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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[617] No. 40.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


In der Propstei.
Von. J. D. H. Temme.
1. Der richtige Cassenbeamte.

Zu einem richtigen Cassenbeamten gehört ein graues, faltiges Gesicht und ein grauer, weiter Ueberrock, in welchem weite, bequeme Taschen sein müssen, auch vorn zu beiden Seiten, sodaß man jeden Augenblick hineinlangen kann, besonders nach Taschentuch und Schnupftabaksdose. Denn zu dem richtigen Cassenbeamten gehört ferner eine Dose, und wie das Schnupftuch von bunter Seide sein muß, so darf die Dose weder von Gold, noch von Silber, sondern sie muß von feinem Schildpatt sein und schon etwas dunkelbraun, damit man ihr das Alter ansieht. Und warum das Alles? Der Cassenbeamte ist eigentlich der wichtigste Beamte im Staate; ohne Geld und ohne Cassen kann keine Regierung, also auch kein Staat bestehen. Der Cassenbeamte muß mithin auch besondere Garantien für die tüchtige Verwaltung seines Amtes darbieten, und namentlich ein Mann von conservativer Gesinnung und solidem Charakter sein. Er darf daher zum Beispiel keine goldene Dose führen und auch mit der bescheidneren schildpattenen nicht zu oft wechseln; die goldene würde Luxus anzeigen und zugleich Ueberhebung, denn der Präsident führt sie; das Wechseln aber zeigte einen gefährlichen Hang zum Neuen und zum Neuern. Der richtige Cassenbeamte muß im Uebrigen auch noch scharfe Augen, ein gemessenes Wesen und eine unerschütterliche Ruhe besitzen; Millionen gehen durch seine Hände und an einem einzigen Pfennig zu viel oder zu wenig hängt seine Ehre.

Ein solcher richtiger Cassenbeamter war der Landrentmeister Aders. Doch er war es nicht ganz; einmal verlor er seine Ruhe. Er war, wie gewöhnlich, des Morgens um neun Uhr in das Regierungsgebäude und in das Cassenzimmer getreten. In dem Zimmer waren seine Untergebenen schon an ihrer Arbeit; der Cassencontroleur, ein paar Cassenschreiber, zwei Cassendiener. Controleur und Schreiber lagen emsig dem stillen Geschäfte des Rechnens und Schreibens ob; der eine Diener heftete Acten, der andere falzte Papier zu Geldrollen.

Der Landrentmeister Aders war mit der ruhigen Würde des Chefs eingetreten; er wurde von den Untergebenen ehrfurchtsvoll gegrüßt. Dann sah er nach den an die Casse eingegangenen Schreiben, die bis zu seiner Ankunft uneröffnet da lagen. Ein Wink an den zweiten Diener befahl diesem, sie zu öffnen. Darauf setzte er sich in seinen großen Arbeitssessel. Der Diener trat mit einer Scheere an seine Seite, schnitt die Couverts der Briefe auf, entfaltete sie und legte sie auf den Schreibtisch. Nachdem der Landrentmeister sie alle gelesen hatte, erhob er sich wieder. Mit einem Briefe in der Hand begab er sich zu dem Arbeitspulte des Cassencontroleurs, eines kleinen verwachsenen Männchens, welches stehend arbeiten mußte und es mit den großen Cassenbüchern zu thun hatte.

„Lieber Schulze,“ sagte der Landrentmeister zu dem Controleur, „tragen Sie doch die Verausgabung von hunderttausend Thalern ein.“

Es waren die ersten Worte, die seit dem Eintreten des Landrentmeisters gesprochen waren, und er sprach sie mit seiner ganzen unerschütterlichen Ruhe.

Der Controleur hörte sie ruhig an. Hunderttausend Thaler auf einem Bret auszuzahlen, war bei der großen Casse eben nichts Außergewöhnliches; aber der kleine, buckelige Mann mußte einen Blick in die Schrift werfen, auf deren Grund die Zahlung geschehen sollte. Vermöge seines Buckels war er ein lebhafter Mann, und er durfte es sein, er selbst hatte ja keinen Pfennig einzunehmen und auszugeben, sondern nur die Einnahmen und Zahlungen des Landrentmeisters in die Contobücher einzutragen, und wenn tausend Thaler oder noch mehr zu viel ausgezahlt waren, so ging ihn das nichts an, der Landrentmeister hatte den Schaden zu tragen und mußte ihn tragen und durfte das Geld nicht zurücknehmen, wenn der ehrliche Empfänger es ihm auch zurückbrachte; denn die Ehre des richtigen Cassenbeamten litt nicht, einzugestehen, daß er sich geirrt haben könne. Als der kleine Mann einen Blick in das Schreiben geworfen hatte, fuhr er auf.

„Herr Landrentmeister –“

Der Landrentmeister sah ihn ruhig an, nicht einmal verwundert.

„Was giebt es, lieber Schulze?“

„Hunderttausend Thaler!“

„Wie Sie sehen.“

„Aber schon wieder? Erst vor acht Tagen!“

„Darf ich bitten einzutragen?“

„Und extraordinarie, Herr Landrentmeister! Neben allem Ordinarium! Wo soll das hinaus? Da muß der Staat –“

Zu Grunde gehen! wollte der lebhafte kleine Mann ausrufen. Der Landrentmeister kam ihm mit einem verweisenden und auf die Schreiber und Diener hinübergleitenden Blicke zuvor. Der Kleine trug in seine großen Bücher ein. Aber er mußte in seinem Eifer für sich nach- oder vorsprechen, was er schrieb.

„Einmalhunderttausend Thaler, nach Hofe, für Serenissimus.“

Dann sprach er in seinem Zorn weiter, allein das schrieb er nicht: „Für Jagden, für Spiel, für Champagner, für junge und alte –“

„Schulze, räsonniren Sie nicht,“ unterbrach ihn der Landrentmeister.

[618] „Inwendig räsonniren darf jeder Mensch,“ sagte Schulze. „Und jede Woche hunderttausend Thaler extraordinarie, für solche –“

Aber er brach von selbst ab, denn er war mit seinem Eintragen fertig. Der Landrentmeister nahm das Schreiben vom Hofe wieder an sich, legte es auf seinen Arbeitstisch, zog aus der Brusttasche seines grauen Ueberrocks zwei Schlüssel hervor und ging zu dem Cassengewölbe, um es aufzuschließen und die hunderttausend Thaler herauszunehmen.

Das Gewölbe befand sich unmittelbar an dem Cassenzimmer, zu welchem eine Flügelthür von schwerem Eisen hineinführte; zwei ungewöhnlich starke eiserne Stäbe, im Kreuz vor sie gelegt und festgeschlossen, sicherten den Verschluß der Thür. Der Landrentmeister öffnete mit dem einen seiner beiden Schlüssel den Verschluß der Kreuzstäbe, mit dem andern die Thür und trat dann in das Gewölbe, zu dem drei steinerne Stufen hinunterführten. Das Cassenzimmer lag zu ebener Erde. Das Gewölbe war daher kellerartig einige Fuß tief in die Erde eingegraben. Es war rund und geräumig und erhielt sein Licht durch drei lange, schmale Fenster, die mit starken eisernen Kreuzgittern versehen waren. Die Fenster zeigten zugleich eine Dicke der Mauern von mindestens fünf Fuß. An den Mauern rund umher befanden sich verschlossene eiserne Schränke.

Der Landrentmeister ging zu einem der Schränke, zu dem, der gerade der Thür gegenüber war, und schloß ihn auf mit einem dritten Schlüssel, den er auch aus seiner Brusttasche nahm. Der Schrank hatte Reihen von offenen Fächern. In jedem sah man Geldrollen, Pakete abgezählter Banknoten. Der Staat konnte, trotz jenes unterdrückten Ausrufs des Controleurs, noch lange nicht zu Grunde gehen. Der Landrentmeister wandte Blick und Hand nach einem mittleren Fache. Es lagen neben dem Pakete mit den Banknoten kleinere Rollen darin, also Goldrollen. Indem seine Hand sich nach jenen ausstreckte, hatte sein Blick Alles überflogen. Er stutzte und eine leichte Blässe glitt über sein Gesicht. Er zog die Hand zurück, heftete aber den Blick desto fester auf die Rollen, in eine Ecke, in der nichts lag. Wie er vorher Alles nur rasch überflogen hatte, so zählte er jetzt die Goldrollen. Aber er wurde unruhig und blässer. Er sah wieder in die leere Ecke, brachte die Hand wieder in das Fach und faßte Rolle für Rolle an und zählte so noch einmal ab. Er wurde leichenblaß und sah sich nach einem Stuhl um, der in dem Gewölbe stand; er schwankte zu ihm und fiel auf ihn nieder; der Kopf sank ihm auf die Brust; von der Stirn tröpfelte ihm der kalte Schweiß.

In diesem Augenblicke war er nicht der richtige Cassenbeamte mit der unerschütterlichen Ruhe und Geistesgegenwart. Aber er wurde es wieder; es dauerte freilich lange. Er zog seine schildpattene Tabaksdose hervor und nahm eine Prise. Dann konnte er aufstehen. Noch einmal warf er einen Blick in den Schrank, in das Fach, entdeckte aber nichts Tröstliches. Er hatte seinen Entschluß gefaßt und kehrte in das Cassenzimmer zurück. Sein Schritt war noch schwankend, sein Gesicht noch kreideweiß; die drei steinernen Stufen konnte er nur mit Mühe ersteigen. In dem Cassenzimmer mußte er sich in seinen Sessel werfen.

„Schmidt!“ riet er dann.

„Herr Landrentmeister befehlen?“ fragte der zweite Cassendiener.

„Ein Glas Wasser!“

Der Diener ging, es zu holen. Aber der Landrentmeister hatte mit einer so eigenen, gebrochenen, tonlosen Stimme gesprochen. Die beiden Schreiber und der erste Diener wagten nicht von ihrer Arbeit nach ihm aufzusehen. Der Controleur mußte es. Er sah das bleiche Gesicht, die nasse Stirn, die erloschenen Augen und sprang zu ihm hin.

„Herr des Himmels, Herr Landrentmeister, was ist Ihnen?“

„Ich bekam einen Schwindel, lieber Schulze.“

„Einen Schwindel? Das ist Ihnen ja in Ihrem Leben noch nicht passirt.“

„Nein, das ist mir in meinem Leben noch nicht passirt, und es hätte gar nicht passiren sollen.“

„Nun, nun, Herr Landrentmeister, es wird vorübergehen.“

„Vorübergehen? Nein, nein –“

„Sie nehmen es zu tragisch. Was ist denn ein Schwindel?“

„Mein Tod, mein Ruin!“

„Ein einfacher Schwindel?“

Die Frage und der plötzlich stutzende und forschende Blick des Controleurs dabei gaben dem Landrentmeister seine Geistesgegenwart und seine Stellung zurück.

„Ah, es ist vorüber, mir wird wieder wohl,“ sagte er.

Er nahm das Glas Wasser, das ihm der Diener brachte, und dann eine zweite Prise.

„Nun, ich wußte es,“ meinte der Controleur und kehrte an sein Pult zurück.

Der Landrentmeister aber nahm seine Bücher vor, schlug und rechnete lange darin nach und hatte dabei ganz das Aussehen eines Mannes, der nichts als ein Rechenknecht ist; er ging darauf in das Cassengewölbe zurück, trat noch einmal an den geöffneten Schrank, zählte noch einmal die Goldrollen, faltete die Hände und sprach leise vor sich hin: „Gerechter Gott, es bleibt dabei!“ Dann raffte er sich wieder auf, nahm aus dem Schranke einen Haufen Banknotenpakete hervor und zählte mit sicherer Hand zehn Pakete ab; jedes derselben enthielt nach der Etikette darauf zehntausend Thaler. Er verschloß den Schrank wieder, trug die hunderttausend Thaler in das Cassenzimmer, verschloß das Gewölbe, ließ in seiner Gegenwart die zehn kleinen Pakete zu einem großen durch den Cassendiener Schmidt zusammenlegen, dieses mit einem Umschlage versehen, zuschnüren und versiegeln, machte selbst die Aufschrift darauf und sagte dann zu dem Controleur:

„Lieber Schulze, Sie begleiten den Schmidt wohl mit dem Gelde zur Post?“

Schulze und Schmidt gingen, das Geld zur Post zu tragen. Der Landrentmeister nahm ruhig, als wenn nichts vorgefallen sei, seine Arbeit wieder auf und setzte diese, nach der Rückkehr der beiden Beamten, ununterbrochen fort, bis die große Wanduhr in dem Zimmer eins schlug. Die Bureaustunden für den Vormittag waren damit geschlossen; sämmtliche Beamte verließen das Cassenzimmer, um ihr Mittagsmahl einzunehmen. Um drei Uhr Nachmittags wurde das Bureau wieder geöffnet.

Der Landrentmeister ging nicht zu Tisch, sondern nahm eine Droschke und fuhr zu dem Polizeirath Schwarz. Derselbe war ein richtiger Polizeimann, wie der Landrentmeister ein richtiger Cassenbeamter war. Er hatte daher eine feine Nase, auf der er eine goldene Brille trug, und führte eine kostbare goldene Tabatière, die er für geleistete Dienste von einem fremden Potentaten zum Geschenk erhalten hatte. Seine große Seelenruhe und seine hellen Augen gaben der Ruhe und dem Blick des Landrentmeisters nichts nach; dagegen war er ein rascher Mann in seinen Bewegungen. Die Beiden waren alte Freunde.

„Schwarz, Ihr müßt mir helfen,“ begann der Landrentmeister.

„Teufel, Freund Aders, Ihr seid bestohlen!“ frug Schwarz.

„Ihr wißt es schon?“

„Ich sehe es Euch an.“

„Hätte ich so meine Contenance verloren?“

„Ja. Es muß schlimm sein. Aber erzählt.“

„Mir sind sechzigtausend Thaler gestohlen.“

„Hm, ha, wann?“ rief der Polizeirath.

„In der vorigen Nacht.“

„Und wo?“

„Aus meiner Casse.“

„Und der Dieb?“

„Den sollt Ihr mir suchen helfen.“

„Hm, Suchen ist leicht – auf das Finden kommt es an. Die Art des Diebstahls?“

„Ist für mich unergründlich.“

„Die Spuren?“

„Ich habe keine entdeckt.“

„Aber so erzählt.“

Der Landrentmeister erzählte.

„Hm, hm! Auf wen habt Ihr Verdacht?“

„Auf Niemanden.“

„Eure Cassenbeamten –“

„Sind die ehrlichsten Menschen von der Welt, alte, treue, bewährte Beamte.“

„Treu ist kein Mensch. Aber gehen wir zu Eurer Casse. Von dem Orte eines Verbrechens aus ziehen sich die Fäden zur Entdeckung und Verfolgung des Verbrechers, oft von ihm selbst, oft von der Vorsehung gesponnen und gewoben, manchmal neben einander laufend, daß man bald zum Ziele gelangt, manchmal aber auch kreisförmig sich ausbreitend und zerstreuend; man kommt aber auch dann zum Ziele.“

[619] Sie gingen zu der Casse des Landrentmeisters, die sich in dem Regierungsgebäude befand. Das Regierungsgebäude, ein großes, stattliches Gebäude, war ein ehemaliges Norbertinerkloster und lag am Ende der Stadt; die Norbertiner waren ein reicher Orden; darum waren sie auch überall die ersten Mönche, die von den Regierungen aufgehoben wurden. Der Landrentmeister führte den Polizeibeamten in sein Cassenzimmer, zeigte ihm den festen, unverletzten Verschluß des Gewölbes, führte ihn dann in das Cassengewölbe, zeigte ihm den eben so festen und unverletzten Verschluß der Fenster und des Schrankes. Der Polizeirath besichtigte mit seinem scharfen und erfahrenen Auge Alles genau, stieg auf einer Leiter, die da stand, zu den Fenstern hinan, fand sie unverletzt, von innen verschlossen, konnte die eisernen Stangen nicht biegen und nicht rütteln.

„Von hier aus ist Niemand in den Schrank gekommen,“ sagte der Polizeirath.

„Durch die Mauer hinter dem Schranke dann, meint Ihr?“ fragte der Landrentmeister. „Seht Euch die fünf Fuß starken Mauern an.“

„Schließt den Schrank auf.“

Der Cassenbeamte schloß den Schrank auf.

„Zeigt mir die Stelle, wo das gestohlene Geld lag.“

Der Landrentmeister wies nach der leeren Ecke rechts in dem mittleren Fach.

„Und was noch vorhanden ist, lag, wie es jetzt liegt?“

„Ganz so. Ich habe nichts davon verrückt. Ich nahm nur hunderttausend Thaler in Banknoten davon.“

„Das war die schleunige Zahlung, die Ihr zu machen hattet?“

„Ja.“

„An wen?“

„Nach Hofe.“

„Teufel, die verbrauchen viel Geld. Aber was geht es mich an? Ein Beamter darf nicht räsonniren, wenn er sein Gehalt bekommt, ein Polizeibeamter am allerwenigsten; sie thun es zwar am meisten, aber andere Leute dürfen es nicht hören. Indeß, bleiben wir bei dem Geschäft.“

Er nahm eine der Goldrollen auf, die in dem Fache lagen.

„Wie viel wiegt ein solches Ding?“

„Etwa zwei Pfund.“

„Und sechzig solcher Rollen fehlen?“

„Gerade sechzig.“

„Die machen hundertundzwanzig Pfund. So viel hat ein einzelner Mann nicht forttragen können.“

„Wenigstens nicht wohl auf einmal.“

„Er hätte also mehrmals zurückkehren müssen und dazu mußte er in der Nähe wohnen oder ein Versteck haben. Bringt Euch das auf Jemanden?“

„Nein.“

„Dann vielleicht ein anderer Umstand. Das gestohlene Geld betrug sechzigtausend Thaler. Wie viel wiegen sechzigtausend Thaler Banknoten?“

„Vielleicht ein halbes Pfund.“

„Warum nahm der Dieb nicht die Banknoten, nach denen er die Hand nicht weiter auszustrecken brauchte, als nach dem Golde?“

„Die Nummern der Banknoten sind in unsern Cassenregistern verzeichnet; sie liegen hier so, wie sie von der Centralcasse eingeliefert wurden.“

„Ah, ah, das wußte also der Dieb!“

„Es scheint in der That so.“

„Untersuchen wir weiter. Der Schrank hat hinten keine besondere Wand, nur Seitenwände und diese sind in die nackte Mauer eingefugt, freilich mit starken, festen eisernen Klammern.“

„Und die Mauer hat eine Stärke von fünf Fuß,“ sagte der Cassenbeamte.

„Auch hier? Darauf kommt es an.“

„Es dürfte kaum darauf ankommen. Draußen steht Tag und Nacht eine Schildwache.“

„Bah, um bei Tage zu träumen und bei Nacht zu schlafen. Ich kenne diese Bauernburschen. Untersuchen wir daher trotz Eurer Schildwache. Zu sehen ist hier nichts mehr. Die Mauer ist fest. Die Steine sind Kolosse, wie Fundamentsteine; sie sind zusammen und ineinander gefugt, als wenn sie so für die Ewigkeit beisammen bleiben sollten. Aber fühlen wir einmal. Ihr macht ein höhnisches Gesicht, daß ich mit der Hand fühlen will, ob eine Mauer fünf Fuß dick ist?“

Der Landrentmeister antwortete nicht. Der Polizeirath klopfte mit den Knöcheln seiner Finger an die großen Steine der Mauer, an jeden einzelnen, langsam, bei jedem Klopfen auf den Klang horchend.

„Es ist nichts,“ sagte er. „Stark und fest, wie für die Ewigkeit.“

Auf einmal stutzte er.

„Ah, was war das?“

Er hatte an einen besonders großen Stein geklopft. Er schlug noch einmal daran.

„Habt Ihr etwas?“ fragte der Landrentmeister.

Diesmal antwortete der Polizeirath nicht. Er betastete den Stein auf allen Seiten, die ganze Einfassung.

„Es ist nichts,“ sagte er dann. „Fest, wie die Mauer selbst.“

Er wiederholte dennoch das Schlagen an den Stein.

„Und doch dieser Klang, als wenn da etwas hohl oder lose wäre.“

Er faßte noch einmal den Stein an, mit beiden Händen und suchte ihn zu schieben, zu rucken. Er stemmte beide Arme gegen ihn, aber der Stein rührte sich nicht.

„Helft mir!“ sagte er zu dem Cassenbeamten.

Der Landrentmeister half ihm. Sie drückten gegen den Stein, daß ihnen der Schweiß ausbrach, nicht der kalte Angstschweiß, recht heiße Perlen der Anstrengung rannen ihnen über das Gesicht. Aber der Stein rührte sich nicht.

„Wir sind ein paar Narren,“ sagte der Polizeirath. „Der Stein sitzt für Jahrtausende. Und doch der verdammte Klang! Gehen wir nach außen.“

Sie gingen nach außen. Der Landrentmeister schloß vorher Schrank, Gewölbe, Cassenzimmer sorgfältig ab. Es war noch vor drei Uhr; seine Beamten waren noch nicht wieder da.

Das stattliche Kloster, das jetzt als Regierungsgebäude diente, hatte früher außerhalb der Ringmauer vor den Thoren der Stadt gelegen. Ringmauer und Thore waren längst gefallen, denn der Umfang der Stadt hatte sich überall erweitert, jedoch in der Gegend des Klosters oder „der Regierung“, wie es jetzt genannt wurde, nicht über dessen Mauern hinaus. Das Gebäude lag mit seinem linken Flügel nach der Stadt zu. Auf seinem rechten Flügel hatte früher die Kirche gestanden, in unmittelbarem Zusammenhange mit der Klostermauer. Sie war später, nach Aufhebung des Klosters, niedergerissen und zu Geschäftsräumen für die Landesregierung umgebaut; nur die ungewöhnlich starken Mauern an ihrem Ende hatte man stehen lassen, um hier die Cassenlocale anzulegen. Das äußerste Ende, gerade da, wo früher der Hochaltar gestanden hatte, bildete jetzt das Cassengewölbe.

Dorthin hatten der Landrentmeister und der Polizeirath ihre Schritte gelenkt. Die runde Ecke der ehemaligen Kirche lag frei da, von der Stadt abgewandt. Ein leerer Rasenplatz umfaßte sie, auf dem nur ein Schilderhaus stand; er hatte eine Breite von zehn bis zwölf Fuß. An ihn schloß sich unmittelbar ein großer, fast parkähnlicher Garten an, mit Obstbäumen, Boskets, Alleen. An seinem jenseitigen Ende, in einer Entfernung von sechs bis acht Minuten, ragte über den Bäumen das hohe, spitze Dach eines dem Anscheine nach größeren Gebäudes hervor. Zu ihm gehörte der Garten. Es war in der Klosterzeit die Wohnung des Propstes gewesen und hieß daher auch noch jetzt die Propstei. Gegenwärtig war es die Amtswohnung des Präsidenten der Regierung. Der Polizeirath besichtigte Alles genau.

„Eine polizeiliche Wüste!“ sagte er dann. „Keine Lücke und keine Stütze, an der ein Auge, das einem Verbrechen nachspürt, sich erlaben könnte. Das Ding, Euer ganzes Cassengewölbe, liegt wie ein uneinnehmbarer Festungsthurm da. Die Mauern sind ihre fünf Fuß stark; man sieht es hier erst recht. Die Steine darin wie eingelöthet. Die Fenster so schmal, daß kein Schneider, und die eisernen Stäbe darin so dicht beisammen, daß keine Katze hindurch könnte. Und zum Ueberfluß ist auch noch die Schildwache da. Also, Freund Aders! Wißt Ihr sonst noch etwas?“

Der Landrentmeister wußte nichts. Auf einmal sah man die Augen des Polizeiraths so sonderbar groß werden. Sie maßen die Höhe der Mauer, die Größe der Steine, und schienen in den Erdboden dringen zu wollen.

„Alle Teufel!“ rief er.

„Was habt Ihr, Schwarz?“

[620] „Alle Wetter, Freund Aders, von Eurem Cassenzimmer mußten wir in das Gewölbe hinuntersteigen?“

„Ihr wart ja da.“

„Wie viele Stufen waren es?“

„Drei, und sie sind hoch.“

„Und hier von außen liegt um das Gemäuer die Erde hoch. Und und –“

„Was habt Ihr, Schwarz? Was rechnet Ihr?“

„Still, still!“

„Aber, wohin schaut Ihr denn da?“

„Stört mich nicht in meinen Gedanken.“

Der Polizeirath hatte, wie man sagt, im Kopfe gerechnet, auch wohl gemessen. Dann war sein Blick über die nahe niedrige Hecke hinweg in den Propsteigarten geglitten, über den Garten hinweg auf das Gebäude, dessen hohes, spitzes Dach hinten über die Bäume und Alleen emporragte. Er stand lange in seinen Gedanken, in denen er nicht gestört werden wollte.

„Was sehet Ihr da?“ fragte ihn der Landrentmeister.

„Nichts!“

„Aber, Schwarz, Ihr habt etwas. Was ist es?“

„Weiß schon Jemand von dem Diebstahle, Aders?“

„Außer uns Beiden weiß kein Mensch davon.“

„So sagt auch ferner keinem Menschen davon.“

„Was sprecht Ihr da wieder?“

„Außer uns Beiden darf Niemand den Diebstahl erfahren.“

„Aber, Mann, ich muß ja die pflichtgemäße Anzeige an meinen Vorgesetzten machen.“

„Ihr habt sie mir gemacht.“

„Ihr seid nicht mein Vorgesetzter.“

„Euer Vorgesetzter hat, wie Ihr wißt, heute eine Leiche in seiner Familie und ich nehme Alles auf mich; Ihr wißt, die Polizei kann Vieles auf sich nehmen.“

„Und wenn heute Nacht noch einmal sechzigtausend Thaler, wenn mir die ganze Casse gestohlen wird?“

„Ich nehme auch das auf mich.“

„Ihr?“

„Ja, ich. Aber wann verlassen heute Abend Eure Leute das Bureau?“

„Um sechs.“

„Erwartet mich nach sechs in Eurem Cassenzimmer. Bringt die Schlüssel des Gewölbes und der Schränke mit. Dann sorgt, daß wir Beiden allein sind.“

„Was habt Ihr vor?“

„Adieu!“

Der Polizeirath ging und der Landrentmeister sah ihm kopfschüttelnd nach.


2. Ein Leichenbegängniß.

Die Propstei war die Amtswohnung des Präsidenten der Landesregierung. Der Präsident der Regierung, Freiherr von Ballard, wohnte ganz allein in dem großen Gebäude; nur seine Enkelin war bei ihm und wenige Bedienung. Bis vor zwei Tagen hatte auch noch seine Tochter bei ihm gewohnt, aber jetzt war nur noch ihre Leiche da; sie sollte heute Abend begraben werden. Der Präsident von Ballard gehörte einer der ältesten adeligen Familien des Landes an. Früher waren die Freiherren von Ballard auch reich, eine der reichsten Familien im Lande gewesen. Das war aber nicht mehr so. Der Grund war folgender:

Zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten von Frankreich hatte ein Herr von Ballard seinem Landesfürsten einen wesentlichen Dienst geleistet. Der gedachte König hatte nämlich die Liebhaberei, seinen Nachbarn nach rechts und nach links ihre Länder wegzunehmen, von Rechtswegen natürlich. Das bloße, nackte Recht der Eroberung brachte erst später der erste französische Kaiser wieder zur europäischen Geltung. Ludwig der Vierzehnte errichtete seine Reunionskammern; die mußten die Sache untersuchen und den Rechtsausspruch thun: für Frankreichs Sicherheit sei es nothwendig, daß die Länder mit Frankreich vereinigt würden; dann sandte der König seine Armeen hin und ließ die Länder in Besitz nehmen. Auch auf das Land des Fürsten, dessen Unterthan der Freiherr von Ballard war, hatte der französische König seine Augen geworfen. Der Freiherr, der damalige, wußte die Gefahr abzuwenden, durch diplomatische Klugheit und Gewandtheit, durch eigene Opfer. Der Fürst behielt sein Land, und er schwor dem Freiherrn ewige Dankbarkeit, für sich und für ihre beiderseitigen Nachkommen, so lange es noch Fürsten des Landes und in dem Lande noch Freiherren von Ballard gebe. Allein mit einem ewigen Dank ist es wie mit einem ewigen Frieden. Auch die Freiherren von Ballard erfuhren es, und der letzte Freiherr von Ballard, der, dem heute die Tochter sollte begraben werden, hatte es erst recht erfahren, und weil sie es erfahren mußten, gingen sie zu Grunde. Indeß, kein Mensch und kein Geschlecht – und kein Volk – geht zu Grunde ohne eigene Schuld, sei es auch nur Mitschuld. Die Freiherren von Ballard, indem sie der Gunst ihrer Fürsten sich sicher wußten oder glaubten, wurden übermüthig, wollten werden gleich den Fürsten und verloren dadurch das Paradies ihres Reichthums und der Gnade ihrer Fürsten.

Nur Eins hatten sie bewahrt. Seit Menschengedenken war immer ein Freiherr von Ballard der oberste Verwaltungsbeamte der Provinz gewesen, in früheren Zeiten als Amtshauptleute, dann als Landdrosten, zuletzt als Regierungspräsidenten. Seitdem, bald nach der Reformation, das reiche Norbertinerkloster aufgehoben war, hatten sie auch in der geräumigen und stattlichen Propstei stets ihre Amtswohnung gehabt. Im Lande sagte man: die Stelle des Regierungspräsidenten ist bei den Ballards erblich, und die Propstei ist ihr Eigenthum. Ganz so war es freilich nicht. Der letzte Präsident von Ballard war ein stolzer, strenger Mann. Er wollte den Reichthum und Glanz seiner Familie wieder herstellen und versuchte das an dem Hofe seines Fürsten. An den Höfen der Fürsten wird der Adel mächtig, geht er aber auch wohl zu Grunde. Der Freiherr fand die Gunst, gar die Freundschaft des Fürsten. Er gewann Ansehen, eine reiche, schöne, junge Gräfin zur Frau. Aber die schöne, vornehme Frau war leichtsinnig, verschwenderisch, brachte ihr eigenes Vermögen durch, den Rest dessen, was der Freiherr noch besessen und sich neu erworben hatte. Er mußte, um nicht zum Bettler zu werden, sich auf seine Präsidentenstelle und in deren Propstei zurückziehen. Viel half es ihm auch nicht. Seiner Gemahlin behagte das Leben in oder bei der Provinzstadt nicht; sie hielt sich meist in der Residenz auf, mit ihrer Tochter, dem einzigen Kinde der beiden Gatten, einer bildschönen, jungen Dame, schöner, als die Mutter in ihrer glänzendsten Jugendzeit jemals gewesen war, dabei brav, edel und –. Aber welchen Schutz gewähren Bravheit und edler Sinn gegenüber einer leichtsinnigen und genußsüchtigen Mutter!

(Fortsetzung folgt.)




Ein Soldatenfürst des vorigen Jahrhunderts.
I.


„Heut’ hat er wieder seinen Aerger mit den Soldaten gehabt, da wird’s gewiß heillose Schläge setzen!“ So raunten sich die ehrsamen Bewohner der guten Stadt Halle in die Ohren, als sie an einem Wintertage des Jahres 1734 die stattliche Gestalt des fürstlichen Generals mit festem Tritte durch die Straße schreiten sahen, ein gefahrdrohendes Donnerwetter in den Mienen und Blicken. Sie wußten, daß in solcher Stimmung nicht mit ihm zu spaßen sei, und zogen sich vorsichtig nach links und rechts in die Häuser zurück. Nur Einer, ein schwarz gekleideter junger Mensch, war aufrecht mitten in der leer gewordenen Straße stehen geblieben; er hatte seinen Hut in der Hand, trat dem Gefürchteten, als dieser sich genähert hatte, in den Weg und sagte schnell und in festem Tone: „Ein Feldprediger; Ew. Durchlaucht suchen einen Feldprediger, ich bin Candidat, aber bis jetzt ohne Dienst und schier am Verhungern; vielleicht können Sie mich brauchen!“

Der Fürst stutzte über diese plötzliche Erscheinung. Aber die Wahl eines seinen Wünschen entsprechenden Feldpredigers machte ihm in der That gerade schwere Sorge, und die Dreistigkeit des armen Teufels, sein fester Blick und vor Allem seine ansehnliche Gestalt gefielen ihm. Ein paar Augenblicke lang maß er ihn schweigend vom Scheitel bis zur Sohle. Dann sagte er: „Uebermorgen bin ich auf meinem Lustschlosse Oranienbaum, dort melde

[621]

Ein Candidatenexamen beim Fürsten Leopold von Dessau.
Einzig autorisirte Nachbildung des Oelgemäldes von Theobald v. Oer.

Er sich Schlag acht Uhr Morgens, Punctum!“ Und damit ging er weiter. –

Als der Candidat nach einer durchwanderten Nacht beim Castellan von Oranienbaum sein kleines Felleisen ausgekramt, schnell seinen Anzug ein wenig geordnet hatte, dann in das Cabinet des Fürsten trat und diesen schon vollständig angekleidet, zu seinen Füßen den großen knurrenden Jagdhund, im Arm den gefürchteten Stock, mit dem auf ihn gerichteten unheimlich durchdringenden Blicke sich gegenübersitzen sah, da überkam ihn doch ein Gefühl zitternder Beklommenheit, als ob er in die Höhle des Tigers sich gewagt hätte. Das Gefährliche seines Unternehmens ward ihm klar. Kein Abstand konnte größer sein, als der zwischen ihm und dem allgewaltigen Manne, vor dem er stand.

„Ich habe Ihn erwartet,“ sagte der Fürst, „Er ist pünktlich und das ist schon gut; hätte Ihm auch das Gegentheil nicht rathen wollen. Nun zeig’ Er gleich, was Er gelernt hat. Ich sehe, Er hat da Papier, Zeugnisse, Empfehlungen und anderes Geschmier in der Tasche, das behalt’ Er für sich, ich kann’s nicht brauchen. Was Er sonst ist und gewesen ist, geht mich nichts an, ich will nur einen richtigen und ganzen Kerl für meine Soldaten haben. Denn so lange es Frieden giebt, sind die Canaillen des Teufels und durch alle Zucht und Strafe nicht zur Raison zu bringen; da [622] soll Er nachhelfen und ich will sehen, ob Er’s versteht. Denk’ Er sich also, ich selber sei ein solcher Bruder Liederlich, Saufer und Raufer, Ihm vom Hauptmann zu einer tüchtigen Kopfwäsche zugeschickt. Und nun stell’ Er sich dort hinter den Stuhl und leg’ Er los, Zeit habe ich nicht viel!“

Der arme, vor Hunger und Durst schier verschmachtende Candidat begriff, was für ihn an diesem Augenblicke hing, Brod und Ehre oder Schmach und Elend, vielleicht bei seinem hohen Wuchse der Soldatenrock. Der Magen klapperte immer bedenklicher und die müden Füße wankten. So begann er, sich räuspernd und den Angstschweiß von der Stirn wischend, mit matter Stimme seine Predigt. Kaum hatte er jedoch ein paar Sätze gesprochen, so war er in seinem Elemente und mit der Begeisterung wuchs auch der Muth. Und je länger er sprach, desto mehr vergaß er, wo er sich befand, bis er wirklich in dem Fürsten nur den hartgesottenen Sünder sah und dem Gewaltigen in unerschöpflicher Fülle einen so brausenden Strom der ausgesuchtesten Kraft- und Schimpfworte in’s Gesicht zu schleudern wagte, daß ringsumher die Wände erdröhnten.

Der Fürst hörte erst prüfend zu, dann verwandelte sich seine Aufmerksamkeit in sichtbare Bewunderung, zuletzt saß er regungslos in sich versunken mit gefalteten Händen da und verwandte kein Auge von dem feinen und bleichen Gesicht des jugendlichen Redners, der sich dieses Mal durch den forschenden Blick nicht stören ließ, sondern fortfuhr, ihm in allen möglichen Variationen die derbsten Wahrheiten in donnerndem Tone entgegen zu brüllen. Der Lärm wurde so stark, daß er auch in die Gemächer der Fürstin drang. Erschreckt eilte sie herbei, warf von der Seite einen Blick in das geöffnete Zimmer und stand erstarrt vor der überraschenden, ihr gänzlich unerklärlichen Scene, nicht ohne Besorgniß über den Ausgang und die unbegreifliche Dreistigkeit des seltsamen jungen Mannes; erst als derselbe geendigt hatte, trat sie eilig in die Thür und sagte: „Um Gotteswillen, was geht hier vor?“ Sie wollte Schlimmes verhüten und im Nothfalle den Zorn des Gatten beschwichtigen.

Dieser aber erwachte bei dem Anrufe aus einem Gefühl sanfter Beseligung; er war weich geworden, der Geist hatte die Form und den Ton gefunden, in der er zu ihm zu sprechen, sich ihm verständlich zu machen, nicht blos den Soldaten, sondern auch ihm selber in’s Gewissen zu greifen vermochte. So viel erfinderische, Mark und Bein erschütternde Grobheit hatte er noch von keinem Menschen gehört. Mit einem Schimmer von Milde in dem eisernen Gesicht nickte er der Gattin zu und entgegnete: „Nichts, gar nichts, mein Kind; ich habe mir blos von dem da ein paar Schmeicheleien sagen lassen, wie sie Unsereinem nicht alle Tage zu Theil werden; er hat sein Examen gemacht und gut bestanden. Und nun scher’ Er sich in die Küche und laß Er sich ein tüchtig Frühstück geben; Er ist mein neuer Feldprediger. Himmel-heilig-Donnerwetter, der Kerl versteht’s!“

Triumphirend verneigte sich der junge Mensch und stürmte hastig davon. Das Frühstück, das er sich durch seine Probepredigt verdient hatte, war ihm in diesem Augenblicke wichtiger als das neuerworbene Amt. –

So lebt das Geschichtchen von dem mächtigen Heldenfürsten und dem armen, hungrigen Candidaten seit länger als hundert Jahren im Munde des Volkes und so ist es von dem rühmlichst bekannten Theobald v. Oer in Dresden neuerdings in einem trefflichen Gemälde verewigt worden, von welchem unsere umstehende Illustration eine getreue Nachbildung ist. Mögen die Leser sich den Fürsten ansehen. Wir haben die obige drastische Scene aus seinem Leben herausgegriffen, weil sie plastischer als jede andere Einleitung die Eigenart des Mannes uns vor Augen stellt, dessen Charakterbild die nachfolgenden Schilderungen veranschaulichen sollen.

In einer Nacht des Jahres 1694 wurden die Bewohner eines der ersten Gasthäuser Venedigs durch den Lärm eines Auftrittes erweckt, dessen eigenthümlich wilde Leidenschaftlichkeit selbst die heißblütigen Italiener mit zitterndem Schrecken erfüllte. Es war in der Carnevalszeit, wo damals die imposante Königin des adriatischen Meeres sich noch in ihrem üppigsten Glanze zeigte, wo täglich das farbenprächtige Maskengetümmel in den buntgeschmückten Straßen und Häusern, der bacchantische Taumel, die tanzende und singende, zechende und brausende Ausgelassenheit eines entfesselten Volkslebens erst mit dem Grauen des Morgens erlosch, um nach einem kurzen Rasten der erschöpften Kräfte das Werk der tollen Lust von Neuem zu beginnen.

In dieser Stunde, da schon die ersten Strahlen des Tageslichts die verödeten Stätten entwichener Lust beleuchteten, kehrte ein vornehmer junger Deutscher von einem lustigen Gelage in jenes Hotel zurück und blieb betroffen und unmuthig an der Thür seines Zimmers stehen, als er in demselben den ihm zur Begleitung mitgegebenen Hofmeister noch wachend und vollständig angekleidet fand.

„Zum Teufel, seid Ihr verrückt geworden, Baron von Chalisac, was soll’s mit diesem späten Besuche?“ fuhr er, seine hohe Gestalt aufrichtend, mit herrischem und weinerhitztem Blicke seinen Begleiter an.

„Nichts als eine Erfüllung meiner Pflicht, gnädiger Herr,“ erwiderte ruhig der Angeredete; „mein Gewissen gebot mir, Sie zu erwarten, ich muß zum letzten Male meine warnende Stimme erheben. Italien ist schön und Niemand wird Sie hindern, es zu genießen, wie es einem fürstlichen Herrn geziemt; es ist aber auch eine berauschende giftsprühende Sirene für Jeden, der noch nicht ein tapferer Soldat, ein souverainer Fürst geworden gegen den Feind in seinem eigenen Blut. Gesund an Leib und Seele sind Sie hierher gekommen. Was rauh und unbändig in Ihnen war und der hohen Mutter oft tiefen Schmerz bereitete, sollte unter diesem milden Himmel, im Anblicke erhabener Natur- und Kunstschönheiten besänftigt werden. Statt dessen sehe ich in Ihnen neue Leidenschaften mit einer Gewalt erwachen, die mich erschreckt, stürzen Sie sich in den wüstesten Taumel Ihnen bisher unbekannter Genüsse, durchschwärmen in lockerster Gesellschaft, in Raufereien und wilden Orgien Ihre Tage und Nächte. Sie sind erst siebenzehn Jahre alt, mein gnädigster Herr, unerfahren, meiner Leitung anvertraut; bedenken Sie, was die Pflichten, welche Ihrer warten, was Ihre Ehre …“

Ueberrascht und mit wachsendem Erstaunen hatte der Jüngling bis dahin der an ihn gerichteten Vermahnung zugehört. Als er jedoch das Wort „Ehre“ vernahm, griff er nach seinem Degen, stampfte mit dem Fuße und ein Zug wilden Ingrimms ging über sein sonst schönes und regelmäßiges Gesicht. „Schweig’ Er, ich bin hier der Herr und Er der Knecht!“ rief er mit einer Stimme, daß die Wände des Zimmers erdröhnten.

„Verzeihung, aber ich darf nicht länger schweigen …“

„Schweig’ Er, sage ich ihm. Will Er’s versuchen, mir Ketten anzulegen? Ich habe keine tragen gelernt; ich hacke die Hand ab, die mich binden will, und wenn es des Teufels selber wäre, thue wie’s mir gefällt und höre auf, wenn ich Lust habe. Und damit gut, ich will jetzt schlafen!“

„Aber meine Instruction …“, rief der Hofmeister.

„Zeig’ Er her den Lumpenwisch, daß ich ihn zerreiße, zertrampele, in’s Feuer schmeiße. Frage nichts nach Weiberinstructionen und Weibergeplärr! Mein Vater ist todt, glaubt man mich nun kirre kriegen, in’s Joch spannen, Duckmäusern und Flederwischen ein Commando über mich geben zu wollen? He?“

Es wäre jetzt Zeit gewesen, daß Herr von Chalisac geschwiegen hätte. Denn die Gebehrden seines Schutzbefohlenen wurden mit jedem Augenblicke heftiger, eine aufsteigende Zornröthe überflog sein Gesicht und seine Züge nahmen immer mehr den Ausdruck eines gereizten Tigers an. Als daher der muthige Hofmeister noch eine Entgegnung versuchte, brach unaufhaltsam, wie glühender Lavastrom, die Flamme der Wuth hervor – ein fürchterlicher Anblick. Mit schäumendem Munde und stampfenden Füßen, bald in wieherndes Hohngelächter ausbrechend voll wildesten Grolles, bald in brüllend hervorgedonnerten Flüchen und Schimpfworten sich Luft machend, durchmaß der junge Mann erst einige Augenblicke das Zimmer, schmetterte klirrend und polternd von Spiegeln und Geräthen zu Boden, was er erfassen konnte, schlug sich mit den geballten Fäusten gegen den eigenen Kopf, riß dann, schnell entschlossen, ein geladenes Pistol von der Wand, stürzte mit gespanntem Hahn auf den Gegenstand seines Hasses zu und brüllte, kaum noch seiner Sinne mächtig, in entsetzlichem Tone: „Mensch, jetzt werde ich Dich los, jetzt schieße ich dich nieder, wie einen tollen Hund!“

Als Herr von Chalisac das bestialisch flammende Auge und die wahnwitzige Entschlossenheit in den wuthverzerrten Mienen seines Zöglings sah, trat er zwar einige Schritte seitwärts, richtete aber dann furchtlos das Haupt empor und sagte mit fester Stimme: „Thun Sie, was Ihnen beliebt, aber bedenken Sie wohl, was man sagen wird, wenn es einst in der Geschichte heißt: Prinz Leopold von Dessau hat seinen Hofmeister ermordet!“

[623] Dieser ernste Anruf blieb nicht wirkungslos. Es trat eine kurze Pause ein, der dämonisch auflodernde Zorn entflog mit den Geistern des Weines. Tief beschämt ließ der Jüngling den erhobenen Arm sinken, schleuderte das Pistol weg, umarmte seinen Führer und sagte: „Sie haben Recht, ich war, bei Gott, im Begriff, eine ehrlose That zu verüben!“


Der geräuschvolle nächtliche Vorgang hatte Horcher herbeigelockt, denen der zum Theil in französischer Sprache geführte Streit ein bis dahin streng bewahrtes Incognito enthüllte. Man wußte jetzt in Venedig, daß der junge Mann, welcher schon seit einer Reihe von Wochen in jenem Hotel wohnte und durch die straffe Derbheit seines Auftretens, so wie durch sein ungezähmt dem berauschenden Athem des südlichen Lebens sich hingebendes Jugendfeuer vielfach die öffentliche Aufmerksamkeit erregt hatte, der Sohn eines berühmten regierenden Fürstenhauses sei. Was hier in der Fremde an ihm auffiel, jene frühreife Sicherheit, das bereits scharf hervortretende Gepräge, das borstige, allen Regeln der damaligen französischen Politur spottende Ungestüm seines Wesens und Benehmens, war durch eine seltsame, an die Zeiten des ungebundensten Ritterthums erinnernde Erziehung in ihm gepflegt und entwickelt worden. Wie ein wildes Steppenroß ohne Zaum und Zügel war er in den dunklen Eichenwäldern, den stillen lichtgrünen Auen seines abgelegenen norddeutschen Heimathländchens aufgewachsen. So hatte es sein Vater, Johann Georg II. von Anhalt, der bekannte Kriegsheld und Feldmarschall des großen Kurfürsten, ausdrücklich gewollt; dem ihm spät geborenen einzigen Sohn und Thronerben sollte jeder Zwang und jede Dressur fern gehalten, seinen Wünschen und Neigungen ein Widerspruch. niemals entgegengesetzt werden. Es war daher kein Wunder, daß der kräftig und kerngesund heranblühende Knabe, der ungestraft jeder Wallung folgen durfte, schon frühe in den Räumen des alten Fürstenschlosses zu Dessau die Rolle eines trotzigen, seine Umgebungen beherrschenden Gebieters spielen lernte und selbst den Bemühungen der gebildeten Mutter, seine Wildheit durch wissenschaftlichen Unterricht zu zähmen, einen so hartnäckigen Widerstand leistete, daß es nicht möglich war, ihm neben der französischen Sprache, die er spielend erlernte, mehr als die allernothdürftigsten Schulkenntnisse beizubringen.

Hatte er aber zum Lernen keine Geduld und Neigung gezeigt, so war dagegen der im Familienblute steckende Sinn für alles Kriegerische und Militärische, für Alles, was auf körperliche Gewandtheit und Abhärtung sich bezog, um so früher in der rauhen Seele des zuchtlosen Kindes hervorgetreten. Den Uebungen der Soldaten beizuwohnen, oder selbst die Waffen zu führen und an der Spitze ausgelassener Knabenschaaren in tollen Wagnissen durch Wald und Feld zu streifen, oder zu Hause in einem heimlichen Winkel bei den alten Schloßsoldaten zu sitzen und sich von ihnen schauerliche Kriegsabenteuer erzählen zu lassen, waren die einzigen Belustigungen, denen er mit Lust und unermüdlicher Ausdauer sich hingab. Auch an den Jagden des Hofes hatte er schon vom neunten Jahre an Theil genommen und seitdem manchen Tag und manche rauhe Winternacht mit den Jägern unter freiem Himmel gelegen. Und wenn er sich gar an der Seite des Vaters in Berlin befand, wurde sein ausschließlich kriegerischer Hang in den militärischen Umgebungen am Hofe des prachtliebenden Friedrich des Ersten so heftig aufgereizt, daß er der Aufmerksamkeit nicht entging und sogar Kaiser Leopold in Wien den erst elfjährigen Knaben zum Obersten und Inhaber eines Regiments ernannte.

So war er auf den Exercirplätzen und Fechtböden, in den Forsten und auf den Reitbahnen, die Waffen in der Hand und in stetem Umgange mit Soldaten, Jagdleuten und Pferden siebenzehn Jahre alt geworden, als plötzlich sein Vater starb. Es ist nichts über die Art aufgezeichnet, wie dieser schnelle Verlust eines so liebevollen Vaters, dessen Glück und Stolz er gewesen, das Gemüth des jungen Sohnes berührt hat, aber man weiß, daß er glücklich war, die Regierung, seiner Minderjährigkeit wegen, noch einstweilen in den guten Händen der Mutter zu sehen, um ungehindert nur seiner Leidenschaft für Jagd und Kriegswesen folgen zu können. Wenn er in jener Zeit auf dem wildesten Renner, über Hecken und Zäune setzend, mit der Hetzpeitsche knallend oder mit der Büchse die Vögel von den Dächern schießend, durch die Straßen Dessau’s jagte, krochen die Bürger scheu und ängstlich in ihre Häuser zurück, um hier von einem sicheren Verstecke aus voll bangen und doch wiederum stolzen Grauens die unheimlich fremdartige Jünglingserscheinung mit dem fliegenden schwarzen Haar und dem gebräunten Antlitz zu betrachten, aus dem zwei schon ernst und streng blickende Augen mit der Gluth ungeduldiger Rastlosigkeit hervorblitzten.

Um so größer war das Erstaunen, als kurz nach dem Tode des alten Fürsten die Klatschbasen der Stadt sich einander zuflüsterten, daß der furchterregende Nimrod, den man so ganz außerhalb der Kreise gewöhnlicher Menschengefühle sich bewegen sah, von einer zarteren Empfindung, einer jugendlichen Neigung zu einem menschlichen Wesen, ergriffen sei. Das sechzehnjährige Apothekertöchterchen, dem seine Huldigungen galten, wurde fortan ein Gegenstand scheuer Beobachtung und Aufmerksamkeit. Wer jemals das jugendliche Portrait dieses Mädchens gesehen, wird sich freilich nicht wundern, daß selbst das Herz des tollsten Wildfangs von einem solchen Zauber bezwungen werden konnte. Nur selten wohl hat ein heller Verstand, ein mildes und reines Engelsgemüth einen so strahlenden Ausdruck gefunden, als in dieser edeln Gestalt, in diesen seelenvollen blauen Augen, in den schwungvollen Linien und Zügen dieses kindlich blühenden, von einer üppigen Fülle goldigen Lockenhaars umwallten Gesichts. Schon vom zartesten Alter an hatte das Bürgermädchen zu den Gespielen des Fürstensohnes gehört, man war es gewöhnt, die Kinder bei einander und Leopold oft in dem Hause des Apothekers zu sehen, ja man wußte, daß die Fürstin sogar diesen Umgang begünstige, da sie in der stillen und sanften Anna Louise Föhse das einzige Wesen fand, das auf den starren Eigensinn, den trotzigen Jähzorn des wilden Prinzen einen sänftigenden Einfluß zu üben vermochte. Daß jedoch mit den zunehmenden Jahren aus dieser kindlichen Gemeinschaft eine leidenschaftliche Liebe sich entzündet hatte, merkten die scharfen Augen der Residenzbewohner früher, als es der Arglosigkeit der fürstlichen Mutter möglich war. Leopold war nicht der Mann, der seine Empfindungen verbergen konnte.

Je rosiger seine jungfräuliche Freundin emporblühte, um so offenkundiger wurde der leidenschaftliche Eifer seiner stürmischen Bewerbungen. Man wunderte sich, wie gesagt, ihn auf Liebeswegen zu sehen, aber man fand nichts Arges darin. Denn das so hart orthodoxe, in Bezug auf seine Standesgenossen bis zur äußersten Engherzigkeit sittenstrenge Pfahlbürgerthum jener Tage wurde erstaunlich naiv und duldsam, sobald es sich um die Frivolitäten und sogenannten kleinen Vergnügungen jener Erdengötter handelte, die für ihre Person das ausschließliche Privilegium besaßen, über die unzweideutigsten Vorschriften der Religion und Sittlichkeit öffentlich sich hinwegsetzen zu dürfen. Fürstlichen Freundinnen gegenüber steckten selbst der geistliche Zelotismus und die scharfkantigste und zungenfertigste Moralität ihre Maßstäbe ehrfurchtsvoll in die Tasche, und nicht gerade häufig waren die Fälle, wo eine unbeugsame Ehrenfestigkeit adeliger oder bürgerlicher Familien den anlockenden Vortheilen widerstand, welche sich für ihre Verhältnisse und ihre Stellung aus einer allerunterthänigst gehorsamsten Willfährigkeit gegen allergnädigste Herzenswünsche eines gebietenden Herrn ergeben mußten.

Nur ein derartiges Verhältniß konnten denn wohl auch die ehrsamen Dessauer im Auge haben, als sie die Gunst ihres zukünftigen Gebieters so unverhohlen über dem Hause ihres wohlhabenden Mitbürgers leuchten sahen. Wie groß war daher das Erstaunen, als sich plötzlich eines Morgens eine unerhörte, eine unglaubliche Kunde in der Stadt verbreitete. Laut wagte man damals über Verhältnisse des Hofes nicht zu sprechen, aber auf den Bierbänken und in den Winkeln der Häuser zischelten sich die Leute mit erhitzten Gesichtern und Gebehrden der Ueberraschung heimlich in die Ohren, daß Fürst Leopold mit ansehnlichem Gefolge die Residenz verlassen habe.

Seiner schleunigen Abreise war ein heftiger Auftritt mit der Mutter vorhergegangen. Diese war eine sittenstrenge Dame und hatte es endlich gemißbilligt, daß der Sohn schon in so jungen Jahren ein unbeflecktes Bürgerhaus in den Verdacht eines leichtfertigen Verkehrs bringe. Leopold aber erwiderte, daß seinen Besuchen in der Apotheke die ehrlichsten Absichten zu Grunde lägen. Ehrliche Absichten? Und welche könnten das sein? So fragte halb spöttisch die Fürstin, so flüsterte es von den ersten Hofschranzen bis zur letzten Küchenmagd herab durch die Räume des stolzen Askanierhauses. Und selbst die geharnischten Ahnenbilder und die ernstblickenden Frauen an den Wänden schienen die Köpfe zu schütteln und in unhörbarem Geflüster die seltsame Frage zu wiederholen. Ehrliche Absichten! [624] „Ja wohl, ehrliche Absichten!“ rief Leopold, indem er mit gewaltiger Faust auf den Tisch schlug und mit jähaufflammendem Blicke Schweigen gebot. „Glaubt man etwa, daß ich ein leichtfüßiger Schönthuer und verrätherischer Schwindler bin? Die tugendsame Jungfrau Anna-Liese wird meine rechtsame Frau und dabei bleibt es!“

Alle Vorstellungen und Beschwörungen, alle Thränen, Bitten, Drohungen mütterlicher Zärtlichkeit blieben vergebens. Nur in den Vorschlag, sich wenigstens für längere Zeit auf Reisen zu begeben, willigte der Unbeugsame mit Freuden ein. Er hatte aus Büchern nichts lernen können, er fühlte, daß er aus dem großen Buche des Lebens die Lücken seines Wissens füllen müsse. Schnell wurden die Vorbereitungen getroffen, am 25. November 1693, ungefähr drei Wochen nach dem Tode des Vaters, brach er auf, beurlaubte sich bei seinem Vetter Friedrich dem Dritten und zog mit seiner Begleitung von dannen „in das ferne Land Italia“. Schon am ersten Weihnachtstage war er in Venedig angelangt, wo wir ihn in jener Carnevalsnacht eine jener Scenen wiederholen sahen, wie sie auf dem Boden seiner heimathlichen Selbstherrlichkeit nicht selten vorgekommen waren.




Das neue elektrische Weltband.
Von Friedrich Althaus in London.


Zu derselben Zeit, wo der Donner des „siebentägigen“ Krieges das europäische Festland erschütterte und Hunderttausende schlachterhitzter Streiter von den Karpathen bis zum Rheine in blutigem Kampfe um Herrschaft und Freiheit rangen, in den ersten Tagen des denkwürdigen Julimonats 1866, verließ die englischen Küsten beinahe unbemerkt eine Flottenexpedition, um ein großes Werk friedlicher Eroberung, ein neues mächtiges Glied der lebendigen Kette zu vollenden, welche die Nationen der Erde verbindet. Es galt, zwischen der alten und der neuen Welt; zwischen Europa und Amerika, einen directen elektrischen Verkehr herzustellen, beiden Continenten, wenn nicht eine Zunge, so doch die blitzbeschwingte Sprache zu verleihen, mittels deren sie ohne Zeitverlust zu einander reden, ihre Begebenheiten, ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse einander mittheilen konnten. Die Hauptmasse des Telegraphentaues war sicher an Bord des größten Schiffes der Erde, des Great Eastern, aufgerollt. Die für die europäischen und amerikanischen Küsten bestimmten Landenden lagen ebenso wohlverwahrt in zweien der begleitenden Schiffe. Zu Anfang der letzten Juliwoche näherte die Expedition sich der amerikanischen Küste und am siebenundzwanzigsten Tage desselben Monats lief in England die frohe Kunde ein, daß das amerikanische Landende des atlantischen Telegraphen in Heart’s Content Bay gelandet sei, und die Vorposten der beiden Continente tauschten durch die Tiefen des Oceans ihre Glückwünsche über das Gelingen des großen Unternehmens aus. Somit war wirklich vollbracht, was man zu wiederholten Malen, zuerst vor neun Jahren, zuletzt, wie sich alle unsere Leser erinnern werden, noch vor zwölf Monaten mit ähnlichen Mitteln vergeblich versucht hatte. Mit dem Erfolge des atlantischen Kabels aber ist das letzte Hinderniß eines die ganze Erde umfassenden elektrischen Bandes aus dem Wege geräumt, denn auch die telegraphische Verbindung mit Australien, welche die Natur selbst durch die bequemen Zwischenstationen des süd-asiatischen Archipels erleichtert hat, dürfte jetzt nicht mehr auf wesentliche Schwierigkeiten stoßen. Man kann daher die Ausführung des atlantischen Telegraphen recht eigentlich als den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Telegraphie unsres Planeten und die atlantische Expedition als eins jener Capitel der Culturgeschichte charakterisiren, welche, innerhalb der ihr angewiesenen Sphäre, eine Hauptepoche bezeichnen.

Der erste Versuch seines unterseeischen Telegraphen wurde 1848 im Hafen von Portsmouth gemacht; doch hegte man längere Zeit so lebhafte Bedenken über die Ausführbarkeit größerer unterseeischer Linien, daß eine der wichtigsten Telegraphenverbindungen Englands, diejenige, welche auf dem kürzesten Wege den Verkehr des Inselreichs mit dem europäischen Festland vermittelt, die Linie zwischen Dover und Calais, erst im Jahre der großen internationalen Ausstellung (1851) in Angriff genommen und vollendet wurde. Der Erfolg dieses Erstlingsunternehmens übertraf die kühnsten Erwartungen und unter dem Impuls seines Gelingens drang seitdem die unterseeische Telegraphie mit Riesenschritten nach allen Seiten auf ihrem Eroberungswege vorwärts. Die Zahl der Taue zwischen Dover und Calais wurde allmählich auf vier vermehrt; eine neue Linie mit sechs Conductoren entstand zwischen Dover und Ostende, eine dritte mit sechs Conductoren zwischen Folkestone und Boulogne, eine vierte mit vier Conductoren zwischen Harwich und Rotterdam, eine fünfte mit drei Conductoren zwischen Hull und Kopenhagen. Auch die andern Nationen waren nicht träge, dem von England gegebenen Beispiel zu folgen. Die Manufactur unterseeischer Telegraphentaue entwickelte sich rasch zu einem großen Industriezweige. Schweden und Dänemark, das italienische Festland und die Inseln Corsica, Sardinien, Sicilien und Malta, Suez und Aden, Ceylon und Indien, Südaustralien und Vandiemensland, Neufundland und Cape Breton wurden während des folgenden Jahrzehnts durch unterseeische Telegraphen, deren Länge zwischen zehn und dreihundertundsechszig englischen Meilen schwankt, in Verbindung gesetzt. Da diese Unternehmen aber zugleich auch pecuniär sich trefflich bewährten und ansehnliche Dividenden abwarfen, so konnte es nicht fehlen, daß man, von Stufe zu Stufe fortschreitend, bald zur Ueberwindung auch der größten unterseeischen Distanzen zwischen Ländern und Continenten Muth faßte und vor dem kühnen Gedanken einer elektrischen Verbindung Europas und Amerikas, über das Bett des atlantischen Oceans hin, nicht zurückschreckte.

Wem das Prioritätsrecht der Anregung dieses Planes zukommt, wollen wir nicht unternehmen zu entscheiden. Der Gedanke an sich lag unter den Umständen nahe genug und über seine Bedeutung konnten die Ansichten kaum getheilt sein. Thatsache

Das atlantische Telegraphenkabel vom Jahre 1858.
In natürlicher Größe.

ist, daß im Beginn des Jahres 1854 eine Anzahl Kaufleute und Ingenieure in New-York unter dem Vorsitz des Amerikaners Cyrus Field den Entschluß faßte, das Werk in die Hand zu nehmen, und noch im März desselben Jahres von dem Parlament in Neufundland die Autorisation zur Gründung der New-York, New-Foundland and London Telegraph-Company erlangten, wodurch der Compagnie auf fünfzig Jahre das ausschließliche Recht bewilligt wurde, Telegraphentaue in Neufundland und an den benachbarten Küsten zu landen. Der nächste weitere Schritt war die Legung eines unterseeischen Telegraphen durch den St. Lorenzgolf von dem amerikanischen Festland nach Neufundland, ein Unternehmen, welches zwei Jahre später (1856) unter der Leitung von Cyrus Field in’s Leben trat. Inzwischen war auch in England das Interesse an der Ausführung eines atlantischen Telegraphen rege geworden. Die öffentliche Meinung auf beiden Seiten des Oceans äußerte sich entschieden zu Gunsten des großen Werkes und die Regierungen beider Länder blieben nicht hinter den Nationen zurück. Englische und amerikanische Kriegsschiffe wurden im Sommer 1856 mit der Untersuchung des Meeresbodens zwischen Neufundland und Irland beauftragt und englische Capitalisten in London gründeten die Atlantic Telegraph-Company, welche mit der amerikanischen Compagnie gemeinsame Sache machte und in Kurzem über ein Capital von dreihundertundfünfzigtausend Pfd. St. verfügte. Allerdings fehlte es auch nicht an warnenden Stimmen, welche die Idee eines atlantischen Telegraphen in das Gebiet phantastischer Träume verlegten und den Actionären ein trauriges Ende weissagten. Die Größe der zurückzulegenden Entfernung, die mächtige Tiefe des Oceans, die abrupte Unregelmäßigkeit seines Bodens, die unberechenbaren Gefahren von Stürmen, Nebeln und Eisbergen, mangelhafte Construction des Taues, die [625] man vielleicht erst entdecken werde, wenn es zu spät sei – diese und manche andere Bedenken wurden geltend gemacht und fanden bis zuletzt bei nüchternen und ungläubigen Leuten Eingang. Doch auf der andern Seite war der Muth und das Vertrauen der Compagnie unerschütterlich.

Die nöthigen Vorkehrungen wurden mit dem größten Eifer, der größten Umsicht getroffen; die englisch-amerikanischen Regierungen versprachen zwei Kriegsschiffe zum Transport des Taues, und am 7. August 1857 traten jene Schiffe, der „Niagara“ und der „Agamemnon“, mit dritthalbtausend Meilen Telegraphentau an Bord, unter den Glückwünschen des englischen Volkes ihre Fahrt von Valentia nach Neufundland an. Die Expedition mißglückte. Schon wenige Meilen vom Lande zerriß das Tau, indem es in die zum Auswinden bestimmte Maschinerie verwickelt wurde. Das Geschwader, hierdurch nicht entmuthigt, kehrte um, hob das abgerissene Ende und ging nochmal auf die Fahrt. Allein noch einmal, und diesmal in verhängnißvoller Weise, trat der Mangel an Erfahrung dem Gelingen entgegen. Mehrere hundert Meilen westlich von Valentia kam man an eine Stelle, wo ein mächtiger, klippenartiger Abgrund das Bett des atlantischen Oceans plötzlich von 2400 zu 10,000 Fuß vertieft. Man hatte dem Einfluß der durch einen so gewaltigen Sturz auf die Auswindemaschinerie geübten Spannung keine genügende Rechnung getragen und mit unwiderstehlicher Gewalt riß noch einmal das Tau auseinander. Unter diesen vorbereitenden Versuchen war die günstigste Jahreszeit vorübergegangen. Die Aequinoctialstürme standen bevor und durch das Erlebte, wenn nicht entmuthigt, so doch belehrt, entschloß man sich, obgleich die noch vorhandene Taulänge im Nothfall zur Vollendung der Linie ausgereicht haben würde, zur Umkehr.

So endete die erste atlantische Telegraphenexpedition. Die ungläubigen Leute triumphirten, die Actien der Compagnie fielen. Daß aber nach einem solchen Ausgang im folgenden Jahre eine neue Expedition versucht werden müsse war keinen Augenblick

Das atlantische Telegraphenkabel vom Jahre 1865.
In natürlicher Größe.

zweifelhaft. Die Zwischenzeit wurde benutzt, das verlorene Tauende zu ersetzen und, was noch wichtiger, der Auswindemaschinerie die möglichste Vollkommenheit zu geben. Auch in der zur Expedition bestimmten Jahreszeit machte man eine durch die Erfahrungen des vorigen Jahres gebotene Aenderung. Statt im August sollten die Schiffe schon zu Anfang Juni ihre Fahrt beginnen. So durfte man für den Fall theilweisen Mißlingens auf die Chance einer Reihe neuer Versuche rechnen, und um kein Mittel des Erfolges zu vernachlässigen, berücksichtigte man in ebenso liberaler Weise neben dem Maße der Zeit das des Raumes, indem mehrere hundert Meilen Extra-Taulänge über die volle Meilenzahl von zweitausend in Reserve gehalten wurden. Voller Hoffnung ging nach diesen Anstalten die alte Telegraphenflotte am 10. Juni 1858 von Neuem unter Segel. Man verlor den Muth nicht, als nach einigen Tagen das Reißen des Taues am Bord des „Niagara“ die Rückkehr nach Irland nothwendig machte; man kehrte voller Zuversicht noch einmal nach Irland zurück, nachdem bei der zweiten Fahrt zweihundertneunzig Meilen Taulänge verloren worden. Schon am 17. Juli war Alles wieder zum Aufbruch fertig. Der Plan war nun dahin geändert, daß die Flotte, statt die Versenkung des Taues an der irischen Küste zu beginnen, in der Mitte des Weges über den Ocean Posto fassen, dort die Verbindung zwischen den beiden Tauenden am Bord des „Niagara“ und des „Agamemnon“ herstellen und sodann, zu gleichen Theilen, zur Versenkung des Taues nach Irland und Amerika aufbrechen sollte. Auf dem Wege nach diesem Rendezvous wurden die Schiffe durch einen schrecklichen Sturm getrennt, der ihre Ankunft mehrere Tage verzögerte und den hochbeladenen „Agamemnon“ dem Untergang nahe brachte. Indeß auch diese Gefahr ging vorüber. Die Schiffe trafen an dem verabredeten Punkte zusammen, die Vereinigung der Tauenden gelang und ohne weiteren Unfall landete am 4. August der „Agamemnon“ in Valentia, der „Niagara“ in Trinity Bay. So schien denn, allen mißtönigen Prophezeiungen zum Trotz, das große Werk zu Ende geführt. An jenem selben 5. August liefen die ersten telegraphischen Botschaften aus Neufundland in England ein. Tags darauf schickte Königin Victoria eine glückwünschende Depesche an den Präsidenten der Vereinigten Staaten und der Präsident erwiderte durch eine glückwünschende Antwort. Der Jubel war groß. Mit einem gewaltigen Schwunge stiegen die Actien der atlantischen Compagnie in wenigen Tagen mehrere hundert Procent über Pari – die Bureaus in Valentia und Trinity Bay wurden mit Aufträgen von beiden Seiten des Oceans überschwemmt, der glänzendste pecuniäre Erfolg schien dem Unternehmen gesichert. Aber noch mitten in dieser Siegesfreude verbreiteten sich ominöse Gerüchte über eine zunehmende Undeutlichkeit in den Signalen des atlantischen Telegraphen und die Gerüchte waren leider nur zu wohl begründet. Die Undeutlichkeit der Signale wuchs von Tage zu Tage, zu Anfang September hörten sie völlig auf. Vergebens machte man sich noch eine Weile mit verzweifelten Hypothesen Hoffnung. Der versiechte elektrische Strom erneuerte seine Wellen nicht wieder und das Ende war die traurige Gewißheit, daß auch diese Expedition fehlgeschlagen, daß der atlantische Telegraph von 1858, so unzweifelhaft sicher er auf dem Boden des Oceans ruhen und so eifrig man an seinen europäischen und amerikanischen Tauenden operiren mochte, für alle praktischen Zwecke verloren sei.

Eine harte Enttäuschung! Und zu verwundern war es nicht, wenn damit den Plänen der Atlantic Telegraph Company ein Stoß versetzt war, von dem sie sich nur langsam erholte. Die Distanz zwischen Irland und Neufundland, so erklärte man nun, sei zu groß, die Gefahren eines so langen unterseeischen Weges zu unberechenbar. Da jedoch die telegraphische Verbindung beider

Das atlantische Telegraphenkabel vom Jahre 1866.
In natürlicher Größe.

Continente einmal unabweisbares Bedürfniß sei, solle man lieber ohne Zeitverlust nach einem kürzeren Wege suchen. Man warf den Blick über die Wasser- und Ländermassen der atlantischen Küsten und schmeichelte sich mit der Hoffnung, mehr als eine solche „kürzere Route“ abstecken zu können. Einer Ansicht nach glich nichts den Vortheilen einer Linie zwischen Schottland, Island, Grönland und Labrador; von andrer Seite wurden Brest, Cap Finisterre, die Azorischen Inseln und Neufundland als die bequemsten Stationen gepriesen; ein dritter Plan endlich gab dem Wege über Lissabon und die Canarischen und Cap-Verd-Inseln nach Cap St. Roque in Brasilien den Vorzug. Aber keine dieser Routen fand denselben Beifall wie der alte Weg zwischen Irland und Neufundland, und eine zur Führung der Linie von Brest gebildete Ocean Telegraph Company ging nach einer kurzlebigen Existenz zu Grunde.

Inzwischen hatte die Atlantic Telegraph Company, unterstützt durch ein Comité des englischen Handelsministeriums, die Ursachen ihres Mißlingens erforschen lassen und war zu dem Resultate gelangt, daß es Ursachen seien, „die man durch Geschick und Vorsicht beseitigen könne.“ So groß ihre Verluste gewesen waren und ein so tiefgewurzeltes Mißtrauen ihnen im Wege stand, so unverändert blieb daher nichtsdestoweniger der Glaube der leitenden Persönlichkeiten an den endlichen Erfolg des Unternehmens, und zu Anfang des Jahres 1864 kündigte ein neuer Prospectus der alten Compagnie eine neue atlantische Telegraphenexpedition an. Zuerst verkauften die Actien sich langsam, doch im Mai des Jahres gab der Unternehmungsgeist zweier großer Firmen den entscheidenden Ausschlag. Sie zeichneten den ganzen noch fehlenden Actienbetrag von 320,000 Pfund Sterling und schlossen mit der Atlantic [626] Telegraph Company einen Contract für Anfertigung und Versenkung eines neuen atlantischen Telegraphen zwischen Irland und Neufundland. Um der Expedition die vollkommenste einheitliche Leitung zu geben, beschloß man, das größte Schiff der Erde, den Great Eastern, in Dienst zu nehmen und die Taulänge nicht wie früher zu theilen, sondern ungetheilt an Bord dieses einen Schiffes zu verpacken. Auf die unermüdliche Sorgfalt, womit bei der Manufactur des Taues alle seit 1858 gemachten Erfahrungen und Erfindungen in Anwendung gebracht wurden, auf den rastlosen Eifer, der jedem kleinsten Detail der Maschinerie die umfassendste Aufmerksamkeit widmete, auf den gebildeten Sinn endlich, der für jedes Departement die besten Kräfte heranzog, können wir hier nur im Allgemeinen mit der Bemerkung hinweisen, daß das sachverständigste Urtheil sie als musterhaft anerkannte. Ohne Unterbrechung gingen so die Arbeiten weiter. Der Great Eastern lag schon im Februar 1865 an der untern Themse bereit; am 10. Juni war das neue Tau in den zu diesem Zweck bestimmten drei kolossalen Behältern des gewaltigen Schiffes verpackt und am 23. Juli, nach Legung des Landendes bei Valentia, ging die Telegraphenflotte in See. Um jede Täuschung über die Fortdauer der Insulation des elektrischen Stroms zu beseitigen, hatte man beschlossen, mit der Station in Valentia in unausgesetzter telegraphischer Verbindung zu bleiben, und die Theilnahme der gebildeten Welt an dem Erfolge des Unternehmens wurde auf diese Weise durch tägliche Depeschen aus der Mitte des Oceans wachgehalten.

Jeder Tag fügte der Länge des versenkten Taues seine hundert Meilen hinzu und die hoffnungsvolle Spannung wuchs, als die Zeitungen das Ueberschreiten der Mitte des Weges, die Zahl von tausend, von zwölfhundert Meilen meldeten. Die bald nachher folgende Katastrophe: das Zerreißen des Taues in einer Entfernung von nur siebenhundert englischen Meilen von Neufundland, die beharrlichen, aber vergeblichen Versuche, das versunkene Tau aus einer Tiefe von drei englischen Meilen emporzuwinden, sind noch in frischester Erinnerung. Aber ein Schlag, der hundert Andere entmuthigt haben würde, verdoppelte die Energie der Männer von der atlantischen Compagnie. Die Arbeit und die Opfer so vieler Jahre sollten nicht verloren gehen. Ohne Verzug schritt man zu der Manufactur eines neuen atlantischen Telegraphentaues; noch einmal wurden alle Mittel des Capitals, der Kunst, der Ausdauer in Bewegung gesetzt, und Anfang Juli dieses Jahres brach man noch einmal zur Erreichung des Sieges von Irland nach Amerika auf. Wie dieser letzte Versuch von Erfolg gekrönt wurde, haben wir Eingangs erzählt. Mehr als ein Monat ist seitdem verflossen und nach Allem, was über die Thätigkeit des atlantischen Telegraphen verlautet, entspricht der Erfolg den kühnsten Erwartungen. Trotz des hohen Preises der Depeschen, in denen jedes Wort zu einem Pfund Sterling berechnet wird, lassen die Einnahmen der Compagnie schon jetzt auf einen Jahresertrag von 900,000 Pfund schließen. Die Regierungen, der Handel, die Industrie, die Presse Englands und Amerika’s beginnen, sich im größten Umfang des elektrischen Stromes durch den Ocean zu bedienen, und nichts steht der Annahme im Wege, daß der Größe der Unternehmung auch der materielle Gewinn entsprechen wird, der ihr im höchsten Maße gebührt.

Zur Vervollständigung unsrer Darstellung bleibt uns nur übrig, auf die Construction des atlantischen Telegraphen einen Blick zu werfen und auf eine dem Hauptdrama an Interesse beinahe gleiche Episode der letzten Expedition hinzuweisen, von deren glücklichem Abschluß unlängst die Kunde einlief. Gestalt und Umfang des Taues stellen die beigefügten Illustrationen in den wirklichen Verhältnissen dar. Das Tau erscheint danach etwa eine Linie dünner, als das Tau von 1865, aber doppelt so dick als das Tau von 1858, dessen Durchmesser nur etwa sieben Linien betrug. Die in eine ebenso solide als biegsame Masse verarbeiteten Bestandtheile des Taues von 1866 sind folgende: 1. ein Conductor von sieben Kupferdrähten, von denen sechs den siebenten umwinden; 2. vier (zusammen etwas weniger als einen halben Zoll dicke) Lagen den Kupferdraht isolirender Gutta Percha; 3. eine äußere Umhüllung von zehn galvanisirten Eisendrähten, von denen jeder einzelne mit Flechten weißen Manillagarns umwickelt und mit einer präservirenden Mixtur getränkt ist. Kupferdrähte, Gutta Percha und garnumwundene Eisendrähte zusammen wiegen per englische Meile einunddreißig Centner in der Luft, nahe an fünfzehn Centnern im Wasser, woraus für die gesammte am Bord des Great Eastern verschiffte Taulänge von zweitausendsiebenhundert Meilen ein absolutes Gewicht von fünftausend Tonnen oder hunderttausend Centnern resultirt. Berechnet man hinzu die zur Fahrt erforderlichen achttausendfünfhundert Tonnen Kohlen, nebst einem gleichen Gewicht von achttausendfünfhundert Tonnen für die zur Aufnahme des Taues bestimmten Wasserbehälter und Maschinerien aller Art, so erhält man das staunenswerthe Resultat, daß der Great Eastern die atlantische Expedition mit einer Frachtlast von etwa zweiundzwanzigtausend Tonnen oder vierhundertvierundachtzigtausend Centnern unternahm. Einen doppelt größeren Umfang und ein entsprechend größeres Gewicht als die Hauptmasse des Taues haben die Landenden, deren Verpackung auf die das Hauptschiff begleitenden Fahrzeuge bereits erwähnt wurde.

Aber mit der Landung in Neufundland war die Aufgabe des Great Eastern noch nicht vollendet. Er hatte noch mehr als siebenhundert Meilen unbenutzte Taulängen an Bord, die zur Herstellung einer zweiten atlantischen Linie bestimmt war, und am fünften August brach er von Heart’s-Content-Bay auf, um auch dieses Werk zum Ziele zu führen. – Es handelte sich um nichts mehr und nichts weniger als um die Hebung des im Jahre 1865 versunkenen Telegraphen, dessen Vereinigung mit dem an Bord des Great Eastern befindlichen Tauende und die Landung auch dieser zweiten Linie an der amerikanischen Küste. Von vielen Seiten wurde, selbst nach dem Gelingen der großen atlantischen Expedition, die Möglichkeit nicht blos des Einwindens eines so mächtigen Gewichtes aus so gewaltigen Tiefen, sondern des bloßen Erfassens des Taues auf dem Meeresgrunde, bezweifelt. Doch die Männer der atlantischen Compagnie und des Great Eastern waren durch keine Bedenken in ihrer Zuversicht zu erschüttern. Sie wußten durch fortgesetzte Experimente, daß die Leitungsfähigkeit des versunkenen Taues seit Jahresfrist eher gesteigert als geschwächt sei; sie hatten sein temporäres Grab durch astronomische Beobachtungen genau bezeichnet und sie vertrauten, neben dem eignen Geschick, auf die Kraft des Grapnel, einer Hebemaschine, die, für den besondern Zweck der Hebung des Taues construirt, am Bord des Great Eastern ihrer Bestimmung wartete. Und das Staunenswerthe geschah. Nach einer Reihe vergeblicher Versuche wußte man am 27. August in England von dem glücklichen Aufwinden des Taues von 1865 und seiner Amalgamirung mit dem Tau am Bord des Great Eastern. Der verloren geglaubte Telegraph redete aus einer Tiefe von drei englischen Meilen wieder in vernehmlicher Sprache. Jeder folgende Tag brachte seine eigne Kunde vom Ocean über den Fortgang der Fahrt, über das Schwinden der Entfernung zwischen dem Great Eastern und dem amerikanischen Ufer, und heute, wo ich diese Zeilen schließe, (11. September), meldet er, der Telegraph von 1865, in allen Zeitungen seine Landung in Heart’s-Content-Bay auf Neufundland. Die einfache Erzählung dieser Thatsachen spricht für sich selbst und dem Berichterstatter bleibt schließlich nur der lebhafte Ausdruck der Befriedigung, daß es ihm vergönnt war, den Erfolg eines so hohen Ereignisses in der Geschichte der Menschheit zu constatiren, der Wunsch, daß die Vollendung des Ganzen, von dem es der Haupttheil ist, ohne Verzug gelingen möge.




Erinnerungen aus dem deutschen Kriege des Jahres 1866.
Nr. 1. Heiligenbilder auf dem Schlachtfelde.
Von Georg Hiltl.


Die Landstraßen, Felder, Thore und Gassen der Städte, welche innerhalb eines Ländergebietes liegen, dessen herrschende Religion die katholische ist, zeigen an unzählig vielen Stellen einen ebenso poetisch reizenden, als für den Bekenner zur Andacht mahnenden Schmuck: die Heiligenbilder. Man mag darüber urtheilen, wie man will, gewiß hat Jeder von uns schon bei dem Anblick [627] eines solchen Bildes dem freundlichen Eindrucke sich oft genug nicht zu entziehen vermocht, den das in einer stillen Waldgegend sich erhebende, von einem hohen Felsen in das Land hineinschauende oder in dunklem Thale von üppigem Grün umwucherte Bildstöckchen auf den Wanderer hervorbringt. Freilich arten die Darstellungen zuweilen aus und Marterbilder gehören nicht unter die poetischen Dinge, allein die einfache Gestalt eines segnenden Heiligen oder ein Marienbild verleihen der Gegend fast immer den Reiz des Malerischen, da sie gewöhnlich mit richtiger Empfindung an solchen Orten aufgestellt werden, die durch ihre Naturschönheit auf das Gemüth des Beschauers wirken.

So harmlos und friedlich nun aber diese Bilder in ruhigen Zeiten sich aus dem schwellenden Kornfelde oder am waldigen Kreuzwege erheben: wenn um und neben ihnen der Lärmen und Donner einer Schlacht braust, dann verändert sich mit Einem Schlage die Scene. Die Zeichen eines religiösen und Frieden verheißenden Begriffes respectirt der Krieg nicht weiter, und was sonst nur dem stillen Beter wichtig war, das wird jetzt mit in die Kampflinie gezogen und dient dem Interesse von Freund und Feind. Hierher gehört vor allen Dingen das so wichtige Abschätzen einer Distanz für das Feuer der Artillerie. Aus der Ebene, die kein Hügel, keine Erhebung des Bodens unterbricht, steigt das auf hoher Säule prangende Bild eines heiligen Nepomuk oder Sebastian empor. Keine bessere Schätzung für die Richtung, welche die mörderische Kugel zu nehmen hat. Von der todspeienden Batterie, deren Rohre sich dort hinten auf dem Hügelkamme befinden, bis zu dem Bildstocke sind so und so viele Fuß oder Schritt. Das weiß der Feind genau; nun schreiten die Angriffscolonnen vor, kaum sind sie in den Umkreis des Bildes gelangt, da schmettert das verheerende Eisen in ihre Glieder. Der Feind hat genau und scharf gezielt, er wußte die Entfernung, er kannte die Länge der Bahn, welche sein Geschoß durchfliegen muß, das Heiligenbild hat das Ziel bezeichnet, richtig ist die Distanz abgeschätzt und neben dem Friedenszeichen liegen die Angreifer blutend in den Sand gestreckt, der harmlose Heilige schaut herab auf das Elend, welches einige Hände voll schwerer Granatsplitter zu seinen Füßen ausgestreut haben, wie er ehedem auf die Beter oder die lachenden Felder herniedergeblickt hat. Die zerstörenden Geschosse verschonen die Statue eben so wenig wie die Lebenden. Kugelspuren am Postamente, abgerissene Stücke weit in das Feld hineingeschleudert, häufig die ganze Figur zertrümmert – so findet man unter den Leichen und Verwundeten die Trümmer des Heiligenbildes auf dem Schlachtfelde.

Es war auf dem Wege nach Königgrätz. Hin und her wogen die Reihen im Feuer des Gefechtes. Eine lange Colonne rasselt herbei. Das Feld ist ringsum frei geworden, nur stumme Gesellen, dem ewigen Schlafe verfallen, liegen verstreut auf dem blutgetränkten Boden. Zwischen ihnen erheben sich, matt nach Hülfe stöhnend, hier und dort die Verwundeten, sie recken ihre Hände zu dem Bilde des Heiligen empor, dessen Säule aus dem grausigen Gewirre emporsteigt. Die Colonne hält bei der Statue, sie kann hier ihre Stellung nehmen, denn schon ist jene todbringende Batterie drüben auf den Hügeln stumm geworden; genommen ist sie von den siegend vordringenden Schaaren, es schweigt das Feuer. Welche Bewegung in der Colonne? Mit Blitzeseile werden die Decken der Wagen zurückgeschlagen, seltsame Geräthschaften breitet man aus, Fuhrwerke mit rothem Kreuze im weißen Feld stellen sich rings um den Heiligen auf, rüstige Männer, in dunkler, einfacher Uniform, tragen die Zerschmetterten und Wimmernden herbei. Es ist eine Ambulance, ein Verbandplatz, der sich vor dem Bildstocke etablirt, und auf den Stufen, an den Zierrathen der Säule liegen Instrumente, Bandagen, hängen blutgetränkte Lappen und Tücher. So mancher der Herbeigetragenen sieht die Sonne des Tages zum letzten Male sinken, mit ihr scheidet er für immer aus diesem Leben. Er hat von Jugend auf im kindlichen Glauben an die Macht der Heiligen gelebt, für ihn ist es eine Erquickung, in der letzten Stunde noch das lächelnde Antlitz dort oben auf der Säule betrachten zu können. Er betet zu dem Steinbilde, er meint, die segnende Hand des Trösters dehne sich weit aus und senke sich auf seine brennende Todeswunde. „Hebt mir den Kopf noch einmal empor. Ich will ihn sehen,“ ruft ein armer Bursche aus dem schönen Steiermark, der auf den Tod getroffen vor dem Heiligenbilde liegt. Die preußischen Männer erweisen ihm diesen Liebesdienst und ein mattes Lächeln umspielt die Lippen des Sterbenden; leise murmelt er Etwas, dann senkt er sein Haupt zurück, streckt die kraftvollen Glieder und hat verendet.[1]

Eine Stunde später. Die Wagen sind nicht mehr zu erblicken, die Verwundeten sind in Sicherheit; man hat sie in das sogenannte Depôt gebracht, für ihre Wunden ist die sorgende Hand des Arztes da. Nur die Todten umgeben den Heiligen; in geringer Entfernung ziehen die Schaaren an ihm vorüber, die auf’s Neue in den immer wilder tobenden Kampf stürzen. Da galoppirt eine Reiterschaar herbei, sie hält um den Fuß des Bildstockes. Es sind hohe, kräftige Gestalten, trotz der einfachen Uniform lassen sich die preußischen Generäle und Officiere des Stabes leicht erkennen. Nun sitzen Einige ab von den dampfenden Rossen, Zügel und Riemen schlingen sich um die Säule des Heiligen. Die Schlacht hat eine ganz neue Physiognomie angenommen und gerade von dem Bildstocke aus läßt sie sich trefflich beobachten. Jetzt klettert einer der Männer auf die Stufen. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen die Inschrift, welche die Säule ziert und ihre Stiftung bekundet, sieht unter dem Heiligenbilde ein Betpult, dann bedeckt dasselbe plötzlich eine Situationskarte, die Finger der Beobachtenden fahren über die Linien des Blattes und dann nehmen die Männer wieder die Fernröhre vor das Auge und starren ruhig in den furchtbaren Knäuel von Menschen, Pferden, Waffen, Geschützen und Rauch, der gegenüber der Statue vor den Blicken der Befehlshaber auf- und niederzuckend sich zusammenballt. Nur kurze Zeit halten die Reiter noch bei dem Bildstocke, die Wellen des Gefechtes rollen nach einer andern Gegend des Schlachtfeldes, ungeduldig scharren die Rosse schon den Boden, den in Zeiten des Friedens nur die Kniee der Andächtigen drücken.

„Auf, vorwärts!“ tönt es. Die Abgestiegenen schwingen sich in die Sättel, die Stufen des Heiligenbildes dienen ihnen als Tritt, noch einen Moment blickt Alles in die Ferne, um den Ort zu suchen, der ihnen für die nächste Beobachtung der beste scheint; da horch, ein pfeifender Ton hoch oben in der Luft, ein Knattern und Prasseln, lange weiße Fäden schweben nieder und an ihnen läßt sich sausend die Granate hinab, mit gewaltiger Kraft in den Erdboden schlagend. An den Reitern und an dem Heiligen empor spritzen Schlamm und Staub, mit zwei Sätzen stiebt die Schaar der Officiere auseinander, dem sichern Tode zu entgehen, aber schon berstet mit Krachen das verderbliche Geschoß, einige Splitter reißen Stücke aus dem Gesimse des Postamentes, einige andere fahren unter die Menschen. Blutend sinkt einer aus dem Sattel, es ist ein kräftiger Ulan, ein guter Bursch, der Ordonnanzdienste bei dem Stabe thut; ihn hat der mordende Splitter niedergerissen, zwei Cameraden helfen ihm aus dem Sattel und lassen ihn zur Erde gleiten, wo er blutend auf den Stufen des Heiligenbildes liegt. Die Helfer können nicht lange bei ihm verweilen, sie nehmen Abschied von dem Ohnmächtigen, der eine führt das ledige Pferd am Zügel mit, schon fällt die zweite – die dritte Granate dicht neben dem Bilde nieder, glücklicherweise platzen sie nicht; die Officiere reiten schon feldein, die Ordonnanzen müssen folgen. Der Gefallene wird hoffentlich aufgehoben werden durch die Lazarethcolonne; einstweilen röthet sein Blut die Steine des Sockels.

„Armer Junge!“ ruft wehmüthig einer der in’s Gefecht sprengenden Officiere. „Es war ein guter Kerl.“

„Ja, ja,“ erinnert der andere, „das Heiligenbild ist eine schlimme Stelle. Man sollte sehr vorsichtig dabei sein, es dient als Zielpunkt, schon liegen genug Leute von den Unsern da herum. Woher zum Teufel sind die Schüsse gekommen?“

„Nur einige Minuten lang hat da oben eine Batterie Posten gefaßt,“ antwortet ein älterer Officier, „und gleich wußten sie [628] ihre Distanz. Es ist erstaunlich, wie weit man die Ziele sehen kann. Sie haben Recht: Heiligenbilder und abgeschälte Baumstämme sind prächtige Merkzeichen.“

Wieder sind Stunden vergangen und unter blutigem Ringen hat sich der Kampf in die Nähe des Bildes gezogen. Fast in den Boden gestampft haben Roß und Mann die Todten, in das Gebüsch hinter der Statue werfen sich die Schützen des Feindes und senden ihre Kugeln den Gegnern zu. Ein Hagel aus den Zündnadelgewehren treibt sie zurück in das freie Feld, sie sind dem Verderben preisgegeben, aber sie müssen sich stellen, Schuß auf Schuß donnert heran. Deckung vor dem vernichtenden Geschosse! Da erreichen ein paar der dem Verderben Geweihten das Bild, sie pressen sich an die Säule, einige Kugeln schlagen dagegen. Die Schützen haben eine Stelle gefunden, hinter welcher sie sich bergen können, aber sie dürfen nicht müßig stehen, sie müssen feuern, und so legen sie denn das Rohr an die Säule des Heiligen; den linken Arm untergestemmt, den Kolben an der Schulter haben sie einen sicheren Stützpunkt und hinter dem Bildstocke hervor kracht der Schuß, in den Busch sinkt der getroffene Feind. Nun schwirren die Gewehrkugeln um die heilige Statue, immer näher streifen die Verfolger, bis zuletzt das furchtbare Bajonnet die letzte Entscheidung herbeiführt; zum Tode matt fechten die Krieger um ihr Leben, Hülferufe senden sie zu dem Steinbilde empor – umsonst. Ein Stoß wirft den letzten zu Boden. Noch ein Mal versucht er es sich aufzuraffen, aber tödtlich getroffen sinkt er nieder, seine Arme umklammern die geweihte Säule und an ihrem Fuße bricht er leblos zusammen. Auf die Stufen klettert der Hornist, sein Signal schmettert laut hinaus in das Feld. „Sammeln“ bläst er, und von allen Seiten kommen die Männer herbei; noch knattern einzelne Schüsse. „Stopfen“ bläst der Hornist; das Feuer schweigt, und endlich ist das ganze Bataillon zusammen, Helme und Feldmützen wogen durcheinander, jubelnde Stimmen schallen und begrüßen sich, Bajonnete blitzen und über all’ die Hunderte ragt der Heilige empor. Schon sinkt der Abend nieder, die Schatten werden länger, aber die Statue ist weithin sichtbar von rothem Schimmer überfluthet, es ist der Feuerschein des brennenden Dorfes, dessen geflüchtete Bewohner einst das Standbild gesetzt haben, als sie sich und ihre Habe dem Schutze des Patrons empfahlen.

Verloren ist das Treffen für die österreichischen Männer. Die Nacht bricht ein. Aus der Ferne hallen die Schüsse herüber, welche die zurückweichende Armee und die sie verfolgende lösen, doch lebendig und bewegt ist die Scene, auf die der Heilige nun herniederschaut. Man bivouakirt auf dem Schlachtfelde, die Wachtfeuer flammen empor, die Proviantcolonnen kommen heran, Alles jauchzt ihnen entgegen, Brod, Fleisch, Salz – das Labsal wird vertheilt und die Flaschen kreisen. Dicht um den Heiligen stehen die Karren der Marketender und die Fuhrwerke der Proviantcolonnen. Um in der Dunkelheit eine möglichst gute Beleuchtung zu haben, sind oben an dem Capitäl der Säule, wo die pausbäckigen Seraphsköpfchen hervorblicken aus vergoldeten Wolken, Stalllaternen angebracht, auf die Stufen der Säule hat man Hackebreter gelegt und zertheilt die Fleischrationen, welche dann sofort in die brodelnden Kochtöpfe wandern.

„Wie viel Brode sind ausgegeben?“ ruft eine Stimme.

„Zweihundert,“ lautet die Antwort.

Jede Zahl, die da genannt wird, schreibt ein stämmiger Bursche auf, die Rechnung muß genau stimmen, und die zum Vertheilen Beorderten haben die Verantwortung; da der Rechner keine Schreibtafel bei der Hand hat, so ist ihm die glatte Seite des Postamentes, auf welchem der Heilige thront, sehr willkommen. Er schreibt mit Kohle oder Kreide seine Zahlen daran, wie man beim Kegelspiel die Würfe notirt, dann macht er einen Strich und addirt die Zahlencolonne. „Stimmt,“ ruft er, macht seine Finger naß und löscht die Summe aus, um darunter eine neue Reihe zu beginnen, die seine Fleischrationen aufzählt. – Die Leute haben ihren Vorrath empfangen und die Proviantwagen setzen sich nach einem andern Theile des Schlachtfeldes in Bewegung. Nun machen es sich die Leute bequem, so bequem als es nur irgend möglich ist, ihre Tornister werden zu Kopfkissen genommen und die zunächst am Heiligenbilde campiren, die stellen ihre Gewehre gegen das Postament. An dem gebogenen eisernen Arm, der bei festlichen Gelegenheiten die brennende Lampe zu Ehren des Schutzpatrons hält, hängt das Riemenzeug; die Ecken des Unterbaues tragen Helme oder die Spaten und Beile der Sapeurs. – Wenn der Mond aufgegangen ist, beginnt man, so viel es sich thun läßt, die Todten bei Seite zu schaffen, und endlich schnarcht die ganze zahlreiche Gesellschaft trotz Kälte, Nässe und Wind so fest, als wäre Jedem ein weiches Bett in der Heimath bereitet; nur die Posten sind lebendig und die zahllosen Wachtfeuer flackern lustig, ihren Schein weit hinaus in die Nacht werfend. Dicht neben dem Heiligen rammen zwei kräftige Jungen eine Stange in den Boden, auf deren Spitze sich ein Büschel getheerten Strohes befindet; morgen wird hier ein Posten aufgestellt und das Strohbündel ist ein Zeichen, ein Fanal zum Alarmiren, wenn sich wieder Feinde zeigen sollten, woran aber Niemand glaubt. Braucht der Wachtposten das Zeichen nicht zu geben – auch gut, dann finden die Pioniere, die morgen schon den Feldtelegraphen errichten werden, eine gute Stange, woran sie ihren Draht befestigen können, und dicht neben dem Haupte des Heiligen wird der elektrische Funke entlang lauten und Dinge in die Welt tragen, von denen in den dicken Legendenbüchern kein Wörtchen zu finden ist und die auf so geheimnißvolle, wunderbare Art befördert werden, daß vor einhundertundfünfzig Jahren etwa die Anhänger des Patrons da oben auf der Steinsäule die Erfinder als Höllenkünstler auf den Scheiterhaufen gebracht haben würden. Der Heilige sieht auch ordentlich trüb darein, wenigstens scheint sein Antlitz ernster geworden; er hört keine feierlichen Gesänge, sondern die bewaffneten Arbeiter singen lustige Weisen, wie: „Es waren mal drei Gesellen“ oder ein munteres Reiterlied oder im besten Falle das wehmüthig frohe „O Straßburg! o Straßburg, Du wunderschöne Stadt“, bis endlich einer der am Fuße des Bildstockes schnarchenden Cameraden die Sänger mit einem lauten „Maul halten“ zur Ruhe verweist, worauf die Sänger sich am Fuße des Heiligenbildes niederlassen und beim Scheine einer Laterne ihre Hosen flicken.

Solche Bilder und Scenen in der Nähe einer Heiligenstatue sind noch immerhin anziehend durch die lustige Stimmung, welche sie umschwebt, sobald einmal die ernsten Augenblicke vorüber sind; aber wie oft bietet das Bildstöckchen und dessen Umgebung reichlichen Stoff für ein Gemälde gar ernster und trüber Art, auf dem sich die schreiendsten Contraste so eng bei einander finden, daß die Phantasie des Malers oder Zeichners nichts Widersprechenderes erfinden könnte. Eine solche Scene konnte man beispielsweise am 7. Juli Abends rechts von der Landstraße vor Pardubitz beobachten; da stand ein Bild des heiligen Sebastian. Rechts neben demselben lagen, die Köpfe gegen das Postament gelehnt, zwei schwer verwundete Oesterreicher, welche ein preußischer Arzt verband; ein weniger schwer Blessirter lag auf den Knieen, seinen Rosenkranz betend. Linker Hand saßen einige Füsiliere und rauchten aus ihren kurzen Pfeifen, während zwei andre einen todkranken österreichischen Jäger zwischen sich genommen hatten, dem sie löffelweise eine stärkende Flüssigkeit in den Mund träufelten; unmittelbar hinter dem Bildstocke war ein frischer Grabhügel aufgeworfen, welchen ein rohgezimmertes Kreuz zierte; offenbar hatten die rauchenden Füsiliere diese ernste Arbeit vollendet. Wer mochte darunter schlummern? Sicherlich Freund und Feind ruhig nebeneinander. Oben auf dem Haupte des Heiligen saß ein kleiner Vogel und wirbelte sein fröhliches Lied hell zwitschernd in die Luft; als er damit fertig war, schwang er sich hinauf in den Abendhimmel, als sei er froh, von der unheimlichen Stätte hinwegzukommen. Nachts aber flackert ein Feuer neben der Säule. Der Vorposten hat hier seine Stellung genommen und das „Werda“ tönt über die Straße. Kopfschüttelnd ziehen die Landleute vorbei – verblüfft schauen sie zu dem Heiligen empor. Es ist ein Trost: Auch die Heiligen leiden im Kriege. –




Preußens militärischer Luther.


Auf meiner letzten Sommerreise durch die herrlichen Auen Thüringens führte mich mein Weg nach dem jetzt so berühmt gewordenen Städtchen Sömmerda. Unter den bescheidenen Häusern des freundlichen Ortes fiel mir auf der Straße, die, wie ich mich erkundigte, ihren Namen nach der benachbarten Kreisstadt Weißensee führt, vor Allem ein nettes einstöckiges Gebäude auf, an dessen

[629]

Nikolaus von Dreysse.
Nach einer Originalphotographie vom Hofphotographen Frisch.

der Straße zugewandtem Giebel die schöne, charakteristische Inschrift: „Bete und arbeite!“ prangte. Dem Wohnhaus sah man in der That an, daß das Gebet darin walten müsse; die Arbeit wurde ich in den zahlreichen zur rechten Seite des Gebäudes sich hinziehenden hohen Werkstätten, denen mächtige Dampfwolken entstiegen, gewahr. Ich trat in dies eine Sackgasse (Pfarrbeutel genannt, wie ich später erfuhr) bildende Gewirr von Fabrikgebäuden ein; ein Thorweg zu meiner Linken reizte meine Neugier, weil derselbe zu dem Hofe jenes Hauses des Gebets und der Arbeit führte. An den überaus sauberen Hof, der zu seiner Rechten von einer anscheinend unbedeutenden Werkstätte begrenzt wurde, schloß sich ein sorgfältig gepflegter Garten mit zierlichen Blumenbeeten, duftenden Rosen und dunkelrothen Nelken. Vor der Thür eines Gartenhauses stand ein alter Herr im schlichten, dunklen Hausrock, der mit sinnenden Blicken auf den Blumenflor schaute, beleuchtet von den goldenen Strahlen der untergehenden Sonne. Seine ganze Erscheinung trug den Stempel bürgerlicher Tüchtigkeit und Gediegenheit; graues Haar bedeckte die trotz seines hohen Alters noch immer klare Stirn, unter welcher die hellen Augen mit jugendlicher Munterkeit leuchteten, während den milden Mund ein freundliches Lächeln zu umschweben schien. Es war ein gemüthliches Stillleben, das sich hier meinen Blicken darbot, der ehrwürdige Greis unter seinen Blumen verkörperte mir das Bild eines glücklichen Alters und ungetrübten Friedens. Man konnte ihn für einen wohlhabenden Bürger halten, der in beneidenswerther Ruhe ein gemüthliches, wenn auch beschränktes Dasein genießt, fern von dem Geräusch der großen Welt und unberührt von den blutigen Ereignissen und Kämpfen der kriegerischen Gegenwart.

Während ich in meiner Phantasie das Bild ausmalte, trat ein kräftiger Arbeiter mit rußigem Schurzfell aus der zur Seite des Hofes befindlichen unansehnlichen Werkstatt an den alten Herrn heran und reichte ihm einen in der Sonne blitzenden Gegenstand. Meine Neugierde war erregt, als ich ein Gewehr zu erkennen glaubte, und zwar eine jener furchtbaren Waffen, welche in der jüngsten Zeit durch ihre vernichtende Wirkung dem Krieg eine ganz veränderte Gestalt verliehen und das Gleichgewicht Europas in seinem Grunde erschüttert haben. Beim Anblick dieser Waffe zeigte das Gesicht des gemüthlichen Alten eine wunderbare Veränderung, seine Züge belebten sich, seine Stirn furchte sich nachdenklich, und prüfend richtete er seine Augen auf den künstlichen Mechanismus. Bald [630] hob er das Gewehr, bald senkte er es wieder, indem er es von allen Seiten sorgfältig untersuchte, den Hebel auf- und niederdrückte, hier keine Schraube, dort einen Stift berührte, worauf er mit einem beifälligen Nicken dem Arbeiter die Waffe wiedergab, mit der sich dieser, ehrfurchtsvoll grüßend, entfernte, während der alte Herr noch einen Blick auf seine Blumen warf und sich dann, an mir vorübergehend, in sein Wohngebäude zurückzog.

Unwillkürlich hatte dieser an sich unbedeutende Vorgang meine Neugierde noch gesteigert, so daß ich den nächsten Mann, der zufällig vorüberging, ansprach und nach dem Namen des alten Herrn fragte.

„Sie müssen wohl ein Fremder sein,“ erwiderte derselbe, „sonst würden Sie wissen, daß in dem Hause dort der Geheimrath von Dreysse wohnt.“

„Wie?“ rief ich überrascht. „Der alte Herr der Erfind…“

„Der berühmte Erfinder des Zündnadelgewehrs,“ ergänzte mein gefälliger Cicerone, der sich mir bald als einen ebenso gebildeten, wie gut unterrichteten Beamten zu erkennen gab.

„Ich gestehe, daß ich mir den Mann ganz anders vorgestellt habe nach dem Portrait, das unlängst eine illustrirte Wochenschrift gebracht hat, das indeß, wie ich nun sehe, eine Caricatur ist. Wie hätte ich aber auch ahnen sollen, daß dieser an einigen Blumen sich mit so sichtlichem Behagen erfrischende schlichte Mann der Erfinder jenes tödtlichen Geschosses sei, das eine förmliche Revolution in der Welt und namentlich in der Bewaffnung der Armeen hervorzurufen bestimmt ist; daß dieser friedlich freundliche Greis der Besitzer und Lenker einer der bedeutendsten, jedenfalls aber nunmehr der berühmtesten Gewehrfabriken Europas sei?“

„Ich begreife Ihr Erstaunen. Aber hat nicht ein frommer Mönch in seiner stillen Zelle das Pulver erfunden, welches den mittelalterlichen Feudalstaat in die Luft gesprengt? Werfen Sie außerdem nur einen Blick auf die Geschichte der Erfindungen und besonders der deutschen Erfindungen; wer waren die Männer und welchen Standes, deren Geistesblitze so unendlich segenbringend für die Völker wirkten? Wer sind heute die Männer, die an der Spitze unserer berühmten deutschen Industrie-Stätten stehen, und was waren sie einst? Sind sie nicht alle aus dem Volke im reinsten Sinne des Wortes hervorgegangen? Dreysse ist der Sohn eines Bürgers und Schlossermeisters; Dreysse war Beides selbst; heut’ ist der Name Dreysse jedem Kinde in unserm Vaterlande bekannt, heute wird der Name Dreysse auf der östlichen wie auf der westlichen Hemisphäre genannt; der Mann selbst ist trotz Orden und Adel, womit er von seinem Könige geehrt worden, trotz seines, beiläufig bemerkt, vielfach überschätzten Reichthums der liebenswürdige, bescheidene und schlichte Bürger Sömmerda’s geblieben.“

Mein Begleiter, der sich mir immer mehr als Gesinnungsgenossen zu erkennen gab, wandte sich zum Gehen und forderte mich in freundlicher Weise zu einem Spaziergang vor das Thor hinaus auf, wo wir in einen öffentlichen, wenn ich nicht irre, der Sömmerdaer Schützencompagnie gehörenden Garten einkehrten. Wir fanden daselbst mehrere Bürger und zahlreiche Beamte, Meister und Arbeiter der Gewehrfabrik im eifrigen Gespräch, das sich natürlich um die letzten Zeitereignisse drehte und bald auch auf die berühmte Erfindung ihres Landsmanns Dreysse zurückkam.

„Ja,“ sagte ein grauköpfiger Bürger. „Wer hätte das denken sollen, daß unser Nikolaus noch einmal in die Weltgeschichte kommen würde! Ich kenne den Dreysse noch von der Schule her, wo wir manchen tollen Streich zusammen ausgeführt haben. Seitdem waren wir Freunde und sind es auch geblieben, obgleich er jetzt ein reicher Mann geworden und sogar geadelt ist.“

„Da können Sie mir gewiß über sein Leben und seine Erfindung Auskunft geben. Sie würden mir damit einen großen Gefallen erweisen.“

„Das will ich gern thun, wenn Ihnen damit gedient ist. Freilich ist es schon lange her, aber ich erinnere mich noch deutlich an die alte Zeit, wo noch in Sömmerda die Franzosen hausten. Damals wohnte der Vater Dreysse’s gerade gegenüber von der alten Mohren-Apotheke und betrieb die Schlosserei; das Haus können Sie heut’ noch auf der langen Gasse sehen, es gehört schon seit vielen Jahren dem Bruder des Geheimraths und seinem treuen Helfershelfer, dem Oberrevisor Rudolph Dreysse. Nebenbei hatte der Vater Dreysse eine kleine Feldwirthschaft und besaß, wie so mancher Bürger in jenen Tagen, die Gerechtigkeit Bier zu brauen und auszuschenken, wenn die Reihe an ihn kam. Der alte Johann Christian Dreysse war ein Ehrenmann von damals mehr als gewöhnlicher Bildung und freierer Anschauung, der sich redlich nährte, in allgemeiner Achtung stand und durch sein gediegenes Urtheil seinen Mitbürgern wie Gästen imponirte. Wenn drüben über der französischen Grenze Dinge vorgingen, über welche die guten Sömmerdaer Philister die Köpfe schüttelten und die Hände zusammenschlugen, so gingen sie zum alten Dreysse und der setzte ihnen auseinander, daß die französische Revolution trotz der unendlichen Gräuel und Blutscenen viel Gutes zur Folge haben müsse, nicht für Frankreich allein, sondern auch für Deutschland, und daß ihre Kinder gewiß noch die aus jenem, leider auch vielem unnütz vergossenen Blute entspringenden Früchte ernten würden.

Unser Nikolaus oder, wie er gewöhnlich genannt wurde, Niklas ging fleißig zur Schule, zeigte auch einen anstelligen Kopf, aber kein Mensch ahnte in ihm ein absonderliches Genie. Als er das vierzehnte Lebensjahr überschritten hatte und confirmirt worden war, es wird im Jahr 1802 gewesen sein, da Dreysse 1787 am 20. November geboren, kam er in die Werkstatt seines Alten als Lehrling, mit der Zeit wurde er freigesprochen und Geselle. Damals war es noch Brauch und Sitte, daß man mit dem Ränzel auf dem Buckel auf die Wanderschaft zog und einige Jahre in der Fremde arbeitete, ehe man sein Meisterstück machte und sich als Bürger niederließ. Mutter Dreysse, eine kreuzbrave Frau, ließ den Jungen nur ungern ziehen und vergoß beim Abschied manche Thräne, aber der Alte hielt streng auf das Herkommen und den Handwerksbrauch. Auch der Nikolaus war damit zufrieden und entschloß sich zunächst zu seinem Vetter Beck nach Altenburg zu ziehen, der daselbst herzoglicher Hofwagenfabrikant war. Da ich gerade meine Verwandten von mütterlicher Seite im Altenburgischen besuchen wollte, so begleitete ich ihn noch eine tüchtige Strecke. Es war das Unglücksjahr 1806 und wir geriethen mitten in das Kriegsgetümmel, so daß ich am liebsten wieder umgekehrt wäre, allein ich wollte meinen Cameraden nicht im Stich lassen, und so wanderten wir in Gottes Namen weiter, bis wir in die Gegend von Jena kamen, wo kurz vorher die furchtbare Schlacht geschlagen worden war. Am Wege fanden wir noch die Spuren des Kampfes, unbegrabene Leichen, crepirte Pferde, zerbrochene Wagen, zerschossene Lafetten und weggeworfene Waffen aller Art. Es war ein entsetzlicher Anblick. Während ich aber mit Schaudern vorübereilte, sah ich, wie mein Freund zurückblieb und bald ein preußisches, bald ein französisches Gewehr aufnahm und von allen Seiten betrachtete. Sorgfältig untersuchte er die alten Feuerschlösser, indem er mich auf den Unterschied der Constructionen aufmerksam machte, wobei er über die elende Beschaffenheit der alten preußischen Schießprügel tüchtig schimpfte und hauptsächlich ihnen die Schuld an dem unglücklichen Ausgang des Krieges gab. Wie mir Dreysse selbst später einmal sagte, hat ihn seitdem der Gedanke nicht verlassen, eine verbesserte Schießwaffe herzustellen. Das ging aber nicht so schnell, wie er dachte.

Eine geraume Zeit arbeitete er als Schlossergeselle in Altenburg bei seinen Verwandten. Nach und nach regte sich in ihm immer mehr der Gedanke, nach Paris zu gehen; mißmuthig darüber, daß ihm sein Vetter davon abrieth, ihm auch die dafür nöthigen Mittel verweigerte, verließ er denselben und wanderte nach Dresden, wo er bessern Verdienst hatte und dadurch die Mittel fand, etwas für seine immerhin nicht ausreichende Bildung zu thun. Während andere Gesellen den Tanzboden besuchten und ihr Geld verjubelten, schaffte sich Dreysse dafür allerlei nützliche Bücher und gute Schriften an, aus denen er was Ordentliches lernte. Nach nur halbjährigem Aufenthalte in Dresden folgte er dem Rufe seines Verwandten und kehrte nach Altenburg zurück. Endlich setzte er es doch durch, daß ihn Beck, nachdem der Vater Dreysse seine Erlaubniß ertheilt hatte, nach Paris ziehen ließ, wo er gleichsam die Universität seines Handwerks finden und aus einem simplen Schlossergesellen ein geschickter Mechanicus werden sollte. Mit dreißig Thalern in der Tasche, die zur Hälfte aus erspartem Verdienste und zur andern Hälfte aus einer Beihülfe des Vetters bestanden, wanderte unser Niklas im Jahr 1809 an den Rhein und, ohne sich lange dort aufzuhalten, nach Paris.

Jetzt begann für ihn eine der trübsten und drangsalvollsten Perioden; er hat, wie er selbst nicht leugnet, zu Zeiten dort bitterste Noth, ja Hunger gelitten. Doch das Alles konnte seinen Muth nicht beugen, nach den Tagen der Trübsal kamen bessere Zeiten, der geschickte Mensch fand endlich in einer der bedeutendsten Wagenfabriken [631] von Paris Unterkommen und damit nicht allein den benöthigten Verdienst, sondern auch die heißerwünschte Gelegenheit mehr und mehr zu lernen. Gern erzählt er noch heut’ beim Glase Wein, wie er dort an dem Staatswagen für den König Joseph von Spanien mitgeholfen, die Kinderequipage des kleinen Königs von Rom allein verfertigt, an den Instrumenten für den großen Leuchtthurm im Havre de Grace mit gearbeitet hat. Die Hauptsache aber war, daß in dieser Wagenfabrik der kaiserliche Oberst Pauly auf ihn aufmerksam wurde. Dieser besaß selbst eine Fabrik der verschiedensten Eisenwaaren, verfertigte aber auch Gewehre. Dreysse hatte es namentlich in der Kunst des Feilens und Drehens weit gebracht, war ein geschickter Modelleur und ungemein glücklich in der Auffindung von Verbesserungen und Vereinfachungen. Pauly nahm Dreysse zu sich und von diesem Zeitpunkt datirt eigentlich der Gewehrarbeiter Dreysse. Pauly beschäftigte sich ungemein viel mit allerlei Versuchen und Verbesserungen der Schießwaffen und wurde dabei von Dreysse energisch und erfolgreich unterstützt. Fast klingt es wie ein Märchen, und doch ist es vollkommen wahr, daß der Kaiser Napoleon unserem Dreysse die erste Idee zu dem Hinterladungssystem gegeben bat, indem er Pauly beauftragte, ein derartiges Gewehr zu construiren. Das Ding kam zwar zu Stande, war aber so ungeschickt und complicirt, daß von einer praktischen Anwendung im Kriege nicht die Rede sein konnte. Was dem Lehrer mißlang, das sollte, wenn auch erst nach langen Jahren, dem Schüler glücken.“

„Wunderbar!“ rief ich überrascht. „Das Genie Napoleon’s mußte dem deutschen Schlossergesellen den Anstoß zu seiner wichtigen Erfindung geben!“

„Von der Idee aber bis zur Ausführung,“ fuhr mein freundlicher Graukopf fort, „war noch ein weiter, dornenvoller Weg, den jedoch mein Freund mit seltener Beharrlichkeit verfolgte. Nach einem langen Aufenthalte in Paris kehrte Dreysse 1814 nach Sömmerda zurück, wo er zunächst seinen inzwischen gealterten und kränklichen Vater in seinem Geschäfte und der kleinen die Familie mit ernährenden Oekonomie kräftig unterstützte. Das war im Jahre 1814, als der erste Pariser Frieden eben geschlossen war. Es ist mir noch wie heute, als Abends beim Bier erzählt wurde, Dreysse, der Pariser, wäre wieder da. Einige Jahre arbeitete Nikolaus nunmehr als Geselle bei seinem Vater, machte dann sein Meisterstück und übernahm darnach im Jahre 1818 das Geschäft seines Vaters für eigene Rechnung und damit die Pflicht der Sorge für die gesammte, aus Vater, Mutter, einem Bruder und zwei Schwestern bestehende Familie. Noch vor seiner im Jahre 1821 erfolgenden Vermählung mit Dorothea Ramann hatte er neben seiner Schlosserei ein kleines Eisenwaarengeschäft etablirt und sich dadurch vielerlei Bekanntschaften und Verbindungen mit den umliegenden Orten und den daselbst existirenden Eisenwaaren-Etablissements erworben. Neben der Schlosserei, dem kleinen Geschäfte, ja selbst neben der eigenhändigen Mithülfe bei der nicht großen Landwirthschaft seiner Eltern bestrebte sich Dreysse fort und fort die Kenntnisse zu verwerthen, die er im Auslande gesammelt. Er construirte Maschinen von allerdings geringen Dimensionen, weil immer noch sehr beschränkt in den daran aufzuwendenden Mitteln, mit denen er Eisenwaaren auf sogenanntem kalten Wege herstellen konnte; er erfand eine Maschine, mit welcher er z. B. Nägel schnitt, während diese doch bisher nur geschmiedet wurden; er fertigte ferner Maschinen zu rascherer Herstellung von Fensterbeschlägen in größerer Anzahl, während bisher die Stücke einzeln fabricirt werden mußten.

So hatte er auf Anregung eines Geschäftsfreundes Namens Zierfuß aus Frankenhausen eine Knopfzange construirt, mit welcher immer je sechs Knöpfe auf einen Druck fertig wurden. Zufällig sieht diese Zange Collenbusch, der Reisende eines Eisenwaarengeschäfts in Erfurt, das Friedrich Kronbiegel gehörte und an Dreysse Eisenwaaren für dessen Handel lieferte. Collenbusch fragt den in der Werkstelle allein befindlichen Vater Dreysse nach dem Verfertiger der Zange. ‚Die hat mein Franzose, der Niklas, gemacht,‘ antwortet der Vater und deutet dabei nach dem Fenster, durch welches man diesen im Hofe mit landwirthschaftlichen Arbeiten beschäftigt erblicken konnte. Nikolaus wird hereingerufen und nach dem Preise für Ueberlassung der Knopfzange gefragt und, als er den Verkauf ablehnte, aufgefordert als Werkmeister in die Fabrik Kronbiegel’s einzutreten; als er auch dies Anerbieten zurückwies, weil er – wie er bemerkte – schon in Paris Werkmeister gewesen wäre, eine selbstständige Stellung aber vorzöge, bittet Collenbusch um eine Frist von drei Tagen, innerhalb welcher Dreysse die Knopfzange nicht weggehen solle. Dies wird ihm bewilligt und nun reist Collenbusch nach Erfurt zurück und meldet seinem Principal den wichtigen Fund. Beide fahren ohne Säumen zusammen nach Sömmerda, und da Dreysse es entschieden ablehnt, Sömmerda und seinen alten Vater zu verlassen, entschließt sich Kronbiegel, der sich wohl von der Bedeutung des jungen Dreysse für sein Geschäft nachgerade überzeugt haben mochte, dasselbe nach Sömmerda zu verlegen und Nikolaus Dreysse zum Compagnon desselben anzunehmen. Das Abkommen kam im Jahre 1821 bald nach der Verheirathung Dreysse’s zu Stande. Zuerst führte das Geschäft den Namen Kronbiegel’s; als dieser aber bald darnach starb, der Reisende Collenbusch die Wittwe desselben heirathete, als inzwischen von Dreysse das vervollkommnete Zündhütchen und eine Maschine zur Herstellung des Zündhütchens in größeren Massen erfunden und vom preußischen Staate patentirt worden war, nahm das Geschäft die Firma Dreysse und Collenbusch an. Sie können die Gebäude dieses Geschäftes, das, obwohl Dreysse längst ausgeschieden, gleichfalls zur höchsten Blüthe entfaltet ist, wenige Schritte von hier in Augenschein nehmen.“

Mein Begleiter war selbst so freundlich mich zu dem dem Schützengarten schief gegenüberliegenden Fabrikgebäude zu führen und mir einige Aufklärungen zu geben. Dann fuhr er fort:

„Bald nach Beendigung der französischen Kriege und dem Wiener Friedensschlusse, mit welchem Sömmerda, das bis zum Jahre 1803 kurmainzisch, dann bis 1807 preußisch, von da ab aber französisch gewesen, definitiv zu Preußen zurückkam, war die Percussionswaffe auch in Deutschland mehr und mehr zur Geltung gelangt und die preußische Regierung hatte die Umänderung der alten Steinschloßgewehre in Percussionsgewehre vorzunehmen beschlossen. Dreysse wurde dadurch zu den verschiedensten Versuchen, eine besonders gute und tadellose Zündmasse zur Füllung der Zündhütchen herzustellen, veranlaßt. Mit Hülfe der Apotheker Baudius und Kahleis, tüchtiger Chemiker, und eines geschickten Waffenpraktikers, Büchsenmacher Burchard, fand er endlich unter den lebensgefährlichsten Experimenten eine Zusammensetzung, die allen Wünschen und Anforderungen entsprach, und die Firma erhielt im Jahre 1824 ein Patent für Zündhütchen. Bis zum heutigen Tage haben die deutschen Bundesstaaten und andere Staaten Europas ihren Bedarf an Zündhütchen fast nur allein aus dieser Fabrik bezogen, noch größere Massen sind über das Meer gewandert. Nachdem Dreysse noch im Jahre 1825 eine Dampfmaschine nach einer neuen Construction erfunden und von der preußischen Regierung patentirt erhalten hatte, kehrte derselbe gänzlich zu der Aufgabe, die er sich gestellt und nie ganz aus dem Auge gelassen, wenn auch inzwischen etwas vernachlässigt hatte, der, ein verbessertes Gewehr herzustellen, zurück und widmete sich von nun an derselben ausschließlich.“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Pariser Bilder. Kürzlich hatte ich einmal gar keine Arbeitslust und bummelte auf den Straßen umher. Ich sehnte mich nach Deutschland und zwar um so lebhafter, je schwächer für mich damals die Aussichten waren heimkehren zu können. Unwillkürlich sang ich zu einer passenden Melodie die ersten Verse von Heines Gedicht:

„O Deutschland, meine ferne Liebe,
Gedenk’ ich Deiner, wein’ ich fast.“

„Ha, Freund Eugen,“ rief eine mir wohlbekannte Stimme, „wo kommen Sie her, wo gehen Sie hin?“

„Ich komme vom Hause und gehe in’s Blaue hinein.“

„Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, gehen Sie mit mir, meine Frau soll uns Thee machen, vielleicht kommt Mademoiselle Fleurette, und haben Sie heute Lust einen guten Zuhörer zu machen, so lese ich Ihnen mein neuestes kleines Lustspiel vor. Fleurette ist ein Mädchen voll Mutterwitz, sie hat mir schon manchen guten Wink gegeben, sie soll in dem Stück eine Hauptrolle spielen.“

„Ich danke für diese freundliche Einladung und nehme sie an.“

„Schön, erst aber muß ich noch einen Bekannten besuchen; wollen Sie mit mir hingehen?“

„Zu wem?“

[632] „Zu einem Herrn, der in diesem Augenblick den kranken Chef der Claque am Odeontheater vertritt; ich versprach ihm gestern ein Buch und will es bei ihm abgeben.“

„Finden Sie es nicht traurig für den Dichter und Künstler, daß es dahin gekommen ist, daß dieselben Claqueure brauchen?“

„Besser wäre es freilich, wir hätten das nothwendige Uebel nicht; indeß was ist zu thun? Das Publicum ist so indolent, und dann, wenn wir Autoren auch gern die Claque abschaffen wollten, die Darsteller leisten nicht so viel, wenn der Beifall des Publicums sie nicht erfreut; zwischen Künstler und Publicum muß Wechselwirkung stattfinden. Uebrigens was wollen Sie? Hatte nicht Nero schon seine Claqueurs? Ernsthaft gesprochen, bin auch ich empört über die Claque, welche den Talentlosen so dreist und unverschämt macht, aber was ist zu thun? Niemand kann gegen den Strom schwimmen! Doch da sind wir. Freund Louis wohnt dem Himmel näher als der Erde, dafür aber höchst behaglich, die Treppen sind etwas dunkel, folgen Sie mir nur.“

Dagobert, dies ist der Taufname meines Freundes, klopfte an Herrn Louis’ Thür und trat endlich in das Wohnzimmer des wichtigen Mannes. Herr Louis ist ein kleines, mageres Männchen. Was ihm an Größe abgeht, ersetzt er durch hohe Absätze, einen großen Schnurrbart, den er sehr sorgfältig pflegt, und eine aufrecht stehende ganz eigenthümliche Frisur. Als wir erschienen, ging er eben heftig auf und ab, gesticulirte dabei und hielt einen Brief in der rechten Hand, ungefähr mit dem Ingrimm wie ein travestirter Macbeth seinen Dolch.

„Ah, Herr M.,“ rief er und sein Gesicht klärte sich auf, „ich freue mich zwiefach Sie jetzt zu sehen, da kann ich doch mein Herz ausschütten. Großer Gott, wie viel Aerger hat ein Mann in meinem Berufe! Hören Sie nur, welchen Brief mir da Herr A. geschrieben hat.“

„Bester Herr Louis, erlauben Sie mir nur, Ihnen meinen Freund vorzustellen, Herrn Eugen –“

„Sehr erfreut, es ist mir genug, daß Sie dieses berühmten Autors Freund sind. Vielleicht auch Autor, kann ich dienen?“

„Schriftsteller allerdings, aber, wie Sie an meinem Accent wohl hören, ein Deutscher.“

„O, ich hätte Sie für einen Franzosen genommen. Sie können Alles hören, vielleicht sind bei Ihnen zu Lande die Schauspieler nicht so undankbar. Hören Sie nur, meine Herren,“ und lebhaft auf und abgehend und in allerhand theatralische Stellungen verfallend, las der geärgerte Vicechef der Claque: ‚Mein Herr Louis, ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen, Herr Louis, und fange an, Sie für meinen Feind zu halten. Was war das gestern Abend? Kein Empfang, in einer Rolle, in welcher ich das Publicum hinreiße, kein anständiger Applaus bei den Abgängen. Dagegen erbebte das Haus vom Händegeklatsch, als der lächerliche O. vor dem ersten Actschlusse seine stereotype Grimasse geschnitten hatte, und die kleine Intrigantin Fleurette erhielt ein Bouquet. Aber, mein lieber, theurer, mir allzutheurer Freund Louis,‘ – „theuer nennt mich dieser Breterheld, der sich gegen mich stets sehr schmutzig benommen,“ schaltete Herr Louis ein, um dann mit krächzender Stimme fortzufahren: ‚es muß, es soll anders werden, sonst werde ich an R. schreiben, und er wird sich nach einem andern Stellvertreter umsehen.‘ – „Was sagen Sie, verehrter Herr M.? Ist das gerecht? Kann ich es hindern, wenn das Publicum, das ganze unparteiische Publicum dem Herrn O. wie wahnsinnig applaudirt? Darf ich es dem tollen Baron von V. verbieten, daß er der hübschen, pikanten Fleurette einen Rosenstrauß auf die Bühne wirft? Und doch hat Herr A. sehr viel Einfluß; er kann mich stürzen, ich muß also seinen Willen thun.“

Es wurde gepocht, auf Herrn Louis’ Ruf trat ein großer, gut gekleideter, etwas trinklustig aussehender Mann herein.

„Guten Tag, Herr Louis, ich habe die Ehre mich Ihnen als Bruder von Herrn Maçon vorzustellen. Er ist heute verhindert in das Theater zu gehen, und läßt Sie bitten, mich als Stellvertreter anzunehmen.“

„Gut, hat er Sie bereits instruirt?“

„Oberflächlich, ich soll tüchtig applaudiren.“

„Tüchtig applaudiren? Als ob es damit gethan wäre, daß man die Hände zusammenschlägt, wie Kinder, wenn sie ‚backe, backe Kuchen‘ oder ‚pitschi patschi‘ machen. Mann, Ihre Unwissenheit flößt mir wahrhaft Mitleid ein. Wie oft waren Sie in Ihrem Leben im Theater?“

„Hm, seit ich in Paris bin, alle Jahre einige Mal.“

„Armer Mensch! Doch Sie haben eine hohe Gestalt und große Hände. Als Solist werden Sie wohl niemals Ihren Bruder erreichen, aber im Chor sicher verwendbar sein.“

„Im Chor? Herr Louis, ich kann nicht singen, habe gar keine Stimme.“

„O, Ignorant ohne Gleichen! Wissen Sie denn nicht, daß es sich durchaus nicht um das Singen handelt? Ihr Bruder ist Solist; das ist so zu verstehen, passen Sie auf, Herr Maçon. Es kommt zum Beispiel Mademoiselle R. in einem bezaubernden Gewande, sie schwebt nur, sie lächelt. Der Chor der Claque applaudirt ihr, der Solist dagegen benutzt einen ruhigen Moment, er legt die Hand auf das Herz und seufzt, aber so laut und dabei doch so fein, daß es das ganze Haus hört; dabei flüstert er: ‚Sublim! göttlich!‘ Verstehen Sie mich, Herr Maçon?“

„Vollkommen, Herr Louis.“

„Ein andres Mal wird ein neues Lustspiel aufgeführt. Die Witze darin sind selten und nicht prägnant, jetzt kommt eine Bemerkung im Dialog, welche der Bonvivant macht, da hat der Solist ein Gelächter zu leisten, aber nicht gezwungen, sondern frisch, herzlich. Damit ist aber noch nicht Alles gethan, der Solist hat sein Gesicht in so komischer Weise zu verziehen, daß seine Nachbarn, falls sie den Witz des Autors nicht belachen, über den Solisten lachen. Nichts ist ansteckender, als das Lachen; also ist der Solist fähig, einen Act – was sag ich, einen Act? er ist fähig ein Stück zu retten!“

„Das begreife ich, Herr Louis.“

„Schön, sobald Sie die Wichtigkeit Ihres Berufes erkennen, sind Sie schon auf dem Wege ein guter Solist zu werden. Für heute ist die Zeit zu kurz, um Ihnen mehr Belehrungen zugehen zu lassen. Sie müssen, bevor Sie in das Theater gehen, noch das heutige Stück lesen. Hier ist es. Merken Sie auf alle Randbemerkungen, und führen Sie die Angaben geschickt aus. Ich werde Sie beobachten.“

„Ganz wohl; guten Abend, Herr Louis; guten Abend, meine Herren.“

„Halt, noch Eins. Ihr Bruder ruft bei’m Erscheinen der Mademoiselle Fleurette gewöhnlich: ‚Schön‘ oder ‚göttlich!‘ – Sie dürfen dieselben Worte nicht brauchen, schon der Nachbarn wegen nicht. Nehmen wir: ‚lieblich‘, ‚graziös!‘ oder ‚bewundernswerth, himmlisch!‘“

Herr Maçon empfahl sich. Mein Freund wechselte noch einige Worte mit Herrn Louis, plötzlich wurde eine laute Frauenstimme im Vorgemach hörbar, die eine leisere zu übertönen suchte.

„Ich muß aber Herrn Louis sprechen, ich bin schon dreimal hier gewesen. Soll ich stets vergebens kommen?“

„Was ist nun wieder das ?“ brummte Herr Louis, „Ich will Nachmittags nur für meine Freunde zu sprechen sein.“

Die Dame im Vorgemach schien sich wenig um den Wunsch des Herrn Louis zu kümmern. Sie schob die Dienerin auf die Seite und drang in das Heiligthum. Louis warf mit gerunzelter Stirn einen finstern Blick auf sie, doch seine Physiognomie veränderte sich bald, denn vor uns stand eine noch junge, elegant gekleidete Dame mit höchst interessantem Gesicht.

„Ich muß mich selbst vorstellen,“ sagte sie mit einer anmuthigen Verbeugung. „Mein Name ist Claire Leoni; ich hörte, daß Sie, Herr Louis, gegenwärtig Vicechef der Claque sind, und möchte mit Ihnen sprechen.“

„Stehe zu Diensten, mit Vergnügen zu Diensten. Erlauben Sie mir, Ihnen hier den dramatischen Dichter Dagobert vorzustellen –“

„Ich habe bereits die Ehre, ich kenne alle Dramen dieses Herrn und sah ihn schon mehrmals, als derselbe gerufen wurde.“

„Sehr gütig, daß Sie sich meiner erinnern, Mademoiselle,“ sprach, Dagobert, sich verbindlich verbeugend.

„Wie kann ich Ihnen dienen? Wann, in welchem Stück treten Sie auf?“

„Ich bin nicht Schauspielerin, Herr Louis, sondern ich war bei’m Theatre Français engagirt als Solistin der Claque. Ich saß zuweilen im Parterre, da war es meine Aufgabe, zur rechten Zeit das Taschentuch an die Augen zu halten und zu weinen; zuweilen hatte ich meinen Platz in einer Loge, da sank ich in Ohnmacht bei den Auftritten, die geeignet sind, Frauen, welche zarte Nerven haben, zu erschüttern.“

„Aha,“ rief Dagobert, „Sie sind die schöne Marchesa, von welcher es in den Journalen hieß: ‚Besonders hinreißend ist die große Scene im vierten Act. Eine junge bezaubernde Marchesa wurde von der vom Dichter mit Meisterschaft zur Anschauung gebrachten Situation Angela’s so tief erschüttert, daß sie ohnmächtig ward. Ein Hauptmann von der Garde trug sie an die Luft.‘“

„Ja, das bin ich gewesen,“ rief Mademoiselle Claire und lachte.

„Und am nächsten Abend gingen Hunderte in das Theater, in der Hoffnung vielleicht die schöne Marchesa zu sehen,“ sagte Herr Louis.

Mademoiselle Claire ließ diese Schmeichelei fallen, sie sagte: „Ich muß einmal den Schauplatz wechseln, das Publicum des Theatre Français kennt mich jetzt. Ich wünschte im Odeontheater thätig zu sein. Ist ein Platz frei?“

„Ich glaube wohl, Mademoiselle, und wenn auch nicht, für eine so bezaubernde Dame, wie Sie sind, Mademoiselle, wird Platz gemacht. Ich will noch heute mit dem Chef sprechen und werde die Ehre haben Ihnen morgen zu schreiben.“

„Ich verlasse mich darauf, Herr Louis.“

Die Dame machte eine reizende Verbeugung und entfernte sich.

„Ein anziehendes Wesen, sie wird unserm Theater nützlich sein,“ bemerkte Herr Louis.

Wir verließen den würdigen Mann, welcher mit einer Ernsthaftigkeit sprach, die für mich etwas höchst Komisches hatte.

„Ich glaube nicht,“ sagte ich draußen zu Dagobert, „daß in Deutschland ein junges hübsches Mädchen diese Art von Thätigkeit anziehend fände, denn ich bin geneigt, Mademoiselle Claire Leoni für ein anständiges Mädchen zu halten.“

„Auch ich,“ antwortete mein Freund; „wahrscheinlich ist sie von Haus aus arm und hält es für sittlicher sich als Solistin der Claque zu ernähren, denn als Lorette. Mit der Nadel erwirbt sie unmöglich so viel, als wenn sie, da sie schön und graziös ist, zur rechten Zeit im Trauerspiel und Schauspiel in Ohnmacht fällt.“




Die Cholera und die Bauchbinde. Wer sich in einem Orte aufhält, wo die Cholera herrscht, und trägt keine Bauchbinde, ist in meinen Augen ein Selbstmörder. Leider bin ich, und zwar noch in jüngster Zeit, vielen solchen Verbrechern an ihrem Körper begegnet, die wenige Tage nachdem sie meine Empfehlung dieser Binde lächelnd oder höhnend aufnahmen, von der Cholera hingerafft waren. Man lasse sich’s doch gesagt sein, daß durch Warmhalten des Bauches der Ausbruch der Cholera verhütet werden kann. Aber, und das merke man wohl, der Bauch muß ebensowohl bei Nacht wie am Tage, ja vorzugsweise in der Nacht, und ganz besonders in seinem untern Theile gehörig warm gehalten werden. Das ist demnach die beste Bauchbinde, die dies ordentlich thut. Für unruhige Schläfer, bei denen die Binde in die Höhe rutscht und das Deckbette sich öfters lüftet, empfiehlt sich ein Bauchwärmer in Schwimmhosenform. Ein warmer Bauch mit Binde ist nebenbei zur Zeit der Cholera für den Besitzer mit Choleraangst das beste Beruhigungsmittel.

Bock.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es sind die einzelne Reminiscenzen aus dem letzten Kriege, wie sie in der allgemeinen geschichtlichen Darstellung der denkwürdigen Epoche nicht Raum fanden, wohl auch erst nachträglich bekannt geworden sind. Dergleichen „Erinnerungen aus dem deutschen Kriege des Jahres 1866“, und zwar aus allen Heereslagern der kämpfenden Armeen, werden wir nach und nach noch weitere veröffentlichen, nicht Schilderungen von Schlachten und Gefechtsscenen – davon hat nachgerade das Publicum wohl genug zu lesen bekommen – sondern Mittheilungen von einzelnen interessanten, ergreifenden oder auch erheiternden Zügen und Episoden; den Beobachtungen von Augenzeugen und authentischen Quellen entnommene militärische Genrebilder und persönliche Kleinmalereien, die zwar vor den großen Ereignissen des Krieges zurücktreten, nichtsdestoweniger aber zur Charakteristik des Ganzen erläuternd und vervollständigend beitragen.
    Die Redaction.