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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[433] No. 28.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Blaubart.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

„Tante, kennst Du die Geschichte von Adam und Eva?“ fragte Lilli plötzlich. Ihr Blick hing unverwandt an dem südlichen Eckfenster, durch welches der Thurm des Nachbarhauses hereinsah. Die Hofräthin saß auf der Estrade und spann. Mit einer raschen Wendung des Kopfes sah sie auf das junge Mädchen hinab, während ein verhaltenes Lachen um ihre Mundwinkel zuckte.

„Närrchen Du!“ sagte sie kopfschüttelnd, tauchte den Finger in das Netzbecken und spann weiter.

„Die Aepfel haben ihnen nur so gut geschmeckt, weil sie verboten waren,“ fuhr Lilli mit unzerstörbarem Ernst fort. „Tante Bärbchen, ich habe eben meine Augen wieder ertappt, wie sie nach dem Thurmfenster hinübersahen und gar zu gern herausgebracht hätten, was das Glasgemälde vorstellt. Es ist schlecht von ihnen, sehr schlecht, denn Du hast es verboten; aber man muß ihnen auch ein wenig zu Hülfe kommen, hast Du nicht irgend einen alten, dicken Teppich, den man vor das Fenster nageln könnte, oder –“

„Ei, das fehlte noch, daß ich mir Licht und Luft absperrte, um Derer da drüben willen!“ unterbrach sie Tante Bärbchen halb lachend, halb ärgerlich. „Kind,“ fuhr sie fort, und das Summen des Spinnrades schwieg, „Du nimmst wieder einmal eine sehr ernste Sache von der spaßigen Seite; aber ich kann Dir versichern, daß sie ganz und gar nicht spaßhaft ist… Ich habe unter den Impertinenzen der Huberts jetzt noch mehr zu leiden, als dazumal, wo mir der unverschämte Junge meinen ganzen Kinderfrieden zerstörte.“

„Wie, ist der wieder da und guckt über den Zaun?“

„Lilli, sei kein solcher Kindskopf!“ sagte die Hofräthin mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. „Der wäre jetzt seine wohlgezählten sechszig Jahre alt und da klettert man nicht mehr an den Zäunen herum. Der ist todt und seine Frau auch, und ich hätte mir in meinem ganzen Leben nicht träumen lassen, daß da drüben noch einmal Einer herumhantieren würde mit dem Hubert’schen Starrkopf und Hochmuth. Aber da kam er doch eines Tages dahergebraust, wie das böse Wetter, der Letzte der schlimmen Familie… Da drüben blieb kein Stein auf dem andern und kein Grashälmchen durfte mehr wachsen, wie es wollte. Nun meinetwegen, das ging mich weiter nichts an und um ungelegte Eier hab’ ich mich mein Lebtag nicht gekümmert. Daß ich aber meine gehörige Portion Aerger von der neuen Nachbarschaft haben würde, das sagte ich mir alle Tage, und da kam’s auch richtig… Kommt da auf einmal ein Commissionär zu mir und fragt im Auftrag des jungen Herrn da drüben, ob ich ihm nicht Haus und Garten käuflich überlassen wolle. Da hab’ ich aber geantwortet, wie mir um’s Herz war, und der Herr Commissionär war schneller draußen vor der Thür, als er hereingekommen ist.“

„Tantchen, ich fürchte, Du bist nicht sehr höflich gewesen.“

„Ei, da soll ich wohl auch noch meine Worte auf die Goldwage legen, wenn man mir mein väterliches Erbe feil machen will? … Der junge Herr denkt vermuthlich, weil er den Krieg in Schleswig-Holstein mitgemacht hat, da darf er nun auch Annexionsgelüste haben… Er hat übrigens meine Aufrichtigkeit sehr übel vermerkt, denn von dem Augenblick an sucht er mich zu chicaniren… Dazumal, als der Zaun angelegt worden ist, da hat es Anstoß gegeben wegen der Theilung, die Linie ist gerade durch den Pavillon gelaufen. Aber mein Großvater und der alte Hubert Dorn sind darin übereingekommen, daß er stehen bleiben solle, und weil er zur größeren Hälfte in meines Großvaters Garten gestanden und auch an der Seite die Thür gehabt hat, so ist er uns verblieben. Jetzt meint nun auf einmal der hochgeborne Herr, seine verwöhnten Augen würden durch die Rückwand des alten, einfachen Häuschens beleidigt, und will durchaus die Hälfte entfernt wissen, die auf seinem Territorium steht.“

„Wie, an dem lieben, alten Pavillon will er sich vergreifen?“ rief Lilli erregt und sprang auf. Sie hatte bis dahin, ruhig im Sessel. liegend, einen ihrer kleinen Saffianschuhe auf der Fußspitze balanciren lassen. Für den alten Familienhaß mit seinen ziemlich verblichenen Traditionen hatte sie nie ein rechtes Verständniß gehabt. Alle die Reibungen zwischen den späteren Generationen, deren Tante Bärbchen oft so entrüstet gedachte, waren ihr immer sehr abgeschmackt und kleinlich vorgekommen, deshalb hatte sie auch den vermeintlichen neuen Kummer und Aerger der Hofräthin anfänglich humoristisch behandelt. Jetzt aber erhielt sie einen schlagenden Beweis von der Böswilligkeit der unseligen Nachbarschaft, der ihr selbst in das Herz schnitt. Sie liebte den Pavillon, wie ein Kind einen alten Hausfreund seiner Eltern liebt, der es auf den Knieen schaukelt, ihm ergötzliche Geschichtchen erzählt und die schützende Hand abwehrend ausstreckt, wenn es gestraft werden soll. Sie hatte sich stets in dem alten, achteckigen Häuschen lieber aufgehalten, als drüben im großen Wohnhaus. Hier hatten sich die interessanten Lebensläufe ihrer Puppen abgewickelt, in dem gemüthlichen Salon war das kindliche Herz erfüllt gewesen von dem Selbstbewußtsein der gebietenden Hausfrau, denn sie durfte ihn benutzen als Empfangszimmer für ihre kleinen Besuche aus der Stadt, deshalb hieß er auch „Lilli’s Haus“. Die alten Wände waren Zeugen ihrer ganzen Kindesglückseligkeit gewesen, aber sie [434] hatten auch ihr leidenschaftliches Weinen und Klagen gehört, wenn im Wohnhause gepackt worden war zur Heimreise.

„Du hast dem gestrengen Herrn natürlich ebenso energisch seinen Standpunkt klar gemacht, wie bei dem Annexionsversuch, Tante?“ fragte sie hastig.

„I nu freilich. Ich habe ihm erklärt, der Pavillon stände ganz gut an seinem Platz und mit meinem Willen würde nicht ein Ziegel daran weitergerückt; darauf hin hat er mich gerichtlich verklagt.“

„Der Unhold!“

„Und das Recht ist ihm zugesprochen worden. Ich habe die Weisung erhalten, binnen acht Tagen mein Besitzthum von dem fremden Grund und Boden zu entfernen.“

„Abscheulich! … Und Du kannst es über’s Herz bringen, Tante Bärbchen?“

„Ich lasse nicht einen Stein anrühren.“ Sie deutete nach dem Bild der Großmutter. „Die müßte sich im Grabe umdrehen, wenn das mit meinem Willen geschähe… Mag der saubere Herr höchsteigenhändig das Niederreißen besorgen, dagegen kann ich freilich nichts thun.“

„Und damit wird er nicht viel Federlesens machen, passen Sie nur auf, Frau Hofräthin!“ sagte Dorte, die vor wenig Augenblicken eingetreten war und einen Teller voll frischgebackener Waffeln auf den Tisch gestellt hatte. „Er hat’s eilig. Ja, wär’ das Fenster nicht, das ‘nüber in seinen Garten geht, da ständ’ ihm das Häuschen noch lange nicht im Wege. Aber da könnte ja der alte Sauer einmal den Laden aufmachen und hinübergucken nach der schönen Dame, das wär’ erst gefährlich!“

„Wer ist denn die Dame?“ fragte Lilli lachend.

„Wahrscheinlich seine Frau,“ meinte Tante Bärbchen zögernd.

„Ach, glauben Sie doch das nicht, Frau Hofräthin,“ eiferte Dorte, ohne die verweisenden Blicke ihrer Herrin zu bemerken, „seine Liebste ist’s… Fräulein Lilli, da drüben geht es zu wie bei den Heiden, und eifersüchtig ist er wie ein Türke. Keine Menschenseele in der ganzen Stadt weiß, wie die Person aussieht, die bei ihm wohnt, nicht einmal sein eigener Kutscher und Bedienter sollen es wissen. Der Mohr steht Schildwache vor ihrer Thür und trägt ihr auch das Essen hinein… Gott verzeih’ mir’s, wie nur ein Christenmensch solch’ ein schwarzes Ungethier um sich leiden mag! Ich erschrecke immer zu Tode, wenn der den Mund aufmacht, und denke an den Walfisch, der den Jonas verschluckt hat… Die Dame muß immerfort einen dicken Schleier vor dem Gesicht tragen, und wenn sie spazieren fährt, da sind die Vorhänge an den Wagenfenstern fest zugemacht. Ich hab’ einmal draußen vor der Gartenthür gestanden, da fuhr der Wagen vorbei, und in dem Augenblick zog und zerrte drinnen eine Hand an dem Vorhang; das waren Fingerchen, wie von Marzipan, und Ringe haben d’ran gesteckt, die haben geblitzt, wie lauter Karfunkel. Er muß ein wahrer Unmensch sein, daß er das arme Weib so einsperrt; er sieht aber auch danach aus. Wenn er auf sein Gut reitet – das schöne, große Liebenberg hat er doch gekauft – da kommt er auf seinem pechschwarzen Rappen die Chaussee hergebraust, daß es einem himmelangst wird, so trotzig und befehlshaberisch sieht er aus.“

„Er ist wie sein Vater,“ sagte Tante Bärbchen zu Lilli, „dem war auch die Welt zu eng und der Platz, auf dem er stand, zu niedrig. Er pfropfte auf den alten, ehrenhaften Stamm der Dorns ein adliges Reis; das befand sich aber sehr übel in der bürgerlichen Atmosphäre, und da hat er sich flugs auch den Adel gekauft… Gekaufter Adel! Das heißt, in den ursprünglichen Begriff übersetzt, gekauftes Verdienst… Unsinn, Unsinn! Gemahnt mich an den sauberen Ablaßkram, nur in umgekehrter Weise, allein die Welt will nun einmal solchen Firlefanz und Hocuspocus, und Schlauköpfe giebt’s zu allen Zeiten, die ernsthafte, gläubige Gesichter dazu machen und ihren Nutzen daraus ziehen.“

Sie schob das Spinnrad von sich und schüttelte die Spelzen von dem weißen Tuch, das auf ihren Knieen gelegen hatte.

„Ich bin da auf ein ärgerliches Thema gekommen,“ sagte sie aufstehend; „Unfruchtbare Gedanken, mit denen sich ein alter Weiberkopf, der sich auf die Ewigkeit vorzubereiten hat, gar nicht mehr befassen sollte… Stürzt heute alle die alten Götzen um, morgen wird, die Welt um ein neues goldenes Kalb tanzen. … Komm’, Lilli, schenke mir eine Tasse Thee ein. Gelt, der riecht frisch und unverdorben? … Hab’ die Blätter selbst im Walde zusammengesucht; der macht gesundes Blut und rothe Backen, und die kannst Du brauchen, kleines Mondscheingesicht.“

Sie saßen lange beisammen und plauderten. Das letzte Duftwölkchen aus der Theekanne war längst in der Luft zerflossen, die Schatten der Nacht ballten sich in den Ecken der Stube, dann huschten sie über das leuchtende Zifferblatt der Wanduhr und hingen zuletzt einen schwarzen Flor über den goldenen Rahmen des Großmutterbildes, und es ward endlich so still, daß der kleine Dorfcantor getrost sein zartes Geigensolo hätte beginnen können, zu welchem er seit so vielen Jahren den Bogen angesetzt hielt. Draußen schmolzen die Millionen Blätter und Blüthen wunderliche Gestalten zusammen und kein Lufthauch wagte, an die von den Händen der Nacht gezeichneten Contouren zu rühren.

Plötzlich glühte es auf über den Wipfeln einer Akaziengruppe und die weißen, träumerisch hängenden Blüthen waren überschüttet von buntfarbigen Lichtströmen. An der Decke des Thurmzimmers brannte eine Hängelampe. Das schöne, zarte Weib im weißen Atlasgewande da droben, dem die schwarzen Haarwellen über den Busen flutheten, es hatte einst seine himmlischen Worte der Liebe unter dem schützenden Dunkel der Nacht gestammelt, und hier bog es sich von Licht umflossen verlangend hernieder und keine rosige Flamme der Scham flog über ihr bleiches Liliengesicht. Die weißen Arme umschlangen ihn, der kühn den Balcon erklommen hatte und der über ihrem berauschenden Geflüster die Todesgefahr vergaß; süßer aber hatte wohl die unglückliche Tochter der Capulets ihrem Romeo nicht zugelächelt, als hier ihr zartes Conterfei auf den zerbrechlichen Glasplatten. Hinter den Gestalten des Fensters glitt rastlos ein Schatten hin. Ein Mann, wie es schien, ging mit raschen Schritten auf und ab… War das der tückische Nachbar, der Blaubart, der ein unglückliches Weib gefangen hielt, damit kein anderes Auge, als das seine, auf ihr schönes Antlitz falle?

Lilli wagte nicht, diese Frage laut werden zu lassen, sie wollte heute nicht mehr an die Seelenwunde der Tante rühren. In dem Augenblick trat auch der alte Sauer mit der Lampe herein. Seine knarrenden Stiefeln weckten die Hofräthin aus einem leichten Schlummer; sie fuhr lächelnd in die Höhe und setzte die Brille vor die verschlafenen Augen, um noch ein wenig zu lesen. Währenddem schloß Sauer die Fensterläden; der alte Junggeselle nahm in beinahe hastiger Weise zuerst das südliche Eckfenster in Angriff, wobei er mit einem scheuen Rückblick nach Lilli etwas von „sündhaftem Spectakel“ murmelte. Noch einmal glühten die herrlichen Gebilde des Glasgemäldes auf, dann verschwanden sie hinter dem unerbittlichen, grauen Fensterladen. Lilli nahm der Tante die Zeitungen aus der Hand und las vor, bis die Wanduhr zehn brummte. Die Hofräthin richtete sich streng nach der heiseren Stimme der alten Mahnerin, mit dem letzten Schlag erhob sie sich und führte Lilli nach der Gaststube, wo sie ihr mit einem Kuß auf die Stirn gute Nacht sagte.

Hier war der Laden noch nicht geschlossen, die Fensterflügel standen offen, das Zimmer war erfüllt von dem Duft der Nachtviolen, die draußen auf den Rabatten standen, und über das weiße Bett hin floß ein bleicher Schimmer. Der Mond war aufgegangen, aber wie verirrte Nachtschwärmer zogen die letzten dunkeln Wolken des Gewitters über seine volle Scheibe hin. Da droben wandelte der Schatten noch immer einsam auf und ab. Der einzelne dünne Mondstrahl, der durch einen Wolkenriß zuckte, irrte noch machtlos an den glühenden Tinten des Glasfensters vorüber, doch allmählich löste sich die dräuende Schicht am Himmel, wie ein unaufhaltsamer Lavastrom floß das bleiche Licht über die Wolkenränder und plötzlich lag es drunten über die Erde gebreitet, ein verklärender Schleier, der ihr Antlitz fremdartig und räthselhaft macht, wie das einer Sphinx, der unlösbare Fragen weckt in der Menschenbrust; wir fassen sie zusammen in das einzige Wort: Sehnsucht.

Die Hängelampe im Thurmzimmer erlosch. Das war aber nicht der Moment, den Laden zu schließen und die schlaflosen Augen in die Kissen zu stecken, meinte Lilli. Der Blaubart da drüben ging sicher jetzt zur Ruhe, und sein schwarzer und weißer Hofstaat auch, und da konnte man wohl ungestraft einen Blick thun in die verbotenen, gefürchteten und doch so anziehenden Herrlichkeiten jenseits des Zaunes. Sie schlüpfte geräuschlos in die Hausflur und huschte, ohne von Dorte, die in der Küche noch mit dem alten Sauer aufsaß, bemerkt zu werden, zur Thür, die nach [435] dem Garten führte… Horch, war das nicht der volle, tiefe Klang einer unbeschreiblich rührenden Menschenstimme, der durch die Lüfte zitterte? … und noch einmal – und abermals! Die Töne reihten sich aneinander, in himmlischer Ruhe an- und abschwellend. War die melancholische Weise der Nachklang eines überwundenen Schmerzes, oder sang sie von verschwiegenem, unbeglücktem Sehnen? … Es war übrigens keine menschliche Stimme, sondern ein Cello, und die Töne quollen aus den jetzt geöffneten Thurmfenstern. Lilli lauschte bewegungslos. Sie dachte nicht daran, daß sie in ihren dünnen Pantöffelchen auf dem feuchten Kies stand und daß der Saum ihres hellen Muslinkleides morgen zum Verräther an ihr werden mußte… Das Wesen, das dem Instrument so sympathische Töne zu entlocken wußte, das in schweigender Nacht die Tiefen einer bewegten Seele im Lied öffnete – es konnte doch unmöglich jener Mann sein, der so wild und herrisch auf seinem Pferd einherbrauste, daß man sich fürchten mußte, der wehrlose Frauen einsperrte und sie wie ein Cerberus bewachte.

Unter den Schlußklängen des Adagios, die leise über ihrem Haupte zerflossen, schritt Lilli unhörbar nach dem Pavillon. Ueber den Zaun zu sehen vermochte sie nicht, das konnte nicht einmal der himmellange, alte Sauer, denn die grüne Wand war sehr hoch und undurchdringlich, aber da war ja das Fenster, um deswillen der alte Pavillon fallen sollte, wie Dorte behauptete. Wie oft war sie früher durch dasselbe geklettert, um mit den Kindern der Familie zu spielen, welche damals die angrenzende Besitzung gemiethet hatte. Es war ja so spät, gesehen wurde sie sicher nicht mehr, auch lag der Pavillon im Schatten. Der Fensterflügel war offenbar nicht mehr berührt worden, seit sie ihn zum letzten Mal geschlossen hatte, denn er war eingerostet, wie auch der Riegel an der Jalousie. Endlich schob sie vorsichtig den Laden zurück. Da lag es vor ihr, das mondbeglänzte Schloß des Blaubarts, und all jener bestrickende, geheimnißvolle Zauber, hinter welchem in dem schauerlichen Märchen Blutströme rieseln, er stieg auch hier aus fremdartigen Blüthenkelchen und webte um die glitzernden Wassergarben, die himmelan sprangen und als silberner Duft wieder herniederstäubten. Dort aus dämmerndem Gebüsch leuchtete ein weißes Marmorbild; der schlanke Frauenleib streckte die Arme gen Himmel, als suche er sich angstvoll den Umarmungen des Epheu zu entziehen, der das Piedestal umstrickte. Das Mondlicht schwamm in Millionen zitternder Funken auf der bewegten Wasserfläche der Bassins, aber es lag auch voll und beharrlich auf den Spiegelscheiben der hohen Fenster; es blickte ungestraft durch die seidenen Gardinen in das Geheimniß des Hauses und lächelte wohl in die zwei schönen Augen, von denen Niemand wußte, ob sie weinten oder in Glück strahlten… Oder wußten es die Fontainen, die fort und fort rauschten und flüsterten? die buntfarbigen Blumenhäupter am Wege, deren verschlossener Mund das Räthsel behütete? Vielleicht streifte der leichte Fuß der eifersüchtig Bewachten an ihnen vorüber und sie blickten hinauf in das gesenkte Auge…

Lilli hatte mechanisch den Laden immer weiter zurückgeschoben. An ihre Schulter legten sich riesige Aristolochia-Blätter, die zum Theil die Rückwand des Pavillons bedeckten und in deren grünen Schalen die letzten Tropfen des Gewitterregens rollten und blitzten, und da huschte es von den Zweigen des Baumes, den der Laden berührt hatte; ein aufgescheuchter Pfau flog auf die Erde nieder und schritt, das wundervolle Gefieder ausbreitend, majestätisch und geräuschlos über den mondbeleuchteten Rasenplatz. Wohl flutheten betäubende Duftströme durch die Lüfte, wohl rauschten die Springbrunnen und der schimmernde Vogel durchirrte lebend und athmend den Garten, und doch schien das Alles so geisterhaft und wesenlos, als müsse es, durch einen Zauberspruch berührt, sofort verschwinden.

Und jetzt hob die Melodie im Thurmzimmer von Neuem an. Lilli setzte sich auf die Fensterbrüstung, legte die gefalteten Hände auf die Kniee und blickte wie berauscht in die abgeschlossene fremdartige Welt hinein… Aber schien es nicht, als sei die Marmorstatue plötzlich vom Piedestal herabgestiegen und wandele durch den stillen Laubgang? Nein, die weißen, kalten Arme dort streckten sich fort und fort unbeweglich in die Luft, und der Mondstrahl und die laue Nachtluft glitten erfolglos über das starre Steingesicht! In jenem Wesen jedoch, das immer näher kam, pulsirte Leben – ein Seufzer schwebte zu Lilli hinüber. Das war sicher das schöne, junge Weib des Blaubartes. Es hemmte einen Augenblick seine Schritte und lauschte dem Adagio. Es war eine hohe, fast königliche Gestalt, aber das duftige, langherabfallende Gewand floß um überaus zarte, schlanke Formen. Die rechte Hand lag unter dem Busen, als wolle sie das stürmisch bewegte Herz beschwichtigen, während der linke Arm nachlässig an der Seite niederhing. In dieser Haltung lag eine unbeschreibliche Anmuth, aber auch etwas von der Hingebung und Hülflosigkeit der Trauerweide, die ihre schwachen Zweige zu Boden sinken läßt. Sicherlich flossen in diesem Augenblick Thränen über das tiefgesenkte Antlitz; welche Form, welchen Ausdruck hatten diese Züge, die sich, wie es schien, selbst der Mondbeleuchtung zu entziehen suchten? Das ließ sich nicht bestimmen; ein schwarzer Schleier fiel wie eine dunkle Mähne vom Haupt über den Nacken und zu beiden Seiten nieder und verdeckte das Gesicht.

In Lilli’s Kopfe wirbelten noch einen Moment Märchen und Wirklichkeit durcheinander; sie fühlte instinctmäßig, daß sie um keinen Preis gesehen werden dürfe, und versuchte, geräuschlos vom Fensterbret herniederzugleiten; allein ihr Blick heftete sich immer wieder wie gebannt an die Erscheinung da drüben… Warum, wenn sie sich elend und unglücklich fühlte, entfloh die Gefangene nicht? Ueber den Zaun zu klettern und in Tante Bärbchens Garten und Schutz zu flüchten, das wäre nach Lilli’s Ansicht durchaus kein unausführbares Wagestück gewesen, sie selbst hätte jedenfalls weit Größeres unternommen, um jenem Tyrannen dort in dem Hause Trotz zu bieten … lieber sterben, als in solcher Gefangenschaft leben! Daß jenes gebeugte Weib sein Joch möglicherweise freiwillig trug, weil es seinen Kerkermeister liebte, das fiel Lilli nicht im Entferntesten ein; sie hatte keine Ahnung von den Widersprüchen und Seltsamkeiten der Liebe, einfach darum, weil ihr dies Gefühl noch gänzlich fern lag. Ihr Herz wallte auf bei dem Gedanken, jener Unglücklichen vielleicht beistehen und ihr helfen zu können, und deshalb verließ sie das Fenster nicht, sondern bog ihr wunderfeines Köpfchen voll heldenmüthiger Entschlüsse weit hinaus und ließ ihre leichte Gestalt, die wie ein schaukelndes Elfenkind aus den breitblätterigen Schlingpflanzen auftauchte, vom Mondschein voll beleuchten… Ein markerschütternder Schrei bebte in diesem Augenblick durch die Lüfte. Die Fremde riß den Schleier über das Gesicht, hielt ihn mit gekreuzten Händen auf der Brust fest und floh wie gehetzt querfeldein über den Rasenplatz und die äußere Steintreppe des Hauses hinauf. Eine nach der Terrasse mündende Thür wurde von innen aufgerissen, und von dem Licht mehrerer Lampen grell überstrahlt, erschien der Neger auf der Schwelle. Die Dame brach neben ihm fast zusammen; aber sie raffte sich wieder auf, deutete mit dem Arm zurück nach dem Pavillon und verschwand im Hintergrund der Halle.

Dies Alles hatte Lilli wie erstarrt mit angesehen; aber nun haschte sie angstvoll nach den Flügeln der Jalousie und zog sie heran, denn der Schwarze stürzte wie wüthend die Terrassentreppe herab. Sie hatte eben mit unsicheren Händen die Riegel vorgeschoben, als draußen der Kies unter seinen Schritten kreischte; er schlug mit der Faust gegen den Laden, daß das alte Holz dröhnte, und stieß in gebrochenem Deutsch einen Schwall von Flüchen und Verwünschungen hervor. Die Finger des jungen Mädchens umschlossen krampfhaft den untern Riegel und drückten ihn nieder. Dicht neben ihrem Ohr, durch die Spalten der Jalousie klang die heisere Stimme des zornigen Schwarzen, sie meinte, seinen Athem im Gesicht zu fühlen. Ein unsägliches Grauen bemächtigte sich ihrer, aber sie harrte bewegungslos aus auf ihrem Vertheidigungsposten. Zum Glück wurde ihr Heldenmuth auf keine weitere Probe gestellt. Eine befehlende Männerstimme, die aus den Lüften, vermuthlich vom Thurm herab scholl, berief den Neger in das Haus; er verstummte sofort und entfernte sich mit hastigen Schritten.

Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sich das junge Mädchen sagen mußte, es habe eine Unannehmlichkeit für Tante Bärbchen herbeigeführt. Jeder Nerv an ihr hatte gezittert bei dem Geschrei des Tobenden, das sicher bis in das Schlafzimmer der Hofräthin gedrungen war, … und morgen, ja morgen rächte sich der Blaubart voraussichtlich auf eclatante Weise, weil man versucht hatte, in sein Geheimniß einzudringen… Sie verließ den Pavillon unter bitteren Selbstvorwürfen und huschte nach dem Hause zurück. Sauer und Dorte standen mit nicht zu verkennender Wißbegierde und langen Hälsen auf einer Gartenbank und versuchten, dem unüberwindlichen Zaun ein Stückchen Einblick abzuringen; [436] der Lärm in Nachbars Garten war offenbar sehr interessant für die beiden alten Lauscher gewesen. Sie kehrten Lilli den Rücken zu, und so konnte sie ungesehen durch die Hausflur in ihr Zimmer gelangen. Jetzt schloß sie freilich schnell Laden und Fenster, steckte sogar die buntkattunenen Vorhänge übereinander und vergrub die Augen tief in die Kissen. Der Angstschrei der fliehenden Frau und die Verwünschungen des fürchterlichen Schwarzen drängten sich noch in ihre Träume; sie hatte vorläufig genug von den Herrlichkeiten da drüben.

Wo aber waren sie hin, alle die Schreckbilder der Nacht, als Lilli am anderen Morgen in den Garten trat? Geflohen vor dem Sonnenlicht, das unerbittlich wie die ewige Wahrheit mit feurigem Schwert die Ausgeburten des Dunkels, die zweifelhaften Gebilde des halben Lichts verjagt. Da drüben hob der Thurm sein Zinnengeländer wie eine klare, goldgewebte Spitze in das tiefe Blau des Morgenhimmels. Der Sonnenstrahl tummelte sich auf den bunten Glasscheiben so lustig und harmlos wie auf Tante Bärbchens Stubenfenstern; das sah nicht aus wie Kerkerwände, in denen das Verbrechen haust. Jenseit des Zaunes, wie hier funkelten die Thautropfen sonnenklar und rein an den Blattspitzen, und der Buchenwald hauchte seinen herzstärkenden, morgenfrischen Duft unparteiisch über beide Gärten… Ach, wie erquickend strömte es durch die weit offene Thür in die Hausflur, und wenn man hinausschritt auf die tief ausgetretenen Steinstufen vor der Thür, wie lag das Thal paradiesisch drunten, tief eingebettet zwischen den waldigen Bergen, blühend, und rosig angehaucht vom Frühlicht, wie ein Kind in der Wiege, das seine jungen Augen nach süßem Schlummer lächelnd öffnet! Alle Befürchtungen und Aengste waren wie weggewischt aus Lilli’s Seele; nur die wundervollen Cellotöne klangen noch nach in ihr, sie hatten ihr den Eindruck gemacht, wie ein Blick aus tiefen, schwermüthigen Augen.

Sie ging nach der Laube, in der bei schönem Wetter stets gefrühstückt wurde. Auf dem langen Kiesweg vor dem Eingang derselben wandelte Tante Bärbchen langsam auf und ab. Sie zupfte hier und da ein naseweises Unkraut aus den Gemüsebeeten, oder hob den Zweig eines Johannisbeerstrauches in die Höhe und betrachtete die Träubchen, die noch ziemlich unentwickelt, aber in unglaublichen Massen daran hingen; ihr Johannisbeerwein war berühmt bei Freunden und Bekannten. Drin auf dem weißen Gartentisch der Laube lag das aufgeschlagene neue Testament; sie hatte also, wie sie seit vielen Jahren gewohnt war, ihr Morgencapitel hier gelesen. Den nächtlichen Vorfall erwähnte sie mit keiner Silbe, wahrscheinlich hatte sie ihn verschlafen, desto besser; aber da kam Dorte mit dem Frühstück … wehe, die steifen Bindebänder ihrer weißen Leinwandhaube hingen aufgelöst über dem Rücken! Das war stets ein Zeichen, daß es ihr von innen heraus warm geworden war; das heißt, sobald sie sich ärgerte und ereiferte, riß sie die zierlich geknüpfte Schleife unter dem Kinn auf, warf die Bänder kühn nach hinten, stemmte den rechten Arm auf die Hüfte, und die Sturmcolonne war fertig. Ihr Morgengruß klang so alterirt, daß die Hofräthin sich lächelnd erkundigte, ob sie schlecht geschlafen habe.

„Ach, Sauer ist wieder einmal so bockbeinig!“ entgegnete sie grollend und stellte mit unsicherer Hand die Tassen klirrend auf den Tisch. „Der denkt auch, weil er die Dorfzeitung mithält, er ist nun auch der Gescheidteste, und ein Anderes darf nicht mucksen. … Und wahr ist’s doch, das laß ich mir nicht nehmen! Die Geschichte ist in Erfurt passirt, und meine Frau Pathe war aus Erfurt, die hat sie mir erzählt, und die log nicht. Das war eine Frau, so resolut, vor der konnten zehn Männer wie Sauer nicht aufkommen… Da soll in Erfurt ein General gewesen sein, das war ein wahrer Unmensch. Er hat von früh bis in die Nacht gespielt und getrunken, und sonst noch viel schlechte Streiche gemacht, die ein ordentlicher Mensch gar nicht nacherzählen kann. Der hat einmal einen Ball gegeben, da ist’s wild und wüst zugegangen, und wie in der Nacht die Glocke Zwölfe gebrummt hat, da steht draußen vor der Saalthür ein ganz schwarzer Herr – keine Menschenseele hat gewußt, wie er hereingekommen ist – und läßt den General hinausrufen. Auf einmal ist ein fürchterlicher Spectakel; die Fenster sind von selbst aufgeflogen, es hat gestampft und getrabt, als ob wilde Pferde über Dielen und Treppen liefen, und der General hat jämmerlich geschrieen; und wie die Anderen hinausgekommen sind, da waren die Beiden weg und sind auch nie wiedergekommen. Der kohlschwarze Herr war, mit Erlaubniß zu sagen, der Teufel, und hat den General geholt… Die Geschichte hab’ ich in aller Unschuld dem Sauer erzählt; da wird doch der Mensch ganz grob, wirft seinen Stiefel, den er gerade wichst, auf die Erde und sagt, ich solle nur gleich in den Spittel ziehen; dort glaubten sie noch solches Zeug.“

Die Hofräthin unterdrückte mit Mühe ein Lächeln, denn Dorte war sehr leicht beleidigt.

„Wie bist Du denn aber auch auf ein so entsetzliches Thema gekommen, Dorte?“ fragte sie.

„Ja, ich meinte,“ entgegnete die alte Köchin, indem sie mit dem Zipfel ihrer blauen Leinenschürze kühlend über ihr erhitztes Gesicht strich, „der Lärm heute Nacht sei doch gerade so gewesen, als ob der Böse eines arme Seele hole.“

„Welcher Lärm?“ fragte die Hofräthin verwundert. Lilli bog das Gesicht über ihre Tasse; die Wetterwolke war im Begriff, sich über ihrem Haupt zu entladen. Den Verweis der Tante fürchtete sie nicht, gern hätte sie ihn hingenommen, denn sie war schuldig; allein der Gedanke war ihr überaus peinlich, daß ihre mütterliche Freundin um ihretwillen Verdruß haben werde.

„Daß Gott erbarm, Frau Hofräthin,“ rief Dorte und schlug die Hände über den Kopf zusammen, „haben Sie denn den Heidenrumor nicht gehört? Drüben ist’s ja d’runter und d’rüber gegangen, Sauer meint, die Liebste habe vielleicht ausreißen wollen und sie hätten sie dabei erwischt… Du lieber Gott, in der armen Person ihren Schuhen möchte ich auch nicht stecken! Mit dem da drüben ist nicht gut Kirschen essen.“

„Ist er denn wirklich ein solcher Bösewicht?“ fragte Lilli aufathmend, und innerlich lachend über die verschiedenartige Auffassung der nächtlichen Scene.

„Na, den sollten Sie einmal hören, wenn er seine Leute auszankt; ich hör’s bis in meine Küche. Aber am Zanken hat der auch noch lange nicht genug, Blut muß er sehen; Sie können mir’s glauben, der hat nur deswegen im vorigen Jahr den Krieg mitgemacht – Sauer meint’s auch.“

„Nun, da mag er doch wohl andere Gründe gehabt haben,“ sagte die Hofräthin. „Er ist ja selbst bei Oeversee verwundet worden und soll in einem sehr elenden Zustand wieder hierhergekommen sein… Uebrigens, Dorte,“ fügte sie streng hinzu, „der heutige Zank zwischen Dir und Sauer ist eine gerechte Strafe für euch Beide gewesen. Wie oft soll ich denn wiederholen, daß ihr euch durchaus nicht um das kümmern sollt, was drüben vorgeht?“

Dorte meinte niedergeschlagen, man könne doch nicht immer Baumwolle in die Ohren stecken, und entfernte sich.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Kind des Waldes und seine Schule.


Du, mein schönes, deutsches Vaterland, von schneebedeckter Alpenfirn bis wo die Nordsee die grüne Woge rollt, vom rebenumlaubten Rhein bis zu Schlesiens lachenden Landschaften, birgst in deinem Schooße manches holde, poesiegesegnete Thal. Ihr mattenreichen Thäler des felsummauerten Tirols und des Salzkammerguts, ihr tiefschattigen Thäler des waldgrünen Thüringens – wem ginge das Herz nicht auf in lieber Erinnerung; doch wem ginge nicht auch das Herz auf, so er deiner gedenkt, reizende Perle im Kranze deutscher Thäler, smaragdgrünes Tharand!

Am Abhange des ernsten Erzgebirges, in dessen oberen Regionen man den schönen Frühling nur als Sage kennt, wo die Essen dampfen, die Oefen glühen und das Glöcklein des Bergwerks durch todtstille Gegend den wachsamen Ruf ertönen läßt, hat dich die Poesie der Natur hingedichtet als erquickende Oase für Auge und Herz.

Smaragdgrünes Tharand, wenn der Frühling dich mit seinen ersten goldgrünen Locken bekleidet, wie schaust du als junge Frühlingsbraut so lachend aus deinen Bergen; wenn der Sommer

[437]

Die Akademie für Forst- und Landwirthschaft in Tharand.

glühend rings auf Berg und Feld ruht und Baum und Strauch verdorren macht, daß die Blätter trübselig herabhangen, welch tiefen, kühlen Schatten bieten deine altergrauen und doch immer kräftig frischen Buchen; und zieht der fruchtreiche Herbst herauf, wie flammen deine Höhen und Waldabhänge in rothem und gelbem Feuer!

Da, wo drei waldreiche, bachdurchrieselte Thäler sich zu einem einzigen vereinigen, ziehen sich die Berge entlang eine Anzahl Häuser, welche von arbeitsamen Gewerbsleuten (meist Schuhmachern, Gerbern und Tischlern) bewohnt werden. Das ist das Städtchen „Tharand“, ehedem und zuweilen noch heut „Granaten“ genannt. Es ist Abend. Vom hochgelegenen Kirchlein tönt die Glocke friedvoll über das Thal. Sinnend schaut der Wanderer über die reiche Waldespracht hinauf nach der im Abendroth glühenden, moos- und epheuumwucherten Ruine des einstigen Schlosses von Tharand. Die Phantasie eines Matthisson könnte diesen Zeugen einer verklungenen Zeit nicht malerischer hinzaubern. Wie ein Gedicht schauen diese zusammengebrochenen und in junges Frühlingsgrün gekleideten Hallen hernieder auf das Geschlecht der Gegenwart.

Noch am Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts war dieses Schloß bewohnt. Die Ahnfrau des dermaligen sächsischen Königsgeschlechts, [438] Sidonie, die Wittwe Albrecht’s, des Stammvaters der albertinischen Linie, verbrachte hier ihre letzten stillen Jahre. Zu ihrem Angedenken führt der mineralische Heilquell Tharands noch heut den Namen „Sidonienquelle“. Während aber dieser Heilquell, der sich noch vor wenigen Jahrzehnten eines zahlreichen Besuchs erfreute, im Laufe der Zeit der großen Concurrenz deutscher Bäder hat weichen müssen, sprudelt im genannten Städtchen seit fünfzig Jahren ein geistiger und wissenschaftlicher Quell in um so erfreulicherer Frische, von Jahr zu Jahr seine segensreiche Wirksamkeit über weite Lande verbreitend. Seht dort am Fuße des Schloßbergs, am Ufer der forellenreichen Weiseritz im schönen, grünen Thale, das palastähnliche, geschmackvolle und im edeln Stil gehaltene Gebäude mit seinen lichtvollen Fenstern und Hörsälen. Dies ist der Sitz der weitberühmten Tharander Akademie für Forst- und Landwirthschaft.

Konnte es wohl ein geeigneteres und reizenderes Plätzchen geben für die Jünger der Naturwissenschaft und für Freunde und Pfleger des Waldes? Gewiß nicht. Fürwahr, hier, kann man sagen, geht die Wissenschaft im grünen Jägerkleide. Und es sind in diesen Wochen fünfzig Jahre gewesen, daß von diesem geistigen Quell an die zweitausend strebsame Jünglinge erleuchtet und erquickt hinausgezogen, welche den Namen des Städtleins Tharand ehrend durch Europa getragen haben. Denn wo man heut’ in deutschen Landen, und weit über dessen Grenzen hinaus, eine intelligente, edle und nutzbringende Pflege des Waldes findet, kann man in vielen Fällen getrost behaupten, daß die Pfleger an Tharands befruchtendem Quell gesessen und daß es der Segen der Tharander Forstakademie ist, der sich hier auf so erfreuliche Weise kundgiebt. Und wer ist der Schöpfer dieses so schönen und fruchtbringenden Instituts? Es ist jener Mann, der von sich selbst sagt: „Ich bin ein Kind des Waldes. Kein schirmend Dach überdeckte die Stelle, wo ich geboren wurde. Alte Eichen und Buchen umschatteten den Ort. Den ersten Gesang hörte ich von den Vögeln des Waldes. So bezeichnete bereits die Geburt meinen Beruf für den Wald.“

Wie auf dem Gebiete des deutschen Büchermarktes der Name „Cotta“ weit über ein halbes Jahrhundert als Stern erster Größe leuchtet, in noch reicherem Glanze erscheint der Name „Cotta“ auf dem Gebiete des rauschenden Waldes. Heinrich Cotta, geboren am 30. October des Jahres 1763 auf einsamem Jagdhause, unweit Meiningen, wo sein Vater Unterförster war, erhielt von Letzterem selbst den ersten Unterricht im Forstwesen. Später besuchte er die Universität Jena als Student der Cameralwissenschaft und Mathematik. Seine erste Anstellung im Forstfache verdankte er einem persönlichen Zusammentreffen mit dem damaligen Herzog von Weimar, der ihn auf einer Inspectionsreise als tüchtigen Fußgänger hatte kennen lernen. Heinrich Cotta ward Forstläufer mit zwölf Thalern jährlichen Gehalts.

Bereits in seinen Jünglingsjahren sammelte er eine Anzahl Schüler um sich, die er in Mathematik und im Forstwesen unterrichtete, und als er die Stelle seines Vaters erhalten hatte, gründete er auf einem herzoglichen Jagdschlosse, das ihm zu diesem Behufe eingeräumt worden, eine Lehranstalt für Forstleute. Es war dies die Pflanzschule der weltberühmten Tharander Forstakademie. Der Ruf seiner Tüchtigkeit überschritt bald die Grenzen seines kleinen Heimathlandes, und so ward er 1810 nach dem Königreiche Sachsen zur Vermessung der dasigen Staatsforsten berufen.

Cotta siedelte mit seiner Lehranstalt nach Tharand über, deren hohe Wichtigkeit die Regierung nur zu bald erkannte. Bereits im Jahre 1816 wurde sie zur Staatsanstalt erhoben, mit hinreichenden Mitteln ausgestattet und mit tüchtigen Lehrkräften versehen. Der Stifter und Director selbst – der frühere Forstläufer mit zwölf Thalern Jahresgehalt – erhielt den Titel Oberforstrath. Von jetzt an begann erst die wahrhaft segensreiche Wirksamkeit dieses vortrefflichen Mannes. Vom Jahre 1811 bis 1831 wurden unter seiner einsichtsvollen Leitung die Staatsforsten des Königreichs Sachsen, welche ein Capital von achtzehn Millionen Thalern repräsentiren, vermessen, abgeschätzt und der zweckmäßigsten Bewirthschaftung unterworfen. Nur wer mit dieser Riesenarbeit näher vertraut ist, vermag sich einen Begriff zu machen von dem Fleiße und der Mühe, die sie erfordert, von der Ausdauer und Genauigkeit, mit der sie ausgeführt worden ist.

Im Jahre 1830 erhielt die Forstakademie Tharand eine wahlverwandte Schwester-Anstalt in der Akademie für Landwirthschaft, welche unter die besondere Leitung des Dr. Schweitzer, eines der vortrefflichsten Schüler Thaer’s, gestellt wurde, und seit jener Zeit blühen und gedeihen beide Anstalten fröhlich neben einander.

Ein anderes schönes Denkmal, welches sich der schöpferische Geist Cotta’s gesetzt hat, ist der botanische oder sogenannte Forst-Garten, welcher in unmittelbarer Nähe der Schloßruine einen Flächenraum von über zwanzig Ackern einnimmt und in seiner forst- wie landwirthschaftlichen Abtheilung die interessanteste Sammlung forstlich wichtiger Holzarten und Anpflanzungen enthält.

Cotta war aber nicht blos ein geborner Director und praktischer Forstmann, sondern auch ein geborner Lehrer; denn die Natur hatte ihn ausgestattet mit einem scharfen Blick und hellem Verstande und mit dem liebevollsten Gemüth. Schlicht und lichtvoll war sein Vortrag. Wie verstand er es, seine Zuhörer zu fesseln, nicht sowohl durch glänzende Worte, sondern durch kernige, geistvolle und dabei stets auf das Praktische gerichtete Reden und Regeln! Dabei besaß er eine hohe, Achtung gebietende Persönlichkeit, ein kluges, freundliches Auge und ein heiteres, mildes Antlitz. Alles, was er that und sprach, zeugte von dem Adel seiner Seele. Sein Erscheinen verbreitete gleichsam eine Weihe, und seine Schüler waren zugleich seine Freunde. Und derselbe lichtvolle Geist, derselbe praktische Sinn, der sich bei Cotta aussprach auf dem akademischen Lehrstuhl oder als Forstmann im Walde, er durchweht auch seine zahlreichen Schriften, die sich durch Klarheit und Bündigkeit auszeichnen und eine sehr bevorzugte Stelle auf dem Gebiete der forstwissenschaftlichen Literatur einnehmen. So wirkte dieser mit reichem Geiste und dem edelsten Herzen begabte Mann – das Musterbild eines echten deutschen Forstmannes – in ununterbrochener reformatorischer, schöpferischer und gemeinnütziger Thätigkeit weit über ein halbes Jahrhundert hinaus, bis er sich an einem Spätherbsttage, „wo sich der Wald thut färben“, schlafen legte unter die achtzig Eichen, die man ihm ein Jahr zuvor zu Ehren seines achtzigsten Geburtstags gepflanzt hatte.

„So lange unsere Wälder grünen,“ heißt es in einem politischen Blatte, dem wir in unserer Lebensskizze zum Theil gefolgt sind, „so lange wird auch das Andenken Heinrich Cotta’s währen und in Ehren genannt werden, das Andenken dessen, der sich selbst ein Kind des Waldes nannte und dem Walde treu geblieben ist von der Wiege bis zum Grabe. Mitten im Walde ward er geboren – mitten im Walde ruht seine Asche!“ – und wir fügen hinzu: So lange der waldgrüne Name „Tharand“ genannt wird, wird darin auch leuchtend verflochten sein der Name „Heinrich Cotta“.
F. Stolle.




Das Heimweh.


Vor vierzig Jahren kamen die Menschen der verschiedenen Länder noch nicht so leicht zusammen, wie jetzt; damals hieß es noch etwas: weit her zu sein. Auch mein damaliger Aufenthaltsort, das Sommerschloß Rosenau, der Lieblingssitz des Herzogs, war, wenn auch nicht selten fürstlicher Besuch aus fremden Ländern dort einsprach, doch noch nicht ein solcher Wallfahrtsort reisender Naturverehrer, wie er dies sammt der stattlichen alten Veste, die des Landes Namen trägt, geworden ist, seitdem der Dampfwagen die nahe Residenz mit in den großen Weltverkehr gezogen hat.

Darum staunten die Leute auf Rosenau und den umliegenden Dörfern es als ein Ereigniß an, als im December 1826 zwei echte Schweizer und drei wirkliche Schweizerinnen mit vielem echten Schweizervieh, das der Herzog im Berner Oberland angekauft hatte, aus ihrer fernen Heimath hier einzogen, um unweit des Schlosses Rosenau eine Schweizerei zu gründen.

[439] Ich war damals ein siebzehnjähriger Gärtnerbursche und kaum über die Grenzen des kleinen Landes hinausgekommen. Kein Wunder, daß mich die Neuigkeit ganz besonders packte, denn der einzige Schweizer, den ich bis jetzt gesehen, ein Kammerdiener des Herzogs, war nach Kleidung und Sprache ja doch kein rechter Schweizer mehr; aber jetzt sollte ich richtige Schweizer sehen und sogar Schweizerinnen, die direct von ihren ewigweiten und himmelhohen Bergen herkamen.

Wirklich war der Eindruck, den diese Landleute aus den Alpen auf die zum Einzug der fremden Gäste herbeigeströmten Landleute um Rosenau machten, ein wildfremder. Ich kehrte von einem Dienstgang zurück, als sie bereits im Wirthshaus eingerückt waren. Das Wirthshaus war aber damals noch die Gärtnerwohnung und meine Frau Prinzipalin fungirte zugleich als Wirthin. Diese brave Frau, die wegen ihrer guten Küche sich schon manches gerechte Lob verdient, war außer sich über „das fremde Volk“, von dessen Kauderwälsch man kein Sterbenswörtle verstehen könne. „Das ist ein ewiges Gsi und loset und gangt nume und überha und i ka nüt und dazu Lachen und Gesichtermachen, daß kein Mensch daraus klug wird. Gehe einmal in die Stube zu ihnen, Christian, und sieh’, ob Du’s ‘rausbringst, was sie wollen.“

Ich gehorchte und fand die merkwürdigen Leutchen am Tisch vor einer Schüssel voll Suppe sitzen. Von den beiden Mannsbildern war der eine wohl ein Fünfziger, der andere ein hoher Zwanziger; von den Schweizerinnen waren nur Zwei da, deren Alter mit dem der beiden Männer ungefähr zusammenstimmte. Nur letztere zeichneten sich durch eigenthümliche Tracht aus. Sie lachten über die Suppe, die sie nicht essen könnten, weil sie „grußerlich schlecht“ sei, und der eine Mann sagte: „Wie’ ist guet in der Suppa, Bier nüt!“ Da hatt’ ich’s heraus: man hatte ihnen bittere Biersuppe vorgesetzt, während ihnen süße Weinsuppe besser schmeckte.

Wie ich nun mit dieser meiner Entdeckung in die Küche eilte, sprang eben das dritte der Schweizermädchen aus dem Hause, das in meinem Alter sein mochte. Ich blickte dem lustigen Wesen nach, und die Köchin, die das gesehen, meinte: „Das wäre Eine für Sie, Christian!“

– „Das kleine schwarze Ding?“ – Mit diesem fragenden Ausruf geht eigentlich die Geschichte an, die ich erzählen will. Tausend Male dachte ich später daran zurück, als ich durch Lust und Leid erkannt hatte, was manchmal ein Blick und ein Wort für des Menschen Leben bedeutet. Ich kann nicht sagen, daß „die kleine Schwarze“ mich, wenigstens anfänglich, allein zu den Fremden hingezogen hätte. Das Fremde an sich äußerte eben seinen Reiz, und weil ich sah, wie oft die Leute in Verlegenheit kamen, weil sie sich nicht verständlich machen konnten, so gab ich mir große Mühe, sie verstehen zu lernen, und wurde ihnen bald eine unentbehrliche Hülfe. Und nachdem ich erst ihre Namen kannte, den alten Michel und den jüngern Rudolph, die alte Aenni, die jüngere Grit (Margaretha) und die jüngste Gritli, so war ich auch ihrer Aller Christian, und das gegenseitige Vertrauen bahnte nun den natürlichsten Weg zu der Vertraulichkeit, welche die Jugend, d. h. Gritli und mich, ganz wie von selbst immer öfter und näher zueinanderführte.

Gritli hing durch viele Herzensfäden mit ihrer Berner Heimath zusammen. Wenn wir in den prächtigen Anlagen der Rosenau lustwandelten und ich mich immer von Neuem des Anblicks der wäldergrünen Höhen und der dunklen Thäler erfreute, mit denen der südöstliche Thüringerwald unserm fränkischen Hügelland imponiren zu wollen schien, weilte ihr Geist immer in der großartigeren Heimath und bei den Ihrigen. Sie war die älteste von sieben Geschwistern, denen nur die Mutter noch lebte, seit ihr Vater, dessen Liebling sie gewesen, verunglückt. Sie erzählte mir das oft unter bitteren Thränen. „Ach mein Vater! Wie es Brauch bei uns ist, ging er im Jänner zu Holze. Die Cameraden standen oben, zum Fällen der Bäume, mein Vater unten am Hang, um die herabstürzenden Stämme zu lenken. Ohi! Ohi! geht der Ruf von oben, ein Stamm kam und, Schicksal, fiel über meinen Vater. Nur wenig Minuten, und er hatte sein junges Leben ausgeathmet, und todt wurde er uns in Haus getragen. Wie habe ich allezeit gebetet, daß der Himmel uns vor solchem Unglück bewahre, aber ich hab’s doch noch erleben müssen, daß sie auch meinen ältesten Bruder todt in’s Haus gebracht haben.“

Das schwere Schicksal der Mutter ging meinem Gritli besonders zu Herzen, sie zählte alle ihre Geschwister her, vom zweijährigen Mariannerl bis zum sechszehnjährigen Fritz, und erwog, wie viel sie der Mutter noch Last bereiteten und wie viel sie ihr schon im Haus und Stall und auf Alm und Feld helfen könnten. Der Schluß aber wollte mir mehr und mehr immer weniger gefallen, denn er lautete allemal: „Wenn ich wieder zu Hause komme, werde ich alle Arbeit für die Mutter thun und dann erzählen, wie es in der Fremde ist. Ach, wie viel schöner ist’s doch in der Heimath! Hier sind keine hohen Berge, keine Seen, ach, Alles ist daheim besser und schöner, als hier!“

Ich will mich aber losreißen von diesen Erinnerungen, sonst verirre ich mich zu tief in die liebste Geschichte, die der Glücklichste nur einmal erlebt, in meine Liebesgeschichte. Es vergingen ungefähr drei Jahre. Da kam ein schwerer Schlag. Die Schweizerei war fertig, die beiden Männer waren in die Schweiz zurückgekehrt, und nun erfaßte auch die drei Schweizerinnen die Sehnsucht in die Heimath. Das brachte bittere Tage und harte Kämpfe für mich, aber ich siegte. Mein Gritli blieb, wir hatten einen Helfer gefunden, der wohl erkannte, daß die Trennung zwei Menschen unglücklich machen würde, und das war der Herzog gab mir eine Stellung in der Gärtnerei zu C., die mir gestattete, mein Gritli heimzuführen. Es war recht ein Wort aus ihrem Herzen, als sie mir am Hochzeitstage sagte: „Siehst Du, Christian, Berg und Thal kommen nicht zusammen, aber gute Menschen durch die treue Liebe.“ Einige Zeit später versetzte mein Herzog mich, als die alte Veste restaurirt und aus einem verfallenen Waffenplatz zu einer Kunstburg erhoben und mit freundlichen Anlagen umgeben wurde, dorthin. Wo jährlich Tausende sich das Herz labten an dem köstlichen Ausblick von den Mauern hinüber in die Fernen, da hatte ich innerhalb dieser Mauern für mein Augen- und Herzenslabsal das stille, glückliche Nestchen erworben. Wir lebten, von äußeren Sorgen ungetrübt, zufrieden und einig und, wenn das möglich war, noch inniger verbunden durch ein Kinderpärchen, das unser Glück gar voll machte.

Das Alles mußte ich erzählen, nicht um mich von jeder Schuld an dem nun Folgenden frei zu sprechen, sondern mehr um das Unerklärliche und Entsetzliche desselben für mich anzudeuten.

Fünf Jahre waren uns so dahingegangen, und in dieser Zeit war nur ein Schmerz über uns gekommen: der Tod von Gritli’s Mutter. Seit dieser Nachricht beklagte sie es oft, daß sie ihre Lieben nicht habe wiedersehen können. Trotz eines eifrigen Briefwechsels mit ihren Geschwistern, die immer nur Gutes schrieben, vermochte sie die Sorge um sie nicht niederzukämpfen. Ich beruhigte und vertröstete, und das schien zu wirken. Sie klagte freilich nicht mehr, aber die nun verschlossene Klage arbeitete, ohne daß ich’s ahnte, in ihrem Innern zerstörend fort.

Im Laufe des Sommers (1836) trat zuerst die innere Wandlung an den Tag. Bis dahin ein Muster in der Ordnung ihres Haushaltes und in der Sorge für die Kinder, zeigte Gritli sich mehr und mehr gleichgültig gegen Beide, sie wurde nachlässig in Allem, auch, die sonst immer so schmucke Frau, in ihrem Aeußern. Ich fand sie häufig und später immer mit verweinten Augen, und auf all meine noch so liebevollen Fragen erhielt ich keine Antwort. Nachts verließ sie oft unsere Wohnung und ging in’s Freie, meist auf die Bastei mit dem weitesten Fernblick nach Süden. Ich schlich voll Sorge nach, ohne sie zu stören. Sie sprach leise für sich, aber ich konnte nichts davon verstehen, dann brach sie plötzlich in erschütterndes Lachen und gleich darauf in bitterlichstes Weinen aus, und Beides wechselte so oft, daß ich um ihre geistige Gesundheit in Angst und Bangen gerieth. Und lauschte ich am Tag einen Augenblick ab, wo ich sie ruhiger glaubte, und bat sie dringlich, mir ihren Kummer zu entdecken, so wandte sie sich ab und schwieg. – Jedes theilnehmende Herz wird fühlen, was ich litt. Da war etwas zwischen mich und meine geliebte brave Frau getreten, was ich nicht ergründen konnte, und das mich um so tiefer niederdrückte, als die Erscheinung desselben täglich unheimlicher wurde.

So war der Herbst herbeigekommen. Da, an einem Freitag Nachmittag, ging meine Frau, trotzdem es heftig regnete und sie nur leicht gekleidet war, zu dem Oekonomiegute, das außerhalb der Veste, etwa zehn Minuten vom Thore entfernt ist und wo ein laufender Brunnen auch für Bewohner der Veste das nöthige Trinkwasser bietet, denn innerhalb der Veste ist nur eine Cisterne [440] und ein mehrere hundert Fuß tiefer Ziehbrunnen, der jetzt nicht mehr benutzt wird. Während Gritli ihre Eimer voll laufen ließ, öffnete sich das Fenster des Pächterhauses und wer herausschaute, war der Herzog, den das Unwetter auf einem Ritt zur Jagd überrascht hatte und der hier untergetreten war. Gritli stand vom Fenster abgewandt, und erst auf die Ansprache: „Was machst Du denn da? Du wirst ja ganz naß!“ kehrte sie sich dem Fürsten zu, der nun ihr blasses, abgehärmtes Gesicht sah und sie fragte: „Was fehlt Dir? Bist Du krank?“ – „Ach nein, Durchlaucht, mir fehlt nichts.“ Und damit eilte sie fort. Daheim erzählte sie sie mir dies Begegniß und fügte noch hinzu: “Ich habe gelacht und habe gesagt, es fehlt mir nichts.“ Indem ich sie dabei scharf ansah, wurde sie bald roth, bald blaß und ein Fieber begann sie zu schütteln. Sie folgte meinem Rathe, sich zu Bett zu begeben, die Wärme half ihrer an sich gesunden Natur nach, und als sie sich am Abend wieder wohler fühlte, kam zum ersten Male ein Geständniß über ihre Lippen. Sie seufzte: „Ach, es giebt so viele reiche Leute. Wenn die nur wüßten, wie es denen zu Muth ist, die ihre Wünsche nicht befriedigen können und dürfen!“ – „Was hast Du denn für einen Wunsch? Sage es mir, Gritli! Du weißt, wie gern ich Dir jeden Wunsch erfülle, wenn es nur irgend angeht!“ Mit dieser Frage mußte ich die wunde Stelle berührt haben. Ein starres Ansehen war die Antwort – und dann ein Thränenstrom, der nicht enden wollte, so daß auch ich meines Leidens kein Ende wußte.

Schon am nächsten Morgen kam der Kammerdiener, jener Schweizer, den ich oben erwähnte, zu mir auf die Veste, offenbar im Auftrag des Herzogs, denn nach allerlei Hin- und Herreden sagte er, wie im Vorbeigehen: „Ja so, lieber Landsmann (wir nannten uns so, meiner schweizerischen Frau wegen), gestern war der Herzog hier oben und hat Ihre Frau so leidend aussehend gefunden. Er möchte wissen, was ihr fehle und ob Sie seiner Hülfe bedürften?“

„Was meiner Frau fehlt? Ja, wenn ich das wüßte!“ Ich erzählte ihm Alles, was ich beobachtet hatte. Sein Gesicht wurde immer bedenklicher, und als ich geendet hatte, sagte er:

„Landsmann, Ihre Frau hat das Heimweh im höchsten Grade! Trösten Sie sie, es wird sie beruhigen, wenn Sie ihr die Versicherung geben, daß der Herzog ihre Wünsche erfüllen werde.“

Das Heimweh! Ich war erschreckt und erstaunt zugleich, daß so etwas einer Menschenseele so fürchterlich zusetzen könne. Halb im Unglauben dachte ich doch, es würde für Gritli das Beruhigendste sein, wenn ich ihr des Kammerdieners Auftrag einfach mittheilte. Hatte ich denn eine Ahnung davon, wie das eine Wort auf das kranke Herz wirke?

Meine Frau kam von einem Ausgang heim. Freudig eilte ich ihr entgegen und sagte: „Du, Gritli, der Kammerdiener war da und hat sich im Auftrag des Herzogs erkundigt, warum Du so blaß aussähest, und Dein Landsmann hat gemeint, Du hättest das Heimweh – –“

Wie von einem Blitz getroffen, stürzte sie zusammen und wälzte sich auf dem Boden, weinend und lachend durcheinander und schrie dazwischen gräßlich: „Hahaha – Heimweh! Heimweh! Ich weiß es nicht, weiß es nicht – hahaha – in die Heimath will ich wieder!“ Und Lachen und Schreien und Weinen – und nicht vom Boden auf – stundenlang! Jammernd, bittend und zitternd an allen Gliedern, stand ich da und konnte nicht helfen, bis endlich die Gewalt des Seelensturms sich selbst ausgetobt hatte. Erst dann ward sie meinen Versicherungen zugänglich, daß sie sicherlich in die liebe Heimath reisen solle. Aber an Ruhe war nicht zu denken, die Rinde des Schweigens war gelöst, die ganze Nacht redete und erzählte sie von der Heimath und von den Gräbern ihrer Mutter und ihres Vaters und von ihren Geschwistern und wie dort Alles, Alles besser sei, das Land und die Menschen und Alles!

Tags darauf ward ich in’s Residenzschloß beschieden. Der Herzog fragte mich, ob ich mit meinem Gehalt ausreiche, ob vielleicht Nahrungssorgen auf meiner Frau gelastet. Ich mußte offen und dankbar bekennen, daß wir bisher glücklich und zufrieden gelebt. „Dann,“ sagte der edle Fürst, „ist es wirklich nur das Heimweh, das Deine Frau, krank gemacht hat, und da muß rasch geholfen werden. Ich will Euch Beide in die Schweiz reisen lassen, denn allein darf Deine Frau in ihrem jetzigen Zustand nicht sein. Sage das Deiner Frau. Ich habe diese Leute nicht aus ihren Bergen herauskommen lassen, daß sie hier unglücklich sein sollen.“

Wie ich diesmal den Berg zur Veste hinaufkam, weiß ich nicht. Nur das weiß ich, daß ich von heißem Dank, ja von Begeisterung erfüllt war für meinen Herzog, der für den einfachen, niedern Mann ein Herz voll theilnehmender Menschenliebe hatte. Und als ich meiner Gritli die Botschaft verkündete: „In acht Tagen können wir reisen, Du und ich, in Deine Heimath!“ – da schlug sie vor Freude die Hände zusammen und umschlang mich und rief: „Ach, der liebe Herr, wie gut der ist, – aber, Christian, Du darfst nicht mit! Allein muß ich sein, und sollte ich zu Fuß gehen – Du darfst nicht mit!

Kein Warum und kein Bitten änderte ihren Sinn, alles Zureden wies sie mit dem entschiedenen Ausspruch zurück: „Ich muß allein sein!“ Ich kann nicht verschweigen, daß, nach dem vielen Bittern, das ich im Verlauf dieser Krankheit ertragen, mich dieses Letzte am tiefsten schmerzte, weil es mir wie Lieblosigkeit, ja wie Widerwillen gegen mich erschien. Indeß ließ ich mich gern belehren, daß sich damit eben nur ein neuer Zug der entsetzlichen Krankheit äußere, der mit der Krankheit selbst verschwinden werde.

Der Herzog gestattete ihr nun die Reise mit der Post, und das war für die kranke, schwache Frau ein schweres Unternehmen, denn während jetzt Eisenbahn und Dampfschiff uns in einem Tage von unserer Residenzstadt bis in die Schweiz tragen, nahm dies damals sieben volle Tage und sieben Nächte in Anspruch. So, kam’s denn – und zwar Mitte des sehr strengen December – zur Abreise und zur letzten schmerzlichen Aeußerung der Krankheit: Gritli schied von mir und von unsern Kindern so gleichgültig, als ob sie nur in die nächste Nachbarschaft ginge. Mit banger Sorge blickte ich dem abfahrenden Wagen nach, meine arme Frau war zum Skelet abgezehrt; Gottes Hand mußte sie führen, wenn sie ihre Heimath und uns wiedersehen sollte.

Fünf Wochen vergingen; ich erhielt keine Nachricht in dieser für mich so peinlichen Zeit. Aber – meine Gritli kam selbst! Fünf Wochen – und welche Wandelung! Wieder kerngesund und stark, mit lebenstrahlenden Augen trat sie bei uns ein. Die Kinder wollten nicht glauben, daß das ihre Mutter sei, und ich konnte mich vor freudigem Staunen kaum fassen: sie war ganz wieder „das kleine, schwarze Ding“ geworden, ganz wieder Bernerin in Tracht und Sprache, und ganz wieder das frische Herz voll der alten, treuen Liebe.

„Da hast Du mich wieder, Du guter, herziger Mann, und Ihr, liebe Kinder! Ich war gegen Dich garstig und nachlässig gegen Euch, aber nun werde ich Dir wieder die gute Frau und Euch die treue, sorgende Mutter sein.“ Das war ihr Gruß, und nun konnte sie mit Ruhe über ihre Krankheit sprechen, ja sie hielt jetzt eine möglichst offene und klare Darlegung ihres damaligen Zustandes für ihre Pflicht, um all der Angst und des Kummers willen, die sie mir gemacht.

„Was habe ich erlebt!“ rief sie aus. „O Heimweh, du fürchterliches Wort! Und kein Schweizerherz ist vor ihm sicher, ob es noch so viel Liebe erfährt und ob’s ihm noch so gut geht in der Fremde. Als es so nach und nach über mich kam, war es anfangs nur Sehnsucht, aber dann wurde es Zorn über Alles, was mich umgab. Mein Verstand sah ein, daß ich Euch und Andern Unrecht that, aber das Herz besaß nur noch so viel Widerstandskraft, daß ich mich Euch gegenüber wenigstens nur gleichgültig zeigte. Wäre mir nicht geholfen worden durch die Heimathreise, so stehe ich nicht davor, selbst gegen Euch, mein Liebstes auf der Welt, wär’ noch der Groll Herr geworden. Es war die höchste Zeit, daß ich gerettet wurde.

Und warum Du nicht mit mir reisen durftest? Das war keine Lieblosigkeit, sondern Scheu, beobachtet zu werden in meinem Wesen, Scheu vor irgend einer Bemerkung über meine Geschwister, die Dir hätte entschlüpfen können, – und ich wußte ja nicht, wie ich dann gegen Dich werden würde. Als es überstanden war, bereute ich’s tausend Mal, daß Du nicht mit mir die Herrlichkeiten der Heimath sehen konntest. Ueberstanden war es aber erst, als in einer Nacht der Conducteur (ich hatte ihn jeden Tag ein paar Mal gefragt: sind wir noch immer nicht an der Schweizergrenze?) mir zurief: ‚Hier ist Schweizerboden!‘ Da sprang ich aus dem Wagen und kniete hin und küßte die Heimatherde. – Und dann noch mehr in Zürich, wo Alles schweizerisch sprach und Jedes mir [441] mit Zureden und gutem Rath entgegenkam. Dort im Gasthof war’s auch, daß ich zufällig durch das Thürfenster hinaus in die Küche schaute, wo die Dienstboten Birnschnitze und geräucherte Ripperle aßen. Da ging ich sogleich hinaus, setzte mich mit an den Tisch, nahm mir frisch heraus und aß zum ersten Mal seit der ganzen Reise, ja seit dem Anfang der bösen Krankheit mich einmal wieder herzhaft satt. Und nun nach Bern und dann nach Thun und da mußte ich übernachten. Als ich mit der Wirthin sprach und ihr gestand, wer ich sei und woher und daß ich das Heimweh hätte und mich nach meinen Geschwistern sehnte, erhob sich ein Mann am Tisch, der sah mich an und rief plötzlich: ‚Gritli, Du bist es und kommst aus Deutschland? Gieb Dich zufrieden und laß Dein Sehnen, alle Deine Geschwister sind wohlauf und Allen geht es gut!‘ Da war’s Peter, ein Schulcamerad, der mich so begrüßte und tröstete. Und am andern Tag mit dem Postschiff über den See. Es war ein klarer Morgen. Wie betrachtete ich die heimischen Gletscher und Berge! Welch ein Jubel in meiner Brust! Es kam mir vor, als seien die Berge höher, der See größer und die Heimath viel schöner, wie damals, als ich fortging. Und endlich das Heimathsdorf, die Geschwister, die mir entgegenfuhren, weil Peter ihnen von mir schon erzählt hatte, – und da saß ich im Vaterhaus, und um mich herum Alle, die Großmutter, die Tante, die Geschwister, der Schwager – und alles Leid war vergessen – und das Heimweh aus Seele und Leib gebannt bis zum letzten Herzenswinkel. Und nun wollen wir das Leben wie von vorn anfangen, es kommt kein Heimweh mehr über mich und Eure Heimath ist nun auch die meine.“

Und so ward es nun, und so blieb es noch sechsundzwanzig Jahre lang. Kein Schatten hat unser häusliches Leben mehr getrübt; nur einmal kam eine tiefe Trauer über uns Beide und betrübte uns zu Thränen treuesten Dankgefühls: als unser guter Herzog starb.

Bis hierher bin ich in Obigem der Mittheilung meines alten, lieben Freundes gefolgt. Zum Schluß füge ich an, daß er selbst noch auf der alten Veste, der „Schwester der Wartburg“, lebt, aber sein treues Gritli schlummert seit vier Jahren auf dem Plätzchen, das sie sich im Leben zur Ruhestätte erwählt, in dem stillen, grünen Friedhof am nahen Bergwald, in den früher die Bewohner der Veste gebettet wurden. Obwohl seit Jahren verschlossen, öffnete er sich noch einmal und zum letzten Male für das Kind der fernen Berge. Wer von der Veste Coburg die breite, hohe Straße nach Osten einschlägt, um an der sogenannten „Schäferei“ (dem oben erwähnten Oekonomiegut) vorüber den reizenden Weg durch die Buchenhallen des Bausenbergwaldes nach Oeslau und der Rosenau mit ihrer blühenden Schweizerei zu lustwandeln, sieht vor dem Eintritt in den Wald zur Linken die alte Friedhofstätte mit ihren Steinen und Kreuzen und ihrem verfallenden Bahrhäuschen. Das üppigste Grün überwuchert sie, der Bergwald beschattet sie und die ersten Nachtigallen begrüßen sie – und doch liegt sie nicht so abseits allein und verlassen, sondern Menschen, die sich der Schöpfung Gottes freuen, ziehen mit gehobener Seele vorüber und mancher theilnehmende Blick begrüßt noch immer die stillen Gräber. Da ruht sich’s wohl.
Fr. Hofmann.




Die Schlacht bei Langensalza.[1]


Der König von Hannover gehörte, wie bekannt, zu denjenigen Fürsten, welche gegen Preußen lange schon nicht allein eine feindselige Haltung annahmen, sondern endlich sich zu offenem Widerstand rüsteten und zu verbinden suchten. Die letzte kurze Frist zur nachträglichen Erklärung der Neutralität ließ König Georg ungenützt vorüber gehen, und so rückten, wie angedroht, preußische Truppen von Norden her in das Königreich ein. Die hannover’sche Armee, trotz ihrer bekannten Schlagfertigkeit, zog sich sofort zurück. Ein kleiner Theil derselben wurde im Lande selbst überrascht und zur Niederlegung der Waffen genöthigt, die bei weitem größere Anzahl der Truppen aller Gattungen, man könnte mit Recht sagen die ganze hannover’sche Armee, in Stärke von zwanzigtausend Mann Infanterie mit vierzig bis sechszig Kanonen und sechs Cavallerie-Regimentern, verließ das Königreich Hannover und trat bei Heiligenstädt auf preußisches Gebiet über. Dieser eilige Abzug ohne genaue Kenntniß der Stärke und Stellung der Bundestruppen wird von Vielen nicht gebilligt, da die Truppen mit Ausrüstung aller Art und besonders mit Schießbedarf auf das Reichlichste versehen waren, und nicht, wie man hie und da erzählt, ohne Munition ausrückten. Schreiber dieses sah ganze Haufen derselben auf ihrem Zuge durch Waldungen von ihnen selbst zerstören und vergraben, weil ihnen die große Menge derselben lästig fiel; auch trug jeder Soldat, als es am 24. Juni zum ersten Male zum Kampf gehen sollte, nahe an 100 Patronen bei sich. Der König selbst nennt das Heer schlagfertig, von opferfreudigem Muthe beseelt.

Gleichwohl konnte eine so imposante Macht nicht im Lande bleiben, um es bis auf den letzten Mann zu vertheidigen und mit Ehre unterzugehen. Sie war darauf angewiesen, vereint mit den übrigen Bundestruppen ihr Heil gegen die Waffen Preußens zu versuchen. Das Streben nach dieser Vereinigung war es daher auch, was den König hinriß bis zu dem entsetzlichen Blutbade des Siebenundzwanzigsten, welches Tausende seiner eigenen Landeskinder todt oder verstümmelt niederstreckte. Dagegen halfen freilich dann keine Zähren bitterer Reue mehr, du armer betrogener Mann, als du am Sterbelager deiner Treuen standest, und nicht das Händeringen deines Erben an deiner Seite!

Die ersten Nachrichten über den Einmarsch der hannoverschen Truppen in die preußischen Lande trafen am 21. Juni hier ein. Langensalza, eine hübsche Stadt von neuntausend Einwohnern, liegt, wie Sie wissen, zwischen Erfurt, Gotha, Eisenach und Mühlhausen mitten inne. Frühmorgens von acht bis gegen ein Uhr hatten die Hannoveraner ihren Einzug in Heiligenstädt gehalten, den Landrath des Kreises festgenommen, die königlichen Cassen mit Beschlag belegt, den Einwohnern nah und fern eine starke Einquartierung aufgenöthigt, sowie große Lieferungen an Hafer, Heu, Brod, Rauchfleisch etc. ausgeschrieben. Das war nicht sehr friedlich! Wer hierorts an alledem etwa noch zweifeln mochte, den belehrten die in sausendem Galopp von Dingelstädt und Mühlhausen durch Langensalza nach der Festung Erfurt geführten königlichen Cassen, der unterbrochene Telegraphenverkehr und dergl. Der Landrath des Mühlhäuser Kreises, Herr von Wintzingerode, nahm seinen Aufenthalt hier, der Landrath des Langensalzaer Kreises begab sich auf seinen Stammsitz Altengottern. Beide wollten sich dadurch ihrer mehr als je nothwendigen Amtsthätigkeit erhalten. Es währte nur kurze Zeit, so wurden auch in Langensalza die Post und die königlichen Cassen geschlossen und letztere durch die betreffenden Beamten ebenfalls in Sicherheit gebracht. Für die städtischen Cassen wurde nicht minder gesorgt, doch fürchtete man für diese weniger, weil eingegangenen Nachrichten zufolge vom Feinde nur königliches Eigenthum mit Beschlag belegt, alles Privateigenthum möglichst respectirt worden war.

In banger Erwartung harrten Alle der kommenden Dinge, denn wir standen dem Feinde ziemlich hülflos gegenüber, da die ganze Gegend von preußischen Truppen entblößt war. In unsere trübe Sorge blitzte ein Lichtstrahl durch die Ankunft einer Schwadron preußischer Dragoner unter Rittmeister von Wydenbrink, welcher gekommen war, die Ankunft und Stellung der Hannoveraner zu erforschen und eine Vorpostenkette nach Gotha zu bilden.

Unter jubelndem Hurrah wurden die Dragoner empfangen und bewirthet, und weg war alle Sorge und Schwere des Augenblicks, ja überall herrschte Freude und Lachen, besonders als die bärtigen und tapfern Landwehrmänner in der Dankbarkeit ihrer Herzen ihren Gefühlen durch öffentliche Reden und [442] Hurrahs auf die Bürger Luft machten. Leider wurden schon wenige Stunden darauf einige der Tapfern von vordringenden Hannoveranern zusammengehauen oder gefangen genommen. Das geschah einem Vorposten von neun Mann auf der ersten Anhöhe von Langensalza nach Gotha zu, bei dem Dorfe Hennigsleben, wo die preußischen Dragoner sich postirt hatten.

Das Drama der Unglückswoche begann am 23. Juni gegen Mittag mit der Festnahme eines hannoverschen Officiers, welcher dicht vor der Stadt am Postgebäude die Telegraphendrähte durchhauen, und wobei ihm ein hiesiger Arbeiter ganz gemüthlich die Axt gereicht und die Leiter gehalten haben soll. Diese Arretirung trug für die Stadt beinahe sehr verhängnißvolle Folgen. Kaum hat der zurückfahrende Kutscher des gefangenen Officiers einer ihm begegnenden Abtheilung Dragoner und Husaren davon Mittheilung gemacht, als diese sofort die Carabiner laden, die Säbel ziehen und in raschem Galopp zur Stadt sprengen, den Gefangenen befreien und nun mit wüthenden Gebehrden und Flüchen vor’s Rathhaus kommen, um das Oberhaupt der Stadt, welches jene Arretirung veranlaßt, zu blutiger Rechenschaft zu ziehen. Die Sache wurde endlich in Güte beigelegt, die erschöpften Feinde auf’s Beste bewirthet und letzteres auch für die nachfolgenden hannoverschen Truppen zugesagt.

In der ganzen Stadt wurde nun mittels Ausrufer den Hausbesitzern befohlen, sich auf eine Einquartierung von wenigstens zehn Mann einzurichten und für deren Verpflegung Sorge zu tragen. Da gab es denn ein Laufen und Rennen und Furcht und Bestürzung auf allen Gesichtern, denn solche Gewaltscenen, wie eben hier gespielt, solch enorme Einquartierung war in dem stillbürgerlichen Städtchen unerhört. Ich sah dann den König einziehen; auf einem Schimmel reitend, der von einem nebenbei reitenden Adjutanten an der Leine geführt wurde, bot der stattliche Mann allerdings kein Bild eines Schlachtenführers. Am verwirrtesten mochte es jetzt wohl im Schützenhaus zugehen, wo der König und der Kronprinz von Hannover nebst Ministern und zahlreichem Gefolge Absteigequartier genommen. Durch den hannoverschen Major von Hammerstein waren sämmtliche oberen Räume mit Beschlag belegt worden. Der österreichische Gesandte, ein Graf Ingelheim, bezog den Gasthof zum Kreuz, befand sich aber zumeist an Seite des Königs, um ihm – guten Rath zu geben. Bei jeder Unterhandlung waren seine stereotypen Worte: „Majestät, um keinen Preis unterschreiben Sie, Ihre Ehre als Welfe duldet keine Unterwerfung und mein Herr und Kaiser schützt Sie!“ Und wie auch der besser unterrichtete und heller sehende königliche Sohn bat, flehte, dieser sein guter Engel mußte thränenden Auges weichen, der leiblich und geistig Blinde blieb in Dunkel und Nacht – die blutige Saat loderte zu grauenvoller Ernte empor.

Kaum hatte der König seinen Einzug gehalten, so folgten unübersehbare Reihen der hannoverschen Armee zu Fuß, zu Pferde, zu Wagen, alles in oder durch die Stadt, in einer Dauer von zwei bis drei Stunden. In dem Orte selbst verblieben wohl circa acht- bis zehntausend Mann und quartierten sich ein, wo es nur geschehen konnte.

Am 24. Juni früh rückte darauf die hannoversche Macht aus, um in der Nähe der Stadt Stellung zu nehmen, denn wenn auch Unterhandlungen zu ehrenvoller Heimkehr oder zur Beseitigung des Conflictes geführt wurden, so war man doch auf Schlimmes vorbereitet und suchte durch solche Truppenaufstellungen wohl auch zu imponiren. Und imposant war der Feind, besonders wenn er seine sämmtliche Artillerie und seinen stundenlangen Troß an Gepäck-, Fourage- und unzähligen andern Wagen, die Staatscarossen des Königs und seines höhern Hofpersonals, der Minister, der Gesandten, den vollständigen Marstall in der Zahl von hundert bis zweihundert Pferden mit sich führte, was in der Regel geschah.

An demselben Tage, am 24. Juni, wurden den Hannoveranern durch den Herzog von Coburg-Gotha in Vollmacht für den König von Preußen Bedingungen zur Capitulation gestellt, in Folge deren die hannoversche Armee mit Wehr und Waffen abziehen, dagegen sich verbindlich machen solle, während eines Jahres nicht gegen Preußen zu dienen. Der König solle während eines Jahres seinen Wohnsitz außerhalb des Königreichs nehmen und Garantie dafür bieten, daß seine Armee binnen Jahresfrist die Waffen gegen Preußen nicht führe. Der König von Hannover lehnte die Bewilligung der Garantieforderung ab und hannoversche Truppen rückten trotz und während der Capitulationsverhandlungen vor bis zum Dorfe Mechterstedt am Fuße des Hörselberges, zerstörten die Eisenbahn und Telegraphenlinie, und versuchten Durchbruch und Vereinigung mit der inzwischen bis Meiningen, ja bis zum hessischen Dorfe Brotterode am Inselsberge vorgerückten baierschen Armee, wurden aber von den bei Eisenach aufgestellten preußischen und gothaischen Truppen zurückgetrieben. Dieses Alles geschah, während der General-Adjutant des Königs von Preußen, Herr von Alvensleben, vor König Georg stand, um im Namen seines Monarchen die Capitulation zu ratificiren.

Noch am Vormittage zogen sich die hannoverschen Truppen theilweise wieder zurück, ohne daß es zu einem Kampfe gekommen war. Ein großer Theil marschirte Mittags nach Eisenach zu, um den bereits erwähnten Durchbruch zu versuchen. Die Stadt erhielt ihre Einquartierung wieder, ein Jeder suchte sein Quartier auf, besonders wenn es ihm daselbst behagt hatte; aber es schien der Geist friedlicher Gesinnung etwas aus ihren Herzen gewichen zu sein. Die stundenlange Aufstellung in glühender Sonnenhitze, aufregende Reden der Officiere und Vorgesetzten hatten die Gemüther entflammt, die Mittheilung, daß die Preußen das Ernst-August-Denkmal in Hannover zerstört und die herrliche Herrenhäuser Allee umgehauen, hatte allgemeine Empörung hervorgerufen. Als sie diese, wie sich später erwies, ganz grundlose Kunde in ihren Quartieren erzählten, riefen sie wuthentflammt: „Nun nehmen und geben wir keinen Pardon, wenn es zum Kampfe kommt. Wir haben’s uns zugeschworen und die Hand drauf gegeben. Der Napoleon hat unsere vaterländischen Denkmale geschont, der Preuße nicht, dem wir doch gar nichts gethan. Nun mag’s werden wie’s will.“

Ein neuer Versuch einzelner hannoverscher Abtheilungen zwischen Eisenach und Gotha, trotz des am Abend des 24. Juni abgeschlossenen Waffenstillstandes, durchzubrechen, wurde durch das vierte Garde-Regiment zu Fuß nachdrücklich zurückgewiesen. Die Hannoveraner ließen mehrere Verwundete zurück, auf preußischer Seite war keine Verwundung vorgekommen.

So stand es also noch am 24. Juni in der Macht des Königs Georg, mit Ehren zu capituliren und abzuziehen, ja sogar am 26. Juni erschien noch ein Mal ein höherer Officier des Königs von Preußen, um ihm ein Bündniß anzubieten und ihm im Fall der Annahme ungesäumte ehrenvolle Rückkehr sämmtlicher Truppen zuzusagen; aber der König ließ sich auf die bestgemeinten Vorschläge nicht ein. Im Drang des Augenblicks wirkte der Glanz der Krone mächtiger als das Heil des Landes. Bezeichnend für seine Stimmungen und Handlungsweise ist die Erklärung des Königs Georg, als ihm der preußische Gesandte das Ultimatum seines Monarchen überreichen wollte. Er verweigerte jegliche Erklärung bis nach dem Genuß des heiligen Abendmahles. Dagegen war nichts zu thun. Der Gesandte entfernte sich und zugleich wurde der Hofprediger Niemann zum Könige befohlen. Der König fragte ihn, ob es Gottes Wille sein könne, daß er den vierhundertjährigen Rechten seiner Krone entsage, um einer Gefahr zu entgehen? Der Hofprediger erklärte: Wenn durch die Entsagung Pflichten verletzt würden, besonders solche Pflichten, die ein Fürst gegen sein Land und Volk zu beobachten habe, dann dürfe sie nicht stattfinden. Habe aber der König blos persönlichen Vortheilen zu entsagen, um dem Lande zu nützen oder es vor Schaden zu bewahren, dann müsse er sich fügen, wie schwer es ihm auch werde. Dem König soll diese Antwort mißfallen haben und es ist dies zu glauben, da er gleich darauf den preußischen Gesandten, den Grafen Platen, zu sich bescheiden ließ, um ihm zu sagen, er möge thun, was er nicht lassen könne, worauf denn das Ultimatum übergeben wurde.

Auch hier in Langensalza ging er Sonntag früh zur Kirche, an die in der Aufregung und in den Befürchtungen für die kommenden Stunden nur Wenige gedacht, selbst der Prediger – ein Pfarrer vom Lande – war ausgeblieben. Ein Geistlicher der Stadt hielt deshalb stellvertretend den Gottesdienst, an welchem König Georg mit großer Andacht, wie es schien, Theil nahm; aber obwohl der erstere inbrünstig gen Himmel flehte, die Herzen der Fürsten mit Gedanken des Friedens und der Versöhnung zu erfüllen und auch ihren Völkern die Friedenspalme zu reichen, in dem Herzen des Königs Georg fand die flehentliche Mahnung keinen Boden. Die kurze Frist zweier Tage zeitigte die blutige Saat, zu welcher der Same nun einmal ausgestreut war. [443] Mehr wohl noch als die Predigt des Dieners des Herrn gefiel ihm beim Herausgehen aus dem Gotteshause und auf dem Gang nach seinem Absteigequartier das Hoch eines Bürgers, in welches auch die Menge einstimmte; denn der klüglich geschehene Ruf brachte das holdseligste Lächeln auf das Antlitz des königlichen Herrn, er neigte sich, dankbar nach allen Seiten grüßend, viele Mal und den Seinen soll er mit bewegter Stimme zugerufen haben: „Es sind doch gute Leute, die Langensalzer. Schont mir Langensalza!“ Und wenn man den Verlauf und Ausgang der ganzen folgenden Katastrophe betrachtet, so muß man wohl annehmen, daß dieses Wort wahr, daß es kein leeres gewesen ist; denn an dem blutigen Schlachttage des 27. Juni ist die Stadt von dem Schrecken und Unheil eines Straßenkampfes und Bombardements völlig frei geblieben.

Auch die letzten Capitulationsverhandlungen des Königs Georg mit dem königlich preußischen General-Adjutanten von Alvensleben fanden keinen Abschluß. Der König zögerte von Stunde zu Stunde, denn er und die Seinen hofften auf die Ankunft und Hülfe der Baiern, sie vertrauten ihrer Stärke. Sie kannten durch Spione die Schwäche der um Gotha und Eisenach lagernden preußischen und gotha-coburgschen Truppen, und während sie auf der Strecke von Gotha nach Eisenach immer neue Versuche machten durchzubrechen, hielten sie die Friedensverhandlungen hin oder forderten freien Abzug nach Baiern. Aber Alles hat seine Grenzen, und selbst die zäheste Geduld geht zu Ende. Dieser Zustand der Unruhe, dieses Aufzehren aller Lebensmittel, diese gewaltsamen Lieferungen, Fuhren und Vorspannen und hundert Quälereien wurden unerträglich, und so beschloß Preußen dem König Georg den ganzen Ernst der Situation zu zeigen.

Es war am Mittwoch den 27. Juni, an einem besonders angeordneten Bettage für das in Kampf und Streit allerorts befindliche preußische Kriegsheer, als sich von den Hennigsleber Höhen her – nach Gotha zu – die ersten Kanonenschüsse hören ließen. Die Einwohner der Stadt hatten an diesem Morgen ahnungslos gegen irgend welche Gefahr ihr Festkleid angelegt, waren ihrem Bettag in frommer Stimmung entgegengegangen, Niemand gedachte eines Unheils. Es war aber diese Stille die Schwüle vor dem Ausbruch des in der Tiefe brausenden Vulcans. Und in der That lag auch auf der Erde die drückende Hitze eines nahen Gewitters.

Es dauerte nicht lange, so mehrten und näherten sich die Kanonenschüsse von Süden her und Alles eilte seiner Wohnung zu, um ein möglichst sicheres Asyl bei dem befürchteten Straßenkampfe zu finden, oder Werthsachen, Betten, Wäsche u. dergl. in Sicherheit zu bringen. Die einquartierten Soldaten selbst, so wie die vor der Stadt im Bivouak liegenden, saßen und lagen zumeist bei dem Frühstück, als plötzlich zum Sammeln und Ausrücken geblasen wurde. In Zeit weniger Minuten war Alles marschfertig und nach kaum einer halben Viertelstunde sah man nur wenig Hannoveraner auf der Straße der inneren Stadt. Preußische Husaren erschienen und machten Hannoveraner zu Gefangenen.

Das eigentliche Trauerspiel begann an den Thoren, zunächst am sogenannten Gothaischen Gatter, welches die Hannoveraner besetzt hielten. Die auf dem Wege nach Gotha stehenden hannoverschen Truppen hatten sich vor den andringenden preußischen Truppen ohne weiteren Widerstand auf und um die Stadt zurückgezogen und gingen nach Osten, um sich später um und auf dem Kirchberge bei dem Dorfe Merxleben unweit Langensalza (einer sorgfältig gewählten, einer Festung zu vergleichenden Stellung) zu concentriren und zu behaupten. Der Schützenzug der ersten Compagnie des Coburg-Gothaischen Contingents unter Vorantritt des tapfern Hauptmanns von Schauroth nahm mit gefälltem Bajonnet und Hurrah den ersten Eingang, ihm folgte Lieutenant Seeber mit einem Zug derselben Compagnie und nahm am Gasthofe zum Mohren einen daher kommenden Wagen voll Proviant und Hannoveraner. Der Feind verließ auf dieser Seite nun gänzlich die Stadt und faßte am sogenannten Jüdenhügel Posto, welcher nun von dem inzwischen wieder vereinigten ganzen ersten Bataillon Gotha-Coburger gestürmt und behauptet wurde. Ein anderes Bataillon der Coburg-Gothaer ging durch die Stadt, überall mit jubelndem Hurrah begrüßt, um die Hannoveraner hier heraus zu treiben. Sie fanden keinen Widerstand und zogen sich deshalb, mit den Preußen vereinigt, hinter dem Schützenhause weg bis zu den Pappeln bei dem „Böhmen“ – ein Vergnügungsgarten und Haus der Stadt Langensalza – und begannen von hier einen neuen Angriff.

Die preußischen Geschütze rückten näher heran und postirten sich auf dem sogenannten Jüdenhügel, einer etwa hundert Fuß hohen, sanft ansteigenden und abfallenden Anhöhe (zwanzig Minuten weit, der Merxleber Höhe schief gegenüber). Der ganze Höhenzug östlich von Langensalza (nach Sondershausen zu) und zwar die Strecke von dem Dorfe Kirchheilingen nach dem Dorfe Sundhausen zu bis Dorf Klettstädt und Merxleben war mit hannoverschen Truppen besetzt. Ihre Geschütze und Infanteriemassen standen auf dem Merxleber Kirchberge und hatten die Höhen von Klettstädt inne, eine ausgezeichnet günstige, von Langensalza aus beinahe unangreifbare Stellung. Der Merxleber Berg ist eine nach Unstrut und Salza zu steil abfallende Anhöhe von mehreren hundert Fuß, geschützt auf der Vorderseite von dem tiefen und breiten neuen Separationsgraben, der sogenannten neuen Unstrut, dann von der alten oder eigentlichen Unstrut und der Salza mit ihren hohen, abschüssigen Ufern. Im Hintergrunde ist die Stellung durch das Dorf selbst und durch unzählige Baumgruppen, Gräben mit Wasser und Gebüsch geschützt, und weiter darüber hinaus liegen die nahen Klettstädter Höhen, für Artilleriemassen ganz vorzüglich geeignet.

Wenn wir diese fast unangreifbare Stellung des Feindes, seine weit über das Doppelte überlegene Streitmacht, seine zahlreiche, mit Schießbedarf aller Art überflüssig ausgestattete Artillerie und die vorzügliche und ebenfalls zahlreiche Cavallerie in Betracht ziehen, so muß man wirklich staunen, daß ein Häuflein von höchstens acht- bis neuntausend Mann mit nur etwa sechszehn Kanonen und ein paar Schwadronen Cavallerie einen Angriff wagen, siegreich vordringen, das Gefecht nach einem mehrstündigen Marsche gegen einen sehr tapfern Feind in sengender Sonnenhitze mit Bravour fortsetzen und endlich, als bei der großen Uebermacht des Feindes ein Sieg unmöglich schien, sich geordnet und unter fortwährenden Kämpfen zurückziehen konnte. Geführt wurden die Tapferen von dem preußischen General von Fließ und Seckendorf, und die Gotha-Coburgischen Bataillone von Oberst Fahbeck und Oberstlieutenant von Westernhagen, welcher letztere, im Kampfe tödtlich verwundet, wenige Tage darauf diesen seinen Wunden erlag.

Die preußische Infanterie stand anfangs hinter dem Jüdenhügel und durch diesen gedeckt, dann aber rückte sie vor und besetzte das buschige Wäldchen an dem Schwefelbade, in der Mitte von Merxleben und dem Jüdenhügel gelegen, ihnen entgegen standen die Hannoveraner und das Kleingewehr jener entlud sich in nächster Nähe auf einer großen Wiese und im Hölzchen. Die Hannoveraner wurden dreimal durch die Unstrut und Salza getrieben und dreimal kehrten sie zurück. Die preußischen Zündnadelgewehre lichteten die Reihen der Feinde, aber auch unter den Preußen hielt der Tod reiche Ernte. Die sechsundvierzig auf der Merxleber Höhe so vortheilhaft aufgestellten, wohlbedienten Geschütze des Feindes spieen Tod und Verderben in ihre Reihen und demontirten gleich anfänglich zwei Geschütze der Preußen. Ein glücklicher Schuß der Hannoveraner tödtete fast sämmtliche Pferde derselben, dreien hatte er die Köpfe abgerissen, ihre Hälse boten den Anblick geschlachteter Tauben, freilich in großartiger, schrecklicher Weise. Die Preußen feuerten aus ihren sechszehn Geschützen, unter denen sich leider mehrere alte, außer Cours gesetzte Festungskanonen befanden, schneller, als die Hannoveraner, wahrscheinlich eben deshalb, weil sie deren sechsundvierzig Geschützen nur sechszehn entgegenzusetzen hatten. Die Erbitterung des Kampfes erreichte an einzelnen Stellen einen hohen Grad; am hartnäckigsten wüthete er in der Nähe der Oelmühle, einem Herrn Kallenberg gehörig, bis zum Schwefelbade. Ein anderer harter Zusammenstoß war der Angriff von Cambridge-Dragonern auf ein Gothaisches Bataillon, welches, zur Ergebung aufgefordert, den Feind mit Hurrah und vernichtenden Salven empfing, so daß hier der Tod eine furchtbare Ernte hielt. Aber auch die Gothaer mußten zahlreiche Opfer abgeben. Andererseits hatten preußische Abtheilungen unter dem Artilleriefeuer und dem Einhauen der feindlichen Cavallerie, welche der preußischen durch ihre große Anzahl und vorzüglichen Pferde weit überlegen war, schwer zu leiden, besonders das brave elfte Grenadierregiment (Schlesier). Vier Officiere waren todt, neun schwer verwundet.

[444] Von Preußen überhaupt haben im Feuer gestanden das elfte Linien-Infanterie-Regiment, zwei Bataillone vom fünfundzwanzigsten, ein Ersatz-Bataillon vom einundsiebenzigsten, dazu die beiden Bataillone Coburg und Gotha, sonst nur Landwehr und zwar zwanziger, zweiunddreißiger und siebenundzwanziger, Landwehr-Husaren und Dragoner, im Ganzen sehr wenig Cavallerie, so wie die Ersatz-Escadron des zehnten Linien-Husaren-Regiments, endlich einige Batterien vom siebenten Feld-, so wie eine vom vierten Festungs-Artillerie-Regiment. Vom vierten Garde-Regiment, welches im Kampfe des 27. Juni sehr gelitten haben sollte, ist kein Mann mit im Gefechte gewesen.

Die Coburg-Gothaer, meistens blutjunge Leute, gingen mit der größten Beherztheit in’s Gefecht. Sie sangen und scherzten noch, als schon die Granaten rechts und links einschlugen. Ihr tapferer Herzog, der aber kein Commando hatte, war immer in der Nähe, scheute selbst den Kugelregen nicht und feuerte sie zum Widerstande an. Manches junge, hoffnungsvolle Blut liegt nun schwer verwundet darnieder, kehrt als Krüppel heim oder – nie mehr, unter diesen einer ihrer tapfern Führer, der schon genannte Oberstlieutenant v. Westernhagen.

Ebenso brav, beherzt und wahrhaft todesmuthig benahmen sich die Turner von Gotha, Mühlhausen und Langensalza. Unter dem heftigsten Kugelregen, in sichtbarer Lebensgefahr, begaben sie sich, die ersteren schon sehr frühzeitig, auf die Stätte des Kampfes, um die Gefallenen aufzuheben, in Sicherheit zu bringen und für den ersten Verband mithelfend zu sorgen. Man wird staunen, wenn Schreiber dieses unter den Turnern Jünglinge erblickte von nur sechszehn bis achtzehn Jahren, denen der Tod schließlich völlig gleichgültig blieb, welche mit rastlosem Eifer, unter rinnendem Schweiß und kämpfend in sengender Sonnengluth mit eigener Ohnmacht und Ermattung, von ihrem barmherzigen Thun dennoch nicht abließen. Und dieses Liebeswerk haben die meisten den ganzen Nachmittag, Abend und durch die ganze Nacht fortgesetzt. Ja, am folgenden Tage gingen sie, die Verlorenen und Schmachtenden im hohen Getreide aufzulesen, in die Lazarethe zu führen und zu tragen und Hülfe und Labungen für die armen Unglücklichen zu erflehen.

Mit ausgezeichneter Tapferkeit hat sich das Füsilier-Bataillon vom zwanzigsten Landwehr-Regiment geschlagen, meistens Berliner Kinder. Die Nationalzeitung hat bereits darüber berichtet und ich kann hier nur wiederholen, was sie mittheilt.

Bei dem unaufhaltsamen und unerschrockenen Vorgehen dieser Truppe sah sie sich plötzlich von allen Seiten von hannover’schen Cavalleriemassen eingeschlossen und war förmlich umzingelt. Augenblicklich wurde Quarré formirt, aber der hannoversche General ritt im Galopp auf den preußischen Bataillons-Commandeur zu, ihn auffordernd, die Waffen zu strecken. Ehe dieser noch eine Antwort erhielt, donnerte aus hundert kräftigen Wehrmannskehlen der Ruf zurück: „Berliner Landwehr ergiebt sich nicht, wir bleiben bei der Fahne!“ Da sprengten von allen Seiten die feindlichen Reitermassen heran, es war ein peinlicher Augenblick und man mußte glauben, das ganze Bataillon würde zusammengehauen werden. Die Wehrmänner aber standen wie die Mauern, mit eiserner Ruhe

Die ersten Preußen in Leipzig am 17. Juni.

[445] ließen sie die Pferde bis auf zwanzig Schritt heran, dann krachten wohlgezielte Salven aus den Reihen des Quarrés. Unheimlich weiße Dampfwolken bedeckten einen Augenblick das Schlachtfeld, aber als der Dampf sich verzog, sah man eine blutige und zuckende Masse todter und verwundeter Menschen und Pferde rings um das Füsilier-Bataillon des zwanzigsten Regiments aufgehäuft.

Gegen Abend mußten die braven Füsiliere noch ein heftiges Kartätschenfeuer aushalten. Selbst in diesem mörderischen Gefecht, wo die Kugeln wie Schwärme Bienen umherflogen und summten, konnte der unverwüstliche Humor der Berliner nicht zum Schweigen gebracht werden. „Jungens, steht fest!“ rief der Wehrmann Elsholz und riß Witz auf Witz, so daß sich Viele des lauten Lachens nicht enthalten konnten.

Die Artillerie hat sich mit großer Ruhe benommen und vortrefflich geschossen. Dem Lieutenant Stichling vom siebenten Feld-Artillerie-Regiment wurde von einem Bombenbruchstück das halbe Gesicht zerrissen, er war auf der Stelle todt. – Hauptmann Caspari vom vierten Festungs-Artillerie-Regiment commandirte die Ausfallbatterie siebenpfündige Haubitzen und schoß vortrefflich. Seine Granaten schlugen sichtbar in die feindlichen Colonnen ein und richteten große Verheerungen an. – Lieutenant Hupfeld von demselben Regiment stand auf dem rechten Flügel isolirt, die kleine Infanterie-Bedeckung, die er hatte, war theils todt, theils verwundet, er selbst hatte eine Attaque nach der andern abgeschlagen und selbst Bombenfeuer aushalten müssen. Da kamen die Cambridge-Dragoner herangesprengt, einen letzten Versuch zu wagen, die Geschütze zu nehmen. Hupfeld empfing sie mit vier Kartätschenschüssen, welche die meisten aus den Sätteln warfen oder zurückjagten. Nur der Rittmeister William von Einem mit mehreren Dragonern setzte mitten zwischen unsere Kanonen und hieb Alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. Der Kanonier Rudloff, ein Veteran aus Schleswig, dessen Brust mehrere Orden schmücken, blutet bereits aus vielen Wunden, aber er hat sich vorgenommen, sein Geschütz bis zum letzten Athemzuge zu vertheidigen. Grimmig stürzt er sich mit einem Satze auf den feindlichen Officier, parirt alle seine Hiebe und stößt ihm sein scharfes Faschinenmesser bis an’s Heft durch den Leib. Lautlos sinkt der tapfere Officier aus dem Sattel, ein Märtyrer der hannoverschen Waffenehre. Die andern in die Batterie eingedrungenen Dragoner wurden gleichfalls niedergemacht. Lieutenant Hupfeld sieht mit Schmerzen, daß die Protzen seiner Kanonen zerschossen und zerbrochen sind, die Stränge durchgehauen und durchgeschnitten, die meisten seiner Pferde erschossen sind und, was das Allerschlimmste, die Munition zu Ende ist. Schon nahen wieder feindliche Colonnen heran, schon schlagen die Kugeln hannoverscher Gardejäger in die Batterie, er befiehlt mit schwerem Herzen den Rückzug. Die Artilleristen werfen sich auf die erbeuteten feindlichen Pferde, nehmen alle eigenen leichtverwundeten Pferde, die nur irgend fortkommen können, an die Hand und reiten zurück. So weit die Nationalzeitung.

Von dem Artillerie-Lieutenant von Hochwächter wird noch Folgendes erzählt. Mitten im dichtesten Kugelregen stand ein preußisches Geschütz. Die hannoverschen Shrapnells hatten die preußischen Kanoniere weggerafft, nur der Artillerie-Lieutenant von Hochwächter harrte noch aus. Das Geschütz aber mußte aus der hannoverschen Schußlinie. Etwa einhundert Schritte hinter der Kanone standen die Zugpferde. Der Lieutenant eilte auf sie zu, da schlug eine feindliche Kugel dicht beim Gespanne ein und riß die Pferde nieder. Noch weiter zurück sah Hochwächter einige ledige Handpferde stehen; in raschem Sprunge war er an der Stelle, sprengte mit ihnen zurück, spannte sie, von den feindlichen Kugeln umschwirrt, vor das Geschütz und fuhr dieses, selbst unversehrt, von der gefährlichen Stelle hinweg und in Sicherheit.

Im Ganzen concentrirte sich das Hauptgefecht zwischen den sogenannten Jüdenhügel (Preußen) und Merxleben (Hannoveraner). Die Preußen griffen mit großer Energie an. Von allen Seiten ließen die Schützenzüge ihr verheerendes Feuer spielen und namentlich das Zündnadelgewehr zeigte seine entsetzliche Macht, aber auch die Hannoveraner mit ihren Geschützen, die Granaten und Kartätschen warfen, lichteten mörderisch die Reihen der Preußen, besonders waren auch das Gothaische Bataillon und der Rest des Coburgischen, welche die Geschütze deckten, dem heftigsten Granatfeuer ausgesetzt.

Der Angriff mißlang, wollten aber die Hannoveraner sein Mißlingen benutzen und einen Erfolg herbeiführen, so mußten sie selbst zum Angriff übergehen. Ihre Cavallerie sucht über die Brücken vor Merxleben vorzudringen, aber ihrem Vorgehen ist hier die Lage ebenso hinderlich, als sie der Vertheidigung günstig gewesen war, Kartätschen hageln in voller Ladung auf sie nieder, daß ganze Schwadronen in Verwirrung gerathen, Kehrt machen und mancher Reiter in den Fluß stürzt. Auch das wiederholt sich. Aber endlich dringt der Feind von den Endpunkten seiner Stellung, bei Thamsbrück und Nägelstädt, aus vor und droht, die geringe preußische Macht zu überflügeln.

Jetzt ist diese, nachdem der ungleiche Kampf bis Nachmittags drei Uhr gedauert hat, zum Rückzug genöthigt. In Eile, aber noch wohl geordnet, keineswegs in Auflösung, gewinnt sie die Hennigsleber Höhe. Zwei Quarrés bestehen hier noch glänzende Gefechte mit Cavallerie; ein stark decimirtes Bataillon des fünfundzwanzigsten Linien-Regimentes mit Zündnadelgewehren läßt von mehreren Schwadronen nur wenige Mann unverschont, ein Häuflein, das sich erst wieder um zwei Geschütze gesammelt hat, läßt die Schwadron auf zwanzig Schritte herankommen, um sie alsdann zu vernichten.

Die Verfolgung, obwohl die Hannoveraner noch zwei Compagnien Landwehr gefangen nahmen, ließ bald nach, diese Entschlossenheit in Verbindung mit dem Uebergewicht des Zündnadelgewehrs schien zurückzuschrecken und in guter Ordnung kehrte man in eine feste Stellung, auf der Höhe von Warza, zurück.

Der Kampf hatte halb zehn Uhr früh begonnen und endete erst gegen Abend. In der Zeit weniger Stunden waren nahezu Viertausend gefallen, todt oder verwundet. Das Schlachtfeld war besät mit Menschen- und Pferdeleichen und Leibern, das Blut bildete wahre Lachen, die Seufzer, das Stöhnen und die unaussprechlichen Jammerlaute und Hülferufe Schwerverwundeter zermalmten ein Herz von Stein. Es flossen selbst von Solchen Thränen, die lange schon keine Zähre mehr gekannt. Weinten doch selbst die Augen des blinden Königs Georg, rang doch selbst sein Thronerbe die Hände, als Beide noch an selbem Tage über das Schlachtfeld schritten und diese grausige Menschenschlächterei wahrnahmen. Niemals habe ich so viele bleiche, entsetzte Gesichter gesehen als an diesem Abend!

Sofort sah man hülfreiche Hände und barmherzige Herzen von Nah und Fern in unermüdlichem Eifer auf dem Schlachtfelde Verwundete erheben, verbinden und in die schleunigst eingerichteten Lazarethe unterbringen. Die erwähnten braven Turner opferten sich förmlich auf, ebenso thätig und opferfreudig waren die Bürger, die Aerzte, selbst das zarte, sonst so furchtsame Geschlecht der Frauen traf man auf den Stätten des Grauens im Feld und Lazareth, unermüdet Wunden verbindend, Labungen spendend, Seufzer und Thränen stillend. Unter einer drückenden Gewitterschwüle arbeiteten die herbeigeeilten Aerzte aus Langensalza, Gotha und Mühlhausen, von Abend die Nacht hindurch die schwersten Verwundungen in Masse zu untersuchen und zu verbinden, fortwährend Amputationen an Armen und Beinen vorzunehmen, Sterbende und Todte von Lebenden zu scheiden, im Blute förmlich zu waten und zu baden. Frauen und Jungfrauen knieten und saßen Tag und Nacht an den Strohlagern der Verwundeten, Freund und Feind Labung und Trost spendend. Zur Pflege der Leidenden in den vielen Lazarethen wurden außerdem eine Anzahl Frauen der arbeitenden Classe in Dienst genommen, beaufsichtigt und belehrt von barmherzigen Schwestern aus den westphälischen Klöstern und von Frauen des Johanniter-Ordens. In Zeit weniger Tage sahen sich die armen Verwundeten auf saubere Matratzen gebettet, in Bettstellen gehoben, mit reiner Wäsche und mit allem Nothwendigsten reichlich versehen, sattsam und rechtzeitig gespeist und getränkt. Aus Gotha, Mühlhausen, Erfurt, Nordhausen, ja selbst aus Hannover kamen ganze Wagenladungen mit Betten, Leinwand, Charpie, Wein, Fruchtsäften und Eßwaaren aller Art – eine liebe herzige, für Viele aber zu späte Hülfe.

Der König selbst, welcher seinen ausrückenden Truppen stets voranging, gewöhnlich zu Pferde und gefolgt von einer langen Reihe prächtiger Hofwagen mit Hofstaat und Ministern und unter starker Cavallerie-Begleitung, hatte am Schlachttage die Stadt verlassen und sein Domicil in der Pfarre zu Thamsbrück genommen, von wo er nach dem Kampfe über Merxleben zurückkehrte und zwar zum Klagethore herein, durch die Neustadt, um sein Quartier im Schützenhaus wiederum zu nehmen. Er verweilte noch zwei Tage am Orte, besuchte in Begleitung des Kronprinzen sämmtliche Lazarethe, meist aber am späten Abend und in der [446] Stille der Nacht; – denn er scheute sichtlich die Nähe und Begleitung der erregten Menschen. – Auch sah man ihn zwei Mal als Leidtragenden hinter den Särgen gefallener Officiere einherschreiten, welche hier ihren tödtlichen Wunden erlegen waren und ihre letzte Ruhestatt auf dem städtischen Friedhof fanden. Seine großen, blinden, meist nach oben gekehrten Augen bewegten Aller Herzen zu innigem Mitleid und man verzieh ihm Viel um dieses seines körperlichen Gebrechens willen. Der Kronprinz, an dessen Arm er ging, weinte heiße Thränen an dem Grabe eines der Gefallenen, eines jungen hoffnungsvollen Officiers, des Sohnes des Obristen Friedrich. Er umarmte und küßte den tiefgebeugten Vater und überhäufte ihn mit den beweglichsten Trostworten. „Hätte ich Macht gehabt, das Alles wäre nicht geschehen,“ setzte er noch tiefbewegt hinzu.

(Schluß folgt.)




Scenen und Bilder aus dem Feld- und Lagerleben.
3. Eine kurze Erinnerung an das erste Wetterleuchten des Kriegs in Leipzig.


„Die Preußen kommen!“ – Wollen wir uns gestehen, mit welchem Gefühl die Mehrzahl der Bewohner Leipzigs diese Kunde vernahm? Furcht war es nicht; wenn auch auf jedem vaterlandsliebenden Herzen der Druck der Sorge vor einem Bürgerkrieg lastete, und wenn man die Befürchtungen nicht verschwieg über die Nachtheile, welche selbst bei einem auf Böhmen und Schlesien begrenzten Kampfgebiet aus einem solchen Kriege für Capital und Arbeit erwachsen würden, – so konnte sich doch Niemand die Preußen als Feinde denken. Seit der Völkerschlacht hatte keine preußische Armee Leipzig wieder betreten, und was sie damals der Stadt war? Vor dem Gerberthor stecken noch heute die preußischen Kanonenkugeln, die gegen die Stadt gezielt waren, in den Häuserwänden, während vor dem Grimmaischen Thor dem ersten preußischen Erstürmer der Stadt von dieser selbst eine Ehrensäule errichtet ist. Und in wie engen Beziehungen steht der wichtigste Handels- und Meßplatz des deutschen Binnenlandes mit dem nächsten Nachbar; fast kein Geschäft, keine Fabrik, kein Comptoir, in welchem nicht preußische Hände thätig, in weitem Umkreis fast keine größere Ortschaft, die nicht für Leipziger Häuser arbeitet, ein ewiges In- und Miteinandergehen von Fleiß und Lohn. Und all diese treuen Arbeitsgenossen sollen im Werktagskittel uns die Hände zum Abschied reichen, um im blauen Waffenrock als unsere Feinde zurückzukehren? Man muß nichts Unmögliches vom Volksgefühl verlangen. Durchgreifend war bei allem Volke nichts herauszufühlen, als neben den Befürchtungen des Geschäftsmanns und den Besorgnissen des Patrioten die nach so langem Frieden und endlosem Parteigezänke sehr natürliche Neugierde, einmal zu sehen, wie es ist, wenn es einmal anders ist, als bisher. Greife Jeder in seine Brust, und kein Ehrlicher wird von dieser Neugierde sein Theil verleugnen.

Sobald das Resultat der Bundestags-Abstimmung vom 14. Juni bekannt war, stand die Ueberzeugung fest: „Nun kommen die Preußen.“ Der Morgen des Funfzehnten fand die Straßen, besonders der Innerstadt, voll ungewöhnlich gedrängter Bewegung. Wer Leipzig außer der Meßzeit kennt, weiß, daß für die Bevölkerungsdichtigkeit dieser Stadt ihr Straßenleben während der allgemeinen Geschäfts- und Arbeitszeit ein verhältnißmäßig geringes ist, trotz der siebzehn- bis zwanzigtausend Menschen, welche jeden Morgen von den nächstliegenden sogenannten Vorstadt-Dörfern zu allen Thoren herein die Bevölkerung der Stadt noch vermehren. Von diesen Tausenden betreten von da an nur Wenige, und diese nur in eiligem Geschäftsschritt, die Straßen. Es wird rastlos in dieser Stadt gearbeitet, sie gehört zu den fleißigsten Deutschlands, ja vielleicht der Welt. An diesem Freitagmorgen kannte man sie jedoch kaum wieder, sie hatte ihre Straßenbevölkerung erhalten und leider nur allzu zahlreich durch die theilweise Schließung oder wenigstens Arbeitseinschränkung vieler Fabriken und Geschäfte. Blieb trotzdem die öffentliche Ordnung unverletzt, so war doch die volle Schwüle vor einem Unwetter über die ganze Stadt hereingebrochen.

Das Gerücht und der Telegraph arbeiteten an diesem Tage wahrhaft in’s Große. Das erste Gerücht ließ die Preußen in Dahlen einrücken, das zweite ihre Heerzüge vom Nicolai-Kirchthurm aus von Eilenburg heranziehen sehen, das dritte die Brücken bei Riesa und Meißen gesprengt, das vierte die Preußen in Zittau und Bautzen eingedrungen sein, das fünfte meldete das Herannahen der Baiern und prophezeite bereits ein Zusammentreffen derselben mit den Preußen bei Leipzig, das sechste beruhigte mit der Besetzung des Altenburger Bahnhofs durch die Preußen von Zeitz her, das siebente sagte sogar die Einquartierung der Preußen für die kommende Nacht an. Tag und Nacht war indeß vergangen, aber die Preußen waren nicht gekommen.

Der Sechszehnte, ein ohnedies durch den großen Wochenmarkt stark belebter Tag, führte aus dem dumpfen Gefühl heraus in die bittere Wirklichkeit – durch die erste Verkehrshemmung. Die Leipzig-Dresdner Eisenbahn war nur bis Riesa offen; die alten gelben Postkutschen kamen wieder aus den Remisen, um die alte Landstraße zu befahren. Von den Gerüchten des vorigen Tags bestätigten sich einige, andere kamen hinzu. Den härtesten Schlag versetzte jedoch dem großen Verkehr die Erklärung der Postbehörde, daß sie für Werthsendungen keine Garantie mehr leisten könne. Wer bedenkt, daß, außer dem ungeheuren Waarentransport, täglich in Leipzig über fünfzehnhundert Geldsendungen ankommen und noch weit mehr abgehen, der erkennt, daß diese plötzliche Unsicherheit des wichtigsten Verkehrsmittels ein Stoß war, der fast in jedem Haus verspürt wurde. Dazu die telegraphische Botschaft von dem Bundesbeschluß in Frankfurt a. M., durch welchen Oesterreich und Baiern Sachsen ihre Bundeshülfe zusicherten, und das Gerücht, daß die Preußen bis Wurzen vorgerückt seien. Das Gerücht ließ Preußen schon in Grimma gesehen sein, aber in Leipzig hatten auch diesen Tag die Neugierigen vergeblich an allen Thoren gestanden.

Als am Siebzehnten die Leute in der Dresdner Vorstadt und dem daranstoßenden Dorfe Reudnitz (nebenbei bemerkt das größte Dorf Sachsens und eins der größten Deutschlands, denn es zählt über achttausend Einwohner) in den Sonntagmorgen hinaussahen, hatten die Meisten das lange erwartete Ereigniß verschlafen: die ersten Preußen waren in aller Frühe dagewesen, eine Dragoner-Patrouille, die auf der Dresdner Chaussee dahergesprengt kam, Erkundigungen einzog, ob und welches Militär in der Stadt liege, und in sausendem Galopp verschwand, wie sie gekommen war.

Die Kunde von diesem Morgenbesuch lief rasch durch die Stadt; es war nun ausgemacht, daß heute die Preußen kommen mußten. Auf allen Straßen hastige Bewegung, Fragende und Berichtende; an allen Straßenecken größere Gruppen vor den Proclamationen und Extrablättern der Zeitungen und der fliegende Zeitungshandel in vollem Flor; der Hauptzug der Volksbewegung drängte natürlich die Dresdner Straße und Chaussee entlang. Aber der Vormittag, der Mittag ging vorüber, und ebenso der Nachmittag, und der Abend kam, vergeblich hatten die gemüthlichen Familiengesellschaften, Mann und Weib, Kinder an der Hand, Kinder auf dem Arm, Kinder im Korbwagen, inmitten des freien, leichter beweglichen Volks des nach und nach, man möchte sagen, ersehnten Einzugs geharrt und wandten sich endlich unmuthig zur Heimkehr: – da führte die unbezähmbare Neugierde die Ueberraschung herbei, die nicht von selbst hatte kommen wollen.

„Um die Preußen zu sehen“, fuhren am Nachmittage nicht wenige Sonntags-Vergnügliche nach Wurzen. Dort fanden sie Bahnhof, Brücke und Stadt von den Preußen besetzt, sie selbst aber sollten zugleich einen Vorschmack kriegsmäßiger Behandlung empfinden. Alle, deren Reisezweck nur das Vergnügen war, wurden kurzweg von Wurzen zurückgewiesen, nur diejenigen, welche Geschäftsbesorgungen hatten oder vorgaben, bis zur Erledigung derselben von Soldaten begleitet und dann auf den Heimweg escortirt. Eine solche Escorte stillte auch den Leipzigern ihr Verlangen.

Es war zwischen acht und neun Uhr, als herankommendes und staubaufwirbelndes Reitertraben und Räderrasseln die Menschen auf der Chaussee durch Sellerhausen, Reudnitz und in der [447] Dresdner Straße Leipzigs in ihrem Gange festbannte, an dies Fenster trieb und alle Geschirre zur Seite scheuchte. Ein preußischer Dragoner mit hochgehaltener Pistole sprengte daher, hinter ihm jagte ein einspänniges Geschirr mit escortirten Sonntagsreisenden, zu beiden Seiten Dragoner mit gezogenem Säbel, ein Vierter hinterher, so ging’s wie Wetter in die Stadt hinein. Hinter diesen noch ein Reitertrüppchen, von denen immer je ein Mann an einzelnen Straßenecken mit der Pistole in der Faust Posto faßte. Das ging Alles blitzartig. Auch Contraste fehlten nicht. Einer der Reiter sprengt in wiegendem Galopp an einer Frauengruppe vorüber und grüßt sie mit der Hand am Helm auf’s Eleganteste, während vor meinen Augen ein anderer einem Vorübergehenden die Pistole vor die Brust hält und eine barsche Frage an ihn richtet. Der Mensch kam mir leichenblaß entgegen. Ich hatte von Weitem den Dragoner die Pistole erst laden sehen und konnte, zu ihm herangekommen, die Bemerkung nicht unterdrücken, daß er in dem friedlichen Leipzig keine Ursache finden werde, von seiner Waffe Gebrauch zu machen. „In Leipzig vielleicht nicht,“ erwiderte der Reiter, aber da im Dorfe vorher (es war Reudnitz) seien sie von halbwüchsigen Buben und trunkenen Männern beschimpft und sogar mit Steinen geworfen worden. Uebrigens sei die geladene Waffe Kriegsbrauch. – Im Moment galoppirten die ersten Reiter von der Stadt her zurück, die Einzelposten schlossen sich an, rascher, energischer Hufschlag, als ob in jedem Roß eine Soldatenseele stecke, und fort und vorüber ist das blitzende Kriegsbild. Es war wirklich wie ein Wetterleuchten.

Jetzt erst quollen aus der Innerstadt die Volksströme zum Grimmaischen Thore und nach Reudnitz hinaus, denn nun war’s sicher, daß die Preußen einziehen mußten. Fast bis Mitternacht wallten die Harrenden auf und ab und einzelne Familienglieder belagerten, wie Pikets der Neugierde, die Fenster. Es blieb ruhig.

Am kommenden Morgen, am 18., ging über Deutschland zum einundfünfzigsten Male die Sonne von Waterloo auf. Wer gedachte heute dieses weltgeschichtlichen Tags? Vor der Sorge des Augenblicks erblassen alle Sterne am Himmel unserer Vergangenheit. – Auf den Straßen dasselbe ruhe- und ziellose Treiben, Gerüchte, welche von blutigen Kämpfen der Sachsen, vom Brennen Löbaus, vom Nahen der Baiern erzählen, Gerüchte von Dresden und Oschatz und Meißen, welche Tage hierher brauchen, wo man durch die Telegraphendrähte und von fünf Bahnhöfen früher die Nachrichten aus den fernsten Theilen Europas in wenigen Stunden, aus allen Theilen Deutschlands in wenigen Minuten zu empfangen gewohnt war! Dieses plötzliche Abgesperrtsein von der Außenwelt machte den Zustand mehr und mehr zu einem unheimlichen, der die Sehnsucht nach einer Entscheidung, wie immer auch, erweckte. Dazu kam immer noch die Ungewißheit: wer wird Leipzig besetzen? Werden’s die Baiern noch sein? Werden ihnen die Preußen zuvorkommen? So verging auch der Achtzehnte und täuschte alle Erwartungen.

Und die Preußen kamen, aber wiederum ganz anders, als man sich ihren Einzug nun einmal ausgemalt hatte.

In der Morgendämmerung des Neunzehnten weckte mich Männergesang und langandauerndes Räderrasseln auf der Dresdener Chaussee aus dem Schlafe. Ich eilte zum Fenster – und ein fröhliches „Gutmorgen!“ scholl mir aus einem Dutzend Kehlen entgegen. Die gemüthlichste Leiterwagenpartie zog daher: je acht bis zehn Landwehrmänner auf einem Wagen, so hielt singend und grüßend die erste Compagnie des schlesischen Garde-Grenadier-Landwehr-Regiments ihren Einzug in die schlafende Stadt.

Vor dreiundfünfzig Jahren waren es auch Landwehrmänner, die Helden von Königsberg, welche dieselbe Straße zogen, um als die ersten Stürmenden unter dem Kugelregen der Franzosen in das von ihnen befreite Leipzig einzudringen. An dem Denkmal, das dieser Landwehr und ihrem Führer an der Stätte ihres Kampfs und ihrer Ehre gesetzt und vor drei Jahren geweiht wurde, als die Veteranen der Befreiungskriege das fünfzigjährige Jubiläum des Völkersiegs bei Leipzig in der Begeisterung der Herzens-Einheit und Einmüthigkeit der ganzen deutschen Nation feierten, zog an diesem Morgen die schlesische Landwehr vorüber. Konnten sie sich als Feinde in dieser Stadt fühlen? Vor drei Jahren standen noch zwölf der greisen Königsberger Landwehrmänner, der letzte Rest der Heldenschaar vom Jahre Dreizehn, vor diesem ihrem Ehrendenkmal, die Thränen höchster Seelenerhebung in den Furchen der Wangen. Konnte dieselbe Stadt heute Feinde erkennen in Landwehrmännern, denen dasselbe Kreuz, wie jenen, das Haupt schmückt?

Auch der stattliche Einzug, wie die Menge ihn erwartet hatte, in Reih und Glied und unter dem Trommelwirbel, fand für sie noch selbigen Tages Statt. Um elf Uhr marschirte das zweite Bataillon des vierten Garderegiments, eintausend Mann stark, von Torgau und Eilenburg her, wiederum durch die Dresdener Straße in der Stadt ein. Die seit dem Abzug der Sachsen verödeten Garnisonräume der Pleißenburg füllten sich nun wieder, die friedlichen Männer der städtischen Communalgarde wurden von allen, außer ihrem alten Rathhaus-Posten, abgelöst, und am Abend lustwandelten in den Promenaden und Straßen die blauen Preußen so gemüthlich, wie wenige Tage vorher noch die grünen Landeskinder.

Das ist das äußere Bild. Aber es giebt auch ein inneres, und zwar das von den Tausenden von Fäden, durch die der heutige Geschäftsbetrieb eine solche Stadt wie Leipzig mit der ganzen Welt verknüpft und verbunden hat und die durch das Sperren aller heutigen Verkehrswege plötzlich zerrissen werden. Man muß die Großartigkeit dieser Verknüpfung kennen. Der Jäger am Hudson und der Pelzhändler an der chinesischen Mauer spüren den Schlag einer plötzlichen Stockung in den Lebensadern Leipzigs so gut, wie die Arbeiter im Erzgebirg oder um Naumburg und Weißenfels. Es ist ein millionenräderiges Triebwerk, das unter den Hufschlag des Kriegsrosses gekommen, – und solch ein Bild dieser Zeit gehört auch mit auf die Wage, wo das Schicksal der Völker gewogen wird.




Blätter und Blüthen.


Eine deutsche Kriegssage. Wenn die Kyffhäuser Sage ein Wiederaufleben der deutschen Reichsherrlichkeit mit dem Wiedererwachen des Kaisers Friedrich Barbarossa verbindet, so führt uns eine andere Sage, die von dem „Birnbaum auf dem Walserfeld“, auf ein speciell baierisches Kampfgebiet zu einer Art „jüngster Gerichts-Schlacht“ und zu einem so originellen, ja unheimlichen Schluß, daß es uns wohl geeignet erscheint, auf diese merkwürdige Sage hier aufmerksam zu machen. Sie lautet (nach Grimm): „Bei Salzburg auf dem sogenannten Walserfeld soll dermaleinst eine schreckliche Schlacht geschehen, wo Alles hinzulaufen und ein so furchtbares Blutbad sein wird, daß den Streitenden das Blut vom Fußboden in die Schuh rinnt. Da werden die bösen von den guten Menschen erschlagen werden. Auf diesem Walserfeld steht ein ausgedorrter Birnbaum zum Angedenken dieser letzten Schlacht, schon dreimal wurde er umgehauen, aber seine Wurzel schlug immer aus, daß er wiederum anfing zu grünen und ein vollkommener Baum ward. Viele Jahre bleibt er noch dürr stehen, wann er aber zu grünen anhebt, wird die gräuliche Schlacht bald eintreten, und wann er Früchte trägt, wird sie anheben. Dann wird der Baierfürst seinen Wappenschild daran aufhängen und Niemand wissen, was es zu bedeuten hat.“




Die alterthümlichste deutsche Stadt. In einem Winkel deutscher Erde, der bald durch eine Eisenbahn erschlossen sein wird, liegt ein Städtchen mit fünftausend Einwohnern, Rotenburg an der Tauber. Weder Nürnberg noch Danzig stellt den Charakter mittelalterlicher Baukunst so rein zur Schau, als diese baierische Landstadt. Allerdings hat Rotenburg auch Gebäude im neuern Stil, aber sie verschwinden neben der Masse der gothischen Bauwerke, so daß dem Fremden, wenn er Rotenburg verlassen hat, nur die letztern allein im Gedächtniß bleiben. Alle diese Bauten stammen aus der Blüthezeit der Stadt, die in das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert fällt. Das schönste Gebäude im Innern ist die Jakobskirche, deren Bau mit einem Capital bestritten wurde, das die Bürgerschaft allmählich durch wöchentliche Hellersteuern zusammenbrachte. Unvergeßlich wird Jedem der Eindruck sein, den das Aeußere der Stadt mit seinen Basteien, Thoren und Thürmen, Mauern und Gräben auf ihn gemacht hat. Man sieht eine vollständig erhaltene Festung des Mittelalters. Alle diese Befestigungen und die sehr zahlreichen, die Privathäuser ganz verdunkelnden städtischen und kirchlichen Gebäude erhält die Stadt aus ihren Mitteln. Was verschwunden ist oder in Trümmern liegt, das hat eine frühere Zeit untergehen lassen. Leider hat dieses Schicksal auch die alte Reichsburg getroffen, von der blos noch die Capelle steht, beschattet von den Bäumen eines schönen öffentlichen Gartens, den die Bürgerschaft auf der geschichtlichen Stätte angelegt hat.




Kleiner Briefkasten.


K. in L. Wiederholt erlauben wir uns, Sie und alle übrigen Leser darauf aufmerksam zu machen, daß die Herstellung einer Nummer der Gartenlaube drei volle Wochen in Anspruch nimmt, wir also – was die Schnelligkeit anlangt – in Abbildungen und Text andern illustrirten Wochenblättern, deren Auflage in zwei Tagen gedruckt ist, weder Concurrenz bieten können noch wollen. Die Gartenlaube glaubt ihre Leser mehr durch Werth und Gediegenheit, als durch leichtfertig fabricirende Hastigkeit zu befriedigen. Was die Vortrefflichkeit der militärischen Bilder der „Leipziger Illustrirten Zeitung“ anlangt, so stimmen wir mit Ihnen überein, daß sie die Censur Nr. 1 verdienen.

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An alle deutschen Herzen.




Zu Hülfe!


Es geht durch’s Land der Schrei der Noth; er will an jeden Busen klopfen.
Für heiße Wunden purpurroth – o, gebt der Liebe Balsamtropfen!
Für arme Kinder, blaß und krank – o, füllt die kleinen Kinderhände!
Dem Weib, dem der Ernährer sank – o, reicht des Goldes Segensspende!

5
Zum Himmel hallt ein Jammerschrei von Herzen, die in Schlachten brechen. – –

Nun schweigt die Stimme der Partei, nun hat das Herz ein Recht zu sprechen!

Im Land des Ziska, Land des Huß, am Fuß der Wartburg, an der Elbe
Kanonendonner, Flintenschuß, Schwarzweiße wider Schwarz und gelbe!
Dem Banner treu, der Krieger steht, Gewehr im Arm, im Land der Czechen,

10
Und hört ihn leise ein Gebet die mitternächt’ge Stunde sprechen,

Dann ist’s kein Fleh’n um’s eigne Ich und keines Feiglings heimlich Weinen,
Er spricht: „Der Himmel schütze dich, mein liebes Weib, und meine Kleinen!“

Dann seufzt der Mann in sich hinein: „Was frag’ ich nach des Feindes Schüssen!
Doch weh’, wenn Weib und Kinder mein daheim am Heerde darben müssen!“

15
O seht, in hellen Thränen schwimmt ein Männeraug’! Herbei, ihr Reichen!

Das Gold, zu eig’ner Lust bestimmt, o, gebt’s den Blassen, Kummerbleichen!
Hierher, die ihr beim Becher Wein noch fröhlich seid, daß euch’s erbarme!
Kein Becher Wein für euch allein, ein Tröpflein immer auch für Arme!

Und dunkler mal’ ich noch mein Bild und muß noch immer düst’rer malen!

20
Seht auf dem weiten Blutgefild den Krieger dort in Todesqualen.

Es steht im schwarzen Kleide nicht die Wittwe bei des Gatten Grabe;
Kein stammelnd Vaterunser spricht das Mägdlein und der kleine Knabe.
Kein Kranz, kein Todtendiadem! Kein Weihspruch, keine Trauerlieder! –
Auf’s Haupt der nasse, gelbe Lehm und auf den Lehm der Rasen wieder!

25
Und Reih’ an Reih’ verwundet liegt – im Lazareth ein Weinen, Aechzen.

Wie wild der Puls im Fieber fliegt! Nach Labung rings die Lippen lechzen.
Da ruh’n sie, die das Blei gemäht, der Lanzenstoß, die Kolbenschläge;
Nun thut die Arbeit früh und spät die Zange und die Knochensäge.
Sie ruh’n, verwundet und zerfleischt, die kühn gekämpft in wilden Schlachten.

30
Die Lippe, die nach Labung heischt, o, laßt sie nicht vergebens schmachten!


Ja, also ist’s und härter noch! – Noch weilen wir bei Weib und Kindern!
Doch wir, wir können Eines doch, das Eine: Noth und Leiden lindern!
Du Jungfrau mit der ros’gen Wang’, was frommt es, daß die Perlen gleißen?
Was soll die reiche, güld’ne Spang’ dem Arm, dem runden, schwanenweißen?

35
Und du, o Weib, das Kinder herzt, o denk’ an deine eig’nen Kleinen!

Denk’, wie der bitt’re Hunger schmerzt – und laß kein Aug’ vergebens weinen!

Zu Hülfe! Hier ist Hülfe Noth! – Die Herzen und die Säckel offen!
Die Wunden brennen blutig roth – laßt nicht umsonst auf Balsam hoffen!
Für arme Kinder, blaß und krank – o, füllt die kleinen Kinderhände!

40
Dem Weib, dem der Ernährer sank, – o, reicht des Goldes Segensspende!

Noch sät Verderben Blei und Erz beim Schmettern der Trompetentöne, –
Den Säckel auf und auf das Herz, für eure Brüder, eure Söhne!


So ruft Emil Rittershaus, der Sänger am Rhein, dem deutschen Volke zu. In demselben Geiste gestattet auch der „Gartenlaube“ für unsere armen deutschen Verwundeten ein bittend Wort. Zwar wird an vielen Orten, besonders in der Nähe der Heerzüge, wo der Anblick der Verwundeten direct zu den Herzen spricht, bereits eifrig an Verband- und Erquickungsmitteln gesammelt, – aber der Hülferuf aus den Lazarethen wird nach jedem neuen Gefecht dringender und herzzerreißender werden die Nachrichten, wie Hunderte, ja Tausende der tapfern Soldaten nach unsäglichen Entbehrungen und Kämpfen als Verwundete Tage lang nach Hülfe, nach Verband, und Erquickung schmachten „Die Noth der Verwundeten ist furchtbar!“ ruft man von den Schlachtfeldern her. Bei Königgrätz allein deckten zwanzigtausend das Feld! – Da gilt es rasche That zur Rettung der armen Opfer eines solchen Kriegs! Und dazu bietet die „Gartenlaube“ hiermit die Hand.

Zu vielen Orten, die abseits von den heutigen „Heerstraßen“ liegen, findet die „Gartenlaube“ den Weg, und namentlich dort möchte sie anpochen, wo es vielleicht nur an äußerer Veranlassung und Gelegenheit gebrach, die Opferfreudigkeit zu wecken. Die Redaction der Gartenlaube ist bereit, Geldsendungen jeden Betrags anzunehmen und dahin zu befördern, wo sie am nothwendigsten sind. Möge ihre Bitte die alten offenen Herzen finden! Wer einen Verwundeten erquickt, thut’s allen Lieben desselben mit, die vielleicht in eigener bitterster Noth nichts thun können, als jammern und beten. Wo aber Leben zu erhalten, Schmerzen zu lindern sind, da gilt es Eile! Eile!

Sollten wir so glücklich sein, eine größere Summe zusammenzubringen, als die augenblickliche Noth zu ihrer Linderung erfordert, so würde eine Stiftung zur Unterstützung der armen Hinterbliebenen unserer Gefallenen sicherlich nach dem Geist und Herzen aller Geber sein und Ihre Gabe fruchttragend machen noch für lange Zeit. Möge dieser Gedanke Leben gewinnen zum Trost für viele jetzt so Unglückliche!
Die Redaction.




     Als erste Beiträge gingen auf persönliche Verwendung ein:

Linna 10. Thlr. – Al. Wiede 75 Thlr. – Alb. Frkl. 2 Thlr. – Das Personal der Wiede’schen Druckerei 12 Thlr. – Redaction und Verlagshandlung der Gartenlaube 500 Thlr. – Fr. Hofmann 3 Thlr. – Lindner 1 Thlr. – Melanie und Ella 2 Thlr. – Hentzner 1 Thlr. – K. L. 1 Thlr. „Wenn für Preußen, Oesterreicher und Sachsen.“ Selbstverständlich für alle Leidende! – Mathilde Rdl. 2 Thlr.
Ernst Keil.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Obige Schilderung kömmt aus der Feder eines Langensalzers, der als Augenzeuge die furchtbaren Tage mit durchgelebt hat. Unseren Lesern wollen wir außerdem noch mittheilen, daß der Specialartist der Gartenlaube die in den nächsten Nummern erscheinenden Illustrationen auf dem Schlachtfeld selbst aufgenommen und wir also für die Richtigkeit derselben einstehen können. Gleichzeitig verweisen wir auf das heute erscheinende Beiblatt der Gartenlaube, die Deutschen Blätter (Nr. 29), welches gleichsam als Prolog zu obiger Schlachtschilderung die dem Kampfe vorausgegangenen Ereignisse und Verhandlungen in Gotha in lebendiger Weise vorführt.
    D. Red.