obgleich man doch wohl annehmen mußte, daß ihm die aufgezwungene Muße und die Entfernung von allen Geschäften, der Verlust des bisherigen unbeschränkten Einflusses aus Alles, was im Lande geschah und was von außen an dasselbe herantrat, mehr als empfindlich fallen mußte. Bemerkbar wurde dies, wiederholentlich gesagt, indessen niemals, und als der Hof in der folgenden schlimmen Zeit der Reaction den treuen, gewandten und starken Rathgeber und Führer zu entbehren begann und Miene machte, wieder mit ihm anzuknüpfen, wich der Baron solchen Bemühungen auf das Entschiedenste aus und bewahrte sich seine stolze Unabhängigkeit, nicht schroff, nicht heftig, sondern in aller gebührenden Schicklichkeit. Denn es muß gesagt werden, daß inzwischen jener Sturm der Leidenschaftlichkeit, der Verbitterung und Härte längst wieder verrauscht war und der Herr den Beobachtenden sich meistens nur noch als der alte liebenswürdige und behagliche Lebemann zu zeigen pflegte.
Das war um so mehr anzuerkennen oder auch gar zu bewundern, als jene Zeit der Härte und Rücksichtslosigkeit nicht nur Stellung und Ansehen des Ministers und Staatsmannes beeinträchtigt und endlich seinen Fall herbeigeführt, sondern auch in seinen Privatverhältnissen zu den traurigsten Folgen geführt hatte, welche nicht so leicht zu vergessen und überwinden sein konnten.
Baron Leopold hatte aus seiner ersten Ehe zwei Söhne gehabt, die den Eltern von Jugend auf mehr Sorgen als Freude machten. Meisterlose Knaben, waren sie zu noch unbändigeren jungen Leuten erwachsen, bei denen man stets nur zu hüten hatte, daß ihre Ausschreitungen gegen Herkommen, Gesetz und sogar Sitte nicht gar zu groß und unverzeihlich werden möchten. Bei dem älteren, August, kam es in der That dahin, daß der Vater ihn entfernen und in die österreichische Armee eintreten lassen mußte – ganz nach dem Wunsch des unbändigen Jünglings, aber sehr gegen den Willen des Ministers. Die Treuenstein hatten seit Jahrhunderten nicht mehr den Degen geführt, und der Baron vermochte sich nicht zu überreden, daß sein Sohn vor Anderen geeignet sei, auf dieser Laufbahn Ruhm und Ehre zu erwerben. Dies Mißtrauen zeigte sich bald leider nur zu gerechtfertigt: die Ausschreitungen nahmen nicht ab, sondern zu, und als August einige Zeit nachher im Duell fiel, mußte selbst der Vater dies Ende fast ein Glück heißen. Dem Unglücklichen stand, wäre er am Leben geblieben, die Verstoßung aus dem Regiment bevor.
Mit dem zweiten Sohne – er hieß Leopold und war seiner Mutter Liebling, während er dem Vater niemals recht nahe gestanden – schien es sich in sofern besser stellen zu wollen, als er durch die Ereignisse, welche seines Bruders Entfernung veranlaßten, augenscheinlich zur Besinnung gekommen war und sich ernstlich zusammennahm und zu keiner Klage mehr Veranlassung gab. Es war ein schöner und liebenswürdiger, glänzend begabter junger Mensch und trotz seiner früheren Tollheiten bei aller Welt beliebt. Man hoffte für ihn auf eine reiche, alles Frühere ausgleichende [163] Zukunft, ja sah in ihm schon den dereinstigen Nachfolger des Vaters und fühlte sich durch die erwähnte Umkehr noch mehr in diesem Glauben bestärkt. Nur der Baron selbst, hegte denselben nicht und war leider auch hier im Recht. Die Nachrichten, welche über des Sohnes Universitätsleben einliefen, hätten auch ein freundlicheres Vaterherz bekümmern und verletzen müssen, und mit einem Male stellte es sich heraus, daß der Student in der Burschenschaft eine hervorragende Rolle gespielt, beim Hambacher Fest gewesen, am Frankfurter Attentat sich betheiligt habe und verhaftet worden sei.
Das traf gerade in jene Zeit, als der Minister von seinem Posten zurückgetreten war und noch eben, wie wir erfuhren, jeder freieren Regung auf das Leidenschaftlichste sich widersetzt hatte. Es ist, zusammengehalten mit allem Uebrigen, daher begreiflich, daß er über seinen Sohn fast ein härteres Urtheil fällte, als die erbarmungslosen wirklichen Richter dieser armen jungen Leute. Er erklärte von dem Sohne nichts mehr wissen zu wollen, bemühte sich selbst nicht für ihn und verbat sich sogar die angebotene Verwendung des Hofes. Leopold theilte daher das Schicksal seiner Genossen, die Verurtheilung zum Tode und die Begnadigung zu dreißig Jahren Festungshaft.
Daß der Vater seine Härte jemals bereut habe, wurde nicht bemerkbar. Als die unglücklichen Jünglinge durch den Gnadenact des Jahres 1840 befreit wurden, lehnte er jede Versöhnung mit dem armen Kinde, ja jede Begegnung bestimmt ab, und als der Sohn diese letztere dennoch suchte und gewissermaßen erzwang, führte sie zu keinem besseren Verhältniß, sondern anscheinend zur völligen Trennung der Verwandten. Der Sohn reiste gleich nach der Unterredung wieder ab und verschwand aus den Augen der Bekannten – die ihm bestimmte jährliche Rente wurde an ein Bankhaus in Frankfurt bezahlt; der Vater nahm den Namen des Entfernten nicht mehr in den Mund, wollte ihn auch von Anderen nicht mehr nennen hören, machte bald darauf sein Testament und bestimmte in diesem die Herrschaft Dernot und sein gesammtes Privatvermögen für die Tochter zweiter Ehe. Von dem großen Treuenstein’schen Majorat war keine Rede. Der Name dessen, dem es freilich nicht genommen werden konnte, schien selbst hier nicht genannt werden zu sollen. Und die alten Diener des Hauses, die den „jungen Herrn“, wie das nicht selten geschieht, von jeher sehr geliebt und stets entschuldigt hatten, flüsterten einander von einem Befehl des Barons an den Rentmeister zu Treuenstein zu: falls Leopold sich bei Lebzeiten des Vaters auf einem der Güter einfinden sollte, habe er, der Rentmeister, ihn allsogleich fortzuweisen und keinen Widerspruch zu dulden.
Mit diesen Ereignissen schien das Schicksal die schweren Schläge gegen den Baron beendigt zu haben. Der nun schon bejahrte Herr lebte fortan Jahr aus, Jahr ein auf gelegentlichen Reisen oder auf seinen Besitzungen in Ruhe und Frieden, mit Glanz und einem seinem fürstlichen Vermögen entsprechenden Aufwand, als großer Edelmann. Von dem Fanatismus, wie wir es wohl heißen dürfen, der ihn in der letzten Zeit seiner Amtsthätigkeit beherrscht und ihn auch während der ersten Jahre seiner Zurückgezogenheit noch entstellt hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Die alte Milde, Liebenswürdigkeit und Rücksicht machte ihn seinen Bekannten von Neuem theuer, und wenn er sich, was freilich selten geschah, zu einem Urtheil über die hier und dort herrschenden öffentlichen Zustände, über die Zeichen der Zeit, mit einem Wort über Politik bewegen ließ, so durfte man ein einsichtiges, billiges, und verhältnißmäßig freisinniges erwarten. Zu dem Hofe war sein Verhältniß allmählich wieder ein freundliches geworden. Er selbst war in der Residenz zwar nur ein paarmal wieder gesehen worden, dagegen empfing er von Zeit zu Zeit einen Besuch des Fürsten oder der fürstlichen Familie auf seinem nicht weit von der Stadt belegenen gewöhnlichen Wohnsitz. Zu einem Wiedereintritt in die Geschäfte, oder auch nur zur Annahme einer diplomatischen Mission war er jedoch nicht zu bewegen gewesen.
Der Baron hatte freilich nicht Unrecht, wenn er in solchem Falle einmal angegeben hatte, daß seine gegenwärtigen Geschäfte seine volle Thätigkeit in Anspruch nähmen. Er ordnete auf der erwähnten Besitzung die von seinen Reisen zurückgebrachten Sammlungen und Kunstwerke, er baute das Schlößchen aus und schmückte und putzte an ihm und seinen ohnehin reichen und anmuthigen Umgebungen immer fort; er übte eine großartige Gastfreundschaft gegen die vielen alten Bekannten von nah und fern und gegen die neugierigen Besucher, welche der Ruf der hier aufgestellten Kunstschätze, des prachtvollen Parks, der auf der Besitzung betriebenen Musterwirthschaft anlockte, und widmete sich endlich der Bewirthschaftung und Verbesserung der großen Güter und dem Wohl seiner Untergebenen und Diener mit dem regsten Eifer und der treuesten Sorge.
Nur eine Besitzung gab es, um die der Baron, wenn er sie auch nicht vernachlässigen ließ, sich doch nicht persönlich bemühte, – das war seltsamerweise die Perle von allen, die Herrschaft Dernot. In seinen Knaben- und Jünglingsjahren war er bei dem damaligen Besitzer, seinem Onkel, fast häufiger und länger zu finden gewesen als in seinem Elternhause; er hatte von dort aus auch seine Jugendgeliebte kennen gelernt. Dann war er zu Anfang des Jahrhunderts, wo Dernot bereits seinem Vater zugefallen war, noch einmal ein paar Wochen lang der reichen Jagd wegen dort geblieben und hatte – seitdem die Besitzung mit keinem Fuß wieder betreten. Weshalb, erfuhr man nicht. Baron Treuenstein liebte gelegentlich nichts weniger als eine Anführung der Gründe seines Handelns. Man mußte so oder so sich mit dem Factum begnügen und wohl oder übel vertragen lernen.
Seiner Familie gegenüber, so Viele von derselben noch übrig waren, zeigte er sich als der treueste und großmüthigste Verwandte. Eine unverheirathete Schwester stand seinem Hause vor, und er ertrug die Launen und Wunderlichkeiten der bejahrten Dame mit bester Manier und vielem Humor. Die beiden Enkel einer anderen Schwester, verwaist und durch die Verschwendung ihrer Eltern verarmt, nahm er ganz zu sich und erzog sie wie eigene Kinder. Und sein wirkliches Kind endlich, „die Blume in seinem Dasein und die letzte Hoffnung in seinem Leben“, die schöne Esperance, er- und verzog er mit einer an Abgötterei grenzenden Liebe, mit einer bis zur Schwäche sich steigernden Geduld und Nachsicht gegen ihren Uebermuth, ihre Ausgelassenheit, ihre zahllosen kleinen Launen und Einfälle.
Die Anderen machten es freilich nicht anders. „Die Herrin von Dernot“, wie das Mädchen seit jenem Testament von Verwandten und Freunden, nur nicht vom Vater, wohl scherzhaft genannt wurde, war der Abgott Aller und die Gebieterin über die Person und Familie, das Haus und den Besitz ihres stolzen, vor Niemand sonst sich beugenden Vaters, diejenige, um welche sich alles Leben, man hätte sagen mögen, alles Denken, Träumen und Empfinden der Ihren drehte.
„Sie haben ganz Recht, mein Lieber, es ist etwas d’ran – solch’ ein Morgen auf dem Lande ist nicht übel – notabene wenn man dazu nur nicht immer so deprimirend früh aufstehen müßte!“ sagte der Kammerherr mit einem nicht ganz verborgenen leichten Gähnen, aber auf das Freundlichste, und sein Auge schweifte mit einer Art von Wohlgefallen über den prachtvollen Rasengrund und die nächsten Parkgruppen, welche sich am Fuß der Terrasse hinzogen; „Charmant, wirklich charmant,“ fügte er seinem Begleiter zunickend bei, „wenn man sich herausfindet! Aber dies Wenn – ich bewundere Sie, Baron, daß Sie in Ihrem Alter es durchsetzten.“
Der Baron lächelte. „Nun, nun, Brose, sechszehn Jahre sind lange genug, um sich an etwas zu gewöhnen. Aber ich war von jeher etwas von einem Frühaufsteher. Wißt Ihr noch, Brose, als ich Euch Alle damals zur Morgenpartie der Prinzeß Clementine aus den Betten holte?“
Herr von Brose lächelte gleichfalls: „Ihr waret immer ein Spaßvogel, Treuenstein!“ – Und die beiden alten Herren wandelten behaglich weiter unter dem weiß und blau gestreiften Zeltdach hin, welches die Terrasse und den Frühstückstisch überspannte. Der Schatten war wohlthätig, denn so gar zu früh war es keineswegs mehr, die Sonne hatte die Morgennebel bereits völlig zerstreut, die Ebene, auf welche man durch eine Lichtung hinausschaute, lag, von dem blitzenden Fluß durchzogen, bis zu den fernen blauen Bergen in wunderbarer Klarheit, und der Tag schien die Menschen daran erinnern zu wollen, daß man den September nicht immer mit Unrecht noch zum Sommer rechnet.
Baron Treuenstein blieb wieder stehen. „Sehen Sie hin, mein Freund,“ sagte er hinausdeutend und man hörte es wohl, daß er die Schönheit des Morgens und die Anmuth der Aussicht [164] wirklich tief empfand, „ist das nicht ein voller Ersatz für das bischen Unbequemlichkeit?“
„Charmant, ganz charmant, wie ich sage!“ versetzte der Kammerherr kopfnickend und indem er mit Grazie eine kleine Prise nahm. „Es versteht es nur nicht Jeder zu würdigen. Und wie mir scheint, mein armer Freund,“ fügte er mit einer Art von Schalkhaftigkeit hinzu, während sein Auge die Terrasse überflog und durch die geöffneten Flügelthüren auch in den anstoßenden Musiksaal zu dringen suchte, „giebt es hier selbst bei Ihnen hartnäckige Ungläubige. Unsere Damen –“
„Fehlgeschossen, alter Freund!“ lachte Treuenstein. „Meine Schwester sahen Sie schon – wir besprachen vor Ihrem Erscheinen bereits alles Mögliche, wie Kunigunde es liebt. Die Jungen aber – artig gegen Sie ist’s nicht, allein wie hält man solche Eidechslein? Die sind vermuthlich längst über alle Berge.“
Der Kammerherr wiegte ein wenig ungläubig das Haupt. „Frühstücken sie denn nicht mit Ihnen?“
„Frühstücken – was wissen junge Mädchen vom Frühstücken!“ meinte der Baron launig. „Was wissen sie überhaupt vom Essen? Wie sie’s aushalten, weiß ich nicht, das Capitel von der Ernährung junger Damen ist bekanntlich eines der dunkelsten –“
In diesem Augenblick kam, dem alten Diener nach, der den Kaffeetisch aufzuräumen begann, eine bejahrte Dame aus dem Saale hervor und auf die Herren zu. Sie sah sehr aufgeregt aus, und ihre Finger zitterten nicht minder als ihre Stimme, da sie, den Aermel des Barons fassend und sich zu ihm neigend, flüsterte: „Gott im Himmel, Bruder, sie sind fort – fort!“
So leise, daß der Kammerherr sie nicht hätte vernehmen sollen, waren diese Worte nicht gewesen, allein dem Baron schien es auch gar nicht um ein Geheimniß zu thun zu sein. „Hören Sie, Brose?“ rief er lachend aus, „was sagt’ ich Ihnen? Hinein in’s Blau!“ Und sich gegen die Schwester wendend, fügte er scherzend hinzu: „Also, meine beste Kunigunde, beruhige Dich. Wir sind schon vorbereitet.“
Die Dame hatte während dieser Antwort ihre aus den Halbhandschuhen hervorsehenden Finger mit nervöser Unruhe in einander geschlungen, ja sogar ein wenig knacken lassen. Jetzt senkte sie die Rechte in die Tasche des Morgenkleides und sagte dazu zitternd wie vorhin: „Du mißverstehst mich, Leopold, es ist da nichts zu scherzen – aber ich kann hier –“
Herr von Brose fing den Blick auf, der zu ihm hinüberstreifte. „Meine Freunde,“ sprach er mit einem gewissen theilnehmenden Wohlwollen, „ich bitte Sie! Sie werden doch nicht an mich denken? Ich –“
„Nichts da, Brose, nichts da! Sie bleiben!“ unterbrach Treuenstein ihn etwas ungeduldig, „und Du, liebes Kind, laß es jetzt genug sein. Ich habe unserem alten Freunde eben explicirt, daß die beiden Kleinen einen Morgenritt lieben –“
„Und mißverstehst den Fall gänzlich,“ fiel Kunigunde gleichfalls gereizt ein. „Entschuldigen Sie, lieber Kammerherr, mein Bruder will es so! Es ist keiner von diesen Morgenritten, die mir gleichfalls ein Greuel, obgleich Du sie ja womöglich noch darin bestärkst! Sie sind fort, sage ich Dir, fort –“
„Fort? Was heißt das? Wohin?“ fragte der Baron noch ungeduldiger, fast verdrießlich.
„Gott im Himmel, Bruder, wie Du bist! Wenn wir das wüßten! Ihre Jungfer ist mit, und –“
„Unsinn, Unsinn!“
„Ihre Betten sind unberührt, in den Schränken und Schubladen ist eine gräuliche Confusion –“
„Kunigunde, Du phantasirst!“
„So lies das!“ sagte sie bebend und ihre Finger brachten aus der Tasche ein einigermaßen zerknittertes Billet hervor. „Das lag auf ihrem Tisch – da hast Du es! Das ist Deine sündhafte Nachsicht.“
Der Bruder nahm ihr das Papier aus der Hand. Anfangs runzelte er beim Lesen ein wenig die Stirn, bald aber erholte seine Miene sich immer mehr, und endlich in Lachen ausbrechend, rief er: „Das ist ganz kostbar, Brose! dies geht auch Sie an – schmeichelhaft, bei Gott!“ Und ohne auf das entsetzte „aber Leopold!“ der Schwester zu hören, las er:
„‚Tante!
Wir wissen es durch Deine Worte und auch aus eigenen Beobachtungen, daß Herr von Heimlingen sich Hoffnung auf Eine von uns macht und von Dir, sowie von Papa Excellenz in solcher Thorheit bestärkt wird. Jetzt, wo auch der Kammerherr vermuthlich in gleicher Absicht auf die Andere anlangte, erklären wir Dir und Papa Excellenz, daß wir unsere Freiheit über Alles lieben und jeden Zwang auf das Tödtlichste hassen. Wir gehen – dann seid Ihr uns los. Suchet uns nicht, – Ihr werdet unser stilles Asyl nicht entdecken. Gedenket unser, wenn Ihr es vermögt, ohne Thränen.„Spötterinnen, schöne Spötterinnen!“ seufzte Herr von Brose mit einem etwas schmachtenden Aufblick. „Wer hätte solche Bosheit –“
„Warten Sie, Freund! Die Nachschrift!“ unterbrach ihn der Hausherr und las von Neuem:
„‚Nachschrift. Selinde‘ – so haben die Uebermüthigen ihre Jungfer Sophie umgetauft! – ‚Selinde, die Aermste, besteht einen harten Kampf zwischen Liebe und Anstand, zwischen Gehen und Bleiben. Der Himmel erspare Euch den Vorwurf, auch dies sanfte Herz gebrochen zu haben durch die Härte gegen ihre Gebieterinnen. Tröste Du unseren Gast, Tante, und pflanze, wenn Herr von Heimlingen sich wirklich ernstlich erschießt, für uns drei Lilien auf sein Grab.Der Kammerherr seufzte noch einmal etwas von „schönen Spötterinnen“, der Baron nickte ihm und seiner Schwester vergnügt zu, die Letztere aber sprach mit noch immer zitternder Stimme und nervösem Fingerspiel: „Ich begreife Sie nicht, meine Herren! Ich – das fühle ich! – überwinde diese Effronterie niemals. O, ich habe es Dir oft genug gesagt, Leopold, diese Eugenie ist ein wahrer Unsegen für unser Kind! Ihre Etourderie –“
„Nun, nun,“ unterbrach der Bruder sie mit schalkhaftem Ausdruck, „darüber habe ich, wie Du weißt, meine besonderen Ansichten. Aber schließen wir ab. Sie sind also davon, und dieser Uebermuth verdient eine kleine Lection, die den wilden Vögeln heut’ Abend auch nicht geschenkt sein soll.“
„Heut’ Abend? Täusche Dich nicht!“ jammerte Fräulein Kunigunde. „O, mein lieber Kammerherr, mahnen Sie ihn mit mir zum Ernst! Denken Sie, die beiden wilden Mädchen mit der albernen Zofe – im Lande, der liebe Gott weiß wo und wie! Bruder, es ist kein kindischer Scherz! Es ruinirt sie! Sie haben es mir neulich ja gedroht – Eugenie, mein’ ich –, als ich ihnen ein wenig ernst über Herrn von Heimlingen sprach, der in Deinen und meinen Augen –“
„Meine Liebe, das war zu viel gesagt!“ unterbrach der Hausherr sie mit sich faltender Stirn. „Brose, Sie sind ein alter Freund und dürfen auch Ernsteres hören als diese Thorheiten. Heimlingen ist von guter Familie, wohlhabend, ein ganz artiger junger Mann – er ist unser Nachbar und ist neulich Kammerjunker geworden; man hat ihn bei Hofe gern. Entscheidet sich eines der Mädchen für ihn – gut, ich würde kaum viel einzuwenden haben. Allein zuerst, liebe Kunigunde, muß er sich doch selbst entscheiden, dächte ich, und dann ist auch meinerseits nicht einmal an Zureden zu denken. Beide sollen völlig frei wählen, und vor allen Dingen hat es weder mit der Einen noch mit der Anderen Eile. Ich behalte sie gern noch bei mir. Und nun genug von diesen Thorheiten. Kommt, Brose; wir wollen einmal wieder unsere Stärke im Billard messen.“
Treuenstein’s Sorglosigkeit sollte jedoch alsbald einen etwas ernsteren Stoß erhalten. Seine Voraussetzung, daß die jungen Mädchen auch diesen größeren Ausflug wie gewöhnlich zu Pferde und in Begleitung des alten Leibjägers Jonas unternommen – der Gedanke, daß auch die Zofe habe reiten müssen, machte den Baron sehr heiter –, bestätigte sich keineswegs. Als durch den Kammerdiener Fräulein Kunigundens Schrecken draußen unter den Leuten bekannt wurde, meldete der Gutsverwalter, daß Fräulein Esperance gestern Abend bei ihm für sich und ihre Cousine – so nannten sich die Mädchen – einen Wagen auf drei Uhr Morgens bestellt halte. Man sollte stille sein, damit die alten Herrschaften nicht gestört würden. Natürlich war dem Befehl entsprochen worden. – Esperance war die unumschränkte Herrin des Hauses, und es war auch nicht die erste Fahrt dieser Art. Der Verwalter war bei der Abreise respectvoll zugegen, half den Damen beim Einsteigen, reichte dem Kutscher einen Koffer hinauf und verbeugte sich schmunzelnd, da Esperance ihm zuflüsterte: „Reinen Mund, lieber Herr Müller! Ein Scherz!“
In den grasreichen Ebenen Niederbaierns und auch in dem schönen Vorland der Allgäuer und Innberge wird die Pferdezucht seit alten Zeiten mit besonderer Vorliebe getrieben. Wie schon in den Fähnlein der baierischen Herzoge bei den Romfahrten der deutschen Könige die „Rott-Thaler Fuchse“ eine geschätzte Reiterei bildeten, so beziehen unsere Chevauxlegers-Regimenter noch heutzutage ihre meisten Pferde und ihre besten Reiter aus jenem Gau, dessen junge Bursche traditionell eine ausgezeichnete Kühnheit und Flinkheit auf Rossesrücken bekunden. Der Schutzpatron aller Gegenden, in welchen die Pferdezucht florirt, ist nun in ganz Oberdeutschland der heilige Reitersmann Sanct Georg; er gilt als Specialsachverständiger in diesem Gebiete, wie denn in der Austheilung der Rollen und Aemter an die einzelnen Heiligen das Mittelalter eine ergötzliche Naivetät entfaltet; so hilft z. B. ein Heiliger, der enthauptet worden, wider das Kopfweh, ein Zweiter, der mit Speeren durchbohrt worden, gegen das Seitenstechen etc.
Der römische Ritter Georg nun ist der Heilige für Roß und Reiter und an seinem Tage (dem 24. April) werden in den erwähnten Landschaften Uebungen und Spiele gehalten, welche ihren heidnischen Ursprung nicht verleugnen können. Es versammeln sich die Bauern aus der ganzen Umgegend bei einer dem Heiligen geweihten Capelle – noch alterthümlicher ist es, wenn eine riesenhafte Eiche oder Linde mitten im freien Hag Mittelpunkt der Feier ist; man findet solche tausendjährige Bäume (Ting-Bäume) an alten Gerichts- und Opferstätten noch häufig in Baiern –; bis in die Tausende geht die Zahl der Wagen, Rosse, Gespanne aller Art, welche zusammengebracht und im Kreise um das Heiligthum gestellt werden. Man campirt im Freien, die Männer haben Bier, die Weiber Spechen mitgebracht; der Geistliche predigt in der Capelle und segnet am Schluß die Rosse, wie es die obenstehende Abbildung darstellt; Aber nicht dieser christliche Segen ist es, der eigentlich bei diesem „Georgiritt“ hilft, er ist nur eine Zuthat, welche dem Gebrauche den rein heidnischen Charakter benehmen soll, sondern die Hauptsache ist Folgendes. Die jungen Bursche besteigen ohne Sattel und Bügel ihre besten Rosse und jagen im Galopp drei Mal um die Capelle oder den Baum, vor welchem der Geistliche oder in Ermangelung eines solchen ein alter Bauer steht und die vorübersausenden Rosse mit Weihwasser besprengt und – was höchst charakteristisch – mit Erde bewirft, welche aus dem Wurzelgebiet des heiligen Baumes gegraben ist. Diese Handlung schützt Roß und Reiter das Jahr über vor Krankheit, Fall und Sturz, und jeder Bauer nahm früher wenigstens eine Handvoll der Heilerde in einem Sack mit nach Hause, sie in dem Roßstall aufzuhängen. Offenbar haben wir es hier mit den letzten Spuren eines Festes zu thun, in welchem ein Gott der Rosse und des Reitens gefeiert und um seinen Segensschutz angegangen wurde; vielleicht war es Freyr, welchem vor andern Pferdeopfer gebracht wurden und dessen kriegerische Attribute den Uebergang in den ritterlichen Lindwurmtödter sehr nahe legen würden.
Indessen werden in anderen Gegenden andere Heilige als Patrone der Pferdezucht angerufen, so namentlich Sanct Bernhard und Sanct Leonhard. Letzterer spielt in Oberdeutschland eine der allerwichtigsten Rollen; denn ihm empfiehlt der Bauer, was ihm so wichtig oder oft noch wichtiger ist als sein Haus und seine Familie: seinen Stall und sein Vieh. St. Leonhard ist, ich weiß nicht zu erklären, aus welchen Gründen, der Schutzpatron des gesammten vierfüßigen Hausviehes geworden – das Federvieh hat seine besonderen Heiligen und zwar Tauben den heiligen Columban, Gänse Sanct Martin, Enten Sanct Veit –; in ganz Baiern, Oesterreich, Schwaben und in dem alemannischen Theil von Mitteldeutschland stehen zahllose kleine Bethäuser, Capellen, Wegsäulen, Feldbilder etc., meist auf einer „Reute“ (Rodung, freier, ausgereuteter Platz) mitten im tiefen Walde, zu welchen das Landvolk aus der ganzen Umgegend am Tage des Heiligen (6. November) wallfahrtet und dann mit Roß und Wagen um das Heiligthum „Leonhardi-Ritte“ hält, ganz ähnlich dem nur auf Pferde bezüglichen Fest des Georgi-Rittes.
Echt heidnisch ist aber hierbei die weitverbreitete Sitte, dem Heiligen die in Wachs nachgebildeten Glieder der Thiere zu opfern, welche leidend oder schon durch Sanct „Lienhard’s“ Hülfe geheilt sind; gewöhnlich wird dem Heiligen bei Ausbruch der [166] Krankheit das Weihgeschenk gelobt und nach der Heilung entrichtet. Daher ist denn der Altar einer solchen Leonhardscapelle häufig ganz überdeckt mit dergleichen Weihbildern aller Art: Rinderhörner, Ziegenhörner, Ochsenköpfe, Pferdenacken, Schweinsrüssel, Hinter- und Vorderfüße von allen Hausthieren, aber auch innere Theile, Herzen, Lebern, Lungen, Nieren, Magen etc., sämmtlich aus rothem Wachs gebildet, bedecken die Platte oder die Glasschreine des Altars und bezeugen die Güte und Gewalt und die Veterinär-Wissenschaft des Heiligen. (Bekanntlich werden der Mutter Gottes und anderen Heiligen in ganz analoger Weise menschliche Glieder in Wachs gebildet geopfert.) Das hat nun ein echt heidnisches Gepräge, daß Jeder, der diese barbarischen Opferspenden um das Bild und zu den Füßen des Heiligen gelagert sieht, sich in eine graue Urzeit unter Bärenfelle und Steinhämmer zurück versetzt fühlt. Uebrigens hat der heilige Leonhard, wie im guten Fall den Dank, so auch im schlimmen die unwillige Entrüstung seiner gläubigen Verehrer zu tragen. Wie die nordischen Könige ihre Götterbilder mit Keulen zerschlugen, wenn sie ihnen den Sieg versagt hatten; wie die badischen Bauern noch in unseren Tagen das Holzbild des heiligen Urban, des Beschützers des Weinbaues, in den Rhein warfen, als der gute alte Heilige dem modernen Uebel der Traubenkrankheit nicht zu wehren verstand: so weiß ich auch einen Fall, daß österreichische Bauern, welche, als die Klauenseuche ihrer Gemeinde nahte, dem heiligen Leonhard für den Fall seines Schutzes gegen diese Gefahr eine neue reich vergoldete Statue gelobt und – voreiliger Weise – pränumerando schon errichtet hatten, nachdem die Krankheit gleichwohl kam und fast all ihr Vieh fortraffte, das kostbare Bild wieder herausrissen, mit Beilen zerschlugen, verbrannten und die Asche des undankbaren Heiligen unter Verwünschungen in’s Wasser streuten. Man sieht, es hat auch seine Schattenseiten, ein Schutzpatron zu sein! –
Allbekannt ist die Begehung der Sommersonnenwende (24. Juni) durch das Entzünden der schönen „Sunwendfeuer“, welche zwar auch im Flachland vorkommen, aber wohl eigentlich doch nur verstanden werden in ihrer vollen Pracht und Poesie, wenn sie von den Gipfeln der Alpen hernieder leuchten und etwa wiederscheinen in den Fluthen eines Bergsees. Wie anderwärts, so hat auch in Baiern Jahrzehnte lang eine lichtscheue Bureaukratie diese schönen und unschuldigen Feuer auszutreten versucht: aber vergebens! Die Bergbauern lassen sich ihre Poesie so leicht nicht nehmen, und die Gensd’armen hätten Flügel anlegen und sich vertausendfachen müssen, wollten sie in jener Nacht alle die Berghöhen erreichen, auf welchen im ganzen Umkreis des Gebirges nach wie vor die verbotenen Feuer glühten. Da die Bauern nicht nachgaben, gab die Regierung nach, und weil die Feuer nicht aufhörten, hörten die Verbote auf, und vor einigen Jahren zählte ich siebenunddreißig solcher Feuer auf den Gipfeln der Bergkette, welche den Chiemsee umschließt. Es verknüpfen sich zahlreiche Gebräuche mit diesem Fest, welche seine ursprüngliche mythologische Bedeutung erläutern.
Es ist der Scheiterhaufe des sterbenden Lichtgottes, der hier entzündet wird. Man sollte glauben, dieser Tag müsse ein Tag der Trauer, nicht der Freude, sein. Aber wir wissen, daß, als Allvater (Odhin, Wodan) den sterbenden Sohn auf den Holzstoß legte, er dem Liebling ein geheimnißvolles Wort des Trostes in das Ohr raunte: das Wort von seiner Wiederkehr aus Hela’s dunklem Reiche an dem Tage der Götterdämmerung, da nach dem gegenseitigen Sichaufreiben der schuldbefleckten Götter und Riesen eine neue Welt der Unschuld und des Lichts erstehen wird. Ist nun auch natürlich das Bewußtsein des Volkes von diesem Sinn des Festes längst erloschen, so hat sich doch das Gefühl erhalten, daß es sich um eine Feier und Verherrlichung des edlen Elementes des Lichtes und Feuers handelt, und diese Naturfeier giebt dem Fest ein viel echter heidnisches Gepräge, als so manchen andern Gebräuchen verblieb, welche die Kirche zu christianisiren und mit einem „Weihrauch-Geschmäckle“ zu durchdringen vermochte; auf den Bergesgipfeln will der Weihrauch nicht verfangen. In der That, die Localität, an welche das Fest geknüpft ist, – es setzt weithin sichtbare Höhen voraus – ist sehr wichtig und wesentlich für den Gesammtcharakter dieser Uebung. Wahrscheinlich sind die Stellen, an welchen seit Jahrtausenden diese Feuer lodern müssen, um rechten Sinn und rechte Wirkung zu haben, uralte Opferstätten. Schon mehrere Male haben Nachgrabungen an denselben deutliche Spuren hiervon ergeben, und ich selbst habe schon manchmal erkundet, daß auf der Höhe, wo das Sunwendfeuer brennen muß, vor Alters eine Grenze oder eine Gerichtsstätte war; diese waren aber immer zugleich Opferstätten.
Charakteristisch ist, daß in vielen Thälern jedes Haus im Dorf Antheil an dem Fest nehmen und einen Holzbeitrag zu dem Feuer spenden muß, sonst bringt die Bäuerin das Jahr über kein ergiebiges Feuer im Heerd zu Stande. Die Flamme des Sunwendfestes hat eine prophetische, vorbeugende, heilende und weihende Kraft. So hoch die Lohe empor schlägt oder so hoch der Bauer über der Gluth weg springt, so hoch gedeiht in diesem Jahr der Flachs. Wer über die Flamme springt, ist das ganze Jahr gegen Sonnenstich, Rheuma und Fieber geschützt. Allgemeine Sitte ist es, das kranke Vieh über die noch glimmende Asche oder durch die Flamme zu treiben, auf daß es gesunde, und gesundes, auf daß es gegen Behexung, Verfallen und Seuche gesichert sei. Endlich aber werden Liebesgebräuche der mannigfaltigsten Bedeutungen vor und mit dem weihenden Feuer angestellt. Heutzutage ist ihr poetischer Sinn meist vergessen und es wird ihnen eine scherzhafte, oft sogar obscöne Bedeutung beigelegt. Aber ursprünglich wurde Treue und Liebe geschworen bei der lodernden Flamme; das Liebespaar springt noch heute Hand in Hand über die Gluth, und die Umstehenden machen schlechte Witze und Anspielungen oft sehr unfeiner Art, je nach der Art wie sich Bursche und Mädchen dabei anstellen; unverkennbar jedoch lag in der heidnischen Zeit in der symbolischen Handlung ein Gelübde, jede Gefahr mit einander zu theilen und „für einander durch’s Feuer zu gehen.“
In der Nacht der „Sunwend“, wie in den ebenfalls in den Monat Juni fallenden Nächten von St. Veit und Peter und Paul, wird jener bösartige, unheimliche Zauber geübt, welcher den Namen „Bilmes-“ oder „Bilwis-Schnitt“ führt und unverkennbar sehr alten Ursprungs ist. Ein Bauer nämlich, der seiner Nachbarn Korn, wie es auf dem Halm im Felde steht, für sich gewinnen will, schließt einen Bund mit dem Teufel, welcher ihm in einer der erwähnten Nächte in Gestalt eines zottigen schwarzen Bockes mit glühenden Augen vor seiner Hausthür erscheint. Der „Neiding“, der Zauberer, schwingt sich auf den Rücken des Dämons und wird dadurch wie dieser unsichtbar; er hat sich an den linken Fuß ein scharfes, blankes Messer geschnallt und nun umreitet er die Fluren aller Nachbarn, deren Korn am schönsten steht. Der teuflische Bock berührt nur die Spitzen der Halme, und wie im Fluge legt er in kurzer Zeit große Strecken zurück. Die Wirkung dieses Rittes, welcher auf seiner etwa fußbreiten Spur die Halme abgeschnitten zurückläßt, ist nun aber, daß nicht blos diese wenigen gesichelten Aehren, sondern alles Korn, welches in dem weit gezogenen Zauberkreis eingeschlossen steht, den die Linien des Rittes bilden, fortan nicht mehr auf dem Felde für den Nachbar, sondern in der Scheune des Bilmisschneiders wachsen und reifen muß, während es draußen auf dem Acker schwindet. Begreiflich kann auf diese Weise in kurzer Frist ein unermeßlicher Schade angerichtet werden, deshalb hat Gott auf Fürbitte der Madonna die Uebung dieses Zaubers auf die genannten drei Tage beschränkt und zwar auf die kurze Zeit des Gebetläutens – deshalb weiß ein rechter „Meßner“, daß er an diesen Abenden so kurz als möglich zu läuten hat.
Es giebt aber auch Schutzmittel des „weißen“ (erlaubten) Zaubers gegen den „schwarzen“ des Bilmisreiters. Wenn man sich ein Kukuksnest (welches aber bekanntlich sehr schwer zu finden!) oder eine Natterhaut oder auch einen alten Maulwurfshügel auf den Kopf legt und auf einem Grenzstein niedersetzt, aber so, daß die Füße die Erde nicht berühren, so wird man unsichtbar und kann seinerseits den unholden Reiter erkennen. Ruft man ihn beim Namen an, so verschwindet der Bock mit Geheul, der Zauberer stürzt zusammen, erkrankt von Stund an und binnen Jahr und Tag hat ihn der Teufel geholt. Und wenn der Schade schon angerichtet ist, so kann man ihn dadurch wieder gut machen und die hinweggehexten Aehren wieder aus der Scheune des Bösewichts in die eigene gewinnen, daß man den ersten Erntewagen verkehrt in das Scheuerthor fährt.
Andere Sagen und Aberglauben beweisen, daß der „Bilwis“ ursprünglich eine wohlthätige, wenn auch muthwillig neckende Feldgottheit war, wie dies die Art elbischer Wesen; daß er als Elbe (unser „Elfe“ ist falsch, es ist das Wort seit Shakespeare’s Reception in die deutsche Bildung in dieser englischen Form [elf] herübergenommen worden, ist aber deutsch ebenso unrichtig, wie wenn wir half oder Kalf statt halb, Kalb sagen wollten; das [167] Mittelhochdeutsche hat natürlich noch die richtige Form Elbe) gedacht wurde, beweist seine Neigung, den Kindern im Schlaf die Haare zu verwirren, zu „verzotteln“, ein Lieblingswitz dieser muthwilligen Geister. Allmählich traten nun seit dem Religionswechsel seine wohlthätigen Eigenschaften zurück hinter den schädlichen, und er ward aus einem Feldgott ein Feldteufel.
Wenn Pfingsten, das „liebliche Fest, ist gekommen“, wird in vielen Dörfern Ober- und Niederbaierns, Schwabens und der Oberpfalz der „Pfingstl-Ritt“, der „Pfingst-Lümmel“ gefeiert, eine Uebung, in welcher heutzutage zwei Handlungen vereinigt werden, welche ursprünglich einen verschiedenen Sinn und gesonderte Tage hatten. Es scheint nämlich das oben geschilderte Spiel des Sieges des Sommers über den Winter zusammengeworfen worden zu sein mit einer in der heißen Sommerzeit, in welche jetzt Pfingsten fällt, sehr natürlichen symbolischen Handlung: einem dramatisch in Scene gesetzten Bittgang um Regen. Ein Aufzug von jungen Burschen reitet nämlich durch das Dorf, Gaben zu dem Festmahl sammelnd und einen ganz in Schilf und Laub gehüllten, von Grün völlig überdeckten Genossen in der Mitte führend, welcher in den nächsten Teich oder Bach geworfen und über und über mit Wasser beschüttet wird. Es ist dies nicht eine bildliche Ertränkung, wie bei der Besiegung des Winters, sondern, wie aus den erhaltenen Bruchstücken alter Lieder, die ehemals bei dieser Gelegenheit gesungen wurden, und noch viel deutlicher aus der Analogie ähnlicher Gebräuche bei zahlreichen andern germanischen und nichtgermanischen Völkern hervorgeht, eine symbolische Bitte an die Götter, die grünende Sommererde mit Wasser zu begießen.
Das Grundgesetz aller symbolischen Handlungen in der heidnischen Religionsübung der Deutschen ist ein Agiren, ein bildliches Vornehmen derjenigen Handlung, welche man von den Göttern vorgenommen haben will. Um ihnen recht eindringlich zu zeigen, was sie thun sollen, genügt es dem lebendigen, sinnlichen Gefühl des Naturvolkes nicht, ihnen in Worten die Bitte vorzutragen: man zeigt es ihnen durch Thaten im Kleinen, was sie im Großen nachmachen sollen. Es liegt darin eine sympathetisch zwingende Gewalt, welche die Götter wie ein Höllenzwang und Geisterbann nöthigt, auch gegen ihre Neigung dem Menschen zu willfahren. Wenn z. B. die Hexe oder das böse alte Bauernweib ein wächsernes Bild ihrer Feindin macht und dessen Brust mit glühenden Nadeln durchsticht, so zeigt sie den Göttern, wie sie mit allen Pfeilen der Schmerzen den Leib der Verhaßten durchbohren sollen. Oder wenn die Volksmedicin rothe Exantheme, Masern, Scharlach dadurch heilt, daß sie rothe Krebsschalen auf die Haut des Kranken streut und sie dann plötzlich mit einem Hauch hinwegbläst, so zeigt sie den Göttern, daß sie in gleicher Weise die rothe, fremdartige Auflage, mit welcher sie die Haut bedeckt haben, hinweghauchen sollen. Auf dem nämlichen Gedanken beruht der symbolische Vorgang bei dem „Pfingstl“; ursprünglich war es ein schönes, junges Mädchen, welches, ihrer Gewänder entkleidet und über und über in grünes Laubwerk eingehüllt, die jungfräuliche grüne Sommererde darstellte. Bis vor Kurzem hat sich in andern Gegenden und bei andern Stämmen Deutschlands, z. B. in Friesland, dann auch in England, derselbe Brauch erhalten und zwar mit Beibehaltung der weiblichen Repräsentantin, wie dies auch bei Kelten, Slaven, Romanen, Neugriechen und einzelnen orientalischen Völkern der Fall ist. Die Götter werden darauf in bestimmten Formeln und Liedern angerufen, „zu thun an der großen Jungfrau, wie wir hier an dem kleinen Mädchen“, und nun beginnt das Beschütten und Begießen der grünen Laubgestalt.
Uebrigens finden, auch abgesehen von den erwähnten Festen, ähnliche „Processionen“, Bittgänge, Feldumgänge in allen katholischen Gegenden Deutschlands sehr häufig statt; zum Theil stecken darin uralte Erinnerungen an das Heidenthum, denn wir wissen aus Tacitus, aus den Sagen des Nordens und aus mittelalterlichen Traditionen, daß einen Hauptbestandtheil des Cultus der Germanen solche feierliche Umzüge ausmachten, bei denen die Bilder der Götter, um Segen und Schutz zu verbreiten, um alle Marken des Landes getragen oder auf Wagen gezogen wurden. Welche Ironie, daß das bigotte Katholikenthum gerade in solchen Dingen das echte Christenthum sucht, in welchen das echteste Heidenthum steckt! Selbst bei dem „Antlaß“, der Frohnleichnamsprocession, in welcher das Fest der Einsetzung des Abendmahles durch Umtragen des Leichnams des Herrn (Herr altdeutsch Frô) gefeiert wird, kommen heut’ zu Tage noch heidnische Aberglauben und Gebräuche vor; z. B. sind die Aeste der jungen Birken, durch deren Spaliere die Procession sich bewegt hat, das beste Mittel gegen Hagel und Blitz, wenn man die getrockneten Blätter bei dem Aufsteigen des gefürchteten Unwetters in einer eisernen Gluthpfanne verkohlt, in welche aber beileibe kein Nagel eingenietet sein darf, sonst zieht dieser umgekehrt den Blitzstrahl an. Ferner werden bei diesem Umzug kleine Fähnlein an möglichst langen Stangen geschwenkt, um alle bösen Geister und alle in den Wolken des Himmels lauernden Blitze aus der Nähe der Gemarkung zu verscheuchen.
In die Zeit, da die letzten Garben der Ernte vom Felde in die Scheune gebracht werden, also in Süddeutschland zu Ende August, fällt das fröhliche Fest der „Sichelhenk“ („Schnitt-Hahn“), welches in analoger Weise die glückliche Einbringung, wie die „Drischl-Leg“ oder „Drischl-Henk“ die glückliche Ausdreschung des Jahressegens feiert. Der Knecht, welcher die letzte Garbe geschnitten und gebunden, trägt sie dem Zuge der Uebrigen voranschreitend auf seiner Schulter nach der Tenne. Dort wird sie niedergelegt und die Paare tanzen im Kreise darum. Darauf wird die Garbe in zwei Theile gelöst: die eine Hälfte wird mit rothen Bändern geziert in die Scheuer gebracht, die andre aber wird auf offener Tenne verbrannt, die Burschen springen in das Feuer, die Mädchen werfen allerlei Kleinigkeiten, Bänder, buntes Papier, Lebkuchen in die Flamme und bewahren die Asche als ein Mittel gegen Fieber und Rheuma; auch zu sympathetischem Liebeszauber wird sie vielfach verwendet. Die Flamme dieses Feuers beleuchtet und erhellt die Bedeutung des ganzen Gebrauches: offenbar liegt ein altes Dankopfer zu Grunde, dargebracht dem Gott des Ackerbaues für die glückliche Einbringung der Frucht. Ganz charakteristisch ist dabei, daß ein Theil der letzten Garbe nicht auch für den Nutzen der Menschen in Anspruch genommen, sondern dem Gott geopfert wird. Dieser schöne Zug, daß der Mensch den Segen der Natur nicht mit habsüchtiger Härte bis auf’s Aeußerste ausnützen, sondern im Gefühl des Dankes auf einen letzten Rest verzichten soll, ist echt germanisch und findet sich überall, wo dieser Stamm den Acker baut oder Spuren seiner Sitte zurückgelassen hat, von Scandinavien bis nach Spanien; oft kommt der Gedanke in der Form vor, daß der Bauer die letzten Halme auf dem Felde stehen, die letzten Aepfel auf dem Baume hängen läßt, „die sind für den Woden (Wodan, Odhin), für den Alten,“ sagt er geheimnißvoll, wenn man ihn darum zu Rede stellt. Und verabsäumt man diese fromme Pflicht, so versagt der Gott im nächsten Jahr von dem Acker oder dem Baum, dem man Alles abgenommen, jede Frucht.
In Niederbaiern wird das nämliche Fest in einer noch deutlicher mythologischen Weise gefeiert. Dort errichten die Schnitter aus der letzten Garbe eine menschenähnliche Strohfigur, der sie einen Stock in den rechten Arm stecken und das Haupt mit Blumen kränzen. Darauf wird das Bild des Gottes umtanzt und man kniet wohl auch vor der Strohgestalt nieder und betet, freilich heut’ zu Tage nicht mehr zu diesem Strohbild, sondern zu Gott, aber doch hat ein Gebet gerade vor diesem Bilde noch heute die Wirkung, daß der Betende das Jahr über sich bei keiner Verrichtung des Feldbaues schädigt oder verletzt. Auch legt man vor dem Bild des Gottes, der „Aswalt“, „Oswalt“ heißt, kleine Gaben nieder, namentlich jene Reste der Obst- und Kornernte, welche man nicht mit einheimst.
In der ersten Woche des Advent fangen die „Anroller“, „Klöpfels“, „Geb-Nächte“ an und am 6. December erscheint der heilige Nikolaus (der „Niklâ“), begleitet von seinem in eine zottige Wildschur gehüllten Knecht, dem „Klaubauch“ oder dem „Wauwau“, welcher die ungezogenen Kinder in seinen großen Zwerchsack steckt, sie in den Wald trägt und dort mit Stiefel und Rock verspeist, während er aus einem zweiten Sack Obst, Backwerk, Nüsse, Spielzeug für die artigen Kinder hervorlangt. Oft begleitet die heidnische Göttin Berahta, die „Berchtfrau“, strafend und lohnend den christlichen Bischof, der aber ebenfalls ein verkappter Heidengott ist. Professor Zingerle in Innsbruck hat eine kleine Schrift veröffentlicht, in welcher er zu beweisen sucht, daß St. Nikolaus und sein Knecht mit dem rothen Bart Niemand anders ist, als Wodan und Donar, wie er früher dargethan, daß bei dem Gebrauch scheidender Freunde, sich „Johannis-Segen“ und „Gertruden-Minne“ auf ein frohes Wiedersehen zuzutrinken, Johannes an die Stelle des Gottes Freyr, Gertrud an die der Göttin Gerdha getreten ist.
[168] Die Thomasnacht (21. December) und die Christnacht, in welchen alle Arten von weißem oder schwarzem Zauber am trefflichsten gelingen, werden besonders zu unendlich mannigfaltigen Formen des Liebesaberglaubens – und namentlich von den in dieser Hinsicht auf die Zukunft so neugierigen Mädchen – benutzt.
In der Thomasnacht wird Blei oder Eidotter in das Wasser gegossen und aus den seltsamen Gebilden, die dabei entstehen, prophezeit, ob die Dirne in diesem Jahr heirathe oder sterbe oder „einschicht“ fortlebe, wen sie heirathe, einen Alten oder Jungen, Bürger oder Bauer, Reichen oder Armen. Ferner werfen sie den rechten Schuh rücklings über die linke Schulter: fällt die Spitze gegen die Thür, so heirathen sie aus dem Dorf hinaus, wenn nicht, heirathen sie im Dorf ein. Zuletzt entkleidet sich das Mädchen völlig, steigt auf den Bettschemel und bittet den heiligen Thomas, ihr im Traum ihren künftigen Hochzeiter zu zeigen. In der Christnacht (in welcher bekanntlich das Vieh in menschlicher Sprache redet; wer als Kind in einer Wiege aus dem Holz eines Kirschbaums geschlafen, welcher aus einem von einem Sperling auf eine Mauer getragenen Kern gewachsen ist, kann verstehen, was die Rinder und Schafe in diesen heiligen Stunden verhandeln) achtet das Mädchen darauf, wer ihr auf dem Weg in die Mette zuerst begegnet oder sie zuerst anspricht oder ihr zuerst eine Freundlichkeit erweist: er wird unfehlbar ihr Mann. Das „Bescheeren“ an Kinder und Erwachsene am Weihnachtsabend unter dem kerzengeschmückten Christbaum ist auf dem Lande und unter den Bauern nicht üblich; diese protestantische, norddeutsche Sitte ist erst zu Anfang dieses Jahrhunderts von den protestantischen Prinzessinnen, welche die Krone Baierns trugen, in die Kreise des Hofes und der höheren Gesellschaft der Hauptstadt und von da in den Bürgerfamilien auch der Provincialstädte eingeführt worden. Dagegen kommt in ganz Baiern und Schwaben eine höchst merkwürdige Liebessitte am ersten Weihnachtsfeiertag vor: das sogenannte „Kletzen-Schneiden“ oder „Scherzel-Schneiden“. Das Mädchen schenkt ihrem Schatz den „Kletzenweck“, ein Gebäck aus schwarzem Brod mit Mandeln, Dörrobst und Feigen, schneidet das „Scherzel“, das runde Ende, ab und verzehrt es gemeinsam mit ihm. Diese symbolische Handlung bedeutet, daß Mädchen und Bursch sich für das kommende Jahr als zur Treue verpflichtetes Liebespaar feierlich anerkennen und Lust und Leid mit einander theilen wollen. Dieses oder ein ähnliches Gebäck muß in der Heidenwelt zu dieser Zeit als Opferkuchen üblich gewesen sein, denn noch jetzt fürchtet die Bäuerin Krankheit oder Tod, wenn das Gebäck verbrennt oder sonst übel ausfällt. An dem dritten Weihnachtsfeiertag (Johannes Evangelista) wird in der Kirche noch heute der rothe Wein geweiht, welchen die Brautpaare bei der Trauung als „Johannissegen“ trinken und welcher einst unter dem Schutz des Gottes Freyr stand.
Endlich besteht im Lechrain an dem Tag des „unschuldigen Kindermordes“ (28. Decbr.) eine merkwürdige Sitte. Die Burschen schenken ihren Mädchen Kuchen, diese reichen ihnen Branntwein und Brod und lassen sich von ihren Liebhabern mit Weidenruthen Hände, Arme und Nacken peitschen, was man „kindeln“ nennt; wenn die Haut nicht tüchtig roth wird, gilt das Liebesfeuer in den Herzen des Paares als matt und schwach. Ich weiß den eigentlichen Sinn dieses Gebrauchs nicht zu deuten; doch halte ich für ausgemacht, daß eine erotische Beziehung zu Grunde liegt und daß die Ausdehnung der Sitte auf die Kinder, welche an diesem Tage bettelnd und singend durch die Straßen des Dorfes ziehen und die Erwachsenen mit Ruthen schlagen dürfen, wofür sie Obst und Kletzenbrod erhalten, erst später durch die Kirche geschah, die denn auch die Uebung auf den Ehren- und Leidenstag der „unschuldigen Kinder“ verlegt hat.
Während Freund Rittler dergestalt für meine Weiterreise sorgte, versahen mich andere Freunde mit den nöthigen Geldmitteln, von denen ich mehr zusammenbrachte, als ich für mich im Augenblicke brauchte. Mein braver Verleger schickte mir nicht allein mehrere hundert Thaler, sondern eröffnete mir auch in Brüssel einen ansehnlichen Credit. Sobald ich im Stande war, mit Hülfe von Krücke und Stock mir fortzuhelfen, drängte es mich zur Reise. Eine innere Stimme sagte mir, daß Gefahr im Verzug war und daß jeder Tag eine Entdeckung herbeiführen könne. Der brave Hofbrauer Ruoff hatte mir seine Equipage versprochen, und der Tag der Abreise war festgesetzt. Am Abend vorher kam er, um mir zu sagen, daß sein Fuhrwerk noch nicht zurück sei und daß er nur ein Pferd zu Hause habe; ich werde wohl noch einen Tag warten müssen. Ich sprach meine Besorgniß aus, daß ein Tag länger mir verderblich werden könne; ich vermöge es nicht, die Ahnung zu unterdrücken, daß die Polizei endlich auf mich aufmerksam geworden, eine Haussuchung vornehmen werde, um zu sehen, wer denn der mysteriöse Engländer, von dem sie doch wohl eine Spur erhalten haben könne, eigentlich sei. Nach einigem Nachdenken sagte er endlich kurz entschlossen: „Nun gut, so will ich Ihnen mein Reitpferd dazu geben, und morgen zu Hause bleiben. Um vier Uhr Morgens soll der Wagen da sein.“ Ich hoffe, der Gedanke an meine Rettung hat dem biedern Mann sein letztes Stündlein, das viel zu früh schlagen sollte, erheitern helfen.
Der Wagen fand uns Alle lange vor vier Uhr bereit. Die gute Doctorin hatte für Frühstück gesorgt, und so sehr es mich [169] forttrieb, that es mir doch sehr weh, von der treuen Freundin, die so viel für mich gethan, Abschied zu nehmen. Der Doctor begleitete mich bis Halle. Noch denselben Nachmittag erschien in seinem Hause die Polizei, leider nicht zum letzten Male; denn er wurde später eingezogen und, nachdem er mehrere Monate im Gefängniß gesessen und fast zu Grunde gerichtet war, ebenfalls gezwungen, mit seiner zahlreichen Familie nach Amerika auszuwandern, wo ich Gelegenheit hatte, ihm einen Theil meiner Schuld zurückzuzahlen. Denn ganz bezahlt man eine solche Schuld im Leben nicht!
Wir fuhren nach Weißenfels zum nächsten Bahnhof. Nach Leipzig durfte ich mich nicht wagen, aus Furcht erkannt zu werden. Unterwegs trafen wir beim Anhalten an einem Dorfwirthshaus den ersten preußischen Gensd’armen. Der elegante Wagen, mit den reichen Pferdegeschirren und dem Kutscher in Livrée, imponirten ihm jedoch so, daß er blos höflich grüßte, was ich auf eine leutselige Weise, wie es große Herren zu thun pflegen, erwiderte.
Doctor Rittler nahm Billets für zweite Classe und sagte, indem er dem von Polizei umstandenen Wagen sich näherte und seine Mütze lüftete: „Wenn’s Ihnen gefällig ist, Herr Baron, ich habe die Billets.“ Worauf ich ein vornehmes: „Gut, lieber Doctor,“ hören ließ und mich anschickte, mit seiner und Albert’s Hülfe den Wagen zu verlassen, um mich in das für uns bestimmte Coupé des Dampfzuges zu begeben. Hier eingerichtet, was mit Hülfe einer Art Brücke von Holz und schwarzer Leinwand, auf die ich mein Bein ausstrecken konnte, geschah, brachte ich meinen Dolch in eine solche Lage, daß ich ihn sofort ergreifen konnte, wenn es nöthig würde.
„So willst Du wirklich?“ fragte Rittler mit Bedeutung.
„Ja, bei Gott, ich will, wenn ich muß. Lebendig sollen sie mich nicht haben.“
Mein Entschluß war gefaßt, und Rittler wußte es. Er hatte einen Brief von mir an meine Frau, in dem ich für den schlimmsten Fall von ihr Abschied nahm und ihr einigen Rath in Betreff ihrer und der Kinder Zukunft ertheilte. Leider gelangte dieser Brief, durch ein Mißverständniß, zu früh an sie, ehe sie Nachricht hatte, daß ich in Sicherheit war, und veranlaßte ihr viel Schmerz und Thränen. Sie hat ihn lange aufbewahrt, bis er endlich, wie fast alle uns theuren Erinnerungszeichen aus jener schweren Zeit, durch das Brandunglück verloren ging, welches uns im Herbst 1865 in Florence betraf.
Ich fürchtete Halle sehr, denn ich hatte gehört, daß die Dresdner Polizei einen Commissar dort aufgestellt habe. Zwar war alles Mögliche geschehen, um mich unkenntlich zu machen. Mein Bart war weg; ich trug keine Brille, hielt mich in einen grauen Ueberrock gehüllt, sehr gebeugt, war bleich und abgemagert, und hatte eine grüne Jagdmütze mit doppeltem breitem Visir auf, welches den obern Theil meines Gesichts verbarg (den unteren hatte Niemand ohne Bart gesehen) und auch die Form des Hinterkopfs verdeckte. Außerdem waren meine kurzgeschnittenen Haare in den letzten Wochen auffallend gebleicht, so daß man, statt eines großen, starken Mannes von vierundvierzig, einen gebrochenen Greis von achtundsechzig Jahren vor sich zu haben glauben mußte. Allein dennoch war das Erkennen möglich, vielleicht durch meinen Sohn, vielleicht sogar durch den treuen Freund, der als Spediteur auf der „unterirdischen Eisenbahn“ bereits eine Art Berühmtheit erhalten hatte, oder, wie einer der militärischen Autoren über die Maiereignisse sich in Bezug auf mich selbst ausdrückte, „berüchtigt“ geworden war.
Nicht ohne düstere Ahnungen ließ ich mich daher von einigen Bahnarbeitern auf einem Stuhle in die Bahnhof-Restauration zu Halle tragen. Doctor Rittler hatte einen leeren Saal für mich ausgesucht, in welchem wir allein Platz nahmen. Er wußte nicht, daß es der Speisesaal war, in welchem wir über zwei Stunden warten mußten und der sich um die Mittagszeit mit Kellnern und Gästen füllte, die zum Theil aus Officieren der Garnison und Beamten, vermuthlich auch Polizeibeamten, bestanden. Wir saßen an einem Tische neben der großen Tafel. Ich wagte nicht die mein Gesicht halb verdeckende Mütze abzunehmen, noch aufzublicken und hielt meine Augen halb geschlossen. Die mir zunächst sitzenden Herren bat ich mit verstellter Stimme um Entschuldigung, indem ich vorschützte, das Licht nicht vertragen zu können. Rittler ließ seinen „Baron“ ein paar Mal fallen, ohne daß ich es verhindern konnte. Wie stimmte der Baron mit meinem Paß zusammen, im Fall mir dieser abverlangt wurde, und welcher auf den Kaufmann Christian Müller (immer wieder C. M.) lautete? Das ewig lange Mittagessen und die unendlichen zwei Stunden gingen indessen vorüber, und der Doctor kam wieder mit seinen Trägern, um mich nach meinem Coupé zu schaffen und endlich mit einem warmen Händedruck von mir Abschied zu nehmen, wobei er mir in’s Ohr raunte, daß im nächsten Coupé der Hofrath Dr. Holscher aus Hannover sitze und sich nöthigenfalls meiner annehmen werde. Er selbst kehrte über Leipzig nach Hause zurück.
Ich hörte, daß einer der Träger ihn fragte, wo denn der alte Herr hinwollte, und wie er ihm antwortete: „In’s Seebad.“
„Der sieht auch nicht aus, als ob er wiederkommen würde,“ sagte der Mann, „er ist gelähmt, wie es scheint.“
„Es ist möglich, daß er nicht wiederkommt,“ erwiderte Rittler.
Noch ein Händedruck, ein „Adieu, Herr Baron, schreiben Sie bald,“ ein „Adieu, lieber Doctor, tausend Dank für all’ Ihre Mühe,“ und fort ging der Zug, ohne daß mir in Halle ein Haar gekrümmt worden. In Magdeburg mußte wieder einige Zeit gewartet werden, ehe der Zug nach Hannover abging. Ich hinkte an Krücke und Stock nach der Restauration; meine Schmerzen waren so heftig, daß mir der Schweiß über das Gesicht herabrann, als ich durch die aufgestellten Gensd’armen und Soldaten Spießruthen lief. In der Restauration trat mir ein großer und starker Herr von etwa fünfundvierzig Jahren im grauen Reitrock entgegen und fragte, ob er mir mit etwas dienen könne. Ich hielt ihn für den Wirth und bat um einen Stuhl und ein Glas Wasser. Er führte mich nach einem Lehnstuhl, welcher im Dunkeln stand, bestellte ein Glas Wasser und bot mir eine Prise aus einer goldenen Dose. Als ich sie annahm und meine Freude darüber ausdrückte, bot er mir die ganze Dose.
„Sie können sie mir ja in Hannover wieder geben,“ fügte er hinzu. Ich lehnte sie dankbar ab.
Ich wußte nun, daß es der Hofrath war, und es gewährte mir einige Erleichterung, außer meinem Knaben, noch eine befreundete Seele um mich zu wissen. Ziemlich spät am Abend kamen wir in Hannover an, wo mich der kräftige Hausknecht des Hotel du Rhin auf dem Rücken nach seinem Gasthaus trug und mich in unserem Zimmer eine Treppe hoch absetzte. Ich ließ Abendbrod nach dem Zimmer kommen, ließ Albert die Thür fest verschließen und mit einigen Möbeln verbarricadiren und schlief, meinen Dolch auf dem Tische neben mir, ziemlich gut, nachdem ich vor dem Einschlafen noch ein paar Mal Umschläge um mein Bein gemacht. Am anderen Morgen schaffte mich Hercules Hausknecht wieder nach dem Bahnhof, und nun ging es ungestört bis Minden, wo das Gepäck untersucht und die Pässe vorgezeigt werden mußten. Ein Viergroschenstück, einem der Bahnhofarbeiter in die Hand gedrückt, gewann mir schnell dessen Neigung. Er führte mich, indem ich einen Theil meines Gewichts auf seiner Schulter ruhen ließ, bei den Gensd’armen vorbei, indem er sie bat, „den armen kranken Herrn nicht aufzuhalten,“ bestellte etwas zu essen und zu trinken für uns und versprach wieder zu kommen, wenn es Zeit wäre „an Bord“ zu gehen. Er hielt Wort und wir saßen in unserem Coupé, jeden Augenblick erwartend, daß es fortgehen werde, als einer der Zollwärter herbeikam und die Nummern meiner Koffer ausrief, welche man mir eingehändigt hatte. Die Koffer waren noch nicht untersucht, und ich sollte nun erst mit den Schlüsseln nach dem Bagagezimmer kommen. Ich zeigte auf meine Krücke und mein Bein und hielt ihm mit der einen Hand die Kofferschlüssel, mit der andern ein abermaliges Viergroschenstück hin, und er war klug genug, einzusehen, daß es für beide Theile am besten wäre, das letztere zu nehmen. Die Untersuchung unterblieb, und wir fuhren ab, um die letzte Nacht auf deutschem Boden, in Köln, zu schlafen.
Am nächsten Tage passirten wir Aachen und die belgische Grenze. Als ich an dem belgischen Löwen vorbeikam, war mir es, als ob mir ein Mühlstein von der Brust genommen wäre. Ja, ich fühlte mich so leicht und froh, daß ich selbst meinen Häschern hätte um den Hals fallen können.
In Verviers wurden die Pässe vorgezeigt und die Koffer untersucht. Weder die bebärmützten Gensd’armen, noch die Zollbeamten hatten etwas gegen Herrn Christian und seinen Sohn einzuwenden, und am Abende landeten wir in Brüssel in dem [170] mir mit Recht empfohlenen Hôtel du Grand Café, wo ich mich unter den Schutz und die Pflege des guten alten Herrn Rosart begab, in der ich wieder über sechs Wochen lang verblieb, anfangs unter meinem angenommenen, gegen das Ende aber unter meinem rechten Namen, wie ich bald erzählen werde.
Die ersten Tage fühlte ich mich sehr einsam in Brüssel; ich versuchte am ersten Sonntage Vormittags nach einer deutschen Buchhandlung zu schicken, welche ganz in der Nähe meiner Wohnung sich befand, und da entdeckte ich denn dem Eigenthümer, welcher mich anfangs für einen Franzosen hielt, meinen wahren Namen. Von ihm erfuhr ich, daß Dr. Köchly in Brüssel sei. Ja, als ich ihm sagte, daß dieser ein Freund von mir, erbot er sich ihn herbeizuholen. Ich bat ihn, mich nicht zu nennen, sondern ihm nur zu sagen, daß ein Freund aus Dresden auf ihn warte. Köchly kam bald, begleitet von seiner liebenswürdigen jungen Frau. Er erkannte mich nicht eher, bis ich zu sprechen anfing. Dann aber fiel er mir um den Hals und rief mit Thränen in den Augen: „Mein Gott, Munde, wie siehst Du aus!“ Ich mochte allerdings nur der Schatten des Recken sein, als welchen er mich an der Spitze unserer Bataillone, oder bei unseren Versammlungen, zu sehen gewohnt war. Die Gegenwart dieses Freundes und seines lieben Weibes war mir ein großer Trost. Wir sahen uns oft und erzählten uns unsere Schicksale, so wie ich auch Manches von anderen Freunden erfuhr.
Bald kamen Empfehlungsbriefe, unter denen zwei von Werth für mich waren: der eine war an den berühmten[WS 1] Polen Joachim Lelewel, der seit siebenzehn Jahren über einer kleinen Kneipe, der Ville de Varsovie, in einer nicht heizbaren Dachkammer wohnte, wo er Schriftstellerei und Kupferstecherei trieb; und der andere an den amerikanischen Gesandten, Herrn Thomas Clemson, den Schwiegersohn des bekannten südstaatlichen Politikers John C. Calhoun.
Lelewel führte ein äußerst eingezogenes Leben, und wenn er ausging, war er stets in eine Blouse gekleidet und hatte den Kopf mit einer gewöhnlichen Arbeitermütze bedeckt. Er grüßte und dankte Niemand auf der Straße und ließ sich mit Keinem in ein Gespräch ein. Obgleich ihn Jedermann kannte, und er der höchsten Achtung bei Allen sich erfreute, so schien ihn doch Niemand zu beachten, und als ich ihn einmal in einem Kaffeehaus traf, wo er die Zeitungen las, und auf ihn zugehen wollte, hielt mich ein brüsseler Freund eifrigst zurück, indem er sagte: „Er spricht mit Niemand hier; Sie würden ihn nur veranlassen, sofort wegzugehen.“ Meine und meiner Frau Besuche nahm er dagegen sehr freundlich an und machte uns sogar die Freude, eines Abends Thee bei uns zu trinken. Fast alle angesehenen Polen, welche durch Brüssel kamen, suchten ihn auf. Alle Versuche, ihn in seiner Armuth zu unterstützen, scheiterten jedoch an seiner republikanischen Einfachheit und Festigkeit. Im Gegentheil behielt er noch manchen Franken für einen armen Flüchtling oder eine brodlose Arbeiterfamilie übrig.
Zwischen Herrn Clemson und mir entspann sich bald ein recht freundliches Vernehmen, was später in Amerika sich zu einem wahrhaft freundschaftlichen gestaltete, das leider durch die unglückliche Rebellion, bei welcher ich entschieden Partei für den Norden nahm, während er sich der curagirten Sclavenhalter-Partei des Südens anschloß, zerrissen wurde. Eines Sonntags Nachmittags, als ich ihn besuchte, bat er mich, Niemand zu sagen, daß wir zusammen bekannt seien. „Ich habe nichts zu befürchten,“ fügte er hinzu; „allein es ist für uns Diplomaten immer unangenehm in den Verdacht zu gerathen, als ob wir uns in die politischen Verhältnisse der europäischen Länder mischten oder bei Auswanderungen behülflich wären. Es erschwert uns unsere Stellung und nützt unseren Schützlingen nichts.“
Auf meine Bemerkung, daß ja Niemand wisse, wer ich eigentlich sei, erwiderte er lebhaft: „Glauben Sie das nicht; ich wette, Sie sind der Polizei längst bekannt, und Sie werden über kurz oder lang den Beweis davon haben. Achten Sie auf das, was ich sage.“
Der Beweis kam schon am andern Morgen. Ich lag noch ruhig im Bette, als gegen sieben Uhr ein starkes Klopfen und ein lautes „Commissaire de police!“ sich an meiner Thür hören ließ.
Auf mein „Entrez!“ öffnete sich denn auch die Thür und besagter „Commissaire“ trat herein, wollte sich aber, als er mich im Bette erblickte, höflichst zurückziehen, um später wieder zu kommen. Ich bat ihn zu bleiben, da mich Krankheit zwinge, den größten Theil meiner Zeit im Bett zuzubringen, und er setzte sich, auf meine Einladung, mit der Bemerkung: „Que c’était seulement pour remplir quelques formalités.“ (Nur um einige Formalitäten zu erfüllen.)
„Eh bien, remplissez-les, Monsieur,“ erwiderte ich ruhig. (Gut, erfüllen Sie dieselben, mein Herr.)
Er kramte einige Papiere aus und begann sein Verhör wie folgt: „Votre nom, Monsieur?“ (Ihr Name, Mein Herr?)
„Mais vouz l’avez dit en entrant, Monsieur.“ (Sie haben ihn ja schon beim Eintritt genannt.)
„Mul-lère donc?“ (Also Müller?)
„Oui, Monsieur.“
„Et votre prénom?“ (Und Ihr Vorname?)
„Chrétien.“ (Christian.)
„Votre âge?“ (Ihr Alter?)
„Cinquante quatre.“ (Vierundfünfzig.)
„Votre état?“ (Ihr Stand?)
„Négociant“ (Kaufmann.)
„D’où venez-vous?“ (Woher kommen Sie?)
„De Crimmitzschau en Saxe“
„Cr – Crr – Crrr – Crrrr– Crrrrr–?“
„Crim– mitzsch – au.“
„Cr – Crr – Crrr – Crrrr– Crrrrr – im – chi –?“
„Crim – mitzsch – au.“
„Ah, je l’ai. (Ach, ich hab’s.) Crimme – chi – ko. Estce là?“ (Ist es das?)
„A-peu-près, Monsieur.“ (Beinahe, mein Herr.)
„Comment l’écrit-on, ce Crimme – chi – koffe?“ (Wie schreibt man dies Crimmschikoff?)
„C – r – i – etc.,“ und nun buchstabirten wir es ihm Beide vor, Albert indem er Mühe hatte, das Lachen zu verbeißen.
„Quelle rue?“ (welche Straße?) fuhr der Commissar fort.
„Ich war in meinem Leben nicht in Crimmitzschau gewesen und kannte nicht eine einzige Gasse desselben. Indeß antwortete ich schnell: „Schmiedegasse,“ da ich einmal in meiner Jugend in der Schmiedegasse zu Pirna gewohnt.
„Quel numéro?“ (Welche Nummer?)
Hier wäre ich bald stecken geblieben, da mir das Lügen doch nicht recht geläufig war. Albert antwortete jedoch schnell: „Zweihundert dreiundsechszig.“
Und so ging es fort, bis er zuletzt aus den Zweck meines Hierseins und auf meine Legitimation zu sprechen kam und ich ihm sagte, ich wolle nur abwarten, bis meine Gesundheit mir gestatte, nach Ostende weiter zu reisen, wo ich die Absicht hätte, das Seebad zu gebrauchen; meinen Paß hätte ich bei meiner Ankunft vorgezeigt und er sei mir zurückgegeben worden; meine Rechnung im Hotel habe ich alle Wochen bezahlt und besitze die Mittel, es ferner zu thun. Der Herr Commissar schien von alle diesem sehr befriedigt, versicherte, daß man sich im Hotel lobend über meine Pünktlichkeit ausgesprochen, und fragte zum Schlusse blos noch, ob ich eine „objection“ hätte, das Protokoll zu unterzeichnen.
Auf mein „Pas la moindre, Monsieur,“ (nicht die geringste) trat er mit dem Papier und einer Feder an mein Bett und reichte mir beides hin, und nachdem ich das Protokoll leichthin überlesen, schrieb ich mit einigen sicheren Zügen mein „Chrétien Müller“ darunter.
Während er meine Unterschrift besah, bemerkte ich, daß mein Sohn, welcher die auf dem Tische offenliegenden Papiere des Commissars überblickt hatte, mir hastig zuwinkte und beide Hände über dem Kopfe zusammenschlug. Ich war daher nicht sehr überrascht, als der Commissar, indem er mich scharf ansah, langsam und mit Betonung wieder zu fragen anfing:
„N’avez-vous pas encore un autre nom, Monsieur, – Tundé, ou Mundé“ (Haben Sie nicht noch einen andern Namen?)
„Ah, ça,“ rief ich lächelnd, „wissen Sie den auch schon? Warum sagten Sie das nicht gleich? Sie hätten uns die Mühe dieses Protokolls ersparen können. Setzen Sie sich nur wieder hin, et recommençons! Ceci, ce n’est que des bêtises.“ (Fangen wir wieder an; das da ist nur dummes Zeug.)
Nun ging das Verhör von Neuem an:
[171] „Votre nom, Monsieur?“ – „Ch. Munde.“
„Votre âge?“ – „Quarante quatre.“
„Vous avez été compromis dans les troubles de Dresde? Et fortement, Monsieur.“ (Sie sind bei den Dresdener Unruhen stark compromittirt.) Und so fort bis zu der abermaligen Unterzeichnung des Protokolls. Mehr als einmal versicherte er mich bei seinen Fragen, daß ich „en lieu de sûreté“ (an sicherm Orte) wäre, worauf ich stets antwortete, daß mir dies wohl bekannt sei. Nach Beendigung des Protokolles bat er mich leichthin, ihm doch einmal den Paß sehen zu lassen, mit dem ich angekommen. Da ich nicht wußte, ob der Beamte, welcher mir denselben zu senden gewagt, noch in Sachsen war, so verweigerte ich die Gewährung seiner Bitte unter allerhand Vorwänden und erklärte endlich, da er sich nicht zufrieden gab, daß mir der Paß von einem Reisegefährten geliehen worden, welcher ihn am andern Tage wieder abgeholt, um damit nach England zu reisen.
Als er alle Ueberredungskunst vergeblich angewandt und ich auf seine Insinuationen von Aergernissen und Unannehmlichkeiten nur entgegnete: „Mais, Monsieur, je suis en lieu de sûreté,“ (an sicherm Orte) versicherte er mich zuletzt, ich würde ausgewiesen werden, wenn ich den Paß nicht herbeischaffte. Hierauf gab ich meine Absicht zu erkennen, den Polizei-Director Baron von Haudy selbst um eine Aufenthaltskarte zu bitten, bis meine Familie angekommen und wir im Stande wären, uns nach Amerika einzuschiffen, wohin wir auszuwandern beabsichtigten.
Es war wunderbar, welche Wirkung die Nennung dieses Namens auf den armen Commissar hatte. Er war ganz verwundert, daß ich den Muth haben könnte, mit Monsieur l’Aministrateur (de police) zu sprechen. Als er mir endlich Stunde und Ort genannt, wo der Herr Baron zu sprechen sei, drückte er noch sehr verbindlich die Hoffnung aus, daß ich in keiner Hinsicht Ursache haben möge, mich über ihn zu beschweren, worauf ich ihn versicherte, daß er nach meiner Meinung nur seine Pflicht gethan und sich sonst „en parfait gentleman“ gegen mich betragen hätte, worauf er mich mit vielen Höflichkeitsbezeigungen verließ. Wie traurig muß doch eine Existenz sein, die es uns zur Pflicht macht, Andere in steter Furcht zu halten, während man selbst vor Angst seines Lebens nie froh wird! Das ist, nebst vielem Anderen, nicht so in Amerika.
Am nächsten Tage fuhr ich gegen elf Uhr nach dem Ministerium der Justiz und ließ mich bei Herrn von Haudy melden. Er war sehr beschäftigt und ließ mich bitten, ein wenig zu warten. Nach einer Stunde schickte er indeß einen Polizeidiener und ließ um Entschuldigung bitten; er sei zu sehr mit wichtigen Angelegenheiten überhäuft, um mich heute sprechen zu können.
Ich schrieb also einige Zeilen an ihn und ließ sie da. Ich entschuldigte mich, daß ich mich unter fremdem Namen eingeführt. Es sei nicht meine Absicht gewesen, in Brüssel zu bleiben. Ich habe nach dem Bade St. Amand gehen wollen, was mir aber mein Arzt Dr. Semal abgerathen, und so habe ich der Polizei und mir selbst keine unnöthige Mühe machen wollen und sei ganz ruhig unter meinem angenommenen Namen geblieben. Ich bitte blos um Erlaubniß, in Brüssel verweilen zu dürfen, bis meine Familie angekommen. Der Herr Baron könne über meine politischen Ansichten ganz ruhig sein; denn was ich für Pflicht gehalten, in meinem Vaterlande zu thun, würde in meinen Augen als Verrath an der Gastfreundschaft eines fremden Landes angesehen werden müssen, dessen Regierung mir gestattet, unter ihrem Schutze zu wohnen u. s. w.
Drei Tage darauf erhielt ich eine sehr höfliche Einladung, mich im Bureau des Herrn Bourgeois, im Ministerium der Justiz, einzufinden. Herr Bourgeois theilte mir mit, daß er von ‚Monsieur le Ministre‘ den Auftrag erhalten, mir ‚un passeporte provisoire‘ auf vierzehn Tage zu geben. „Est-ce que vous l’acceptez?“ (Nehmen Sie ihn an?)
„Si je ne peux pas l’avoir pour plus long-temps.“ (Wenn ich ihn nicht auf längere Zeit erhalten kann.)
„On vous le prolongera, à moins que la police n’ait cause de se plaindre“ (Man wird ihn Ihnen prolongiren, wenn die Polizei keine Ursache hat, sich über Sie zu beschweren.)
Und so nahm ich denn den provisorischen Paß, oder die Aufenthaltskarte unter meinem richtigen Namen, bezahlte meine zwei Franken dafür, half noch einem anderen armen Teufel, der kein Französisch verstand, ebenfalls zu seinem Passe und ließ den Chrétien Mullère auf der Polizei zurück, um fortan wieder als ehrlicher Dr. Munde zu existiren, als welcher ich denn auch im Hotel, und wo ich mich sonst sehen ließ, von meinen Bekannten begrüßt wurde.
Nur einmal noch rückte mir die Polizei vor’s Quartier. Nach der Ankunft meiner Frau besahen wir uns das Rathhaus, als mein alter Bekannter, der Commissar, auf mich zukam und mir sagte, der Minister lasse ihm keine Ruhe um meinen Müller’schen Paß; ich solle doch die Güte haben, ihm die außerordentliche Gefälligkeit zu erzeigen, ihm den Paß zu geben, der mir doch nichts mehr nützen könne.
Ich bat ihn, am Nachmittag zu mir zu kommen. Der arme Teufel dauerte mich.
Zu Haus angelangt, schnitt ich den Stempel und einen Theil der Druckschrift heraus und verbrannte alles Geschriebene. Und als der Commissar kam, hielt ich ihm eine kleine Rede, die ungefähr folgendermaßen lautete:
„Ich habe, mein Herr, den Paß von einem Freunde erhalten, und Sie begreifen, daß es mir eine heilige Pflicht ist, Alles zu verschweigen, was mit diesem Dienste zusammenhängt; damit der Freund, welcher mich gerettet, nicht in Verlegenheit komme. Daher meine Weigerung, Ihnen den Paß zu zeigen oder einzuhändigen. Um den Herrn Minister zu beruhigen, daß mit dem Passe nicht ein Mißbrauch getrieben werden könne und um Ihnen gefällig zu sein, während ich zugleich meine Pflicht gegen meinen Freund thue, habe ich diese Theile des Passes, welche ich Ihnen hiermit vorzulegen die Ehre habe, herausgeschnitten, das Uebrige aber verbrannt. Sehen Sie hier im Ofen die Asche! – Das ist Alles, was Sie von mir über jenen Paß erfahren können. Und nun bitte ich, lassen Sie mich in Ruhe; denn keine Gewalt der Erde würde etwas Näheres darüber aus mir erpressen.“
Und der Commissar bedankte sich und ging zufrieden hinweg. Ich aber habe fürderhin über die Polizei bis zu diesem Tage nur Liebes und Gutes zu berichten, die mich bei meiner Rückkehr nach siebenzehn Jahren selbst in Dresden mit großer Höflichkeit und Herzlichkeit empfangen hat. – Wie die Brüsseler Polizei erfahren, wer ich sei, darüber habe ich nur Vermuthungen.
Mit welcher Freude mich die Ankunft meiner Frau und meines jüngsten Sohnes erfüllte, bedarf keiner Erwähnung. Die Arme sah aus wie ihr Schatten, so hatte sie sich abgegrämt, abgesorgt, abgearbeitet und – ich darf es wohl hinzusetzen, da es mir selbst nicht anders ging – abgesehnt.
Ich war ihr mehrmals vergebens am Abende bis zum Bahnhof entgegen gegangen und immer traurig und getäuscht zurückgekehrt. Endlich überraschte sie mich am frühen Morgen, als ich noch im Bette lag. Sie war die Nacht gereist, um nicht noch einen Tag zu verlieren. Es war eben ihr Geburtstag, dessen ganze Feier in unserer Wiedervereinigung bestand. – Der erste nach unserer Rückkehr nach Deutschland wurde feierlicher begangen: wir hatten das interessante Schauspiel der Beschießung von Würzburg!
Es war ursprünglich meine Absicht gewesen, mich in England niederzulassen, und dahin lautete auch der Paß meiner Frau. Ein Zufall machte mich jedoch mit dem Inspècteur général de l’Université de Bruxelles, Herrn van Hasselt, bekannt, der mir, nachdem wir uns einige Male über Erziehung und Lehrmethoden unterhalten, eine Professur an der Universität Lüttich anbot. Meine Freunde widerriethen mir, sie anzunehmen. Die Erziehungsanstalten ständen alle unter dem Einflusse der Jesuiten, und diese würden nicht ruhen, bis sie die Protestanten wieder ausgebissen hätten. Clemson machte meinem Zweifel ein Ende.
„Nonsense,“ sagte er, „auch nur daran zu denken, in einem Lande zu bleiben, wo immer Einer dem Andern das Brod aus dem Munde reißt. Gehen Sie nach Amerika, wo an Allem Ueberfluß ist. Ich will an meinen Schwiegervater schreiben, und Sie sollen keinen Mangel leiden.“
Und so schifften wir uns denn am 20. August in Antwerpen auf der Schelde ein, und landeten am letzten September am Fuße von Fultonstreet in New-York, um in der Neuen Welt das Leben von Neuem anzufangen.
Daß zwischen den Höhen des Taunus und des Vogelsbergs und zwischen Main und Lahn das Hügelland der Wetterau sich ausbreitet, weiß Jedermann; aber daß der kühnste ihrer Hügel eine Burg trägt, welche über ein Jahrhundert lang eine gemeinsame Freistätte der Verfolgten jedes Glaubens und der Ausgestoßensten aller Völker war, und daß in dieser Burg noch heute Zeugen aus jenen Tagen leben, das scheint über die Wetterau hinaus nur Wenigen bekannt geworden zu sein.
Oder kennt Jemand irgendwo, in allen Ländern, eine zweite Burg, in deren weiten an Herrenpracht verödeten Flügelbauten hier ganze Geschlechter armer, vom Wahn gehetzter Juden, dort viele Familien von den aus Frankreich vertriebenen Hugenotten, und wieder in einem andern Schloßtheile Horden von Zigeunern und in noch einem andern die Flüchtlinge von Salzburg und von unterdrückten Herrnhuter-Gemeinden zu gleicher Zeit friedlich nebeneinander gewohnt, während von der Welt geflohene und die Welt fliehende Alchymisten und Astrologen in den gemiedenen Thürmen gehaust?
Dies Alles ist geschehen auf der Ronneburg, einem jetzt großherzoglich hessischen Bergschlosse im Landgericht Büdingen, so lange dieselbe unter dem vielverzweigten Dynastenstamme der Isenburger stand, deren mediatisirtem Gebiete sie noch dermalen angehört. Die Burg erhebt sich auf ihrem Basaltkegel an der südlichsten Grenze der darmstädtischen Provinz Oberhessen, etwa anderthalb Meilen südwestlich von Büdingen; wer von Windecken nach Wächtersbach eine Luftreise in gerader Linie machte, würde über ihre Thürme dahinfahren. Vom Thale aus betrachtet, erscheint sie noch heute als ein wohlerhaltenes Denkmal uralter Zeit; erst wenn wir ihre Höfe betreten, sehen wir, wie weit ihr Verfall vorgeschritten ist. Ehe uns aber der Leser auf dem gewagten Gang durch ihre Räume begleitet, lassen wir ihre denkwürdige Geschichte an uns vorübergehen.
Die Ronneburg gehörte ursprünglich einem Rittergeschlechte gleiches Namens und kam nach dessen Aussterben in verschiedene Hände, endlich, im letzten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts, an die Isenburger. Wohl erst, nachdem diese sich in Büdingen, Wächtersbach ec. ihre Residenzen gegründet und das Schloß mit seinen weiten Räumen unbewohnt stand, jedenfalls aber in sehr früher Zeit wurde es seiner unvergleichlich schönen Bestimmung übergeben. Die ältesten Schützlinge der Burg sind die Juden, über welche gerade im nahen Frankfurt am Main stets die entsetzlichsten Verfolgungen ergangen waren. Als der „schwarze Tod“ in den Jahren 1348 und 1349 wohl fünfundzwanzig Millionen Menschen in Europa wegraffte, brachen bekanntlich jene scheußlichen Judenverfolgungen aus, die auf ein Abschlachten des ganzen israelitischen Volks auszugehen schienen und noch über hundert Jahre in einzelnen Gegenden Deutschlands nachwirkten. Mögen aus den früheren Bedrängnissen nur einzelne Familien in der Ronneburg Zuflucht gefunden haben, so öffnete sich 1614 nach einer neuen großen Judenverfolgung in Frankfurt a. M. die Zugbrücke derselben für ganze Schaaren, von denen viele zurückblieben, auch als ihnen Frankfurt seine Judengasse wieder erschloß.
Die Zigeuner mögen viel später, als die Juden, in der Ronneburg Herberge gesucht haben; sie erschienen bekanntlich erst gegen die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts in den Main- und Rheingegenden, verstießen aber durch ihr Vagabundenleben wohl erst nach dem dreißigjährigen Kriege gegen die Reichspolizeiordnungen.
Zwischen Juden und Zigeunern fanden Alchymisten und Astrologen, die sich verfolgenden Augen zu entziehen Ursache hatten, den Weg zu den Gemächern der hohen Thürme, in welchen sie ungestört ihr geheimnißvolles Unwesen weiter treiben konnten.
Wollen wir nun auch annehmen, daß solche wunderliche Bevölkerung der Burg nur in Folge eines hochobrigkeitlichen Augenzudrückens im Stillen geduldet worden sei, – was immerhin die Genehmigung erleuchteter oder gutherziger Landesherren voraussetzt, so wird der klare Grundsatz der Glaubensfreiheit an das Thor der Ronneburg geschrieben durch einen Fürsten, der sehr hoch über seiner Zeit gestanden haben muß: durch den Grafen Casimir von Isenburg-Büdingen. Er zuerst öffnete die Hallen der Burg auch den um ihres Glaubens willen verfolgten christlichen Secten. Es thut uns leid, über die Persönlichkeit dieses Edlen vor der Hand nicht Weiteres mittheilen zu können; seine That verdient, daß die Gegenwart ihm mit dem Kranze wahrhafter Humanität, der so selten erworben wird, das Haupt schmücke.
Offenbar war der hochherzige Entschluß des Grafen veranlaßt worden durch die Aufhebung des Edicts von Nantes (1685), denn aus dem Frankreich Ludwig’s des Vierzehnten kamen die ersten christlichen Glaubensflüchtlinge auf die Burg. Diese reformirten „Refugiés“ richteten sofort einen Saal für ihren einfachen Gottesdienst her, und so wurden zuerst die Gebete nach den Formen des alten und des neuen Bundes unter einem Dache laut, denn auch die Juden feierten ungestört ihren Jehovah nach ihrer Weise.
Nach den französischen Reformirten zogen viele Familien der aus Salzburg vertriebenen Protestanten in die Ronneburg ein, und auch sie fanden Raum zum Wohnen und zum Beten, denn es waltete ein beständiger Zu- und Abfluß von Bewohnern der Ronneburg; Manche hatten nur den ersten Schutz hier gesucht und zogen später weiter zu festen Ansiedelungen, Viele fanden in den Thälern der Wetterau ihre zweite Heimath, wohl nur die Aermsten nisteten sich fest ein in den zimmerreichen Gebäuden, immer aber war im Jahre 1736 noch Raum genug für einen neuen Zuzug, welchen Graf Zinzendorf, der Gründer und Beschützer der Herrnhuter-Gemeinden, in die Ronneburg führte. Mit seiner heimischen Landesregierung und Geistlichkeit in Conflict gerathen und ausgewiesen, hatte er sich zu der alten Glaubensfreistatt in der Wetterau gewandt und hier Schutz gefunden.
Mit der Uebersiedlung in die einsam stille Wetterau verband Graf Nikolaus von Zinzendorf wohl nicht allein die Absicht, neue Anhänger zu gewinnen für die alte Lehre der Mährischen Brüder, sondern die Häupter der Separatisten und Inspirirten, Rock, Gruber, Groß, mit denen Zinzendorf seit lange in freundschaftlichsten Beziehungen gestanden, wünschten, daß er ihren Glauben in seinem Cultus sich ansähe und ihre Lehren prüfe. Hatte Zinzendorf die Absicht, seine Lehren in der Wetterau zu verbreiten, so konnte er dazu keine geeignetere Stätte finden, als die Ronneburg, wo finsterer Fanatismus und das mystische Gewebe der Inspiration schon anfingen dunkle Schatten über die Separatistengemeinden zu werfen, die bei ihrem Entstehen sich auf so einfach schönen Bau gegründet hatten.
Es war im Sommer 1736, als Graf Zinzendorf mit Weib und Kind, mit einem Theil der ihm gefolgten Herrnhuter-Gemeinde, auf die Ronneburg kam. Dort, wo die ersten, die israelitischen Heimathlosen und Bedrückten sich in den Häusern des ersten Burghofes und in dem einen der vier Flügel des „inneren“ Schloßhofes angesiedelt hatten und wo neben ihnen, in den andern Flügeln des Vierecks von hohen Gebäuden, sich die Inspirirten, die sich „Streiter Christi“ nannten, niedergelassen, die laut wider Taufe und Abendmahl eiferten, und wo wieder die strengen und fanatischen Separatisten sich gegen alle Gemeinschaft mit Welt und Menschen wehrten und dagegen abschlossen – diesen verschiedenen Glaubenssecten gegenüber nahmen die Mährischen Brüder Besitz von dem Hauptflügel der Burg, und schon am nächsten Tage ihres Einzugs hielt diese kleine Herrnhutergemeinde ihren einfach schlichten Gottesdienst in der alten weiten Ritterhalle des Erdgeschosses und der jubelnd klare Ton ihrer Lobgesänge lockte selbst die Insassen der Ronneburger Thürme in den kleinen Burghof, wo bereits in dicht gedrängten Massen aufmerksam lauschend alle diejenigen standen, die in so anderer Weise zu Gott beteten; wo jene Bewohner der Ronneburg sich aufhorchend zusammengeschaart, die jeden Gottesdienst für überflüssig erachteten und bis dahin Spott mit dem getrieben hatten, was Hunderten der da Versammelten ihr Heiligstes und Höchstes war, um dessenwillen sie Heimath und Vaterland verlassen, um dessenwillen sie freudigen Herzens gelitten und geduldet!
Und nun ist es an der Zeit, die von einer solchen Vergangenheit geweiheten Räume selbst zu betreten. Ich habe bereits angedeutet, daß von Weitem die Ronneburg noch heute einen grandiosen Eindruck macht, und selbst vom Fuße ihres Berges aus gesehen, nahe vor „Haus Ronneburg“, von jener kleinen Brücke aus, die unsere Illustration zeigt, erhält sich nicht nur dieser Eindruck, [173] er steigert sich beim vollen Anblick all’ der Baulichkeiten, dieser Thürme, dieser starken, langen Mauern. Zugleich bietet die Ronneburg von jener Stelle aus ein wundervolles Landschaftsbild im Farbenschmuck der Berge und der Bäume, wie denn überhaupt ihre Lage sie zu einer Zierde der Wetterau erhebt.
Je höher wir den Berg hinansteigen, desto mehr tritt jedoch der begonnene Verfall der Burg vor Augen. Bringt uns die Biegung des Pfades auf die andere Seite der Veste, so stehen wir wohl unwillkürlich still. Ueberrascht richtet sich der Blick empor auf das große, alte Ritterschloß mit seinem hohen Glockenthurm, das hier von keiner Ringmauer mehr umzogen ist, und mit seinem mächtigen Unterbau von Quadern in langen Flügeln und Etagen hoch aufsteigt über grünen Rasenwall. Aber zugleich erkennen wir an den fensterlosen Luken in dem Thurme, an
den mit rohen Bretern oft nur schlecht verwahrten Fenstern beider Flügel die begonnene Zerstörung des mächtigen Baues. Haben wir über die geländerlose Brücke den ersten Hof der Burg betreten, so liegt die volle Ruine vor uns. Ueber Schutthaufen steigen wir an eingesunkenen Mauern hin, um Inschriften alter Denksteine zu entziffern; in der Nähe eines ganz verfallenen Thurmes mit schuttbedeckter Wendeltreppe ist aus den verwitterten Stufen ein Baum gewachsen, das einzige Lebenszeichen der Natur in diesem einst so lebensvollen Hofraume.
Wir folgten unserer Führerin, der Frau des Thorwarts, von da durch einen gewölbten Gang, in welchem ein achtzig Klafter tiefer Brunnen in abgeschlossenem Raume liegt, in den zweiten Hof, der jenes Viereck von Flügeln enthält, in denen die Herrnhuter, die Separatisten, Inspirirten und Juden wohnten.
Die Sonne schien licht und freundlich in den engen Raum dieses zweiten Hofes. Die hohen, sich dicht aneinander schließenden Gebäude zeigen sich hier so wohlerhalten, daß man glauben könnte, sich in einer renovirten oder mindestens nicht so alten Burg zu befinden. Wir betraten das Innere. Unser erster Blick fiel auf eine Steintafel mit der Inschrift, welche uns in den ungelenken Versen jener Zeit sagt, daß der Saal, vor welchem sie steht, im Jahre 1570 erbaut worden sei. Dies war der Betsaal der Separatisten und hier soll auch Calvin gepredigt haben. Er ist noch ebenso wohlerhalten, wie die weite Halle im Hauptflügel, in der die Mährischen Brüder ihren Gottesdienst hielten; letztere ist gewölbt und die Bogen ruhen auf mächtigen Säulen.
Trotz der Abmahnungen unserer Führerin und der oft augenscheinlichen Gefährlichkeit der Gänge drangen wir immer weiter in das Innere der Burg, in ihre verschiedenen Flügel vor. Wir sahen lange Reihen sich wie Zellen aneinander fügender Räume, die an ihre ehemalige Bestimmung erinnerten, suchten aber vergeblich in diesen Hunderten von Gemächern nach einem Stück Möbel, einem Bilde irgend einer Reliquie früherer Zeit! Nichts, auch gar nichts der Art ist auf der Ronneburg zu finden; in allen Sälen, allen Stuben, allen Kammern, und wir waren wirklich in allen!
Unzählige Male schrie unsre Führerin uns zu: „Um Gotteswillen, da dürfen Sie nicht hin!“ – und citirte pflichtschuldigst alle obrigkeitlichen Weisungen, die sie erhalten, wo noch Jemand gehen dürfe. Wir fanden immer irgendwo ein unverschlossenes Thor, ein Thürchen, das der Verfall gebildet hatte und wo man also neben dem Gesetz hindurchschlüpfen konnte. Oft genug mußten wir dem Gesetze Recht geben, wenn wir in Gesellschaft von Steinen, Kalk und Mörtel aus einem Trümmerhaufen hervorkrochen; wir gestanden dann, daß die Isenburger Baucommission sehr recht gethan, dort den Eintritt zu verbieten, und fügten stets die auf unserer Erfahrung basirende Warnung hinzu: „Halten Sie Jeden fest, der hier leichtsinnig sein Leben auf’s Spiel setzen will.“ Aber uns selbst hielt kein Hinderniß zurück. Ja, wir sparten der armen Frau selbst nicht ihren höchsten Schrecken [174] über unser letztes Wagniß, das Besteigen einer geländerlosen, von Schutt bedeckten Altane, von wo aus nur ein kühner Sprung dazu gehörte, um über einen weiten Mauerspalt auch in den Thurm zu gelangen, in welchem jener alte Alchymist und Sterndeuter sich hingeflüchtet hatte, der sich unter dem Namen „Peter Euler“ vor den Verfolgungen der „Rosenkreuzer“ einst hierher geflüchtet. Er soll da lange Jahre geschützt gelebt haben, stand der Annahme jener Zeiten zufolge „mit Geistern“ im Bunde und suchte jenes Lebenselixir herzustellen, das den Tod zu bannen bestimmt war, ein Versuch, mit dem sich noch der berüchtigte Graf Cagliostro beschäftigte und der einen Theil seiner mystischen Betrügereien am Hofe von Versailles bildete.
Nach dieser Altane, die allerdings wenig Schutz gegen rasches und schlimmes Hinabkommen auf die Steine des Burghofes bot, rief uns die glücklich verehlichte Führerin nach: „Ist denn Keiner von Ihnen verheirathet oder verliebt?“ – Dieser prächtige Zuruf vermochte alle meine Begleiter zum Rückzuge, nur mir Soldatenkinde hatte er nichts an. Ich wagte den Sprung und er trug mich glücklich über Schutt und Trümmer in’s Thurmgemach des grauen Mystikers! – Hat der gute Mann an der Stätte den Tod zu bannen gesucht, so ist er jetzt dort leicht zu finden, wenn jene letzten Stufen noch aus ihren letzten Fugen gehn! Ich gestehe offen, daß beim Anblick verschiedener dunkler Glasscherben, die zwischen Schutt und Steinen lagen, mich weniger der Gedanke beschäftigte, ob sie die interessanten Ueberreste der Phiolen wären, in denen sich die Ingredienzien zum Lebenselixir befunden, als die besorgte Frage, ob das Hinab- wohl so gelingen würde, wie das Heraufkommen. Wie war aber jeder Nebengedanke hin und verschwunden bei der Aussicht von dem Thurm! –
Ringsum die Berge, welche die Wetterau umschließen, bald noch im Vordergrund, belaubt, bebaut, im Schmuck der bunten Farben, wie der Herbst sie giebt, – und bald im blauen Duft der Ferne sich verlierend, verwehend mit dem Horizont und seinen Wolken; hier Thäler groß und klein, da weit und offen, – in ihren Tiefen malerisch gelegne Dörfer, Häuser und Hütten. – Zur Linken der Wald- und Bergesgrund „Marienborns“, aus dessen Grün einst Klosterglocken schallten und wo dann späterhin die stillen Herrnhuter weilten; – rechts auf dem Abhang einer andern Hügelkette, umgrenzt von höherem Bergeszuge, des „Haages“ kleine Kirche, jetzt so öd’ und verlassen. Zu ihren Füßen schmiegte einst sich Haus an Haus, die erste Colonie der Mährischen Brüder in der Wetterau, das altbekannte „Herrnhaag“ – das wie mit Zauberschlag emporgestiegen aus der Erde, um rascher als gedacht dem Loos des Irdischen anheim zu fallen.
Doch – der Sprung zurück mußte endlich versucht werden, und – er gelang, wobei ich allerdings die Versicherung nicht unterdrücke, daß ich mich schwerlich noch einmal hinauf wage. Mit freundlichen Vorwürfen von meiner Begleitung überschüttet, lief ich der letzten und für mein aufgeregtes Gemüth für die unvergleichliche Freistattehre der Burg ergreifendsten Erscheinung fast in die Arme. Klingt es nicht wie ein Märchen, daß von den vielen Hunderten der alten Flüchtlings- und Wandergäste der Burg gerade vom ältesten, vom jüdischen Stamme derselben noch heute zwei Wesen übrig sind? Die ganze jetzige Bevölkerung der Ronneburg besteht nämlich außer der Thorwartfamilie aus zwei alten Jüdinnen, von denen die eine in einem kleinen Hause des ersten Hofs wohnt, die andere aber in jenem Flügel des innern Hofraums, den einst die Kinder Israel hier oben inne hatten, nun ganz allein haust.
Die jüngere der beiden Jüdinnen, eine Jungfrau von weit über sechszig Jahren, hat ein liebes, ansprechendes, gutes und sehr intelligentes Gesicht, ist geistig aufgeweckt und geistig auch noch jung, denn klar und sicher sprach sie uns von Allem, was sie erlebt, – an jener interessanten Stätte gesehen und gehört hatte. Ihr Bild wird mir unvergessen bleiben, wie sie, dasitzend auf der verfallenen Brustwehr, sich in Erinnerungen verlor an längst vergangene Zeiten. Sie wußte Alles von der Ronneburg, was wir aus schriftlichen Quellen geschöpft oder aus mündlichen Uebertragungen gehört, und gut verstand sie es, alle ihre Aussagen und Erzählungen an der interessanten Stätte wirksam zu erläutern. Ihre gebildete Ausdrucksweise, ihr klares Urtheil und ein selten treues Gedächtniß nöthigten uns Allen Staunen und Bewunderung ab, und fort und fort entzückte uns bei ihrem Wort die schlichte Einfachheit des ganzen Wesens, der Ernst, die Wahrheit ihres Blickes und jenes liebe glückliche Lächeln, mit dem sie die alte Burg anschaute, – so oft sie hier oder dorthin deutete, bei ihren Erzählungen.
Sie war auf der Ronneburg geboren und erzogen, und schon ihre Eltern und Vorfahren hatten da gelebt; – sie war fast nie in die Welt hinaus gekommen und doch vertraut mit deren Form, mit jener feinen Schattirung guten Tons und bessrer Sitte, die nun einmal immer das bevorzugte Erbtheil Derer ist, die ihr Gemüth gebildet haben. Ich fand durch diese arme einfache Frau eine Anschauung auf das Schönste bestätigt, die ich aus den Erfahrungen meines Lebens, im Verkehr mit den Menschen gewonnen habe: daß die echten Perlen des Geistes und Herzens oft in der unscheinbarsten Schale liegen und nur der reichen Fassung der Kunst und eines verfeinerten Geschmacks bedürfen, um ihren wahren Werth hell hervortreten zu lassen.
Die andere Jüdin, eine alte Wittwe in der nationalen Tracht, die Frauen jenes Stammes vorgeschrieben ist, mag eine ebenso interessante Quelle für die Ronneburg sein. Wir erfuhren nichts durch sie, da wir sie in Wahrheit Alle fürchteten, wie sie dort auf der Burg überhaupt gefürchtet zu sein schien. – Sie sah aus wie ein abgeschiedener Geist, und Leben war bei ihr nur in dem unstät blickenden dunkeln Auge zu finden. – Ich bin nicht furchtsam, wär’ auch gerne reich, – doch nicht um Schätze möchte ich mit der Alten eine Stunde in den ausgestorbenen Räumen der Ronneburg allein sein, wo sie als Letzte ihrer Art haust.
Der durch seinen zähen Widerstand gegen die französische Usurpation bekannte Präsident der Republik Mexico, Benito Juarez, ist der Sohn unbemittelter Eltern, zapotekischer Indianer aus einem kleinen Dorfe, welches im Gebirge, der sogenannten Sierra de Oajaca, unterhalb der Präfectur Ixtlan auf einem kleinen Felsplateau liegt. Als kleiner Knabe ward er von seinem Vater in die Hauptstadt des Staates, Oajaca, in ein bemitteltes Haus gebracht, wie es daselbst häufig geschieht, um gegen Kleidung, Nahrung und Elementarunterricht kleine häusliche Dienste zu verrichten. Meistens wurde er als Laufbursche benutzt, bis er ein Alter erreichte, wo er als Ladendiener ausgedehntere Beschäftigungen für baaren Lohn besorgen konnte. Der kleine Benito zeigte sich als gutgearteter, intelligenter und lernbegieriger Knabe, weshalb ihn denn sein Schutzherr, ein reicher und in der Stadt sehr angesehener, der liberalen Partei angehöriger Indianer, Don José Hernandez, in das Colleg gab und später im National-Institut die Rechte studiren ließ, der nämlichen Anstalt, an welcher er nach beendigten Studien Lehrer der Rechtswissenschaft ward.
Oajaca hat sich vom Beginn der Republik an durch die Bildung und das schnelle Anwachsen der liberalen Partei ausgezeichnet, und nirgends im Lande sind die Parteikämpfe häufiger, heftiger und leidenschaftlicher gewesen und hat die liberale Partei so bald die Oberherrschaft errungen, wie hier. Don José Hernandez war zum Obersten des ersten Bataillons der Nationalgarden gewählt, welches in Oajaca errichtet ward, und stand bei der liberalen Partei wegen seines Eifers und seiner Uneigennützigkeit in großem Ansehen. So war es natürlich, daß der heranwachsende Benito bei ihm dessen Principien in sich aufnahm und in Fleisch und Blut verwandelte. Die Zapoteken, deren Stamm er angehört, zeichnen sich vor den meisten Indianern durch Intelligenz, Rechtlichkeit und festen Charakter aus, und diese Eigenschaft besitzt auch Don Benito Juarez in vollem Maße, was selbst seine erbittertsten Feinde, die [175] ihm seine liberalen Gesinnungen zum Verbrechen machen, offen anerkennen.
Als er seine Studien beendet hatte, widmete er sich neben seinem Lehramte der Advocatur, wozu er durch die erworbene Würde eines Licentiaten berechtigt war, und erwarb sich bald durch seine Kenntnisse, Eifer und strenge Rechtlichkeit großen Ruf nicht allein in der Stadt Oajaca, sondern auch in weitern Kreisen. Durch seine festen und wohldurchdachten Principien ward er der liberalen Partei ein werthes und wichtiges Mitglied, weshalb er denn auch zum Gouverneur des Staates Oajaca gewählt ward. Sein Ansehen und guter Ruf bewirkten, daß er sich mit Donna Margarita Mazo, einer Creolin aus einer der alten Familien, verheirathen konnte, die es sonst unter ihrer Würde hielten, ihre Töchter an Indianer zu geben. Nie ist der Staat Oajaca besser verwaltet worden, als durch Juarez; überall wurden Mißbräuche abgeschafft, die Rechtspflege gebessert, der Gewerbfleiß geweckt und befördert, Wege gebaut, so daß man nun mit Wagen fahren konnte, wo früher nur Maulthiere mit großer Gefahr zu passiren vermochten; die Finanzen wurden geordnet, die Beamten regelmäßig bezahlt und zu ihren Pflichten streng angehalten etc.
Es konnte demnach nicht fehlen, daß Juarez im ganzen Lande bekannt und geachtet wurde, weshalb er denn auch, der Constitution von 1857 gemäß, zum Präsidenten des höchsten Nationalgerichtshofes durch directe Wahl gewählt ward, während Don Ignacio Commonfort die Stimme sofort für die Präsidentur der Republik erhielt. Dieser ernannte Juarez zu seinem Justizminister, und als solcher sollte er bald eine glänzende Probe seiner politischen Grundsätze und seiner Achtung vor dem Gesetze ablegen. Als Commonfort nämlich im December 1858 seinen unglücklichen Staatsstreich machte, der die Constitution aufhob, trat ihm sein Minister Juarez derart entgegen, daß er denselben gefangen setzte. Nach kurzer Zeit aber ward er gewahr, daß er von der liberalen Partei ganz verlassen wurde, die Klerikalen sich der Situation zu bemächtigen drohten und daß er einen groben Fehler mit seinem Verbrechen begangen hatte. Er entließ Juarez nicht allein seiner Haft, sondern übergab ihm als dem Präsidenten des höchsten Tribunals die Präsidentschaft, wie es die Constitution vorschrieb, die er wieder herstellte, und ging außer Landes mit dem traurigen Bewußtsein, sein Vaterland in einen neuen blutigen Bürgerkrieg verwickelt zu haben. Seitdem ist Juarez Präsident der Republik, zuerst interimistischer und vom Jahre 1862 gewählter, constitutioneller.
Selten hat ein Staatsoberhaupt die Regierung unter schwierigern und unglücklicheren Verhältnissen übernommen, nie so vielem Unglücke die Spitze bieten müssen, keiner seinem Vaterlande so treu seine Kräfte und seine Ruhe, mit Gefahr seines Lebens gewidmet wie Juarez. Es ist nicht unsere Absicht hier seine Geschichte als Präsident der Republik Mexico zu schreiben, sondern nur eine Skizze seiner Persönlichkeit zu entwerfen. Er ist etwas unter mittlerer Größe, wie Alle seiner Race proportionirt gebaut, etwas zum Embonpoint geneigt. Die Hautfarbe ist die seines Stammes, heller als die anderer Indianer, sein Gesicht hat den Typus der Zapoteken, schmale Stirn, starke Backenknochen, scharfe gebogene unten breite Nase, etwas großen, mit schönen Zähnen versehenen Mund, um den ein freundlicher Zug gelagert ist, der ihn selbst bei den ernstesten Geschäften nicht verläßt. Das Auge zeigt viel Intelligenz, ist außerordentlich lebhaft und sprechend, schwarz unter schwarzen Brauen. Das glänzend schwarze, schlichte Haar ist mit nur wenigem Weiß untermischt. Seine Stimme hat etwas Weiches, fast Klagendes, ist aber klangvoll und wohltönend; die Aussprache sehr klar und deutlich. Sein Anzug besteht gewöhnlich im einfachen Ueberrock, seidner Weste und farbigem Beinkleid, nur bei besondern Veranlassungen trägt er den schwarzen Leibrock. Das ist das Aeußere des Mannes, der durch seine Standhaftigkeit und sein Vertrauen in die Gerechtigkeit der Sache seines Vaterlandes den schweren Kampf gegen die Politik und das wohldisciplinirte Heer des französischen Kaisers und dessen Alliirte, die Pfaffen, aufgenommen, unterhalten und endlich siegreich durchgeführt hat.
Juarez ist im persönlichen Umgange äußerst liebenswürdig, einfach, geduldig, ja von einer kindlichen Bescheidenheit, dabei von schneller Auffassungsgabe, und nur in den feurigen Augen zeigt sich ein gewisser Affect, wobei die Gesichtszüge stets ruhig und freundlich bleiben. Ich habe öfters Gelegenheit gefunden, lange Unterredungen mit ihm unter vier Augen und in Gesellschaft zu haben und nie eine Veränderung in seinem Wesen wahrgenommen. Im brieflichen Verkehr ist er kurz, gemessen und nur den fraglichen Gegenstand besprechend, und selbst wo er streng tadelt, ist er höflich, ohne zu verletzen. Auch die ernsteste Unterhaltung pflegt er durch Scherz zu würzen, wie folgendes Beispiel zeigt.
Es war in den Tagen, als sein Minister Doblado in Orizaba mit den Bevollmächtigten der Alliirten unterhandelte und es zur Gewißheit wurde, daß jener ihn zu verrathen trachtete, wo ich mit Juarez über eine den Staat Mexico betreffende Angelegenheit zu conferiren hatte; bei dieser Gelegenheit hatte ich auch Klage über Doblado zu führen, und, so fügte es sich, daß ich dessen Verrath erwähnte.
„Und wissen Sie denn, was Doblado in der Soledad gethan hat?“ fragte ich.
„Ich weiß Alles.“
„Und daß er trachtet Sie zu verdrängen und sich mit Hülfe der Intervention zum Präsidenten zu machen?“
„Auch das weiß ich.“
„Und Sie behalten ihn als Minister?“
„Sie wissen, daß man hier zu Lande beim Typhus dem Kranken als Hausmittel eine Kröte auf den Magen bindet; es ist das sehr widerlich, soll aber ein probates Mittel sein. Doblado,“ dabei legte er seine Hand lächelnd auf mein Knie, „Doblado ist meine Kröte.“
Und wirklich war er ihm gegen seinen Willen durch die Umstände von den Moderirten aufgedrungen; ich mußte mit ihm über das treffende Bild lachen.
„Aber fürchten Sie seinen Verrath und Ehrgeiz nicht?“ frug ich von Neuem.
„No, Señor; den ersten nicht, weil ich ihn kenne, den letzteren nicht, weil die Zeit für Mexico vorüber ist, wo der Ehrgeiz einer Person zum Ziele führt. Doblado wird das Schicksal seiner Vorgänger theilen, die ein ungegründetes Renommée erhoben hat und die, auf der Höhe angekommen, sich in ihrer Nullität zeigen mußten, wo denn der usurpirte Name zu nichte wurde. Fürchten Sie deshalb nichts, Doblado kann uns nichts schaden; er untergräbt sich selbst und zeigt der Welt, was er wirklich ist.“
Dieses Beispiel zeigt zur Genüge, mit welcher Freiheit man sich ihm gegenüber auslassen kann und wie sehr es das Interesse lohnt, welches man an ihm nimmt.
Im Jahre 1859, als die Hauptstadt noch in den Händen der von den europäischen Mächten als Regierung anerkannten Aufständischen war und Juarez in Veracruz residirte, besuchte ich ihn eines Abends, wozu er mich freundlich aufgefordert hatte. Unten im Eingange des Hauses befand sich eine Wache von etwa fünfzehn Mann mit einem Officiere; ich frug diesen, ob der Präsident zu Hause und sichtbar sei, und erhielt den Bescheid, er sei allein und ich möge nur hinaufgehen. Auf dem Vorplatze traf ich eine Dame, die ich wieder nach dem Präsidenten frug, und diese wies mich an eine Thür, wo ich ihn finden würde. Auf mein bescheidenes Anklopfen erfolgte ein ruhiges „entra“; ich trat in ein kleines luftiges Zimmer, dessen nach zwei Seiten gehende Balconthüren geöffnet waren und die frische Seebrise einließen; auf einem Lehnstuhle saß Juarez mit einem Buche in der Hand, das er sogleich auf den nebenstehenden Tisch legte, als er sich auf meinen Gruß nach mir umdrehte und mich erkannte. Er kam mir ein paar Schritte entgegen, reichte mir die Hand und hieß mich neben sich auf das Sopha setzen. Wir plauderten über allerlei Gegenstände, wobei mir seine rasche Auffassungsgabe besonders auffiel; wir kamen auch auf Oajaca zu sprechen und er frug mich, ob ich die Sierra kenne. Da ich es bejahte, sagte er:
„Kennen Sie auch das kleine Dorf San Pedro unterhalb Ixtlan?“
„Si, Señor.“
„Das ist mein Geburtsort, da bin ich geboren;“ dabei glänzten seine lebhaften Augen vor Freude. Wir hatten nun einen Gegenstand gleicher Jugenderinnerungen, denn auch ich hatte mehrere Jahre in jener Gegend zugebracht. Wie liebenswürdig und natürlich erschien seine Theilnahme an dem, was ich ihm aus jener Zeit erzählte! Wir wurden durch das Eintreten derselben Dame unterbrochen, die mich zu ihm gewiesen; er stellte mich ihr als seiner Frau vor und fügte dann hinzu:
„Setze Dich, Margarita, wir plaudern nur und zwar soeben von meinem Geburtsorte (mi tierra), den der Herr auch kennt, und von Oajaca.“
[176] Nun drehte sich die Unterhaltung um die uns bekannten Familien jener Stadt, was dem liebenswürdigen Ehepaare viel Vergnügen zu machen schien, bis andere Personen eintraten, darunter der damalige Minister des Auswärtigen, Don Melchor Ocampo, der Gouverneur von Veracruz, Don Manuel Zamora, und Don Francisco Zarrate, der Gouverneur des Castells San Juan de Ulloa, wodurch die Unterhaltung auf andere Gegenstände überging.
Es ist schwer das Alter Juarez’ nach seinem Aussehen zu bestimmen, da bekanntlich die Indianer spät altern; aber nach seinen Aeußerungen und andern Umständen zu schließen mag er jetzt über die Mitte der Fünfzig hinaus sein.
Man hat ihn den Lincoln Mexico’s genannt und wirklich bieten sich manche Analogien zwischen Beiden dar, doch darf man sicher Juarez das Prioritätsrecht hinsichtlich der Befreiung seines Vaterlandes von der Schmach geistiger Sclaverei vindiciren; denn die dazu führenden Reformgesetze gab er bereits während seiner Dictatur 1859 bis 1861. Sie sind sein und seiner Freunde Werk, er gab sie während des Bürgerkrieges, und der Congreß von 1861, der seine Regierungsacte zu prüfen hatte, sanctionirte sie ohne Veränderung und fast ohne Debatte. Sie bestehen im Wesentlichen in der Einführung der Religions- und Cultusfreiheit, Nationalisirung der Kirchengüter, Aufhebung der Klöster, vollkommener Trennung der Kirche von Staat und Schule, Einführung der Civilehe und der Lehrfreiheit, Uebertragung der Kirchhöfe an die Civilbehörden, Verbot der Erwerbung und des Besitzes von Grundeigenthum für kirchliche Körperschaften, des Tragens aller klerikalen Abzeichen, der Processionen und des Viaticums auf den Straßen, Abschaffung des politischen und gerichtlichen Eides, sowie des Paßwesens und der Sicherheitskarten der Fremden mit ihren lästigen Anhängseln. Alle diese Gesetze, obgleich implicite in der Constitution von 1857 enthalten und logische Folgen derselben, wären schwerlich so bald durch einen Congreß zu Stande gekommen; aber da sie nur auf dictatorischem, legalem Wege gegeben waren, sanctionirte sie der Congreß ohne Weiteres. Juarez ist freilich nicht ermordet wie Lincoln, oft genug jedoch ist er in drohendster Lebensgefahr gewesen, gegen die er sich nicht durch die geringste äußere Schutzwehr gesichert hat. In seiner bescheidenen Privatwohnung in der Hauptstadt hatte er nicht einmal eine Schildwache an der Hausthür. Das Pfaffenthum im Verbande mit dem stehenden Heere zu besiegen und deren innerste Verschanzungen, d. i. ihre Privilegien und Prärogativen, von Grund aus zu zerstören, war in Mexico kein leichteres Werk, als die Aufhebung der Sclaverei in den Südstaaten der nordamerikanischen Union, und die unparteiische Geschichte wird Juarez den verdienten Platz unter den hervorragenden Männern dieses Jahrhunderts anweisen; jedenfalls steht er Lincoln an Verdienst um sein Vaterland und die Würde der Menschheit nicht nach.
Kann es Wunder nehmen, daß Beide die Feindschaft des französischen Kaisers genossen, der in Mexico und in Rom das Pfaffenthum, in Nordamerika die Sclavenjunker unterstützte? Diese Sünde an der geistigen und körperlichen Freiheit wird sich schwer rächen.
Als Puebla von den Franzosen belagert wurde, sagte mir Juarez eines Tages: „Sie werden Puebla nehmen, sie werden Mexico nehmen, sie werden die meisten Städte im Lande besetzen, aber sie werden das Land nicht haben und am Ende werden wir siegen. Dieses Attentat gegen die Republik kann Napoleon theuer zu stehen kommen, denn die Franzosen können es nie gutheißen.“
Ein großer Theil dieser Prophezeiung hat sich bereits erfüllt; in der Zukunft liegt das Uebrige.
Gefunden. In den ersten Tagen und Wochen nach der Schlacht bei Langensalza waren die vielen Lazarethe der Stadt, sowie die Gräber der Todten von Fremden förmlich belagert. Unter den zahlreichen Besuchern befanden sich häufig Freunde und Verwandte der Verwundeten und Gefallenen, nicht selten aus großer Ferne herbeigekommen, die Leidens- und Ruhestätten ihrer Angehörigen aufzusuchen. Um ihre Nachforschungen nach den Verwundeten zu erleichtern, hatte die Militärbehörde an den Außenthüren der Lazarethe Listen mit den Namen der Inwohner anschlagen lassen.
Ueber die Todten gab es leider keinen gewissen Nachweis; denn die nothwendige große Eile der Beerdigungen, die Unmöglichkeit, ihre große Anzahl gehörig zu regeln und zu überwachen, die in der entsetzlichen Hitze schnell vorschreitende Verwesung veranlaßten, daß die Sicherstellung der Namen, der Identität der Personen bei einem großen Theil der Gefallenen unterblieb.
Als mich in diesen Zeiten ein Geschäft in die Mitte der Stadt führte, begegneten mir zwei fremde Herren, augenscheinlich von Stande, aber beide in Trauerkleidern, mit schwarzbeflorten Hüten, tiefbekümmerten Mienen. Der ältere grüßte bei meiner Annäherung auf das Höflichste und bat um Auskunft über die Wohnung eines hiesigen Bürgers. „Wenn Sie mir folgen wollen,“ sprach ich, „so kann ich selbst Sie begleiten; mein Gang führt mich ebenfalls dorthin.“ Dankbar nahmen die Fremden meine Dienste an und so gingen wir nach dem Markte, wo der Gesuchte wohnte.
Bei unserem Eintritt sprach der Aeltere zu dem Hausherrn: „Mein verehrter Herr, wir sind Rheinländer, geborene Aachener, und suchen hier zwei Opfer der Schlacht; dieser Herr hier, mein Neffe, einen verwundeten Bruder, und ich,“ setzte er mit zitternder Stimme hinzu, „das Grab meines einzigen Sohnes. Die Verlustliste nennt den Einen schwerverwundet, den Andern gefallen. Ihr Herr Bruder in Aachen, unser Freund, hat uns ausdrücklich an Sie verwiesen. Wollen Sie also die Freiheit unseres Eintritts und die Bitte um Ihre Unterstützung bei Aufsuchung von Bruder und Sohn gütig verzeihen.“ Herr A., der also Gebetene, ließ uns in sein Familienzimmer treten, – ich sage uns, denn ich mußte bei den Fremden bleiben, da ich ihnen auf dem Wege meine Begleitung noch weiter zugesagt – und bat um die Namen der Gesuchten.
Als die Herren die Namen genannt, sah ich Herrn A.’s Augen freudig aufleuchten. „Einen Augenblick, nur einen Augenblick erlauben Sie,“ rief er. „Oben wohnen zwei fremde Herren, ebenfalls Rheinländer, ich eile hinauf; vielleicht wissen sie etwas von Ihren Angehörigen.“ Bei diesen Worten war er auch schon zur offenen Zimmerthür hinaus und zur Treppe hinaufgesprungen. Erst nach geraumer Zeit trat er wieder ein und sprach: „Es ist so, wie ich vermuthete; bemühen Sie sich hinauf und hören Sie selbst die Herren.“
Er schritt den Fremden voran und öffnete oben die Stubenthür. Plötzlich hörte ich einen lauten Freudenschrei: „Eduard, Bruder Eduard!“ – „Peter, mein theurer Sohn Peter!“ Eine freudige Ahnung stieg in mir auf; ich konnte meiner tiefen Erregung nicht widerstehen, trat selbst auf die Treppe und sah durch die offenstehende Thür die beiden Fremden – Vater und Bruder – in der zärtlichsten Umarmung zweier Verwundeten: des schmerzlich Vermißten, des Todtgeglaubten.
Im Hintergrunde stand der treue Pfleger, der barmherzige Samariter, und empfing in den Freudenthränen der Wiedervereinigten seinen schönsten Lohn. Wollt Ihr seinen Namen wissen, so fragt nur seine beiden Pfleglinge aus der Krönungsstadt im schönen Rheinlande, die werden seine Opferfreudigkeit, seinen unerschöpflichen Humor nimmer vergessen.
Abgeleugnete Documente. Unsere Leser erinnern sich des Artikels „Eine deutsche Klage“ in Nr. 45 des Jahrgangs 1866 der Gartenlaube. Wir stellten darin das Verfahren der englischen Admiralität gegen den wahren Erfinder der Schiffsschraube, Joseph Ressel, an das Licht. Um die bedeutende Summe, welche die englische Regierung für die wichtige Erfindung als Belohnung ausgesetzt hatte, nicht einem Deutschen zukommen zu lassen, hatte man sogar den Empfang der Ressel’schen Documente (Erfindungspatent und österreichische Regierungszeugnisse) abgeleugnet, die man nach den emsigsten Nachforschungen nicht habe finden können. Fünf Engländer theilten sich in die zwanzigtausend Pfund Sterling und ein sechster, Smith, erhielt eine Nationalbelohnung. Ressel starb 1857 unbelohnt und arm, und sein Sohn drang vergeblich bei der englischen Admiralität auf die Herausgabe der Documente: sie waren – nie vorhanden gewesen, oder verloren. Da sendet uns in diesen Tagen ein deutscher Landsmann aus Glasgow die englische Zeitschrift „Engineering“ (Ingenieurwesen) vom 4. Januar 1867, in welcher der Redacteur Zerah Colburn, derselbe, welcher früher als leitender Theilhaber des „Engineer“ sich so lebhaft für Smith’s Anrecht auf die Erfindung der Schiffsschraube ausgesprochen, das Hauptstück der so lange vermißten Ressel’schen Documente, das Patentgesuch vom 28. November 1826 mit Ressel’s ausführlicher Beschreibung der Schiffsschraube sammt allen Zeichnungen veröffentlicht. Er dankt in ein paar einleitenden Worten für diese interessante Mittheilung Herrn Bennet Woodcroft – „of the Great Seal Patent Office.“
Nach vierzehn Jahren der Einsendung, nach zwölf Jahren der ungerechten Preisvertheilung und im zehnten Jahre nach Ressel’s Tode – wagt sich das Recht der Priorität des Deutschen in der Erfindung der Propellerschraube sogar in England an das Licht. Die von den höchsten englischen Behörden abgeleugneten Documente sind da, – nur die zwanzigtausend Pfund Sterling sind fort und der, dem sie allein gebührt hätten, modert im Grabe und ist trotz seines Wiener Erzdenkmals schon so vergessen, daß die gesammte deutsche Tagespresse im vorigen Jahre nichts mehr von ihm gewußt hat.
Trotz alledem theilen wir diese Nachricht unseren Lesern mit. Vielleicht kommt dieses Blatt Mitgliedern des „Nordamerikanischen Ressel-Comité“ in New-York und durch sie des unglücklichen Erfinders Sohn, Heinrich Ressel, in die Hand, und vielleicht giebt es noch Mittel und Wege für die Bürger der Union, das am Vater begangenene schwere und schmähliche Unrecht am Sohne und der Familie wieder gut zu machen.
Inhalt: Die Herrin von Dernot. Novelle von Edmund Hoefer. – Die Schutzpatrone und Orakel der Bauern. 1. In Altbaiern. Mit Illustrationen. – Meine Flucht von Dresden nach New-York im Jahre 1849. Von Karl Munde. (Schluß.) – Eine Freistätte des Glaubens. Von M. von Humbracht. Mit Abbildung. – Der Lincoln Mexicos. Von G. Pinto. – Blätter und Blüthen: Gefunden. – Abgeleugnete Documente.
- ↑ Der Verfasser des obenstehenden interessanten Artikels hat sechszehn Jahre lang in Mexico gelebt und dort in sehr nahen Beziehungen zu Juarez gestanden. Zugleich verdanken wir ihm ein photographisches Originalportrait des letztern, welches wir in einer der nächsten Nummern unsers Blattes im Holzschnitte nachbilden werden. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: berühmen