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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[633] No. 41.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


In der Propstei.
Von. J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


Eines Tages hatte der Präsident Briefe aus der Residenz erhalten, nach deren Lesung er sich den ganzen Tag in sein Cabinet einschloß. Am andern Morgen früh hatte er seinem alten Kammerdiener geklingelt, der mit ihm aufgewachsen und sein Vertrauter war. Er hatte lange mit ihm gesprochen; dann hatte der Diener gepackt und den Reisewagen bestellt. Eine halbe Stunde später waren Herr und Diener abgefahren; den ersten hatte kein Mensch auf der Propstei mehr gesehen. Der Kutscher war nur bis zur nächsten Station genommen worden, hier hatte der Kammerdiener Extrapostpferde bestellt; wohin, hatte der Kutscher nicht erfahren. Aber dieser hatte den Präsidenten gesehen, und als er zur Propstei zurückkehrte, sagte er: „Der gnädige Herr sah ganz verstört aus, fast nicht mehr wie ein Mensch.“

Nach sechs Wochen war der Präsident zurückgekommen; er brachte seine Frau mit, auch seine Tochter. Die Frau war leidend; sie verließ die Propstei nicht und sah Niemanden. Die Tochter war in tiefer Trauer; sie sei Wittwe, hieß es, ihr Mann sei im Bade gestorben. Frau von Brokfelden wurde sie genannt; kein Mensch kannte den Namen. Der Präsident war stolzer, strenger, finsterer, denn je. Er gab keine Gesellschaften mehr und besuchte keine, sondern lebte nur seinem Amte und seiner Tochter; an ihr hing er mit der zärtlichsten, liebevollsten Sorgfalt. Seine Frau sah auch ihn nicht und er sah sie nicht. Aus der Residenz waren seiner Rückkehr sonderbare Gerüchte gefolgt.

Nach einem halben Jahre gebar seine Tochter, die Wittwe, ein Mädchen. Bald darauf starb seine Frau. Es mußten schwere Schläge sein, die sie getroffen und ihren Tod so früh herbeigeführt hatten. Dieser änderte nichts, weder an der Stimmung, noch an der Lebensweise des Präsidenten. Seine Tochter mußte dann aber bald seine Liebe und Zärtlichkeit für sie mit ihrem Kinde theilen und sie that es gern. Man konnte kein schöneres Kind sehen, als die Enkelin des Präsidenten, auch kein liebenswürdigeres. Und so wuchs sie herauf, so blühte sie auf zur Jungfrau. Sie hatte sich aus sich selbst so entwickelt. Ihre Mutter kränkelte, fast von der Zeit der Geburt des Kindes an. Dem Präsidenten fehlte es an Zeit, auch wohl an Zeug und Lust, sich unmittelbar der Ausbildung des Kindes anzunehmen. Er gab ihr indeß tüchtige Lehrer und Lehrerinnen, keine Erzieherin: diese hätte er in sein Haus nehmen, oder er hätte das Kind ihr außer dem Hause übergeben müssen. Für das Eine war ihm sein Familienleben zu heilig geworden, als daß er eine Fremde darin hätte aufnehmen können; für das Andere war die Liebe der Mutter wie des Großvaters zu dem Kinde eine zu heilige. Für Beides wirkte auch wohl ein Familiengeheimniß mit.

Fast nur sich selbst überlassen, wuchs das Kind auf, in den hohen, einsamen, stillen Räumen der alten Propstei, in dem weiten Garten, der auf der einen, in dem großen Walde, der auf der andern Seite das Gebäude umgab. In die Stadt kam sie selten. Aber in dem Walde brachte sie Tage zu, manchmal wie eine in wunderbarer Pracht blühende Blume unter den hohen Bäumen träumend, manchmal wie das schlanke, zart und fein gegliederte Reh auf dem Moose, zwischen dem Gebüsche umherspringend. So war sie in der Wildniß groß geworden, aber nicht wild; das sah man dem großen blauen, seelenvoll träumenden Auge, das sah man dem feinen Gesichte voll Liebe und Milde, das sah man der ganzen weichen und edlen Erscheinung an. Sie zählte siebenzehn Jahre, als der Tod ihre Mutter von langen und schweren Leiden erlöste. Als der Präsident das Ende seiner Tochter herannahen sah, hatte er den Fürsten um seinen Abschied gebeten; zugleich um die Erlaubniß, die ihm gesetzlich zustehende Pension im Auslande verzehren zu dürfen. Beides war ihm bewilligt worden. Als der Tod eingetreten war, sagte er zu seiner Enkelin: „Halte Dich bereit, Agathe; am Morgen nach der Beerdigung reisen wir ab.“

Die Beerdigung sollte am zweiten Tage nach dem Tode stattfinden. Agathe hatte in der kurzen Zeit sich auf so Vieles bereit zu halten, bereit zu machen. Auch in dem großen Walde war sie während der beiden Tage gewesen, allein wie immer. Am Tage der Beerdigung kam sie spät daraus zurück, erst nach fünf Uhr Abends; um sechs Uhr sollte der Leichenzug beginnen. Sie kam mit heißen Thränen zurück; sie hatte wohl auch noch von Anderem Abschied genommen, als von den Bäumen, dem Walde, den Büschen, und es war wohl ein Abschied für das Leben gewesen. Aber als sie die Propstei betrat, trocknete sie die Thränen. Sie hatte sich zu einem festen Entschlusse erhoben, und ein Entschluß kann aufkeimen und auftauchen unter dem Weinen und Schluchzen des Herzens; wenn indeß das Herz zu seiner Fassung sich erhebt, dann hat es sich auch über seinen Schmerz erhoben.

Sie ging in das Gemach, in dem die Leiche ihrer Mutter stand. Es war eins der Prunkgemächer der Propstei; seine Wände waren schwarz verhangen. In seiner Mitte stand der einfache, schwarze Sarg von brennenden Wachskerzen umgeben, derselbe war geöffnet und der Deckel zur Seite gelegt. Die Leiche lag auf weiße seidene Kissen und auf frische Blumen gebettet. Das [634] Gesicht der Todten zeigte das Unglück des Lebens, die Seligkeit des Himmels; es war so schön in seinen Leiden, in seinem Frieden. Agathe war allein bei der todten Mutter. Sie kniete neben ihr nieder, nahm ihre kalte Hand, drückte ihre warmen Lippen darauf und betete dann still. Was sie betete? Um wie Vieles hat ein frommes, gläubiges Kinderherz an dem Sarge der Mutter den lieben Gott im Himmel zu bitten, für sie, durch sie! Und durch die Mutter bat sie nicht blos für sich.

„O, gieb ihm die Kraft, daß er es trage!“ sprachen ihre Lippen einmal laut, aus dem tiefsten Grunde ihres Herzens.

Zu der Betenden trat der alte Kammerdiener des Präsidenten; er hatte die lauten Worte ihres Herzens gehört.

„Kannst Du es tragen, Du armes Kind?“ sagte er.

„Muß ich nicht, Konrad? Darf ich den Großvater verlassen? Er liebt mich über Alles. Ich bin ihm Alles.“

„Ja,“ sagte der alte Mann, „Du bist ihm Alles, er liebt nur Dich; o, Du weißt nicht, wie sehr er Dich liebt.“ Er sprach es so traurig, als wenn es ein Unglück sei.

In dem Nebenzimmer schlug eine Uhr sechs, da wurden im Vorzimmer Tritte laut. Die Thür öffnete sich und der Präsident von Ballard trat ein. Er war ein hoher, stattlicher, stolzer Greis. Seine Gesichtszüge hatten den finstern, strengen Ausdruck seines Wesens; es lag noch mehr darin, man sah in ihnen ein hartes oder ein gebrochenes Herz. Still stellte er sich an den Sarg und betrachtete lange die Leiche. Er sprach kein einziges Wort; in seinem Gesichte bewegte sich kein Muskel. Dann hob er mit dem Diener den Deckel auf den Sarg, öffnete darauf selbst die Thür des Vorzimmers und sechs schwarz gekleidete Männer traten ein, hoben den Sarg auf und trugen ihn aus dem Trauergemach. Der Präsident, seine Enkelin und sein alter Kammerdiener Konrad folgten. Draußen vor dem Hause wurde der Leichenzug nur um wenige Menschen größer. Der Präsident und seine Enkelin setzten sich in einen Wagen, vor welchem die Träger mit der Leiche gingen, hinter ihm der alte Konrad und noch zwei Diener des Hauses. Kein anderer Verwandter, kein Freund der Verstorbenen oder des Präsidenten hatte sich angeschlossen, sich anschließen dürfen.

Der Zug bewegte sich langsam und still dem Walde zu, der sich dicht und dunkel unweit der Propstei erhob. Dort bog er in eine lange, schmale Allee von dunklen Tannen und weißen Birken ein. An ihrem Ende erblickte man auf einem kleinen Hügel ein niedriges Gebäude von grauem Stein. Zu beiden Seiten der Allee drängten sich, hinter den Tannen verborgen, Menschen, die sich den stillen Zug ansehen wollten. Die Gesichter zeigten blos Neugierde.

Zwischen den Zweigen einer Tanne aber stand ganz allein ein junger Jägersmann. Sein frischblühendes, kräftiges und doch so mildes Gesicht trug den Ausdruck des tiefsten Schmerzes, als wenn er mehr verloren habe, als Alle, die in dem Trauerzuge waren, und sein schmerzlicher Blick war an dem Sarge bald vorübergeglitten, wollte dann sich aber einbohren in das Innere des festverschlossenen Wagens. Da erschien hinter dem Fenster des Wagens ein bleiches Mädchengesicht, es schien einen Vorwurf aussprechen zu wollen:

„Bist Du doch hier? Es zerreißt Dir ja nur wieder Dein armes Herz, und ich hatte Dich so sehr gebeten!“

Aber der Vorwurf blieb tief hinten in den thränenfeuchten Augen zurück und auch aus dem Herzen hatte ihn die heiße Liebe verdrängt, bevor er darin laut werden konnte, und ein Blick des weichen Herzens und seiner Liebe rief dem jungen Jäger zu:

„Für Dich habe ich ja an dem Sarge meiner Mutter laut zu Gott gebetet. O, trage, trage standhaft und männlich, damit nicht auch ich zu Grunde gehe!“

Und der junge Mann legte seine Hände auf sein Herz, zum Zeichen, daß er sie verstanden habe und daß er thun wolle, wie sie sage. Der Zug hielt an dem Fuße des kleinen Hügels, auf dem das graue, niedrige Gebäude sich befand, das hier unter Tannen und Trauerweiden lag. Es war seit zwei Jahrhunderten das Grabgewölbe der Freiherren von Ballard, denen es der Landesfürst zum Eigenthum geschenkt hatte. Der Greis warf seine finsteren Blicke wie drohend auf das alte Gemäuer, das so manches Mitglied seiner Familie aufgenommen hatte, in dem heute seine einzige Tochter zur ewigen Ruhe beigesetzt werden sollte. Dem bleichen Kinde an seiner Seite stürzten bange Thränen aus den Augen.

Der Präsident war ausgestiegen. Am Arme seines Enkelkindes schritt er die Stufen des Gewölbes hinan, die Diener folgten. Die tiefste Stille des Waldes und des Grabes herrschte rings umher. Plötzlich drangen aus der Ferne Töne hervor. Es waren lustige Klänge von Jagdhörnern, lautes Hundegebell; Schüsse fielen, Menschen riefen, Pferde wieherten. Den Greis durchzuckte es wie wilder Schmerz, wie wilderer Zorn. Seine Blicke flogen feindlich drohend zu dem Walde. Doch der stille Trauerzug mußte sich weiter bewegen unter den Klängen und Lauten der fröhlichen Jagd.

Der Sarg war beigesetzt, der Geistliche, der dem Zuge entgegengegangen war, hatte ein stummes Gebet gesprochen und nur der Präsident mit seinem alten Konrad und dem jungen Mädchen waren noch in dem Grabgewölbe zurückgeblieben.

„Sie war unglücklich,“ sprach der Präsident leise zu seiner Enkelin. „Wie sie wähnte, das Glück ihres Lebens gefunden zu haben, da war sie dem Verderben, dem Verrath in die Arme gefallen. Die eigene Mutter – Du sollst glücklich sein, Agathe; was ich ihr nicht verschaffen konnte, Dir bereite ich es. Was ihr seine Krallen in das Herz schlug, der schnödeste, der schmachvollste Verrath, er soll Dir nicht nahen –“

Der Greis schwieg. Die Töne der Jagd waren näher gekommen, er horchte ihnen. Agathe hörte sie nicht.

„Du sprichst von meinem Vater,“ sagte sie. „Wer war mein Vater? Ihr spracht nie über ihn, Du nicht, die Mutter nicht. Es war Euer Geheimniß; löse es mir hier an dem Sarge meiner Mutter!“

„Still!“ rief der Greis.

Draußen, unmittelbar vor dem Grabgewölbe, war ein Geräusch entstanden, Pferde waren herangesprengt, hatten gehalten; man hörte die Reiter absitzen, ihre Schritte der Gruft sich nähern. In das blasse Gesicht des Präsidenten stieg dunkle Röthe, in seinen Augen flammte wieder der wilde, feindliche Zorn. So wandte er sich zu der Thür, die plötzlich aufgerissen wurde. Ein Herr in glänzender Jagdkleidung, einen Ordensstern auf der Brust, stürmte laut in die stille Gruft der Todten, mit der Lust der Jagd, mit dem Uebermuth der Weinlaune, mit der Rücksichtslosigkeit eines hohen und hochmüthigen Herrn, der nie gehorchen mußte. Zwei andere Herren in reicher Jagdkleidung folgten ihm, Kammerherren oder Jagdjunker oder dergleichen. Jäger und Bediente sah man unten am Fuße des Hügels die edlen Jagdrosse halten.

Der Fürst stutzte doch, als er den Greis und das Mädchen sah. Sollte er hier umkehren? Aber er, der Herr, vor wem? Der Greis las es in dem stolzen Blicke des fürstlichen Jägers. Er trat ihm mit seinen flammenden Augen entgegen.

„Hoheit, ich begrabe meine Tochter!“

Weiter sprach er nichts. Durch das Gesicht des Fürsten flog eine plötzliche Blässe.

„Ah!“ rief er.

Aber mit dem Ausrufe hatte er sich gefaßt.

„Mein lieber Präsident, ich statte Ihnen meine Condolenz ab.“

Er sagte es mit der Kälte und Glätte einer ceremoniösen Vorstellung bei Hofe, dann wandte er seinen Blick auf das Mädchen. Er stand wieder überrascht durch die Schönheit des soeben zur Jungfrau gereiften Kindes. Aber auf einmal zuckte ein Gedanke in ihm auf.

„Ihre Enkelin?“ fragte er den Präsidenten.

Der Greis antwortete nicht, er nahm den Arm seines Enkelkindes und führte sie zu dem Sarge der Mutter; es war, als wenn er sie so vor dem Fürsten, selbst vor dessen Blicken nur, beschützen wollte.

Der Fürst wandte sich, das Schweigen, die Bewegungen des Greises waren ihm eine Antwort auf seine Frage gewesen. Noch einmal mußten doch seine Augen das Mädchen suchen, diesmal nicht ihre Schönheit; es war ein so ganz besonderer Blick, mit dem er sie betrachtete. Dann entfernte er sich rasch, eilte den Hügel hinunter, schwang sich auf sein Pferd und sprengte in den Wald zurück, Gefolge und Dienerschaft folgten ihm. Agathe hatte die Blicke des stolzen, vornehmen Herrn gesehen.

„Wer war er?“ fragte sie den Greis.

„Der Fürst des Landes.“

„Er sah mich so sonderbar an. Was wollte er von mir?“

„Frage nicht.“

Sie fragte nicht weiter. Dann verließen sie die Gruft und [635] kehrten zur Propstei zurück. Hinter ihnen im Walde bliesen wieder die Hörner, bellten die Hunde, knallten die Büchsen, riefen die Menschen, wurde das ganze fröhliche Jagdleben wieder laut. Der Großvater und sein Enkelkind saßen im Wagen stumm beisammen. In der Propstei führte der Präsident das Mädchen in ihr Zimmer. Dort erst sprach er wieder.

„Es war Dein Vater, Agathe!“

Das Kind erschrak.

„Meine arme Mutter!“ rief sie schmerzlich aus und verhüllte ihr Gesicht. Der Präsident küßte ihre Stirn.

„Du sollst glücklich werden, mein theures Kind, glücklicher, als sie war.“


3. Der Regierungs-Präsident.

Der Präsident hatte sich in sein Arbeitszimmer begeben und saß dort lange still, den Kopf in die Hand gestützt. Es waren keine Gedanken der Trauer und des Schmerzes, denen er sich hingab; seine Blicke wurde finsterer, feindlicher, man sah nur Haß und Verachtung darin, einen Haß und eine Verachtung, wie gegen die ganze Welt. Er war noch in seiner vollen Trauerkleidung. Der Hut mit dem Trauerflor lag neben ihm auf einem Tische. Er erhob sich und zog eine Klingelschnur. Sein Kammerdiener erschien.

„Bist Du fertig, Konrad?“

Der alte Mann erbebte.

„Gnädiger Herr, heute? In dieser Stunde? In dieser Viertelstunde?“ bat er.

Es war noch keine Viertelstunde seit ihrer Rückkehr von dem Leichenbegängnisse verflossen.

„Schweig’!“ rief der Präsident.

„Herr, ich beschwöre Sie –“

„Gehen wir.“

Der Diener schwieg. Der Präsident ging an seinen Secretär, nahm einen Dolch heraus, steckte ihn zu sich und setzte seinen Hut mit dem Trauerflor auf. Auf dem Tische brannten zwei Wachskerzen, denn es war schon dunkler Abend. Der Diener wollte sie auslöschen, dem Präsidenten kam aber ein Gedanke.

„Laß sie brennen!“

Der Diener ließ sie brennen und Beide verließen das Zimmer.

„Verschließ’ die Thür,“ befahl der Präsident.

Der Diener verschloß die Thür und der Präsident nahm den Schlüssel zu sich. Wer von außen die Fenster des Zimmers sah, konnte meinen, der Präsident sei darin. Es war sein Arbeitszimmer und lag im ersten Stock, am Ende eines kleinen Seitencorridors. Zehn Schritte davon war eine unscheinbare, schmale und niedrige Thür, die verschlossen war. Der Präsident zog einen Schlüssel hervor und schloß sie auf. Beide schritten durch dieselbe. Der Präsident verschloß sie wieder an der anderen Seite und ließ den Schlüssel hier stecken. Er wollte also zurückkehren und bei seiner Rückkehr das Schloß so schnell wie möglich öffnen können.

Herr und Diener befanden sich in einem völlig dunklen Raume; man konnte gar nichts darin unterscheiden. Gleichwohl gingen Beide mit sicherem Schritte weiter; sie mußten oft hier gewesen sein. Sie hatten nur wenige Schritte zurückzulegen, als sie nach unten steigen mußten. Es war eine schmale, enge Wendeltreppe, die sie hinunterführte. Sie stiegen tief; die Treppe zählte viele Stufen. Wieder standen sie vor einer verschlossenen Thür. Der Präsident zog wieder einen Schlüssel hervor und öffnete die niedrige, aber breite Thür. Man hörte, daß sie von Eisen war; sie ging schwer in ihren Angeln. Sie durchschritten auch sie. Aber der Präsident verschloß sie nicht wieder; er lehnte sie nur an und den Schlüssel ließ er im Schlosse auf der Seite, von der sie gekommen waren. Bei der Rückkehr konnte er sie um so schneller hinter sich verschließen. Sie waren wiederum in einem völlig dunklen Raume und sie gingen darin weiter, sicher wie vorhin. Sie gingen in einem langen Gange und an dem Widerhall ihrer Schritte hörte man, daß er schmal und oben gewölbt war. Auf den Seiten war feste Erde; es mußte ein unterirdischer Gang sein. Nach vielleicht einer Viertelstunde Gehens erreichten sie sein Ende. In den letzten Minuten waren ihre Schritte langsamer geworden; sie waren leiser aufgetreten; der Präsident, der vorauf schritt, hatte einige Male angehalten, als wenn er horche. Gesprochen hatten sie auf dem ganzen Wege kein Wort. Sie standen vor einer Mauer und horchten Beide, wie mit angehaltenem Athem. Sie vernahmen nicht das mindeste Geräusch, nicht diesseits, nicht jenseits der Mauer.

„Suchen wir, Konrad,“ sagte der Präsident.

Es waren die ersten Worte, die einer von ihnen sprach. Der Präsident suchte mit den Händen an der Mauer. Der Diener folgte seinem Beispiele und seinem Befehle nicht.

„Gnädiger Herr!“ erhob er noch einmal seine bittende und warnende Stimme.

„Schweig’!“ befahl ihm der Präsident wieder.

Aber der alte Diener gehorchte diesmal auch diesem Befehle nicht.

„Herr,“ sagte er, „um der Barmherzigkeit Gottes willen, die jeder Mensch einmal anrufen muß.“

„Thor!“ erwiderte ihm der Präsident.

„Herr, denken Sie an Gott!“

Der Präsident antwortete nicht.

„Denken Sie an seine Gerechtigkeit, auch hier auf Erden.“

Der Präsident lachte bitter.

„Gerechtigkeit? Ich sah sie heute an dem Sarge meines Kindes. Die Verführte, die Verrathene lag da mit ihrem gebrochenen Herzen! Und er –? Gerechtigkeit? Ja, ja! Aber was ist sie denn? Zahn um Zahn, Auge um Auge! So steht es ja auch in der Bibel. Und wo man so nicht wieder vergelten, wo man nicht das Auge für das Auge ausreißen kann? Was thut denn da die Gerechtigkeit? Da sucht sie nach einem Ersatz, nach einem Andern für das Eine. So auch ich! Ja, ja! Er ist ja der Landesherr, und dem Landesherrn gehört das Blut und der Schweiß seines Landes, also auch das Geld! Landesherrliche Casse! Dieb! willst Du zu mir sagen? Räuber? Mit dem Strange oder dem Zuchthause willst Du mir drohen? Bah! Hinterher können sie mich hängen oder einsperren, wenn das Geld erst mein ist. Aber haben will ich es; mein Kind soll reich sein. Und nun komm! Oder willst Du nicht? Fehlt Dir der Muth? Willst Du mich lieber verrathen, anzeigen? Geh’, geh’! Der Weg ist überall hinter uns offen, und ich kann hier allein fertig werden.“

Der Greis hatte die Worte mit einer krankhaften Heftigkeit gesprochen, mit einer Wuth, einem Fanatismus, der an Wahnsinn grenzte. Sein Anblick hätte ein Grauen erregender sein müssen, wenn man in der tiefen Finsterniß die dunkle Röthe hätte gewahren können, die sich durch sein graues, hohles Gesicht zog, das Beben seiner Lippen, das irre Leuchten und Flackern seiner finsteren Augen unter den buschigen, tief herabhängenden Brauen, die verzerrten Züge des ganzen Greisenantlitzes. Der Diener hatte kein Wort der Erwiderung mehr.

„Fassen wir an, Herr!“ sagte er.

Die Mauer, an der sie sich befanden, bestand aus großen, viereckigen Steinen. An den Steinen hatten die Hände des Präsidenten gesucht; dann auch die des Dieners. An einem der größten begegneten sie sich.

„Fassen wir an,“ sagte jetzt auch der Diener.

Aber in demselben Augenblicke ließ er los.

„Da war etwas!“

„Was sollte da sein?“ rief der eifrige, der halb wahnsinnige Greis.

Der Diener riß ihn in den Gang zurück.

„Ich hörte ein Geräusch.“

Der Präsident kam wieder zu sich.

„Wo war es?“

„Drüben, unmittelbar hinter der Mauer.“

„Horchen wir.“

Sie kehrten an die Mauer zurück; sie horchten wieder lange; sie vernahmen nichts.

„Du hattest Dich geirrt. Die Bureaustunden sind längst vorüber. Es kann Niemand mehr da sein.“

„Sie werden hier wachen – die ganze Nacht. Der Landrentmeister mußte heute an der Casse sein; er mußte entdecken, daß das Geld fehlte –“

„Er hätte mir Anzeige machen müssen, mir zuerst; ich bin sein Chef. Nur von mir konnten die weiteren Anordnungen ausgehen.“

[636] „Wenn er nun die Sache auf seine alleinige Verantwortung nahm, sie geheim hielt, um – ja, Herr, das Wort muß heraus – um den Dieb desto sicherer zu fangen?“

Der Präsident erwiderte ruhig:

„Zwei Nächte hinter einander stiehlt kein Dieb an demselben Orte.“

„Wenn er nun dächte, daß der Dieb sich darauf verließe?“

Der Greis antwortete nicht. Jene Wuth war wieder über ihn gekommen.

„Wir hören nichts. Du hattest Dich geirrt. Horchen wir noch einmal. Dann an’s Werk!“

Sie horchten noch einmal. Um sie her blieb die tiefste Stille.

„Fassen wir an,“ sagte der Präsident.

Sie faßten den Stein an, auf dem ihre Hände sich schon einmal begegnet waren. Er lag in der Mitte der Mauer, in der Brusthöhe der beiden Männer. Er war viereckig und maß zwei Fuß und mehr im Gevierte. An seiner linken Seite war seine Kante in auffallender Weise abgerundet; dadurch zeichnete er sich vor den andern Steinen der Mauer aus. In dieser war dadurch eine kleine Lücke gebildet. Dennoch schien er in der starken Mauer fest eingefugt zu sein.

„Schiebe Du dort, ich halte hier,“ sagte der Präsident zu dein Diener.

Er stemmte sich mit der Schulter gegen die rechte, scharfe Kante des Steins, daß er, wenn er lose lag, auf dieser nicht weichen konnte. Der Diener drückte mit der Kraft seines ganzen Körpers auf die linke, abgerundete Kante. Der Stein wich hier in die Mauer hinein, nur langsam, kaum einen Zoll breit. Der Diener wiederholte den Druck; der Stein wich weiter, aber immer langsam. Der alte Mann machte eine Pause, um neue Kräfte zu sammeln.

„Er ist wie eingerostet,“ sagte der Präsident während der Pause. „Seit zweihundert Jahren hat Niemand mehr von ihm gewußt; vielleicht noch länger nicht. Die alte Handschrift, in der ich von ihm las, war vierhundert Jahre alt. Sie lag unter handdickem Staube in dem Propsteiarchive. Ich fand sie durch Zufall, schon als Knabe, und behielt den Fund für mich. Der Stein war auch für die Mönche ein Geheimniß gewesen; nur der jedesmalige Propst hatte Kenntniß von ihm. Welchen Zweck er hatte? Zur Ehre Gottes, sagte das alte Document, zur Ehre Gottes solle der Propst –“

„Still, Herr!“ rief leise der Diener.

„Was giebt es?“

„Es war mir, als hörte ich etwas.“

Sie schwiegen Beide, aber sie hörten nichts.

„Du irrtest Dich,“ sagte noch einmal der Präsident. „Setzen wir unsere Arbeit fort.“

Sie setzten ihre Arbeit fort, mühsam unter keuchendem Athem. Der Stein war schwer; er konnte nur auf einer Seite geschoben werden, und nur in schiefer Richtung. Endlich war eine Lücke da, nur eine kleine, man konnte nur mit der senkrecht gehaltenen Fläche der Hand hinein reichen. Aber die Lücke durchdrang die ganze Tiefe der Mauer.

„Es ist drüben dunkel!“ sagte der Präsident.

„Wird man uns leuchten, wenn man uns fangen will?“

Der alte Diener sprach es für sich. Sie arbeiteten weiter. Der ganze Stein war nach und nach gewichen, zur Seite schief in die Mauer hinein. So war eine Oeffnung entstanden, durch welche ein Mensch in den Raum jenseits der Mauer gelangen konnte; er mußte sich freilich hineinlegen und konnte so nur hindurch kriechen. Herr und Diener machten, als die Oeffnung da war, unwillkürlich eine Pause. Sie mußten sich ausruhen und mußten noch einmal horchen. Sie sprachen kein Wort; sie hörten nichts. Der Präsident bewegte sich zuerst wieder. Er wollte sich in die Mauer legen. Der Diener hielt ihn zurück.

„Lassen Sie mich hinein, Herr!“

„Du fürchtest noch immer einen Hinterhalt?“

„Herr, es muß heute ein Unglück kommen.“

„Und da willst Du es auf Dich nehmen?“

„Ja,“ sagte der alte Diener entschlossen.

Der Präsident sann einen Augenblick nach.

„Nein!“ rief er dann.

„Herr, Sie haben heute Ihr Kind begraben!“

„Schweig’!“

Der Präsident legte sich in die Maueröffnung. Aber er brachte nur seinen Oberkörper hinein. So konnte er mit der Hand durch die Mauer langen, weit hinein in das undurchdringliche Dunkel auf der anderen Seite. Er that es, aber zögernd, fast nur zollweise, wie der Stein gewichen war, als wenn er fürchtete, mit jeder Linie weiter werde ihm die Hand plötzlich ergriffen, festgehalten. Nichts berührte ihm die Hand. Er wurde sicherer und tastete mit der Hand zur Seite. Er erreichte etwas. Er faßte es, er hob es auf. Die Hand wog es. Er hatte gefunden, was er suchte.

„Nimm an,“ sagte er zu dem Diener.

In die Hand des Dieners glitt eine große, schwere Goldrolle. Er legte sie neben sich unten an der Mauer nieder. Den Präsidenten schien wieder jene krankhafte Heftigkeit ergriffen zu haben.

„Ah,“ rief er. „Die Luft ist rein. Ich sagte es. Jetzt rasch, rasch!“

Er brachte Arm und Hand zum zweiten Male in die Oeffnung und langte wieder hindurch. Die Hand brauchte nicht mehr zu suchen. Sie fuhr nach der Stelle, an der sie die erste Rolle gefaßt hatte und wo noch viele lagen. Er nahm eine zweite und wollte die Hand zurückziehen. Es war unmöglich – er wurde gehindert.

(Fortsetzung folgt.)




Bilder aus dem Thiergarten.
Von Brehm.
Nr. 8. Der Baumeister unter den Thieren.


„Das Thier hat auch ein Schicksal. Es hängt dasselbe ab von seinem Verhältniß zur Natur und den natürlichen Umgebungen, zu dem Menschen, wenn es mit ihm in Verkehr kommt, zum Theil auch von sich selbst.“ So sagt Scheitlin, der warme Thierfreund, ich möchte sagen, der Thiere Bruder, zu dessen köstlichem Werke ich immer und immer wieder greife, wenn mich die öde Weisheit Derer geärgert, welche im Thiere nun einmal nur einen Gegenstand sehen. Gewiß hat das Thier ein Schicksal! Oder ist es kein solches, fort und fort befehdet zu werden von einem rücksichtslosen, unbarmherzigen, unmenschlichen Feinde, welcher sich aber gerade Mensch nennt; ist es kein Schicksal, alle Waffen und Mittel, auch die erbärmlichsten und niederträchtigsten, gegen sich angewendet zu sehen; nicht blos einen ehrlichen Kugeltod fürchten zu müssen, sondern auch feigen, gemeinen Meuchelmord, Giftmischerei z. B. oder die verrätherische Schlinge, die tückisch gestellte Falle?

Ich weiß, daß der Mensch ein Recht hat, sich gegen die Uebergriffe der Thiere zu wehren, bedauere aber doch alle, welche er verdrängte, und am innigsten eines von ihnen, welches mir, als ich noch ein vielfachen Unfug stiftender Knabe war, wegen der vortrefflichen Ausnutzung seines kleinen Gehirns, so oft zum Muster aufgestellt wurde. Ich meine den Biber, der mir in Raff’s Naturgeschichte seine Geschichte so erbaulich erzählte. Mit den Jahren lernte ich wohl auch die Quellen der erwähnten Naturgeschichte kennen – über den Biber und sein Leben aber doch recht wenig dazu. In der kaiserlichen Menagerie zu Schönbrunn sah ich einen Holzhaufen, unter welchem zwei Biber stecken sollten, im Berliner Thiergarten einen künstlichen Biberbau, welchen man auch für ein großes gemauertes Waschbecken hätte halten können; ein Freund in Dessau benachrichtigte mich, daß sich in der Nähe von Wörlitz ein natürlicher

[637]

Die Biber-Burg im zoologischen Garten in Hamburg.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

[638] Biberbau befinde, und in Arendal in Norwegen wurde mir gesagt, daß Biber Dämme und Burgen erbaut hätten, diese jedoch bereits wieder vom Hochwasser weggeschwemmt worden seien. Dies war überhaupt Alles, was ich erfahren konnte, außer dem Einen, daß der Biber von Jahr zu Jahr seltener wird in Europa und in Amerika, daß er in Deutschland nur noch an höchst wenigen Stellen (bei Aaken an der Elbe, in Baiern, Oberösterreich und Böhmen) gefunden wird und auch hier nur durch die besondere Gnade der betreffenden Landesherren und strenge Jagdgesetze bisher vor der Ausrottung geschützt wurde, dieser aber trotzdem unaufhaltsam entgegengeht, obgleich der Waldfrevel, welchen er sich zu Schulden kommen läßt, so außerordentlich groß nicht ist und ihm eigentlich nur die leidige Gewinnsucht des Menschen zum Verderben gereicht.

Als ich meine Wirksamkeit am Hamburger Thiergarten begann, hatte ich noch keinen lebenden Biber gesehen, hatte auch wenig Hoffnung, einen Biber einst unter die Zahl meiner Pfleglinge aufnehmen zu können. Ein Versuch, das werthvolle Thier aus Anhalt zu erlangen, schlug, wie ich kaum anders erwartet, fehl, und auch die Bemühungen wohlwollender Freunde des Gartens, diesem Biber aus Amerika zuzuführen, wurden lange Zeit nicht von Erfolg gekrönt. Ich war wirklich überrascht, als mir einer unserer umsichtigsten Thierhändler telegraphisch meldete, daß „soeben“ vier amerikanische Biber mit dem Postschiffe in Bremen angekommen seien. Eine Stunde später waren die Thiere trotz ihres hohen Preises gekauft und am nächsten Tage schon in unserem Besitz. Wenige Wochen später wurden dem Garten noch zwei Stück von Herrn M. L. Marcus in Altona zum Geschenk gemacht. Zwei erlagen den Beschwerden der Reise, die übrigen vier vergaßen binnen Kurzem sie und die Freiheit.

Da saßen sie vor mir, die Langersehnten, sichtlich erfreut, dem engen, innen mit Zinkblech ausgeschlagenen Reisekasten entnommen zu sein, und anscheinend noch glücklicher darüber, wiederum eine frisch abgeschnittene, saftige Weidenruthe entrinden und die bittere Schale anstatt des widrigen Schiffszwiebacks genießen zu können. Wie zierlich hielten sie die kunstgerecht abgeschnittenen Aststücken; wie sauber schälten sie, wie behaglich kratzten sie sich nach dem zu allererst genommenen, weil zumeist entbehrten Bade; wie merkwürdig stöhnten sie, und wie hübsch zernagten sie sofort die funkelnagelneue Badewanne, welche doch zu ganz anderer Bestimmung von dem gewerbkundigen Böttcher gefertigt worden war! Sie durften thun, was sie wollten: es wurde Alles verziehen; ich fand selbst den abscheulichsten Mißbrauch der vortrefflichen dunkelbraungelben Zähne allerliebst, mindestens höchster Beachtung und Theilnahme werth; denn auch die Handlungen der Thiere werden mit ungleichem Maße gemessen.

Nun galt es, zunächst einen geeigneten Wohnraum für die vortrefflichen Thiere herzurichten. Derselbe sollte allen Anforderungen, welche ein gefangener Biber zu stellen berechtigt ist, entsprechen, dem erfinderischen Kopfe des geschickten Baumeisters aber doch auch noch ein genügendes Feld lassen. Ein Wasserbecken, tief genug, daß der Winter seine Eisdecke nicht bis zum Grunde herab versenken könne, mehrere von den tiefsten Stellen beginnende, nach oben führende und frei ausmündende Röhren oder „Geschleife“ und feste, den Bibernägeln trotzende Wände schienen Bedingungen zu sein, welche erfüllt werden mußten. Der Boden unseres Gartens ist sandig, die Wand des Beckens mußte also mit einer hinlänglich starken Lehmschicht gedichtet, diese aber durch Concret versichert werden. Für Zu- und Abfluß des Wassers wurde gesorgt, ein genügend großer Raum um das Becken freigelassen, derselbe mit einem Gitter umgeben, dessen eiserne Sprossen man drei Fuß tief in den Boden trieb; Quergitter theilten die Behausungen der einzelnen Familien ab, und das Ganze war fertig.

Zwei Biber, welche bis zur Vollendung des neuen Geheges im Seehundsbecken Herberge erhalten hatten, waren gleich vom ersten Tage an bemüht gewesen, jeden abgeschälten Weidenzweig zur Herstellung eines Schlaf, Ruhe- und Schmollwinkels zu verwenden, die übrigen hatten sich lässiger gezeigt; demgemäß erhielten jene den größten und vortheilhaftesten Raum des Neubaues angewiesen.

Der Tag des Einzuges brachte unseren Thieren unzweifelhaft große Freuden, gleichzeitig aber auch schwere Sorgen. Das Gewässer befriedigte, die Geschleife erwiesen sich als mühelos zu begehende Wege, mehrere zur Verherrlichung des Einzugs eigens gepflanzte, saftstrotzende, ast- und blätterreiche Weiden versprachen die Arbeit der Zähne zu lohnen: aber die eigentliche Krone des Ganzen, das wirkliche Wohnhaus, die Burg mit der Aller Blicken verborgenen Kemenate, in welcher es sich so herrlich ruhen und träumen läßt – sie fehlte; die Biber sollten sich eben besagte Burg erbauen, damit jeder wissensdurstige Besucher des Gartens Gelegenheit bekäme, einen wirklichen, echten, unverfälschten Biberbau zu sehen, und Leutemann Veranlassung, ihn so naturtreu zu zeichnen, wie er es gethan.[1]

Unser Pärchen ging, nachdem die erste umfassende Besichtigung vorüber war, mit folgenschweren Entschlüssen schwanger. Es sprang am ersten Tage wenigstens ein Dutzend Mal in’s Wasser, tauchte ebenso oft unter und kam regelmäßig durch das eine Geschleife wieder zum Vorschein: –– hier mußte gebaut, verändert, Versäumtes nachgeholt werden. Sechs Weiden, darunter solche, deren Stämme die Stärke eines Mannsarmes hatten, lagen am nächsten Morgen gefällt am Boden; große Aeste derselben Holzart, welche als Futter dienen sollten, waren hin und her geschleppt worden; unmittelbar hinter der Mündung eines Geschleifes sah man ein tiefes muldenförmiges Loch in dem Boden, und hier lagen die regsamen Thiere, wahrscheinlich ermüdet von so vieler Arbeit. Gegen Abend wurde zunächst ein wenig gefressen, dann aber eifrig weiter gearbeitet, und so ging’s fort, bis die Burg ihrer ersten Anlage nach vollendet und nothdürftig eingerichtet war. Am eifrigsten wurde kurz vor Eintritt der ersten Kälte gearbeitet; während des Winters aber gab’s anderweitig zu thun. Im darauf folgenden Sommer schien hauptsächlich die innere Einrichtung besorgt zu werden; gegen den Herbst hin begannen auch die äußeren Arbeiten wieder.

Der Biber, welcher uns durch Raff’s Vermittlung erzählt, daß der Ruderschwanz auch als Schaufel und Kelle beim Bauen der Burgen und Dämme benutzt werde, hat uns belogen oder doch falsch berichtet. Allerdings wird ein so ausgezeichneter Schwanz auch ausgezeichnet benutzt, als Kelle aber dient er nicht. Das Aufführen einer Burg, also das Aufschichten des Reisigs und das Dichtmachen desselben mit Erde wird mit den Händen und mit den Zähnen besorgt. Ich will versuchen, die Arbeiten der Biber zu schildern, muß aber zuvörderst Einiges über Betragen und Gewohnheiten, Ernährung und Nahrungserwerb, Bewegungen und Begabungen unserer Thiere vorausschicken, da der Bau einer Burg nur dann ganz verständlich werden dürfte.

Die Stellung der Biber ist verschieden, im Ganzen aber doch wenig wechselvoll. Im Sitzen sieht das Thier, abgesehen von seinem Schwanze, wie eine große, plumpe Maus aus. Der dicke kurze Leib ruht mit dem Bauche auf dem Boden; von den Beinen bemerkt man kaum Etwas; der Schwanz ruht leicht auf dem Grunde. Um sich aufzurichten, drückt der in dieser Stellung sitzende Biber die Schwanzspitze gegen den Boden und erhebt sich nun langsam oder rascher, wie er will, ohne dabei einen der Füße zu bewegen. Er kann sich beinahe, aber nicht ganz senkrecht stellen und ruht dann auf Hinterfüßen und Schwanz so sicher, daß es ihm leicht wird, beliebig lange diese Stellung beizubehalten. Bei ruhigem Liegen und beim Schlafen wird der Schwanz unter den Leib geklappt und so den Blicken vollständig entzogen; das Thier kann sich aber auch jetzt ohne Anstrengung oder Gliederbewegung erheben und in den verschiedensten Lagen erhalten, beispielsweise, um sich zu kratzen – eine Beschäftigung, welche oft und mit ersichtlicher Behaglichkeit, nie aber hastig ausgeführt wird. Wenn er auf dem Bauche liegt, streckt er sich lang aus; wenn er auf der Seite ruht, rollt er sich. Beim Gehen wird ein Bein um das andere bewegt – denn der fast auf der Erde schleifende Bauch läßt einen raschen, gleichmäßigen Wechsel nicht zu – bei größter Eile werden Sätze ausgeführt, welche an Plumpheit die aller übrigen uns bekannten Landsäugethiere übertreffen und ein wechselndes Aufwerfen des Vorder- und Hintertheils hervorbringen, aber doch fördern.

[639] In das Wasser fällt der Biber nur dann mit Geräusch, wenn er geängstigt wurde, bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge gleitet er lautlos in die Tiefe. Im Schwimmen taucht er das Hintertheil so tief ein, daß das Wasser die Schwanzwurzel überfluthet, Nasenlöcher, Augen und Ohren, der Mittelrücken bleiben über Wasser; die Schwanzspitze liegt oft auf der Oberfläche auf oder ragt über sie empor. Er liegt auf den Wellen, ohne ein Glied zu rühren. Die Fortbewegung geschieht durch gleichzeitige, selten durch wechselseitige Stöße der Hinterfüße, unter Steuerung mit dem Schwanze, welcher jedoch niemals senkrecht gestellt, sondern immer nur ein wenig schief gedreht, oft aber in entsprechender Richtung kräftig stoßweise bewegt wird. Die Vorderfüße bewegt das Thier beim Schwimmen nicht. Bei raschem Eintauchen stößt der Biber mit seinen breitruderigen Hinterfüßen kräftig nach oben aus und schlägt gleichzeitig den Schwanz klatschend auf die Oberfläche des Wassers; dadurch hebt und dreht er den Hintertheil seines Leibes zu gleicher Zeit, taucht den Kopf ein und versinkt hierauf rasch in senkrechter Richtung. Er kann zwei bis drei Minuten unter dem Wasser verweilen, bevor ihn die Athemnoth zum Auftauchen zwingt.

Die Stimme ist ein schwacher Laut, welcher am richtigsten ein Gestöhn genannt werden möchte. Man vernimmt sie bei jeder Erregung des Thieres und lernt bald die verschiedene Bedeutung der ausgestoßenen Laute verstehen, da ihre Betonung, Stärke etc. genügenden Anhalt hierzu bietet.

Unter den Sinnen scheinen Gehör und Geruch obenan zu stehen; die kleinen Augen sehen ziemlich blöde aus, der Geschmack aber ist keineswegs verkümmert, wie man wohl zuerst annehmen möchte, und auch Gefühl kann dem Thiere nicht abgesprochen werden.

Ueber den Verstand und das geistige Wesen des Bibers kann man verschiedener Meinung sein: so viel wird man zugestehen oder anerkennen müssen, daß er innerhalb seiner Ordnung die höchste Stelle einnimmt. Nach kurzer Zeit fügt er sich in veränderte Umstände und bald lernt er, aus ihnen bestens Vortheil zu ziehen. Seine Bauten sind nicht kunstvoller als die anderer Nager, stets aber mit richtigem Verständniß der entsprechenden Oertlichkeit angelegt. Sein Betragen andern Thieren gegenüber ist unfreundlich, dem Menschen gegenüber mindestens zurückhaltend, aber er gewöhnt sich rasch an eine ihm anfänglich unangenehme Nachbarschaft und fügt sich der Herrschaft seines Pflegers, ohne sich jedoch Unbilliges gefallen zu lassen. Er leidet, daß ihn sein Wärter liebkost, geht auch gern zu ihm hin, begrüßt ihn förmlich, widersetzt sich aber jeder Gewaltthat, indem er den Rücken krümmt und die Zähne weist, im Nothfalle auch angreift. Daß Frauen und Kinder milden Herzens sind, haben unsere Gefangenen bald in Erfahrung gebracht: jetzt betteln sie, „aufwartend“ und stöhnend, alle vorübergehenden Frauen und Kinder um Zucker, Nüsse, Aepfel, Brod etc. an, nehmen das ihnen Vorgehaltene zierlich aus der Hand, halten es geschickt mit ihren Händen fest und führen es zum Munde, schlagen aber Den, welcher zu geben vorgiebt, jedoch nichts reicht, oder den, welcher neckt, auf die Finger.

Unsere Biber erscheinen in den Nachmittagsstunden außerhalb ihres Baues. Sie schwimmen zunächst einige Male in ihrem Becken auf und nieder, steigen dann an’s Land und schleppen sich einige Zweige herbei oder weiden. Unter den Zweigen, welche ihnen vorgeworfen werden, suchen sie sich stets die der Weiden zuerst aus. Sie packen einen Schößling oder ein Stämmchen an seinem dickeren Ende mit den Zähnen, heben den Kopf hoch empor und gehen vorwärts. Manchmal sieht es aus, als wollten sie die Last über den Rücken werfen; es geschieht dies jedoch niemals wirklich. Ist der Schößling leicht, so trägt ihn der Biber ohne Aufenthalt dem Ziele zu; ist die Last schwerer, so bewegt er sich absatzweise, indem er den aufgeladenen Ast mit einem kräftigen Ruck des Kopfes vorwärts zu bringen sucht. Astreiche Schößlinge werden vor dem Wegschleppen genau besichtigt und unter Umständen zertheilt, kleine, hindernde Aststummel weggeschnitten. Eingepflanzte oder eingesetzte Bäume und grüne Schößlinge werden stets gefällt. Der Biber setzt sich neben dem betreffenden Bäumchen nieder und nagt so lange in einer bestimmten Höhe ringsherum, bis der Baum zu Boden stürzt. Das Abschneiden eines drei Zoll dicken Stämmchens erfordert eine fünf Minuten währende Arbeit. Alle Bäume oder Aeste werden zuerst an’s Wasser geschleppt und erst später weiter verarbeitet; gegen den Winter hin werden ihrer so viele, als zu beschaffen sind, hier aufgespeichert.

Die hauptsächlichste Nahrung der Biber bilden Rinde und Blattwerk der verschiedenen Weidenarten und ihrer Verwandten; die Thiere nehmen aber auch frisches Gras zu sich. Sie weiden, indem sie einen Grasbüschel mit den Händen packen, zusammendrücken und so den Zähnen etwas Körperhafteres als die einzelnen Halme bieten. Das Weiden geschieht in plumper, das Abschälen der Rinde in höchst zierlicher Weise. Der Biber ist im Stande, den feinsten Zweig mit seinen Händen zu halten und beständig herumzudrehen oder, wenn derselbe noch weich, bezüglich eßbar ist, allgemach in den Mund zu schieben, und er schält so sauber, daß man auf dem entrindeten Zweige keine Spur eines Zahneindruckes wahrnimmt.

Nachdem die Biber alles gefällte Zweigwerk in’s Wasser geschleppt und entweder schwimmend oder auf einer seichten Stelle sitzend stundenlang geschält und gefressen haben, suchen sie die entrindeten Knüppel zusammen und tragen sie nach der Baustelle, um sie zu verarbeiten. Höchst selten schleppen sie einen dahin, welcher noch Rinde hat; geschieht es doch, so ziehen sie ihn, selbst wenn er bereits verbaut worden sein sollte, gelegentlich wieder hervor und fressen ihn nachträglich ab – „auf daß nichts umkomme“!

Von einer regelmäßigen Anordnung der Knüppel, welche verbaut werden, habe ich nichts bemerkt. Dem nothwendigen Bedürfniß wird allerdings in überlegter Weise abgeholfen – an eine Ordnung oder regelrechte Schichtung der Baustoffe denkt der Biber aber nicht. Einzelne Knüppel ragen mit einem Ende weit über die Wandungen der Burg vor, andere sind gänzlich mit Erde überdeckt. Diese liegen wagrecht, jene schief, andere senkrecht; es wird auch fortwährend geändert, verbessert, vergrößert.

Das mit Vorliebe behandelte und solche Vorliebe verdienende Paar unseres Gartens schaute sich zunächst ein muldenförmiges Loch am Ende des Geschleifes aus, bildete aus der losgekratzten Erde ringsum einen vor dem Geschleife besonders festen, hohen und dichten Damm und kleidete den Boden der Mulde mit langen, feinen Spähnen aus, welche zu diesem Zwecke eigens zerschleißt wurden. Nunmehr erhielt die Mündung des Geschleifes eine Decke aus Astwerk, sodann der hintere Theil der Dämme größere Höhe und hieraus ebenfalls ein Knüppeldach. Als dieses fertig, d. h. haltbar schien, ging’s an die Dichtung des Daches mit Erde. Die Knüppel wurden oder werden entweder im Maule oder, wenn sie leichter, mit den Händen herbeigeschleppt – im letzteren Falle laufen die Thiere auf beiden Hinterfüßen allein –, die Erde wird in verschiedener Weise, jedoch immer nur mit dem Maule und den Händen bewegt und ausschließlich mit letzteren verarbeitet. Fettige, lehmige Erde oder Rasen bricht der Biber ballenweise los, packt sie mit den Zähnen, drückt unten die Hände (mit dem Handrücken nach oben) dagegen und watschelt nun, auf den Hinterfüßen gehend, zeitweilig mit der einen Vorderpfote sich stützend, bedächtig der Baustelle zu; losere Erde, Sand z. B. gräbt er auf, scharrt ihn auf ein Häufchen zusammen, setzt seine beiden Handflächen hinten an dasselbe an und schiebt es nun vorwärts, oft zehn Fuß weit. Der Schwanz wird, ich wiederhole es, niemals als Kelle benutzt. Das Weibchen ist der eigentliche Baukünstler, das Männchen mehr Handlanger. Ersteres baut ungemein eifrig, letzteres, wenn es sich überhaupt dazu entschließt, langsam, faul und liederlich. Nur ein Paar errichtet sich eine Burg – ein einzelnes Männchen schichtet sich höchstens einen wüsten Haufen zusammen.

In dieser Weise erbaut sich der vielgerühmte Biber seine Wohnung. Ich bin mit aller Absicht so ausgeführlich geworden; denn ich weiß, daß hiervon in keiner Naturgeschichte eine auf eigene Beobachtung gegründete Beschreibung zu finden ist. Noch habe ich von unseren Gefangenen bei weitem nicht Alles erzählt; ich denke aber, daß sie mir wohl noch Stoff genug zu einem zweiten Aufsatze liefern werden, und diesen Stoff will ich den Lesern der Gartenlaube gewiß nicht vorenthalten.



[640]
Preußens militärischer Luther.
(Schluß.)


„Um den Verlauf der Dreysse’schen Gewehrversuche im Zusammenhange zu erzählen, soweit ich wenigstens damit bekannt bin, muß ich nochmals zum Jahre 1815 zurückkehren. Die preußische Regierung, die sich trotz des Friedensschlusses noch nicht am Ende der Kämpfe wähnte – hatte ja doch, wie weltbekannt, Oesterreich schon im Januar desselben Jahres, also noch vor Eröffnung des Wiener Congresses, einen Allianzvertrag mit England und dem Erbfeind Frankreich (!) gegen Preußen und Rußland zu Stande gebracht, um Preußen an der Geltendmachung seiner Ansprüche auf das ihm vor dem Kriege zugesagte Sachsen zu verhindern – und sich damals schon für den Krieg rüsten zu müssen glaubte, der über ein halbes Jahrhundert später im Jahre 1866 zum Ausbruch gelangte, requirirte von allen Seiten her Arbeiter, namentlich tüchtige Schlosser, zu schneller Wiederherstellung der in den beendigten Kämpfen unbrauchbar gewordenen Gewehre, später zur Umänderung derselben in Percussionswaffen. Auch an Dreysse erging eine Aufforderung, zu diesem Zwecke nach Erfurt zu kommen; er lehnte indeß zu Gunsten seines Bruders Rudolph ab, der auf diese Weise sich mit der Gewehrfabrikation näher bekannt machte und ihm später hierin sehr nützlich werden sollte. Er selbst beschäftigte sich inzwischen mit Herstellung eines Pauly’schen Hinterladungsgewehres, mußte es jedoch nach reiflicher Prüfung für Militärzwecke so völlig unbrauchbar finden, daß er von nun an alle weiteren Versuche in dieser Richtung einstellte. Von den hierauf folgenden neuen Experimenten, um zu dem Ziele zu gelangen, das er sich gesteckt, ist weniger bekannt geworden; nur soviel steht fest, daß, wie viele er auch vergeblich machte, er sich dadurch auch nicht einen Augenblick entmuthigen ließ.

Da mußte ein Zufall weniger seltsam, als derjenige, welcher Berthold Schwarz zur Erfindung des Pulvers führte, aber immerhin als ein Fingerzeig zu betrachten, mit welchem die Vorsehung unserm Dreysse zu Hülfe kam, diesen auf einem ganz anderen und, wie wir jetzt behaupten können, richtigen Weg leiten. Hier und da waren Sendungen von Zündhütchen, die durch Feuchtigkeit gelitten und unbrauchbar geworden, der Firma Dreysse und Collenbusch zurückgeschickt worden. Diesen Uebelstand zu vermeiden, kam Dreysse auf den Einfall, die Einwirkung von Feuchtigkeit auf die in den Hütchen befindliche Zündmasse dadurch zu verhüten, daß er diese letzten noch mit einem Blättchen Papier bedeckte. Dreysse erreichte dadurch gerade das Gegentheil, das Papier zog erst recht Feuchtigkeit an und verdarb die Zündmasse, und eine sehr bedeutende, auf diese Weise hergestellte Lieferung wurde als unbrauchbar der Fabrik wieder zur Verfügung gestellt. Das Kupfer war damals sehr theuer, der Rückgang dieser Lieferung für die Fabrik mithin sehr empfindlich; um das Kupfer schnellstens wieder zur Verwendung zu erhalten, nahm sich Dreysse, der durch seine falsche Speculation das Mißglücken der ganzen Lieferung verschuldet hatte, daher vor, die Hütchen von der verdorbenen Zündmasse zu befreien. Die Herausnahme der Zündpillen aus jedem Hütchen war aber sehr umständlich und zeitraubend. Dreysse beschloß nach kurzem Ueberlegen, die Zündmasse aus den Hütchen durch Explosion zu entfernen; nach mehreren ihn nicht zufriedenstellenden Versuchen kam er auf den Gedanken, mit einer Nadel die Hütchen durchstechen zu lassen, um dadurch die Explosion zu bewirken. Das Experiment gelang vollkommen. Fast blitzartig erfaßte nun Dreysse die Idee, die Nadel überhaupt zur Zündung der Patronen zu verwenden; nicht minder rasch folgte der zweite Gedanke, der unsern Dreysse schon lange Jahre verfolgt hatte, den Zündungsproceß von außen nach innen zu verlegen, das Kupfer des Hütchens, das an und für sich theure Herstellungsmaterial, gänzlich wegfallen zu lassen und die Zündpille einfach der Patrone einzuverleiben. Das war der erste große Schritt, welcher zu unserm heutigen Zündnadelgewehr geführt hat. Rasch machte sich Dreysse jetzt an die Arbeit und mit Beginn des Jahres 1829 wurde das erste Zündnadelgewehr fertig.

Von der Wichtigkeit seiner Erfindung überzeugt, beeilte sich Dreysse, dem Kriegsministerium in Berlin sein neues Zündnadelgewehr einzureichen, das freilich, wie nicht unerwähnt bleiben darf, noch von vorn geladen werden mußte. Man prüfte in Berlin die Waffe, ließ derselben auch alle Anerkennung widerfahren, gab aber Dreysse nach Verlauf von etwa zwei Monaten den Bescheid, daß man das Gewehr für Militärzwecke nicht anwendbar gefunden habe, weshalb es ihm freistehe, nach Belieben darüber zu verfügen. Gleichzeitig wurde unserm Dreysse als Trost für diese Ablehnung auf die Dauer von zehn Jahren die eigenthümliche Construction der Waffe für den Bereich des preußischen Staates patentirt. Hiernach blieb ihm nichts weiter übrig, als sich mit seiner Erfindung an das Ausland zu wenden. Er frug bei Oesterreich an, aber noch schlimmer, als in Berlin, erging es ihm in Wien; der österreichische Gesandte in Berlin schickte ihm sein Modell mit dem Bemerken zurück, daß man keinen Gebrauch davon machen könne, – ‚in Wien gäbe es auch gescheidte Leute‘. Nun, die Oesterreicher,“ fügte mein freundlicher Erzähler hinzu, „sind hart genug für ihren Hochmuth bestraft worden und haben die praktischen Erfolge des Zündnadelgewehrs zu ihrem Schaden in diesem Jahre an sich selbst kennen lernen und erfahren müssen.

Fast wäre es übrigens den Preußen nicht anders ergangen, die Sache hing, wie man zu sagen pflegt, an einem Haare; schon stand Dreysse mit der dänischen Regierung wegen seiner Erfindung in Unterhandlung, als plötzlich und unerwartet von Berlin die Aufforderung an ihn erging, sein Gewehr nochmals einzureichen. Ein merkwürdiger Zufall hatte dazu Veranlassung gegeben. Der Großherzog von Weimar hatte bei Gelegenheit von der Dreysse’schen Zündnadelwaffe Kenntniß erhalten und sich in Sömmerda ein Jagdgewehr mit der neuen Construction anfertigen lassen. Der damalige Prinz Wilhelm von Preußen, unser jetziger König, hörte bei einem Besuche in Weimar (es war noch in demselben Jahre 1829) von dem Gewehre sprechen und der Großherzog beeilte sich, unter Herbeischaffung des in seinem Besitz befindlichen Gewehrs, dem Prinzen die Beachtung dieser Erfindung angelegentlichst zu empfehlen. Fast zu derselben Zeit fand Dreysse einen warmen Fürsprecher in dem damaligen Capitän im zwanzigsten Infanterie-Regiment von Prim, der bei einem Durchmarsch seines Bataillons durch Sömmerda Dreysse und seine neue Waffe kennen lernte und sich lebhaft für die ihm sehr beachtenswerth erscheinende Erfindung interessirte. Der tüchtige Officier machte seine Vorgesetzten, besonders den General von Thiele, auf die neue Waffe und deren Vortheile für Militärzwecke aufmerksam; so erhielt der damalige Kriegsminister von Hake von zwei Seiten her, durch den Auftrag des Prinzen von Preußen und die Empfehlung Prim’s, resp. Thiele’s, dringende Veranlassung der Dreysse’schen’ Schöpfung seine Aufmerksamkeit zuzuwenden und Dreysse zur nochmaligen Einreichung seines Gewehrs aufzufordern.

Die Sache begann jetzt Aufsehen zu erregen. Der Flügeladjutant General Neumann, und der derzeitige General-Adjutant des Königs, nachmaliger Kriegsminister von Witzleben, lernten durch die Bemühungen Prim’s das Gewehr kennen und nahmen sich desselben mit großer Theilnahme an, so daß endlich Dreysse vom Kriegsministerium den Auftrag erhielt, eine Anzahl Cylinder- und Traubengewehre, wie damals das Dreysse’sche Gewehr nach der Form der Kammer genannt wurde, anzufertigen. Dies geschah und die gelieferten Gewehre wurden besonders dazu ernannten Commissionen in Glatz, Graudenz und Erfurt überwiesen. Dreysse sandte zu diesen Prüfungen technische Beiräthe und mit der Handhabung des Gewehrs vertraute Männer nach Glatz und Graudenz ab, während er den Prüfungen in Erfurt selbst beiwohnte. Diese Prüfungen zogen sich bis zum Jahre 1834 hin, da die Gewehre allerdings noch mancherlei Uebelstände und Mängel besaßen, die namentlich hinsichtlich ihrer Verwendung für Militärzwecke sehr in’s Gewicht fallen mußten.“

„Die Commission selbst,“ nahm mein freundlicher Erzähler nach einer kurzen Pause wieder das Wort, „bestand meist aus tüchtigen und vorurtheilslosen Männern. Dagegen gab es viele höhere Militärs, die den alten Zopf nicht los werden konnten und jede Neuerung mit Mißtrauen begrüßten. Da war unter Andern ein hochgeborener Prinz, der von dem schnellen Abfeuern eine übermäßige Erhitzung und das Springen des Gewehres befürchtete; ein alter General hatte allerlei Bedenken [641] von wegen unnöthiger Munitionsverschwendung, ein Dritter wollte überhaupt aus Bequemlichkeit von der ganzen Geschichte nichts wissen und war über die Frechheit empört, daß ein Civilist sich mit solchen Dingen befaßte. Kurzum, die Mehrzahl rieth dringend von der Einführung der Zündnadelgewehre ab und warnte sogar vor den gefährlichen Versuchen mit diesen Waffen. Der gute Dreysse befand sich während der ganzen Zeit in der höchsten Aufregung und litt, wie er oft selbst eingestanden, wahre Folterqualen. Dennoch verlor er nicht den Muth, da er von der Trefflichkeit seiner Erfindung so fest wie von der Wahrheit des Evangeliums überzeugt war. Er schlief keine Nacht und auch am Tage fand er keine Ruhe, bis er alle ihm gemachten Ausstellungen glücklich beseitigt hatte. Die Prüfungs-Commissionen in Graudenz, Glatz und Erfurt wurden endlich wieder aufgelöst, ohne daß damit für das Gewehr Dreysse’s ein weiteres Resultat hatte erreicht werden können.

Dreysse’s neues Zündnadelgewehr.

Die meisten Uebelstände der Waffe, welche gerügt worden waren und sich der Annahme des Gewehrs von Seiten des Ministeriums hartnäckig und mit einem gewissen Rechte entgegengestellt hatten, ließen sich auf die bei dem Gewehr noch vorhandene Vorderladung zurückführen. Dadurch wurde Dreysse auf den schon früher hartnäckig verfolgten Gedanken zurückgeleitet, die Herstellung eines von hinten zu ladenden Zündnadelgewehrs zu versuchen, wobei der Ladestock ganz entbehrlich und die Ladung des Gewehrs höchst vereinfacht würde, und im Jahre 1836 wurde es ihm nach den verschiedensten mühevollsten Versuchen möglich, dem Kriegsministerium sein erstes von hinten zu ladendes Zündnadelgewehr vorzulegen.

Inzwischen hatte Dreysse auch der Vervollkommnung der Zündmasse ununterbrochen seine Aufmerksamkeit zugewendet und es war ihm gelungen, jene eigenthümliche Mischung, die, wenn auch nicht in ihren Bestandtheilen, so doch in dem Verhältniß der Theile noch immer ein Geheimniß ist, zu finden und damit alle von ihm selbst an die Zündmasse gestellten Anforderungen erreicht zu sehen.

Noch bevor das Ministerium über die ihm überreichte neue Waffe hatte zur Entscheidung kommen können, hatte Dreysse unter Hinzufügung einiger weiteren Verbesserungen und Veränderungen mehrere Gewehre dieser Construction anfertigen lassen, und der zufällig in Sömmerda weilende Major von Eberstein, der mit diesem Gewehre selbst einige glückliche Schießversuche auf sechshundert Schritt Distanz gemacht, nahm zwei solche Gewehre mit nach Berlin. Der Kriegsminister von Witzleben war damals krank und übertrug dem Major (nachmaligem Reichskriegsminister) Pencker die Prüfung der Waffe. Die Schießversuche wurden im Garten des Ministers in Gegenwart verschiedener Militärs, seines Spandauer Gewehrfabrikanten und anderer Personen vorgenommen. Rudolph Dreysse war wie immer der Schütze. Als derselbe sich zum Schießen rüstete und die erste Patrone in die von hinten geöffnete Kammer legte, riß Alles aus, weil man bestimmt ein Zerspringen des Gewehres erwartete. Nach zehn Schüssen, die sämmtlich in’s Schwarz der Scheibe trafen, trat man neugierig näher; Schuß auf Schuß folgte, der Zieler sagte stets Schwarz an. Stoff, der Spandauer Gewehrfabrikant, der erklärlicherweise sehr eifersüchtig auf das Gewehr werden mußte, zum Theil wohl auch ungläubig war, warf dem Zieler vor, er passe nicht auf und klebe die Löcher der Scheibe nicht gehörig zu; er, Stoff, habe die Kugel hundertundfünfzig bis zweihundert Schritte vom Schützen entfernt aufschlagen sehen. Stoff hatte nicht ganz Unrecht, aber nicht die Kugeln, sondern die Spiegel waren aufgeschlagen. Stoff stellte sich nunmehr selbst an die Scheibe, wieder folgte Schuß auf Schuß, Treffer auf Treffer. Jetzt schossen auch die übrigen Herren der Reihe nach mit, zu ihrer Verwunderung trafen auch sie meistens. Rudolph Dreysse hatte noch zwölf Patronen übrig; er wurde gefragt, wie viel er in der Minute feuern könnte; er schoß fünf Schuß, fünf Treffer in der Minute. Wie er sich daran macht, die letzten sieben Schuß abzugeben, greift Stoff eine Hand voll Sand auf und wirft sie, als Dreysse sich anschickt zu laden, auf die geöffnete Kammer des Gewehrs, um damit nach seinem Dafürhalten den Beweis zu liefern, daß das Gewehr, wenn staubig geworden, seine Dienste versagen müßte. Doch noch sieben Schuß rollten hin, und noch sieben Mal hatte der Zieler Schwarz anzusagen – das Dreysse’sche Gewehr hatte sich glänzend bewährt! Rudolph Dreysse hatte mit seinem Zündnadelgewehr bei hundert Schuß einundneunzig Treffer geliefert!

Dieser Schießversuch entschied. Im Herbst 1840 befahl der König Friedrich Wilhelm der Vierte die Einführung des Zündnadelgewehrs. Zunächst sollten damit sämmtliche Füsilier-Bataillone bewaffnet werden; Dreysse erhielt Auftrag zur Anfertigung von sechzigtausend Gewehren und gleichzeitig wurde das Ministerium angewiesen, Dreysse die Geldmittel vorschußweise zu gewähren, deren dieser zur Erbauung einer großen Gewehr- und Munitionsfabrik bedurfte. Derart entstand im Laufe des Jahres 1840 die Sömmerdaer Gewehrfabrik, die im Herbst des nächsten Jahres in Betrieb gesetzt wurde.

Man hätte meinen sollen, Dreysse stehe nun am Ziele, allein dem war nicht so. Der gefährlichste Feind, den er zu überwinden hatte, war, seinem eigenen Geständnisse nach, die Gewohnheit, die das alte Percussionsgewehr nicht aufgeben mochte. Neid, Mißgunst und Cabalen kamen wohl auch dazu, und so wurden bald von Neuem viele Stimmen gegen die Dreysse’sche Erfindung laut. Das Kriegsministerium ordnete darum für 1846 einen großen Schießversuch in Spandau an; leider schien bei diesem ein eigenthümlicher Unstern über dem Zündnadelgewehr zu walten, indem gleich in den ersten Tagen viele Nadeln durch Verbiegen oder Zerbrechen untauglich wurden. Dreysse’s Gegner triumphirten, das Zündnadelgewehr wurde für nicht gut und unausführbar erklärt und der alte Mann erhielt bereits die Nachricht, daß man die angefertigten sechzigtausend Stück Gewehre nicht würde gebrauchen können und ihm als ‚alt Eisen‘ zur Verfügung stellen müssen. Da machte er sich selbst wieder auf die Beine nach Berlin und setzte wenigstens eine Wiederaufnahme der Versuche durch.

Bei allen diesen Schwierigkeiten und Verlegenheiten verlor jedoch Dreysse keinen Augenblick Vertrauen und Muth und legte damit das beste Zeugniß von seiner Charakterstärke ab, die trotz der schmerzlichsten Täuschungen und härtesten Prüfungen nicht wankte. Das Zündnadelgewehr hatte sich zwar später im badischen Feldzuge bewährt, demungeachtet war aber an maßgebender Stelle in Berlin noch immer kein definitiver Entschluß erfolgt, hatte daselbst noch immer nicht ein endgültiges Urtheil Platz greifen können. Der König sah indeß ein, daß hier etwas Bestimmtes geschehen müsse, die Bewaffnung des preußischen Heeres konnte nicht lange mehr Frage bleiben, zumal alle an Preußen angrenzenden, dessen Militäreinrichtungen mit wachsender Aufmerksamkeit verfolgenden Staaten sich für ein oder das andere der geltend gewordenen Gewehrsysteme definitiv entschieden hatten. Der König ordnete deshalb einen letzten großen Schießversuch für das Jahr 1850 an; gleichzeitig befahl derselbe, daß mit dem Dreysse’schen Zündnadelgewehr auch die übrigen bedeutenderen Gewehrsysteme zur Prüfung gelangen sollten. So kam der denkwürdige Schießversuch und Schießwaffen-Wettkampf theils in Potsdam, theils in Spandau zu Stande, dem der König in eigener Person beiwohnte und bei welchem die Waffen eines Thouvenin, Minié, Podewil, die Dornbüchse und der Schweizer Stutzen mit dem Dreysse’schen Zündnadelgewehr um den Sieg rangen. Dreysse entsandte zu diesem Kampf völlig zuverlässige Gewehre und sichere Schützen, unter denen wiederum sein Bruder, der inzwischen zum Oberrevisor ernannt worden war, hervorragte. Der Erfolg gab den Ausschlag: das Dreysse’sche Gewehr siegte mit dreiundneunzig Procent Treffer, einem Resultat, hinter welchem alle übrigen Waffen weit zurückblieben, ungerechnet der Vorzüge des Gewehrs durch Schnelligkeit des Ladens und Feuerns und durch die Fähigkeit, damit größte Distanzen nehmen zu können.

Das Schicksal des Zündnadelgewehrs war hiermit entschieden; der König befahl die Bewaffnung der gesammten preußischen Armee [642] mit dem Zündnadelgewehr, Dreysse erhielt den Auftrag größtmöglichster Erweiterung und Ausdehnung seiner Fabrik und ebenso wurde mit ihm ein Abkommen geschlossen, demzufolge der Staat berechtigt sein sollte, mehrere Gewehrfabriken auf eigene Rechnung zu bauen und zu betreiben. Das Zündnadel- und Hinterladungssystem wurde weiter auf die Büchse, den Carabiner, die Pistole, ja selbst den Revolver ausgedehnt, und die Sömmerdaer Gewehrfabrik hat von dem Tage ihrer Gründung an bis heute etwa vierhunderttausend Stück Schießwaffen aller Art nach dem System Dreysse’s geliefert. Daß Preußen mit der neuen Bewaffnung nicht allein ein specifisch preußisches, sondern ein allgemein deutsches Interesse verfolgte, wird am besten durch die Thatsache bewiesen, daß es allen jetzt im norddeutschen Bunde vereinigten Staaten Deutschlands das Zündnadelgewehr noch vor Errichtung des Bundes in die Hand gedrückt hatte. Hannover, Kurhessen und Nassau, welche sich gegen die Annahme des vortrefflichen Gewehrs aus kleinlichen Motiven gewehrt hatten, sind nicht mehr; Sachsen und Hessen-Darmstadt werden sich derselben nicht länger widersetzen können; der norddeutsche Bund wird zugleich ein Zündnadelgewehr-Bund sein.

Wie Dreysse von dem König von Preußen ausgezeichnet wurde, ist Ihnen natürlich bekannt. Sie würden indeß irren, wenn Sie glauben sollten, daß nunmehr die Dreysse’schen Bestrebungen einen Abschluß erhalten hätten. Der unermüdliche Eifer, die nie rastende Thätigkeit, der Drang zu schaffen hat in dem jugendlichen Greise fortgewirkt; verschiedene wichtige Erfindungen Dreysse’s haben die Trefffähigkeit und Sicherheit des Gewehrs erhöht, die Tragweite der Geschosse vergrößert; die Erfindung der Explosions- und Brandgeschosse folgt der Herstellung des vortrefflichen Langbleis; die speciell für die Festungen und deren Vertheidigung construirten von hinten zu ladenden Wallbüchsen und sogenannten Amusetten warten noch immer ihrer Anwendung und Erprobung. Heute steht der im nächsten Monat neunundsiebenzigjährige Mann im Begriff, Preußen ein neues Gewehr zu übergeben, um damit die Anstrengungen der europäischen Mächte, die, erschreckt durch die Wirkungen seines Zündnadelgewehrs, in schlechtverhehlter Furcht und mit unüberlegter Hast die massenhafte Fabrikation von Hinterladungsgewehren decretiren, um ein gutes Stück wieder zu überholen; heute will Dreysse durch seine neue Zündnadel-Doppelkanone dieselbe Revolution in der Artillerie hervorrufen, zu welcher er die Infanterien sämmtlicher europäischer Staaten genöthigt hat. Ich kann Ihnen über die neuesten Schöpfungen Dreysse’s nicht viel erzählen, wenigstens nicht viel Zuverlässiges; wollen Sie sich aber einen Begriff von der neuen Waffe Dreysse’s verschaffen, so begeben Sie sich morgen Nachmittag in die Nähe des Dreysse’schen Schießplatzes, der gleich hinter der langen Brücke über die Unstrut beginnt und sich bis zu der Weißenburg ausdehnt. Sie werden von Weitem sehr gut dort soviel sehen und erfahren, daß Sie auch Anderen davon einen, wenn auch mehr äußerlichen Begriff davon verschaffen können. Ein Mehreres ist auch um der Sache willen und gegenüber der Aufmerksamkeit unserer offenen Feinde und zweifelhaften Freunde für’s Erste nicht nöthig.“

Mein freundlicher Erzähler hatte mich nicht falsch berichtet; am nächsten Nachmittage fand ich Gelegenheit, Dreysse’s Schießversuche mit seinen neuen Waffen beobachten zu können. Zur Seite des Dreysse’schen Schießplatzes stehen einzelne Bäume und Sträucher; hier faßte ich Posto. Die kleine Cavalcade kam bald nach mir an und nahm glücklicherweise mir ziemlich gegenüber Stand.

Die Vorrichtungen zu den Schießversuchen, wie die vorbereitenden Unterredungen nahmen eine geraume Zeit in Anspruch; mir wurde dieselbe nicht lang. Mich fesselte die eigenthümliche Form und Gestalt der Waffen, unter denen ich deutlich zwei Gattungen von Handfeuerwaffen und zwei Gattungen von Kanonen unterschied, und mit der größten Spannung haftete mein Auge an der Person des mir bereits bekannten alten Herrn von Dreysse. In der Entfernung von tausend Schritt (wie ich nach Beendigung der Schießversuche erfuhr) wurde eine Scheibe postirt; ein noch jung aussehender Mann nahm eines jener wunderlichen Werkzeuge, von dem nur das Rohr eine entfernte Aehnlichkeit mit einer Schießwaffe verrieth, und bald sah ich den ersten Blitz, hörte den ersten Knall; zehn Schuß fielen schnell hintereinander. Bald stand, bald saß, bald lag, bald kniete der Schütze; sein linker Arm handhabte das Gewehr, der rechte Ellenbogen stützte dasselbe, die linke Schulter hielt die Waffe. Nach zehn Schüssen eine Pause; der alte Herr nickte zufrieden, der Schütze hatte in allen möglichen Stellungen auf tausend Schritt eine Scheibe von acht Fuß Breite und sechs. Fuß Höhe mit zehn Schuß zehn Mal getroffen; das Experiment wiederholte sich mehrere Male, jedesmal mit demselben Erfolg. Zuletzt mußte der Schütze Befehl zum Schnellfeuern erhalten haben, zehn Schüsse fielen rasch hintereinander und der Erfolg ergab acht Treffer; ich beobachtete die nächsten zehn Schüsse nach meiner Uhr, sie erforderten nicht mehr als einundeinviertel Minute. Das Gewehr wurde bei Seite gelegt, ein ähnliches, an dem ich nur ein stärkeres Rohr wahrnehmen konnte, wurde vorgenommen, die Scheibe gleichzeitig um etwa fünfhundert Schritt hinausgerückt. Das Schießen begann von Neuem; es mußten Explosions-Geschosse sein, mit denen geschossen wurde, denn nach jedem Schuß ertönte von der Scheibe her, die mir fast völlig unsichtbar war, ein eigenthümliches, starkes, einer Explosion ähnliches Geräusch.

Das war das neue Zündnadelgewehr Dreysse’s ohne Schaft und Kolben, ganz von Eisen, drei Pfund leichter und zwei bis drei Thaler billiger, das in der Minute acht Mal abgeschossen werden kann und auf tausend Schritt seinen Mann nicht fehlt; das war ferner die neue Zündnadelbüchse Dreysse’s, welche auf eintausendfünfhundert Schritt noch Geschütze zu demoliren, Munitionswagen in die Luft zu senden und mit einem in acht Theile sich theilenden Geschoß möglicherweise acht Mann kampfunfähig zu machen vermag. Statt Schaft und Kolben hat das Gewehr in gewundener Form einen Stoßstempel, dessen Schulterstück eine ähnliche, aber viel praktischere Form wie die Schweizer Hakenkappe hat, vermöge welcher das Gewehr fest an der Schulter des Schützen sitzt; dadurch ist das beschwerlichere und unsichere Schießen aus freier Hand beseitigt. Die rechte Hand des Schützen wird völlig frei und kann mit Leichtigkeit und größter Schnelligkeit von der Patrontasche zur Kammer, von der Kammer zum Drücker, vom Drücker wiederum zur Kammer wandern. Beim Laden wird das Gewehr nicht von der Schulter gebracht. Auch der Vorwurf leichten Verbrennens der Nadel, der zuweilen dem Zündnadelgewehr gemacht worden, ist bei der neuen Waffe unmöglich geworden, da der Mechanismus der Abzugsfeder ein fast gleichzeitiges Vor- und Rückspringen der Nadel bewirkt, so daß diese dem, wenn gleich von ihr selbst bewirkten, Explosionsproceß stets fern bleibt. Ueberdies ist das ganze Gewehr bis auf das Bajonnet und die Ladungseinrichtung der bequemen Handhabung wegen mit Leder überzogen.

Wieder wurde die Scheibe noch weiter hinausgerückt, die kleinste der Kanonen wurde vorgefahren; zu meiner Verwunderung erblickte ich jetzt zwei Rohre in einem Geschütz zusammen nebeneinander vereinigt. Zwischen den Rohren befindet sich eine Lafette, welche den Munitionskasten hält, zwischen der Lafette und den Rädern rechts und links je ein Rohr, hinter jedem Rohr nimmt nur je ein Mann sitzend Platz. Auf einen Griff und Ruck öffnet sich der hintere Theil des Rohrs, der Bedienungsmann greift je nach seinem Sitz mit der rechten Hand nach links oder mit der linken Hand nach rechts, wo eine Cartouche bereit liegt; so wie dieselbe weggenommen wird, rollt bereits längs der Lafette aus dem Munitionskasten eine Ersatz-Cartouche von selbst nach. Der Schütze rüstet das Kanonenrohr, er handhabt dasselbe wie ein Handgewehr nach rechts und links, nach oben und unten, die Rohre haben Circularbewegung. Der Kanonier legt sich immer fester in die seine Brust stützende, auf einem Stoßstempel befestigte Gabel, die wie sein Sitz mit Leder überzogen; ein Ruck, das Rohr steht fest, einen Augenblick darauf rollt der Schuß dahin, der Schütze ist unverändert auf seinem Platze sitzen geblieben, ein Rückstoß ist kaum wahrzunehmen gewesen. Gleich darauf ertönt vom zweiten Rohre der zweite Schuß und nun beginnt sich von dem einen Geschütz ein völliges Geschützfeuer zu entwickeln; die Schüsse folgen rascher und rascher, ich zähle endlich in der Minute acht Schuß, je vier auf jedes Rohr. Pausen treten nun ein, um die Resultate der Schüsse festzustellen und hier und da die Scheibe noch weiter hinauszusetzen; das ist Dreysse’s Zündnadel-Doppelkanone. Ein zweites Geschütz wird angefahren, dieselbe Construction, dieselbe Gestalt, dieselbe Handhabung; die Rohre des erstern waren ihrem Caliber nach den Dreipfündern, die des zweiten Geschützes den Sechspfündern ähnlich. Nach dem dritten Schuß allgemeiner Jubel. Ich blicke nach der Seite hin, wo das Ziel sich befinden muß, und entdecke Feuerschein. Ein aus einem [643] sechspfündigen gezogenen Rohr geworfenes Projectil hatte auf zweitausend Schritt Distanz eine eiserne geschmiedete Platte von zwei Zoll durchbohrt und das dahinter liegende Holzwerk entzündet; wenigstens wurde mir nach Beendigung des Schießversuches so von einem Manne der Bedienungsmannschaft erzählt.

Nach dreistündigem Schießen und Kanoniren endete der Schießversuch; Dreysse wandte sich zum Heimgange, die Truppe folgte mit ihren Geschützen. Ich näherte mich mehr und mehr und befand mich innerhalb der in die Stadt führenden Pappelallee dicht hinter den Geschützen, so daß ich völlig Gelegenheit fand, mir Gestalt und Form wie nähere Beschaffenheit der neuen Waffen und ihrer Construction zu merken. Die Figur des neuen Zündnadelgewehrs habe ich flüchtig abgezeichnet, Weiteres jedoch über diese Gewehre und Geschützes an dieser Stelle zu geben, halte ich zur Zeit für ungeeignet, wenn mich auch kein Versprechen, keine Verpflichtung bindet. Aber fragen mußte ich mich: wird der große Waffen-Reformator auf die Prüfung und Annahme seiner neuesten Schöpfungen wiederum so lange zu warten haben, wie auf die Einführung seines Zündnadelgewehrs? Wird man an der maßgebenden Stelle bald den Befehl geben, wieder einmal und mit Ernst dem alten Dreysse seine Aufmerksamkeit zuzuwenden? Möge das Wort bald fallen, damit Preußen der Vorrang der ausgezeichnetsten und besten Bewaffnung gewahrt bleibe!

Unter diesen Gedanken und Hoffnungen war ich mit der Truppe wieder an das Wohnhaus Dreysse’s gelangt. Die Waffen verschwanden rechts im Arsenale, links bog der muntere Greis in den Hof seines Wohngebäudes ein, warf noch einen Blick auf seine Blumen und zog sich dann in seine Gemächer zurück, um nach wenigen Stunden die Ruhe zu suchen, die einen Tag wie den andern um neun Uhr Abends beginnt und um fünf Uhr Morgens aufhört.

Den Vormittag hatte ich zu einer Besichtigung der Localitäten und Baulichkeiten der Fabrik benützt, soweit dies irgend möglich war. Die Dreysse’sche Gewehrfabrik besteht aus vier verschiedenen Gebäudecomplexen, die sich theils rechts, theils links der Unstrut erheben, an welcher die Stadt liegt. In dem einen, dem sogenannten Rohrhammer, wird das Rohr bis zum Einlegen in den Schaft fertig gemacht und ausschließlich mit durch Wasser und Dampf getriebenen Maschinen bearbeitet. Ebenso werden darin die Ladestöcke, Bajonnete, die Hülsen, wie überhaupt alle gröberen Arbeiten des Gewehrs angefertigt.

Ein anderer Complex begreift die Dreysse’s Wohnhaus umschließenden eigentlichen Maschinen-Werkstätten. In diesen Werkstätten werden alle in den verschiedenen Theilen der Fabrik benöthigten Maschinen angefertigt. In der Construction dieser Maschinen zeichnet sich namentlich der Sohn Dreysse’s, Commissionsrath Franz von Dreysse, ein hochgebildeter, leider aber etwas unzugänglicher Mann, aus, der, beiläufig bemerkt, schon seit vielen Jahren Geschäftsdirigent ist, nachdem Nikolaus von Dreysse sich lediglich den Betrieb und die Ueberwachung der wenigen Werkstätten vorbehalten hat, in welchen er seine Experimente leitet, seine neueren Erfindungen ausbildet. Die unscheinbare Werkstelle zu rechter Hand im Hofe des Wohngebäudes, der wir im Anfange unserer Erzählung Erwähnung gethan haben, sowie eine zweite Werkstelle auf der anderen Seite des Pfarrbeutels, bergen die gediegensten und geschicktesten Schlosser Deutschlands, Feiler wie Dreher. Sie sind Dreysse’s Lieblinge und erfreuen sich seiner besonderen Theilnahme, denn sie geben seinen Ideen und Gedanken Fleisch und Blut, oder vielmehr, da hier nur Stahl und Eisen in Betracht kommt, Form und Gestalt.

Endlich am nördlichsten Ende der Stadt, wiederum hart an der Unstrut, dehnt sich in einem mächtigen länglichen Viereck die sogenannte eigentliche Gewehrfabrik aus, die mit ihren zahlreichen Arbeitssälen, ihren vielen hundert Fenstern, durch welche die großartigsten Maschinen sichtbar werden, ihrem wahrhaft infernalischen Lärm, ihren Tausenden von Arbeitern beiderlei Geschlechts einen imposanten Anblick gewährt. Der Eintritt in die Gewehrfabrik ist gekrönten Häuptern versagt worden, wenn sie keinen von höchster Hand ausgestellten Creditbrief mitbrachten; kein Wunder und kein Aerger, daß auch mich der den Eingang bewohnende Cerberus freundlich, aber entschieden abwies. In diesem Theile der Gewehrfabrik werden alle übrigen Bestandtheile des Gewehrs, außer Rohr, Bajonnet und Ladestock, also die verschiedenen Theile der Kammer, die Beschläge und Ringe, der Schaft u. s. w. verfertigt.

Aus dem Hintergrunde blickt verborgen unter alten Bäumen und dichten Sträuchern ein seltsames Gebäude etwas unheimlich hervor, man kann zu ihm nur vermittels einer Bogenbrücke über die Unstrut gelangen; das ist die Munitionsfabrik Dreysse’s, der Ort, wo trotz der zahlreichen munteren Arbeiterinnen und der romantischen Lage der plötzliche Tod verborgen lauert. Eine nie schlummernde Aufsicht, nie aus den Augen gesetzte Vorsicht haben die früher öfter vorkommenden Explosionen zwar auf äußerst seltene Fälle beschränkt, aber immerhin bleiben die im Pulver, Antimon, Knallquecksilber schlummernden höllischen Kräfte der menschlichen Kraft überlegen und spotten aller zu ihrem Darniederhalten aufgewendeten Vorsichtsmaßregeln. Wer einen Begriff davon erhalten will, der beschaue sich nur die verstümmelten Gliedmaßen des trotz seines Alters und trotz der erlebten vielen Explosions-Campagnen noch sehr munteren Werkführers. –

Zum Schluß sei mir noch gestattet einen Scherz Dreysse’s zu erzählen, der mich am besten einer weiteren Schilderung seines Charakters überhebt, da er zur Genüge die Schlichtheit und Bescheidenheit bezeichnet, welche den Mann trotz aller ihm gewordenen Ehren keinen Augenblick im Leben verlassen.

Dreysse besitzt außer dem obenerwähnten Sohne noch zwei Töchter, von denen die ältere an den Oberst v. Besser verheirathet ist, die jüngere mit dem bei Königgrätz gefallenen Hauptmann v. Garczynski vermählt war. Nach Empfang der traurigen Botschaft hat sich die noch junge Wittwe mit ihren Kindern nach Sömmerda zu ihrem Vater zurückgezogen. Jeden Augenblick, den der alte Herr sich abmüßigen kann, bringt er nun bei der trauernden Tochter und den verwaisten muntern Enkeln zu. Eines Tages bittet die Tochter den Vater, ihr doch einen Schlosser herüberzusenden, der ihr ein verdrehtes Schloß des Secretairs repariren solle. Lächelnd antwortet ihr Dreysse: „Meine Tochter, wozu einen Schlosser? Das ist ja mein Fach.“ Spricht’s, nimmt den Schlüssel und nach wenigen Versuchen öffnet er mit Leichtigkeit das Schloß. Das war doch wohl derselbe Dreysse, der fünfzig Jahre früher von Paris zurückkehrte, um seinem Vater bei der Schlosserei zu helfen!




Erinnerungen aus dem deutschen Kriege des Jahres 1866.
Nr. 2. Bei Chlum.
Von Georg Hiltl.

Die Schlacht von Königgrätz war geschlagen; Tags darauf kam ich, wie schon früher erzählt, auf die Wahlstatt, auch dahin, wo das Gefecht am heftigsten gewüthet hatte, an die Höhe von Chlum. Es ist eine seltsame, drückende, unheimliche Stille, die über dem weiten Schlachtfelde am Tage nach dem Kampfe lagert. Die langen Reihen der ewig Stummen, die blutigen oder durcheinander geschichteten Knäuel, welche, aus getödteten Menschenkindern bestehend, sich in gewissen Zwischenräumen auf der zerstampften Ebene erheben, scheinen von unsichtbaren Mächten gehütet zu werden, die da jedes lebendige Wesen verscheuchen. Kein Vogel zwitschert hier in den Feldern, keine Grille hüpft umher, selbst der Wind, so dünkt es dem Beschauer, zieht hoch über die Gefallenen hinweg und nur zuweilen bewegt er einen Busch, der auf dem Hute eines Opfers nickt, oder er streift die Haare einer Leiche mit seinem Hauche. Oede – bleierne Ruhe überall. Ganz hoch in den Lüften kreisen einige Raubvögel, fern am Horizonte wirbelt ein Schwarm häßlicher Aaskrähen, nur dicht um die Leichen der gefallenen Krieger regt sich geschäftig, gleich unzählbaren, beweglichen und bewegten Punkten, die aus Myriaden bestehende Armee der Käfer, Ameisen und Erdspinnen. Das Gewürm wittert reiche Beute. Die Todten sind die Letzten, denen ihr Recht wird, zuerst, und so soll und muß es sein, sucht man die Lebenden zu retten. Mit Laternen und Fackeln wird gleich nach Beendigung des Treffens umhergespäht; was noch aufgefunden werden kann, wo noch ein [644] Athemzug das Leben verräth, eine matte Bewegung der Hand, des Hauptes bemerkt wird, das heben die sorgsamen Krankenträger der siegreichen Armee empor und bergen den Zerschmetterten in den schützenden Wagen, der, mit rothem Kreuze in weißem Felde geziert, alsdann mit seiner traurigen Last in die Lazarethe zurückkehrt. Wenn endlich jeder Theil des Schlachtfeldes sorgfältig abgesucht ist, dann schreiten die dunkel gekleideten Arbeiter heran.

Das letzte Quartier.
Originalzeichnung von A. Nikutowski.

Die unheimliche Stille wird unterbrochen durch das Geräusch von Wagen und Fußtritten. Hoch oben am Saume des Hügels, da, wo er sich mit dem Horizonte zu verbinden scheint, gewahrt man einen langen, dunklen Streifen, der sich um den kegelförmigen Berg windet und in die Ebene hinabläuft. Es sind theils größere, theils kleinere Fuhrwerke, aus Korbgeflecht oder plump gearbeiteten Leitern sind sie zusammengesetzt, einige Schütten Stroh bedecken den Boden des Kastens und darauf liegen übereinandergeschichtet die zur ewigen Ruhe Bestimmten. Welche grausigen Gestaltungen haben diese starren Körper angenommen! Wie verrenkt sind die Arme, wie schauerlich gespreizt oder gebogen die Beine! Sie starren zwischen den Sprossen des Leiterwagens hervor, hier und da nickt im Fahren ein blutiges Haupt aus dem Stroh, die Augen starren weit geöffnet, gläsern gequollen, in den Himmel, keine liebende Hand hat sie zugedrückt. Die Todten werden beerdigt! In langen Zügen nahen die Wagen und jene dunklen, beweglichen Reihen sind Todtengräbercompagnien. Wenige Minuten später machen sie alle Halt. Hier ist eine Stelle, wo das Verderben besonders gewüthet hat, und mit Kopfschütteln betrachten die an Grauen jeder Art gewöhnten Männer diese Stätte der Verwüstung.

Es ist der kleine Hohlweg, in dem auch ich eben stehe und der in die Ebene mündet; rechter Hand liegt auf einer Anhöhe das Dorf Chlum; oben auf dem Hügel, den sie soeben verlassen haben, ist das Logement sichtbar, hinter welchem die Verderben speienden Geschütze der Oesterreicher standen. Ein Theil der Arbeiter schwenkt links ab, in die Ebene hinein, und es beginnt nun eine ernste Verrichtung. „Antreten!“ schallt halblaut das Commando, die Männer stehen im Viereck um einen großen, freien Platz, sie nehmen [645] ihre Werkzeuge zur Hand, dann dröhnen die Schläge der Hacken und die Stöße der Spaten durch die Stille des Schlachtfeldes, auf und nieder bewegen sich die Werkzeuge, fast im Tacte graben sie die weite Grube – das „letzte Quartier“ der Gefallenen. Die Männer arbeiten schnell und mit einer gewissen Hast. Sie bauen diese letzten Wohnungen mit handwerksmäßiger Geschicklichkeit, aber doch scheinen sie sich besonders zu eilen und bald ist der große, tiefe Graben ausgehöhlt. Nun verschnaufen sie Alle ein wenig, sie lehnen auf ihren Spaten und wischen den Schweiß von der Stirn. Aus dem Hohlwege schaut die schauerliche Karawane, sie bringt Schläfer herbei das letzte Quartier zu füllen. Zwei Reiter geleiten den Zug. Sie sind frisch und wohlauf, ihre braunen Gesichter strotzen von Kraft unter der Husarenmütze hervor, und doch irrt das Auge trübe blickend über die Reihen hinweg, welche jetzt neben dem Rande der Grube gebildet werden; die Reiter sehen da Manchen, den sie gekannt haben, der noch vor wenig Stunden ihnen zurief und mit der Hand winkte. Diese Hand hängt nun zerschmettert herab, dieser Mund ist nun auf ewig geschlossen.

Langsam werden die Todten von den Wagen herabgehoben. Einige Männer in bürgerlicher Kleidung leiten im Verein mit den uniformirten Todtengräbern das ernste Geschäft. Diese Männer haben weiße Binden um ihre linken Arme gewunden und auf den Binden zeigt sich ein rothes Kreuz – es sind die Samariter des Schlachtfeldes, denn sie pflegen Freund und Feind, und wo sie nicht mehr pflegen können, da wirken sie für die Bestellung des letzten Quartiers und suchen zu erforschen, wer von den Freunden in dem feuchten Grabe ruht.

Die Todten werden nebeneinander geschichtet, sie liegen in doppelter Reihe, so, daß ihre Füße zusammenstoßen. Da ruhen sie, die vor wenigen Stunden noch so erbittert gegeneinander fochten, friedlich, still! Die Uniformen bilden einen scharfen Contrast. Die weiße Farbe der österreichischen Waffenröcke neben dem Dunkel der preußischen; graue Jäger neben blauen Dragonern, braune, schmerzzerissene Gesichter, umspielt von schwarzen Haaren, neben bleichen, ruhigen Antlitzen, welche blondes Haupt- und Barthaar einrahmt, der Italiener neben dem Pommern, der Czeche neben dem Märker – Alle hinein, Alle bereit, das letzte Quartier friedlich mit einander zu theilen.

Zuweilen tönt ein lautes, schmerzliches Geheul durch die Stille. Da tragen sie auf einer Bahre oder Karre zwei Leichen daher, die sie gefunden haben in dem schrecklichen Hohlwege vor Chlum. Diese stummen Männer lagen unter einem Busche, dessen Zweige in den Weg nickten; als sie vorwärts zum Kampfe schritten, die beiden Krieger, stießen sie hier zusammen, Keiner wollte, durfte weichen, und so entspann sich der Kampf. Es waren erbitterte, starke Gegner; die Patronen sind verschossen gewesen und die Wuth des Gefechtes hat Beide erfaßt, so wild und mächtig, daß sie es ohnedies verschmäht haben würden, Kugeln zu wechseln, darum nehmen sie die blanke Waffe zur Hand und fallen sich an. Ein verzweifelter Kampf beginnt, die Blätter des Gebüsches werden herabgeschlagen, die Männer ringen gegen einander, schon bluten sie aus vielen Wunden, endlich sinkt der eine nieder in den Sand. Noch einmal versucht er es, sich zu erheben, aber die Wunde ist tödtlich gewesen, das Eisen des Gegners hat zu gut den Weg zum Herzen gefunden – im Tode bricht das Auge und der Sterbende fällt zuckend in den Schatten des Gebüsches. Sein Gegner versucht sich zu halten, umsonst! auch ihn hat der Stoß des Gefallenen hart getroffen. Er will sich weiter schleppen, noch ist Rettung möglich, da kracht es über, neben, unter ihm, von dem Logement des Hügels sanft die verderbliche Granate, die Aeste des Busches splittern gleich Regen auf ihn hernieder und ein Stücklein Eisen, kaum einen Zoll lang, fährt durch die Brust – noch ein dumpfer Schrei, ein krampfhaftes Zusammenschlagen der Hände, dann bricht der Kämpfer zusammen und im Sturme vorwärts wankend, bettet er sich auf den Körper seines erschlagenen Feindes. Wieder eine convulsivische Bewegung, die Arme strecken sich, sie umklammern die Leiche des Gegners und so, das Haupt auf die Brust desselben gelegt, verscheidet der Sieger auf dem Besiegten. Als die Leichenträger den Hohlweg absuchen, finden sie die Beiden in starrer, grausiger Umarmung; über ihnen nicken die zerschmetterten Zweige des Gebüsches im leichten Morgenwinde, vor ihnen sitzt der große, braune Hund des Oesterreichers, der seinen Herrn endlich gefunden hat und nun das klagende Gewinsel um den Todten ausstößt, welches markerschütternd aus der Kehle eines Thieres zum Ohre des Menschen dringt.

„Wir wollen sie Beide zusammenbetten, wie wir sie gefunden haben,“ sagt der Unterofficier zu den Leuten mit ernster Stimme, und also geschieht es. Man trägt den Preußen und den Oesterreicher auf einer Bahre in die Grube, und der arme braune Hund sitzt traurig davor und winselt so lange, bis er seinen Herrn nicht mehr sehen kann, denn die Todtengräber schaufeln hastig die Grube zu, sie müssen oft genug den braven Hund verscheuchen, der immer wiederkehrt und die Erde aufscharren will. Endlich ist genug Sand darüber geworfen, unter demselben schlummern sie Alle, die in das „letzte Quartier“ gewiesen wurden. Nun beten die Todtengräber leise; ringsum ist es wieder still, nur die klagenden Töne des Hundes unterbrechen das Vaterunser. „Fertig,“ tönt das Commando, „links um,“ und von dem weiten Grabe hinweg schwenken die Arbeiter, um von Neuem das ernste Tagewerk an anderer Stelle zu beginnen. Als sie sich nach einer Weile umwenden, sehen sie den Hund auf dem Grabe sitzen, er hat seine Schnauze in den Sand gebohrt, seine langen Ohren hängen herab, der Schwanz schlägt den Boden, der den geliebten Herrn bedeckt. Kein Rufen vermag das treue Thier von der Stelle hinwegzulocken, und als die Patrouillen beim Scheine des Mondes über das Feld ziehen, erblicken sie den Hund noch in derselben Stellung. Er kann nicht zu seinem Herrn dringen, er hütet den Eingang zum „letzten Quartier“ des Gefallenen.




Dichters Abschied in der Fremde.


Der helle heitere Herbsttag, an welchem ich diese Zeilen schreibe, wird in der Geschichte der deutschen Colonie in London immer eine Art von Epoche bezeichnen und auch im Vaterlande drüben wird man sich seiner erinnern, so lange das Interesse für Poesie und politisches Märtyrerthum in den Herzen der heranwachsenden Generation einen Nachhall erweckt; es ist der Tag, an welchem Gottfried Kinkel nach sechszehn Jahren des Exils London verlassen hat, um dauernd nach dem deutschen Festland überzusiedeln. Allerdings kehrt er noch nicht in unsere engere Heimath zurück. Aber die langen Jahre der Verbannung sind endlich vergangen; die vor Kurzem erlassene Amnestie hat auch ihm die Heimkehr in’s Vaterland geöffnet, und wenn Kinkel jene Thätigkeit als Professor der Kunstgeschichte, die er im Jahre 1849 in Bonn abbrach, zunächst wieder in der Schweiz aufnimmt, so ist es doch klar genug, daß er damit nur den ersten Schritt auf die Brücke setzt, die ihn früher oder später wieder hinüberführen wird in die Mitte des deutschen Volkes. Die Landsleute drüben erwartet daher die angenehme Pflicht, den heimkehrenden Verbannten zu bewillkommnen; wir in London haben Abschied von ihm genommen – mit den herzlichsten Glückwünschen für seine Heimkehr und für die Zukunft, der er entgegengeht, aber auch nicht ohne ein tiefgefühltes Bedauern, daß er aus unserer Mitte scheidet. Denn mit ihm scheidet aus London die hervorragendste Gestalt der deutschen Emigration, ein Mann, um dessen Haupt wie um kein anderes die populäre Tradition einen idealen Schimmer gewoben hat, der wie kein zweiter neben ihm die doppelten Ansprüche des Dichters und des Volkskämpfers, des Mannes der Wissenschaft und der Freiheit in sich vereinigt. So verschieden die Urtheile auch über ihn lauten mögen, diesen frischen Zauber seiner Persönlichkeit haben weder die Schläge des Schicksals, noch die Angriffe offener und versteckter Gegner zu erschüttern vermocht, und kein anderes Mitglied der deutschen Emigration könnte einen weiteren Kreis aufrichtiger Freunde und Bewunderer in London zurücklassen, als Gottfried Kinkel.

Es ist nicht meine Absicht, von diesem Momente aus weit in die Vergangenheit zurückzugreifen. Ich will nur von Neuem [646] daran erinnern, wie unendlich schwer es für den Fremden ist, in einer Stadt wie London eine sichere und geachtete Existenz zu gründen, und welche beinahe unübersteigliche Hindernisse das rastlose Leben und Treiben und die gewaltigen Entfernungen der Metropole der Vereinigung einer größeren Anzahl von Landsleuten zu gemeinsamen Zwecken in den Weg stellen. Trotzdem war es Kinkel während seines Aufenthaltes in England gelungen, nach beiden Seiten unter der deutschen Emigration ohne Frage die erste Stelle zu erobern und zu behaupten. Als flüchtiger Verbannter, der englischen Sprache unkundig, beinahe mittellos, kam er vor sechszehn Jahren mit seiner Familie in London an und mitten in dem Gewühl der Hauptstadt ergriff ihn sofort der Strudel jener gährenden politischen Kreise, die noch Jahre lang ihre Kräfte in fruchtlosen Plänen zur Erneuerung der gescheiterten festländischen Revolution vergeudeten. Diesen Kreisen kehrte er, unbekümmert um die daraus erwachsende gehässige Nachrede, bald den Rücken. Er sah die Erfüllung der nächsten Pflichten gegen seine Familie, die Gewinnung eines festen Bodens der Heimath in der Fremde vor sich und männlich entschlossen ging er ohne Verzug an die schwere Aufgabe. Wie erfolgreich er sie löste, wie er als Lehrer und Examinator der deutschen Sprache und Literatur, der Geographie und der Kunstgeschichte in Privat- und öffentlichen Anstalten, in literarischen und philosophischen Instituten, nicht blos in London, sondern in allen Hauptstädten Englands Ansehen und Freunde erwarb; wie er durch unermüdete Arbeit sich eine schöne Häuslichkeit gründete und die Mittel zur Erziehung seiner Kinder eroberte, ist auch im Vaterlande bekannt, obgleich nur Kinkel’s persönliche Freunde seinen eisernen Fleiß und die wahrhaft herculischen Mühen seiner Arbeit nach ihrem wahren Werthe zu würdigen im Stande waren. Erst während der letzten Jahre gelang es ihm, das Uebermaß dieser Arbeit abzustreifen und sich vorzugsweise auf die ihm am meisten zusagenden und am besten remunerirten Vorlesungen zu beschränken. Doch auch im rastlosen Gedränge der Beschäftigung verlor er selten die gute Laune und selten fehlte ihm, wenn es darauf ankam, das freundliche Wort der Ermuthigung, das laute helle Lachen geselliger Heiterkeit.

Während Kinkel mit der ihm eigenen Biegsamkeit und Gewandtheit die gegebenen Verhältnisse ergriff und sich in den englischen Zuständen so vollkommen heimisch machte, wie dies ohne Einbüßung seiner besseren Natur möglich war, verlor er zugleich die lebendige Beziehung zu den weiteren Kreisen seiner in London angesiedelten deutschen Landsleute nie aus den Augen. Schon um die Mitte der fünfziger Jahre hielt er unentgeltlich politische Vorlesungen in den Londoner deutschen Arbeitervereinen. Später versammelte er von Jahr zu Jahr ein den höheren Ständen angehörendes gemischtes Publicum zu seinen Cursen über neuere deutsche Literatur in Islington und Camberwell. Der „Hermann“, die einzige deutsche Zeitschrift in London, die sich einiger Dauer und einiges Einflusses rühmen könnte, verdankt ihm ihre Entstehung. Die Leitung des Londoner Nationalvereins war mehrere Jahre in seinen Händen und wenn es galt, so fehlte ihm nie die Muße, das frische Leben der deutschen Turnhalle bei festlichen Gelegenheiten durch seine Vorträge zu veredeln und anzuregen. Sein letztes Werk endlich war die Gründung der „Londoner deutschen Gesellschaft für Wissenschaft und Kunst“, eines Vereines, welcher die tüchtigsten deutschen Gelehrten, Künstler und Kaufleute einmal monatlich zu Vorlesungen und Discussionen versammelt und von dem Kinkel zwei Jahre hindurch einstimmig zum Präsidenten ernannt wurde. So hatte er denn bis in die jüngste Zeit nach allen Richtungen leitend und fördernd an der Entwicklung des deutschen Lebens in London Theil genommen und als die Nachricht sich verbreitete, daß der Ruf nach Zürich von ihm angenommen sei, gab es kaum einen deutsch-londoner Kreis, der nicht mit Bedauern von einem Ereigniß hörte, welches Kinkel aus seiner Mitte entfernen sollte.

Von den innerhalb dieser Kreise stattgehabten Abschiedsfeierlichkeiten will ich nicht reden. Wenn es noch eines Beweises für jene Gefühle der Freundschaft und Anerkennung bedurfte, so lieferte denselben das vorgestern Abend von der gesammten deutschen Colonie Londons veranstaltete Fest der „Kinkel-Feier“. Ein Comité zur Vorbereitung einer solchen Feier hatte sich, bald nachdem Kinkel’s Berufung nach Zürich bekannt wurde, unter dem Vorsitz des bekannten Ingenieur Siemens und Professor Goldstücker’s (von der Londoner Universität) gebildet. Man hatte beschlossen, Kinkel nach englischer Sitte ein substantielles Zeugniß des Andenkens darzubringen und dasselbe bei einem Festmahle zu überreichen. Für das beabsichtigte Geschenk wurden Unterschriften gesammelt und nahezu zweihundert Pfund Sterling gelangten in kurzer Zeit in die Hände des Comités. Eine prächtige Silbervase mit auf die Feier bezüglichen Reliefs und Inschriften, nebst einem großen Kasten voll Silberzeug, Beides von ebenso geschmackvoller wie reicher Arbeit, wurden ausgewählt. Das Festmahl war für den Abend des 27. September angesetzt. Auch englische Freunde hatten sich dazu gemeldet und etwa vierhundert Theilnehmer, Männer und Frauen, fanden sich von Abends acht Uhr an in dem Festlocal, dem großen Saale des Whittington-Club im Strand, ein. In der Mitte der einen Längenwand des hell erleuchteten Saales, von dem Hintergrunde einer rothbehangenen, mit Lorbeergewinden geschmückten Nische, glänzte die von unserm Landsmann Groß vortrefflich ausgeführte Marmorbüste des Ehrengastes. Auf der Tribüne über dem Eingang war die Musik stationirt; an der der Tribüne gegenüberstehenden Quertafel am andern Ende des Saales befanden sich der verdeckte Tisch mit den Geschenken und die für Kinkel und seine Familie reservirten Plätze.

Es war neun Uhr geworden, als die Flügelthüren sich öffneten und die Festprocession unter den Weisen des Siegesmarsches See, the conquering hero comes (Sieh, der Held und Sieger kommt) ihren Einzug hielt. Voran schritten Kinkel’s Kinder: Gottfried Kinkel Sohn, Adele und Hermann Kinkel, dann am Arme des Vorsitzenden, Herrn Siemens, Frau Kinkel, zuletzt Kinkel selbst. Ein lauter Beifallssturm begrüßte ihn, als er eintrat, und rauschte fort, bis er, sich nach allen Seiten verbeugend, seinen Platz am andern Ende des Saales erreicht hatte. Ich hatte ihn vor etwa zwei Monaten zuletzt gesehen und mir wollte es scheinen, als seien ihm seitdem Haar und Bart noch völliger gebleicht; aber die hohe Gestalt, die ungezwungen freie Haltung, der große, beinahe noch jugendlich schöne Kopf mit dem männlich offenen Ausdruck und den glänzenden, dunkeln Augen waren unverändert dieselben, wie ich sie so lange gekannt hatte. Eine Erscheinung wie diese müßte in jeder Versammlung auffallen, und indem Kinkel, von allen Augen gefolgt, unter lebhaftem Beifall den Saal durchschritt, schien es eben nur natürlich, daß er und kein Anderer der gefeierte Gast war.

Nachdem das reichbesetzte Festmahl vorüber und der Nachtisch aufgetragen war, erhob sich der Präsident und gebot Ruhe. Der erste Toast sollte ausgebracht werden – ein Toast auf das deutsche Vaterland. Der hierzu ausersehene Redner war Dr. Heß, ein Mitglied des Comités. Ich will an dieser Stelle im Allgemeinen bemerken, daß Seitens des Comités nach Art englischer Meetings eine Reihe officieller Toaste angeordnet war und daß diese Toaste, durch den Präsidenten verkündet, verabredetermaßen in kurzen Zwischenräumen einander folgten. Daß bei dem Toaste auf Deutschland vor Allem die durch den jüngsten Krieg bewirkte Revolution hervorgehoben wurde, bedarf keiner Bemerkung. Den lebhaftesten Applaus erntete eine Stelle zum Lobe der großen Thatsache, daß in Folge jener Ereignisse Deutschlands Schicksal mehr denn je in seine eigene Hand gelegt sei, daß fortan von einer Einmischung fremder Mächte in die deutschen Angelegenheiten keine Rede mehr sein könne.

Der Haupttoast des Abends war natürlich der Toast auf den Ehrengast Gottfried Kinkel selbst. Diesen Haupttoast auszubringen, war die Sache des Präsidenten Herrn Siemens, und er entledigte sich seiner Aufgabe mit so viel Geist und Tact, und was kaum minder wichtig, mit einer so volltönenden, weithin reichenden Stimme, daß seine Rede den einstimmigsten Beifall hervorrief und die festliche Stimmung auf das Glücklichste erhöhte. Im Einzelnen auf Herrn Siemens’ Rede einzugehen, würde hier zu weit führen. Es genügt, zu constatiren, daß sie den Versammelten die Lebensgeschichte Kinkel’s, seine Wirksamkeit in Bonn, seine politische Laufbahn, seine Gefangenschaft, seine Befreiung und endlich die Ereignisse der englischen Periode in großen Zügen vorführte und mit der Enthüllung und Ueberreichung der oben erwähnten Geschenke zu allgemeiner Befriedigung schloß. Kinkel erhob sich dankend, die Gläser wurden neu gefüllt, die Musik fiel mit lautem Tusch ein und ein dreifach donnerndes Hoch und der von Hunderten von Stimmen aufgenommene festliche Schlußgesang des „Hoch soll er leben!“ hallte durch den Saal wieder. Schon [647] vorher hatte der Gesangverein der deutschen Turnhalle zwischen den Toasten vierstimmige deutsche Lieder angestimmt und noch einmal trat jetzt dieser Männerchor zum Gesang zusammen. Aber man hörte ihm diesmal mit mehr Ungeduld zu, als sein vortrefflicher Vortrag verdiente. Endlich verhallten die letzten Töne, der Präsident gebot von Neuem Ruhe und – Gottfried Kinkel wurde als der nächste Redner angekündet. Die ganze Versammlung erhob sich nach diesen Worten, die in der Mitte des Saales Sitzenden drängten nach vorn, die Hintersten sprangen auf die Stühle und Bänke und lautlose Stille folgte dem Beifallsrufen, welches den Ehrengast begrüßte, indem er aufstand.

Er fing mit leisen weichen Tönen an und man fand es einen Augenblick schwer, seine Worte zu verstehen. Bald jedoch entdeckte man nicht ohne Ueberraschung, daß er englische Worte sprach. Um seiner alten englischen Freunde willen, deren er eine Anzahl ganz in seiner Nähe sah, so erklärte er, scheine es ihm nicht mehr als recht und billig, in der Sprache des Landes zu reden, das ihn mit so großer Gastfreundschaft aufgenommen und in dem er so glücklich gewesen. Seine Wirksamkeit als Lehrer hatte ihn vorzugsweise zu der englischen Damenwelt in Beziehung gesetzt und wie er diese so oft durch seine glänzende Beredsamkeit hingerissen, so spendete er den vortrefflichen Eigenschaften der englischen Frauen und Mädchen noch einmal in vollen Tönen ein Lob, welches in den Herzen, an die es gerichtet war, ohne Zweifel ein schönes Echo wachrief. Von seinem engeren Kreise ging er dann auf die Beziehungen zwischen England und Deutschland über. Die Mißstimmung der verflossenen Jahre, so hoffte er, werde jetzt verschwinden; Deutschland, seiner alten, kleinlichen Fesseln entledigt, gehe einer großen Zukunft entgegen und es gebe für England keine naturgemäßere und unüberwindlichere Allianz, als die mit einem einigen, freien Deutschland. Nun aber (und bei diesen Worten nahm Kinkel mit frischem Schwung die vaterländische Sprache auf), wolle er zu seinen deutschen Freunden auch Deutsch reden. Die Versammlung solle keine wohlgesetzte Rede von ihm erwarten. Er habe während der letzten Tage von einer langen ereignißschweren Vergangenheit Abschied genommen, Denksteine auf drei Gräber gesetzt, die er in England zurücklasse, eine vieljährige Correspondenz gesichtet und zum größten Theil verbrannt und das Gefühl des Scheidens ruhe schwer auf seiner Seele. Er wolle als Freund sprechen zu Freunden. Und der Anblick dieser großen, festlichen Versammlung, die ihm mit so viel Wärme und Herzlichkeit die Hand zum Abschied darreiche, stimme ihn auch wieder heiter und erfülle ihn mit Vertrauen auf seine Zukunft. Sie bestätige seinen Glauben, daß er bei aller Ueberzeugungstreue eine versöhnliche Natur sei, eine Natur, die es nicht verschmähe, mit Vielen demselben Ziele zuzuschreiten, so verschieden auch die Wege, die ihm entgegenführten. Unter den starren, schroffen Repräsentanten gewisser Parteien sei ihm deshalb mehr als ein Widersacher erwachsen. Er ehre die Wirksamkeit dieser Männer, er erkenne ihre Nothwendigkeit für die Entwickelung der Freiheit an. Aber andererseits glaube er auch das Zeugniß zu verdienen, daß er die Hand zur Versöhnung nie muthwillig zurückgestoßen habe. Auch in die Zukunft Deutschlands schaue er nicht mit dem Auge der Furcht und des Zweifels, sondern mit dem Blicke der Hoffnung. Ja, dieser Abend erfülle ihn mit der frohen Zuversicht, daß ihm selbst noch eine reiche Zukunft beschieden sei, und mit dem wärmsten Herzensdank an Alle, die ihn soweit theilnehmend auf seinem Lebenswege begleitet, rufe er den Freunden sein Lebewohl zu.

Dies ungefähr war der Gedankengang von Kinkel’s Rede. Der ernste Ton, worin er begann, wurde, je weiter er fortredete, von Blitzen des Humors und der Heiterkeit, von dem heitern Gelächter und dem lauten Beifall seiner Zuhörer unterbrochen und nachdem er geschlossen, drängte man sich von allen Seiten zum Handschütteln und Glückwünschen an das Ende des Saales. Hiermit war auch im Grunde das eigentliche Fest des Abends vorüber. Ein Toast auf die Schweiz, ausgebracht durch ein Mitglied des Comités, und ein in französischer Sprache gesprochener Gegentoast eines Schweizers, der Kinkel im Namen seiner Landsleute willkommen hieß und die Versammlung der lebhaften Sympathien der schweizerischen Republik für die durch Preußen angebahnte Wiedergeburt Deutschlands versicherte, hielten die Reihen der Versammelten noch in ziemlicher Ordnung an den Tischen. Dann erfolgte ein allgemeiner Aufbruch. Ich meinerseits hatte schon vorher einige Worte mit Kinkel und seiner Familie gewechselt und nahm nun zugleich von ihm und dem Festsaale des Whittington-Club Abschied.

Es war ein deutscher Abend in London, wie er nicht so leicht wieder wird gefeiert werden; der Schluß eines Dramas, von dem auch die Freunde im Vaterlande, die Kinkel während seiner Verbannung ein so lebhaftes Interesse bewiesen haben, zu hören sich freuen werden. Was auch der Gang seines künftigen Schicksals sein möge, in London wird er noch lange vermißt werden. Zum Schluß will ich noch erwähnen, daß Adele Kinkel, die sich als Musikerin, und Hermann Kinkel, der sich zum Ingenieur ausbildet, vorläufig in England bleiben, während Gottfried Kinkel jun. den Vater und die jüngern Familienglieder nach Deutschland hinüber begleitet.
Fr. Althaus.




Blätter und Blüthen.


Lebensmüde.[2] Am Nachmittage des 20. Juni d. J. war es, als sich in der an der Kreuzkirche gelegenen Wohnung des Advocaten J. in Dresden ein kleiner Kreis von Freunden und Gesinnungsgenossen zusammengefunden hatte.

Seit zwei Tagen waren die Preußen in Dresden eingezogen, und statt sächsischer Soldaten hatte man preußische Krieger als Einquartierung; man war den am Abend des 18. Juni Einrückenden sehr freundlich entgegengekommen, und „sächsische Höflichkeit“ hatte – wie eine Dresdner Zeitung meldete – die preußischen Helmträger sogar mit grünem Laube und duftenden Blumensträußchen geziert. Allein trotz der guten Disciplin, welche die preußischen Truppen in Dresden beobachteten, herrschte bei der großen Masse der Dresdner Einwohnerschaft doch eine gedrückte und unbehagliche Stimmung, und das Dresden, in welchem der General Herwarth von Bittenfeld im Namen König Wilhelm’s des Ersten der Oberstcommandirende war, sah doch ganz anders aus, als das Dresden, in welchem Herr von Beust mit seinem freundlichen, einschmeichelnden Wesen als erster Minister des Königs Johann geherrscht hatte.

Dies und Aehnliches bildete in der, oben erwähnten Gesellschaft den Gegenstand des Gespräches, als sich ein preußischer Landwehrofficier, Herr E. B., als Einquartierung anmeldete. Der liebenswürdige Hauswirth hieß den Ankömmling auf die freundlichste Weise willkommen, während die Hausfrau mit emsiger Geschäftigkeit ein Zimmer für den octroyirten Gast in Ordnung zu bringen eilte. Der Officier, früher einmal Gerichtsassessor, ward sogleich durch mich und Herrn Fabrikbesitzer M., einen langjährigen Freund des Advocaten J., in die Unterhaltung hineingezogen, und es zeigte sich bald, daß derselbe kein gewöhnlicher Mensch sei. Namentlich gereichte es mir zur besonderen Freude, in ihm einen früheren Kämpfer für die Sache der nordamerikanischen Union gegen den sclavenhaltenden Süden begrüßen zu können. Er erzählte uns nämlich, daß er gegen Ende des Jahres 1862 nach Amerika gegangen sei und im Sommer des darauf folgenden Jahres eine Officiersstelle in der Unionsarmee erhalten und darin mehrere der bedeutendsten Schlachten mitgefochten habe.

Nachdem sich das Gespräch längere Zeit in dieser Weise fortgesponnen, wurde Frau D., die schon häufig unsere geselligen Zusammenkünfte durch Gesang gewürzt hatte, aufgefordert, auch heute ein Liedchen zu singen. Zwar weigerte sich die Dame anfänglich, der an sie gestellten Aufforderung Folge zu leisten, weil, wie sie – vielleicht nicht ohne allen Grund – meinte, die Zeit, in der „Geschütze rasseln und Rosseshufe dröhnen“, zu ernst und nicht recht dazu angethan sei, um Lieder zu singen; indeß auf wiederholtes und allseitiges Bitten, dem sich namentlich auch der preußische Artillerieofficier anschloß, gab sie endlich nach, und sang, unter der Begleitung des Piano, mit Ausdruck und Gefühl das von Friedrich Rückert gedichtete und von Robert Schumann componirte Lied „die Widmung“, dessen erster Vers bekanntlich also lautet:

„Du meine Seele, Du mein Herz,
Du meine Wonne, Du mein Schmerz,
Du meine Welt, in der ich lebe,
Mein Himmel Du, darin ich schwebe,
     O Du mein Grab,
     In das hinab
Ich ewig meinen Kummer gab!“

Wir Alle hatten schweigend und aufmerksam dem durch Inhalt und Composition gleich ausgezeichneten Liede zugehört; vornehmlich aber schien unser preußischer Officier davon ergriffen zu sein. Schon während des Gesange hatte ich bemerkt, wie seine Brust sich schwer und bang hob; als aber die letzten Töne der Composition verklungen waren, füllten die Thränen eines überquellenden Gefühls seine Augen. Er erhob sich und blickte schweigend aus dem Fenster in die Nacht, die bereits ihre Schatten auf die Stadt herniedergesenkt hatte. Indeß faßte er sich bald wieder und bat um die Erlaubniß, selbst etwas auf dem Clavier vortragen zu dürfen. Er setzte sich an das Instrument und spielte. Aber sein Spiel glich dem schwarzen Schleier der Nacht, der so viel namenloses Elend und so manchen unbeschreiblichen Jammer zudeckt; es klang fast wie ein Notturno von [648] Chopin. Der Spielende schien einen schweren Druck gewaltsam von seiner Seele abschütteln zu wollen, doch es gelang ihm nicht; seine Kraft versagte, und mit einer schreienden Dissonanz brach er ab und verließ eilig das Zimmer.

Dieser mehr als ungewöhnliche Auftritt setzte die zurückbleibende Gesellschaft nicht wenig in Erstaunen, und man suchte vergebens nach einer genügenden Erklärung für das auffallende Benehmen des Officiers und dessen leidenschaftliche Aufregung. Bereits war es spät geworden; vom Thurme der Kreuzkirche schlug es Zehn und die Gäste waren im Begriff, sich Herrn und Frau J. zu empfehlen, da trat der Preuße noch einmal wieder in das Zimmer. Eine fahle Blässe bedeckte seine Wangen und in den Zügen seines zwar etwas verwitterten, aber keineswegs unschönen Antlitzes lag tiefe Schwermuth. Er entschuldigte sich, wenn er etwa die Gesellschaft durch sein allerdings sonderbares Benehmen gestört habe; es sei indessen nun einmal so geschehen und er fühle sich verpflichtet, sein Betragen zu erklären, wenn auch nicht ganz zu rechtfertigen. Zu diesem Zweck schlug er vor, daß sich die Herren, unser Wirth, Herr Fabrikbesitzer M., meine Wenigkeit und er selbst, noch auf Stündchen nach einem von uns zu bestimmenden Locale begeben möchten, woselbst er bereit sei, bei einem Glase Wein die nöthige Aufklärung zu ertheilen.

Wir folgten seiner Aufforderung und schlugen den Weg nach dem an der Elbe gelegenen eleganten Locale des Herrn Helbig ein. Bald war daselbst ein passender Platz gefunden, und ein vortrefflicher Asmannshäuser perlte in unsern Gläsern. Die Gaslampen der Elbbrücke warfen ein magisches Licht in die Wellen des zu unsern Füßen rauschenden Flusses, und nur einzelne Sterne schienen mit mattem Glanze aus dem zum größten Theile mit dunkeln Wolken bedeckten Himmel.

„Ich will Sie nicht mit der Erzählung einer langen Geschichte ermüden, meine Herren,“ fuhr der Officier nach einigen einleitenden Bemerkungen fort. „Es war am 20. Juni des Jahres 1860, da ich meine liebe Melanie als Frau in meine bescheidene Häuslichkeit einführte. Wir lebten glücklich und zufrieden, und unserm häuslichen Glücke ward am 30. August 1861 durch die Geburt eines Sohnes noch die Krone aufgesetzt. Allein auch ich sollte nur zu bald erfahren, daß ‚mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten‘. Das Herbstlaub des letztgenannten Jahres fiel auf die Grabhügel meiner Frau und meines Sohnes, und das Glück meines Lebens war mit ihnen zu Grabe getragen und für immer vernichtet. Ich gab meine Stellung als Gerichtsassessor in M. auf und suchte durch Reisen mein tief verwundetes Gemüth wenigstens in Etwas zu heilen. Umsonst. Die mir geschlagene Doppelwunde blieb ewig frisch. Da beschloß ich, nach Amerika zu gehen und im Kampfe für die Union den mir willkommenen Tod, den einzigen Tröster meines Schmerzes, zu suchen. Wiederholt stürzte ich mich in den dichtesten Kugelregen, rechts und links von mir sah ich die Kämpfer der Freiheit fallen – nur mich traf keine erlösende Kugel!

Als die Rebellion der südlichen Sclavokratie zu Boden geworfen und der Friede wiederhergestellt war, kehrte ich über den Ocean in meine Heimath zurück. Aeußerlich zwar schien meine alte Wunde vernarbt, aber tief im Innern wühlte und brannte doch stets der alte, nie gelinderte und – so lange ich lebe – auch nie zu lindernde Schmerz.

Da brach der Krieg zwischen Preußen und Oesterreich aus. Auch hier stehen sich, wie in Nordamerika, der Norden und der Süden feindlich gegenüber, und wenn ich auch in manchen wesentlichen Punkten mit der preußischen Regierung nicht übereinstimmte, so hielt und halte ich doch das preußische Volk für geschichtlich berufen, im Frieden wie im Kriege den Bau der deutschen Einheit – wenn nicht zu vollenden – so doch zu beginnen. Ich ziehe jetzt abermals in den Krieg in der Hoffnung, daß derselbe Deutschland frei und einig machen, mich aber durch einen rühmlichen Tod von meinen Schmerzen befreien werde. Ich sage mit Robert Prutz:

‚Wohl hat der Krieg auch eine heil’ge Sendung,
Es wiegt kein Volk in ewig gleichen Gleisen
Sich sanft empor zum Gipfel der Vollendung.
Schon aus dem Mund der Alten hört’ ich preisen
Den Krieg als einen Vater aller Dinge,
Und was kein Balsam heilt, das heilt das Eisen.‘

Heute ist wieder der 20. Juni, mein Hochzeitstag. Das Lied, welches ich vorhin bei Ihnen, Herr Advocat, von Frau D. singen hörte, war das Lieblingslied meiner Frau. Sie sang es mir oft in seligen Stunden.

Hier, meine Herren, haben Sie die Erklärung meines heutigen Benehmens und – wenn Sie wollen – meine Entschuldigung.“

Der Officier schwieg und keiner der Anwesenden wagte durch eine übel angebrachte Bemerkung ihn zu trösten. Endlich brach Herr M. das Schweigen, indem er, das traurige Geschick des preußischen Gastes beklagend und dessen Schmerz durch einige warmes Mitgefühl verrathende Worte ehrend, das Gespräch auf den nahe bevorstehenden Zusammenstoß der Oesterreicher und Preußen brachte. Er kennzeichnete die kleinstaatliche Souverainetätsspielerei als ebenso verderblich wie lächerlich und meinte, daß der gegenwärtige Krieg, im Falle das Glück den preußischen Waffen günstig wäre, wenigstens dem engherzigen und verdammenswerthen Particularismus der verschiedenen deutschen Natiönchen einen starken, aber heilsamen Stoß verletzen würde.

Advocat J. sprach dieselbe Hoffnung aus, fügte jedoch noch den Wunsch hinzu, daß nach einem ruhmvoll beendeten Kriege Preußen sich auch der noch weit schwierigeren Aufgabe gewachsen zeigen möge, Deutschland durch Geisteswaffen seine Freiheit und Einheit erringen zu helfen, und zwar aus dem ureigenen Geiste des deutschen Volkes heraus, ohne jedwede Einmischung einer fremden Nationalität.

Hieran anschließend, erlaubte ich mit einen Toast auf eine baldige glückliche Beendigung des Krieges und eine politische Wiedergeburt eines freien und einigen deutschen Vaterlandes mit den Worten Fr. Rückert’s auszubringen:

„Was zusammen ward gelöthet
Von des Krieges Hammer,
Was zusammen ward genöthet
Unter Druck und Jammer;
Daß die Freiheit und der Friede
Stets es mehr zusammenschmiede,
Darauf, deutsche Zecher,
Leeret eure Becher!“

So war es nahezu Mitternacht geworden. Wir trennten uns in ernster Stimmung und beim Abschiede versprach mir noch unser preußischer Freund, wenn er – wie wahrscheinlich – Dresden bald wieder verlassen müsse, brieflich etwas von sich hören lassen zu wollen. Er hielt Wort. Schon den nächsten Tag, Donnerstag den 21. Juni, verließ General Herwarth von Bittenfeld mit dem größten Theil seiner Truppen die Stadt, um sich der Armee des Prinzen Friedrich Carl anzuschließen. Am 22. Juni rückte auch die Heeresabtheilung aus, zu welcher unser Freund E. B. gehörte, und am 23. Juni ging der Einmarsch der sogenannten Elbarmee in das Königreich Böhmen über Böhmisch-Leipa auf der rechten Seite der Elbe vor sich. Am 4. Juli erhielt ich einen mit Bleifeder geschriebenen Brief, aus dem ich das Nachstehende mittheile.

„Im Bivouac, 1. Juli, zehn Uhr Abends.

     Geehrter Herr Doctor!

Obschon ich bis zum Tode ermüdet bin, will ich doch mein Ihnen gegebenes Wort einlösen und einige Zeilen an Sie richten. Ich werde Sie nicht mit einer ausführlichen Schilderung der Strapazen, wie sie anstrengende Märsche in Feindesland allemal mit sich bringen, ermüden; Sie kennen ja dieselben aus eigener Erfahrung von Amerika her. Auch erlassen Sie mir wohl die herzzerreißenden Schilderungen von den blutigen Gefechten, die wir am 27. Juni bei Hünerwasser, am 28. Juni bei Münchengrätz und am 29. bei Gitschin zu bestehen hatten. Die officiellen Berichterstatter der Zeitungen, von denen ich wenigstens einige hier bemerkt zu haben glaube, werden dies Amt übernehmen.

Frühen Morgens, noch bevor der Tag graute, brachen wir am 28. Juni auf. Es mochte ungefähr fünf und ein halb Uhr sein, als wir auf den Feind stießen. Bei Jungbunzlau und Kloster, nahe bei Münchengrätz, war der Kampf sehr heftig. Unsere Artillerie bekam tüchtig zu thun, aber auch die Oesterreicher und Sachsen zeigten, daß sie mit ihren Geschützen umzugehen wissen. Dennoch drangen wir vor, häufig sogar mit klingendem Spiel. Bei und in Münchengrätz selbst kam es noch einmal zu einem erbitterten Kampfe; die Oesterreicher hatten eine entschiedene feste Stellung und vertheidigten dieselbe nicht ohne Tapferkeit. Allein wir stürmten das Nest und warfen den Feind auf der Straße nach Gitschin mit blutigem Verlust zurück. Hier in Gitschin ging der Tanz am Freitag den 29. Juni von Neuem los. Viele brave Streiter erlagen in dem blutigen Todesreigen; für mich aber hatte sich noch immer keine Kugel gefunden.

Jetzt, wie nahezu vor zweihundert und fünfzig Jahren, ist Böhmen der Grund und Boden, auf dem ‚um der Menschheit große Gegenstände, um Herrschaft und um Freiheit‘ gerungen wird; möge letztere bei dem künftigen Frieden nicht wieder zu kurz kommen. Für so viel Blut, wie bereits vergossen ist und voraussichtlich noch vergossen werden wird, darf der Preis kein geringer sein.

Die Masse des Volkes hier, lieber Doctor, ist von den Pfaffen bis auf’s Aeußerste fanatisirt. Wir haben in Amerika mit Recht die Gräuelthaten der südlichen Guerrillas verdammt, die Handlungen der Czechen übertreffen aber wo möglich noch die Schandthaten jener wilden amerikanischen Buschklepper. Es ist dies zweifelsohne ein neuer Beweis, daß politische und religiöse Unfreiheit dieselben bösen und fluchwürdigen Früchte tragen. Aber genug, lieber Doctor,“ schloß er, „ich fühle mich sehr müde und todesmatt; wenn nicht alle Anzeichen trügen, so werden wir bald eine Hauptschlacht haben. Wir haben uns bei Münchengrätz mit der Armee des Prinzen Friedrich Carl vereinigt und werden nun auch wohl – um einen gewaltigen Schlag auf Benedek zu führen – eine Vereinigung mit der Armee des Kronprinzen, in der sich der alte General Steinmetz so sehr ausgezeichnet hat, zu bewerkstelligen suchen.

Komme ich bei der nächsten Affaire gut durch, was ich von Herzen nicht wünsche, so schreibe ich sogleich wieder an Sie. Grüßen Sie Ihre Freunde in Dresden, und möge dieser blutige, brudermörderische Krieg Ihren Toast, den Sie an der Elbe bei Helbig ausbrachten, in nicht zu langer Zeit in Erfüllung gehen lassen! Ihr lebensmüder

E. B.“

Die Entscheidungsschlacht, auf welche der unglückliche Schreiber des vorstehenden Briefes hindeutete, wurde bekanntlich bei Königgrätz geschlagen. Einen zweiten Brief erhielt ich nicht, habe aber aus den in den Blättern veröffentlichten Verlustlisten später erfahren, daß B.’s Wunsch in Erfüllung gegangen ist und er mit so vielen andern tapfern Kriegern in dem ruhmwürdigen, aber mörderischen Kampfe bei Königgrätz durch eine Kanonenkugel einen schnellen Tod gefunden hat.

R. D.




Kleiner Briefkasten.

B. H. in St–t. Ihre Wünsche sind bereits erfüllt. Daß Paul Heyse demnächst eine seiner feinen, sinnigen, poetischen Novellen in der Gartenlaube veröffentlichen wird, haben Sie bereits aus der Quartal-Ankündigung der letzten Nummer ersehen; aber auch aus der Feder Edmund Höfer’s dürfen wir Ihnen eine treffliche Erzählung binnen Kurzem in Aussicht stellen. Die versprochene Novelle von Levin Schücking beginnt schon in der nächsten Nummer.

C. W. in Nürnberg. Das von Ihnen gewünschte Schriftchen ist unsers Wissens nie in deutscher Uebersetzung oder Bearbeitung erschienen; kann Ihnen das Original von Nutzen sein, so würden Sie sich dasselbe von London verschreiben lassen müssen. Im Uebrigen mit den meisten der geäußerten Ansichten einverstanden.

K. in D–u. Der Schluß des Artikels: „Ein Soldatenfürst des vorigen Jahrhunderts“ erscheint in nächster Nummer.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die beigegebene Abbildung entspricht der Wirklichkeit bis auf die absichtlich weggelassenen Trennungsgitter vollständig und stellt die Burg so dar, wie sie an dem Tage der Aufnahme war. Mit Ausnahme eines deutschen Reisewerkes ist uns keine nach der Natur aufgenommene Abbildung einer Biberburg bekannt; unser Holzschnitt verdient also eine besondere Beachtung. Im Vordergrunde sieht man einen Biber beschäftigt, einen Weidenast fortzuschleppen; im Mittelgrunde einen zweiten solchen Ast flößend weiterzuschaffen; der dritte die Burg erkletternde trägt entrindetes Bauholz herbei, der vierte im Hintergrunde arbeitet an der Fällung eines Baumes, dessen Bodenstumpf dann genau ebenso aussehen wird, wie der bereits entschälte links vor der Burg selbst. Alles Uebrige bedarf keiner besonderen Erläuterung.
  2. Der Hauptwerth dieser Erzählung besteht vielleicht nur darin, daß ihr Inhalt buchstäblich wahr ist.