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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[449] No. 29.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Blaubart.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Später ging die Hofräthin in die Stadt, um einen Krankenbesuch zu machen. Lilli benutzte diese Gelegenheit und durchstreifte Haus und Garten; sie suchte auch den Pavillon wieder auf. Ein Glück, daß Tante Bärbchen ihren Morgenspaziergang auf den Kiesweg drüben beschränkt hatte, denn die Pavillonthür stand noch weit offen, und offene Thüren und Fenster während der Nacht waren der Hofräthin ein Gräuel. Lilli öffnete die Jalousieen der zwei Fenster, die nach Tante Bärbchens Garten gingen. Das helle Licht fiel auf die trauten Wände und Geräthschaften; Alles stand noch unverrückt an seinem Platze, nichts schien berührt worden zu sein während der dreijährigen Abwesenheit des jungen Mädchens. Während ihres letzten Aufenthaltes bei Tante Bärbchen hatte Lilli noch sehr fleißig mit ihren Puppen gespielt. Am Tage vor ihrer damaligen Rückreise nach der Heimath waren sämmtliche Bewohner der großen Puppenstube festlich geschmückt worden, denn es handelte sich um eine Abschiedsfête. Da saßen sie noch mit steif ausgestreckten Armen, mühsam in eine sitzende Stellung gezwängt, um den großen, runden Tisch – eine kurzweilige Gesellschaft. Ein großer Hanswurst kauerte trübselig und aus dem kaffeetrinkenden Damenkreise verbannt in einer Ecke des Pavillons, und das dicke Wickelkind in der Wiege wartete noch ebenso hülfsbedürftig, wie damals, auf pflegende Hände. Das junge Mädchen fühlte sich plötzlich der Gegenwart entrückt. Sie kauerte vor dem Puppenzimmer auf dem Boden nieder und vergegenwärtigte sich lächelnd, was Alles sie diese kleinen, hohlköpfigen Wesen hatte denken und erleben lassen. Sie hatte in der Zwischenzeit lernen, entsetzlich viel lernen müssen, um ihren Geist auszubilden, aber ihr Empfinden war dasselbe geblieben. Und da standen auch noch alle die alten Möbel, die sie so lieb hatte. Sie stammten aus jener Zeit, wo die Mitglieder der zwei Familien sich hier einträchtig versammelt hatten. An den Wänden hingen Oelbilder, sämmtlich von Erich Dorn, Tante Bärbchens Großvater, gemalt. Sie verriethen ein sehr mittelmäßiges Talent und in ihren Motiven das umdüsterte Gemüth des Malers. Er hatte sich vorzugsweise in der Darstellung dunkler, grauenhafter Momente aus der Mythologie und Weltgeschichte gefallen. Gerade über Lilli’s harmloser Spielecke hing ein größeres Gemälde, das in früheren Zeiten manchmal, namentlich bei hereinbrechender Abenddämmerung, ihr kindliches Gemüth mit panischem Schrecken erfüllt hatte. Es war ein Orest, den die Furien verfolgen. Mit flüchtigem Pinsel und einer gewissen Hast gemalt, war es auffallend verzeichnet in den Proportionen, Fehler, die den Eindruck des Bildes zu einem lächerlichen hätten machen können, wäre nicht der Kopf des Orestes gewesen; aber dieses Gesicht hatte etwas Ueberwältigendes in seinem Ausdruck. Nicht das haarsträubende Entsetzen in den Zügen war es allein, was den widerstrebenden Blick des Beschauers immer wieder fesselte; tiefer noch ergriffen die namenlos bittern Schmerzen der Reue, welche der sonst so ungelenke, steife Maler mit wahrer Meisterschaft diesem Antlitz aufgedrückt hatte.

Kurz vor seinem Tode hatte Erich Dorn die Bilder eigenhändig hier aufgehangen. Er weilte gern und viel unter seinen Schöpfungen, und das letzte Wort, das er bei seinem plötzlichen Scheiden aus dieser Welt mühsam hervorgestammelt, war „der Pavillon“ gewesen. Seine Frau betrachtete deshalb auch das kleine Gartenhaus wie ein heiliges Vermächtniß. Sie sah streng darauf, daß die Bilder genau so hängen blieben, wie die geliebte Hand sie geordnet hatte, und ihr Sohn, wie auch Tante Bärbchen, mußten ihr wiederholt versprechen, daß sie das Gebäude sammt seiner kleinen Gemäldesammlung vor dem Untergange behüten wollten. Daran dachte Lilli jetzt, als sie sinnend vor dem Orestesbilde stand. Sie begriff vollkommen, daß die Tante den Mann verabscheuen müsse, der sie zwingen wollte, ihr Gelöbniß zu brechen. Aber vielleicht, wenn die Hofräthin ihren Groll gegen die andere Linie der Dorn’s überwunden und dem jungen Nachbar ruhig vorgestellt hätte, weshalb sie die Erhaltung des Pavillons wünschen müsse, vielleicht wäre er da, trotz seiner Wildheit, doch von der Vernichtungsidee abzubringen gewesen.

Dieser Gedankengang des jungen Mädchens wurde plötzlich unterbrochen durch ein Geräusch drüben im Garten des Nachbars. Sie hörte deutlich, daß mehrere Männer auf den Pavillon zuschritten und plötzlich Halt vor demselben machten. Durch die Lücken der Jalousie sah sie, wenn auch nur bruchstückweise, die Gestalt eines Arbeiters im Schurzfell und mit Handwerksgeräth beladen. Neben ihm standen der Neger und noch ein Anderer in Livree. Was beabsichtigten sie?

„Na, Ihr sollt sehen,“ sagte der Arbeiter lachend zu den Andern, „ich werde ein Loch in das alte Nest machen, daß ihm das Lebenslicht bald ausgehen soll… Da wird ja wohl die Alte da drüben endlich merken, daß Herr von Dorn nicht mit sich spaßen läßt.“

In demselben Moment erdröhnte die Wandseite, an welcher der Orestes hing, unter einem furchtbaren Schlag. Lilli riß das Bild herab und zog die Bank, auf der die Puppengesellschaft residirte, tiefer in’s Zimmer. Fast unmittelbar darauf erfolgte draußen ein zweiter Anprall; unter einem schrecklichen Poltern und Geprassel löste sich ein ungeheures Stück Lehmfachwerk und stürzte herein in [450] den kleinen Salon. Die undurchdringlichen Staubwolken, die zu gleicher Zeit aufwirbelten, nöthigten das junge Mädchen, vor die Thür zu flüchten, aber nur für einen Augenblick wich sie, die Bilder mußten ja gerettet werden, ehe der Vandale draußen sein Zerstörungswerk fortsetzte. Sie war eben im Begriff, in das Zimmer zurückzukehren, als es von fern herüberklang: „Halt, halt, es ist vorläufig genug!“

Es war dieselbe Stimme, die gestern Abend den Neger in’s Haus berufen hatte, eine volltönende, männliche Stimme, der man es anhörte, daß sie gewohnt sei, zu befehlen. Ah, das war sicher der Blaubart gewesen! Er schien das Werk seiner Rache in höchsteigener Person besichtigen zu wollen, denn ein rascher, fester Männerschritt näherte sich dem Pavillon… Sollte sie fliehen? Nein. Sie war tief empört über die Gewaltthätigkeit dieses Mannes, er sollte empfinden, daß er verachtet werde, daß Andere Ruhe genug besäßen, um seiner Brutalität und Anmaßung entgegenzutreten. Sie trat an den Tisch, der inmitten des Salons stand, stellte eine leere Kiste auf denselben und fing an, scheinbar höchst gleichmüthig, das herumliegende Spielzeug einzupacken.

„Jacques,“ sagte die Stimme jetzt dicht hinter dem Fensterladen, sie klang in diesem Augenblick sehr streng und herrisch, „ich hatte befohlen, daß man zuerst dies Fenster öffnen und sich überzeugen solle, ob nicht innerhalb der Wand sich irgend etwas befinde, das beschädigt werden könnte; weshalb ist das unterblieben?“

„Ach, gnädiger Herr,“ entgegnete der Maurer an Stelle des zur Verantwortung gezogenen Dieners, „was soll denn da drin sein? Die Alte wird doch wahrhaftig nicht ihre Kostbarkeiten in der Rumpelkammer aufheben!“

Es erfolgte keine Antwort; statt dessen erschien eine Männergestalt in der Maueröffnung und sah herein. Unwillkürlich hob Lilli die gesenkten Lider. Da standen sie sich gegenüber, Auge in Auge, der fürchterliche Blaubart und die junge Dame, die plötzlich ihre ganze, bedeutende Dosis Trotz und Willensstärke nöthig hatte, um in diesem wichtigen Augenblick nicht aus ihrer Heldenrolle zu fallen. Sie schalt sich innerlich „ein ganz erbärmliches Menschenkind“, weil sie nicht vermochte, den rebellischen Blutwellen zu gebieten, die unter jenem Blick ihr Gesicht überflutheten. Sie überredete sich, nur einen Moment flüchtig hinübergesehen zu haben, und wußte doch ganz genau, daß dort eine kräftig gebaute Gestalt von höchst eleganter Haltung stehe, daß ferner auf dieser Gestalt in der einfachen, braunen Joppe ein auffallend schöner, jugendlicher Männerkopf sitze mit Zügen, die allerdings dämonisch genug aussahen, um den ihm octroyirten, nicht sehr schmeichelhaften Beinamen zu bestätigen.

Er stand einen Augenblick wie angewurzelt vor Ueberraschung; dann aber bog er sich in das Zimmer und betrachtete die Verwüstung, die der Maurer angerichtet. Ohne das Auge wieder zu erheben, bemerkte Lilli doch, daß er leicht mit dem Fuße stampfte.

„Wie ungeschickt!“ murmelte er mit einem Blick nach den Leuten, die verblüfft dastanden. „Ich hoffe, ich bin noch rechtzeitig gekommen, um ein größeres Unglück zu verhüten?“ sagte er mit einer leichten Verbeugung zu Lilli.

Keine Antwort.

Er wandte sich ab und schleuderte die brennende Cigarre, die er zwischen den Fingern hielt, hinüber auf den Rasenplatz. Die Leute entfernten sich stillschweigend. Lilli hoffte, er werde dasselbe thun, denn sie wollte um keinen Preis zuerst das Feld räumen, das hätte wohl am Ende gar ausgesehen wie Flucht, und doch mußte sie sich innerlich eingestehen, daß sie am liebsten so schnell wie möglich auf und davongelaufen wäre.

Aber da stand er schon wieder vor der Mauerlücke. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und lehnte sich mit einer Ruhe und Zuversicht an einen der bloßgelegten Balken, als stehe er hier auf dem Boden freundschaftlichen Verkehrs und nicht an der Schwelle eines feindlichen Gebietes. Lilli fühlte, wie sein Auge unverwandt auf ihr ruhte, sie hätte verzweifeln mögen vor Ungeduld und Verlegenheit, aber nun galt es doppelt, mit sicherer Haltung aus dieser schwierigen Lage hervorzugehen. Sie würdigte ihn keines Blickes und legte eine große Puppe in den Kasten, deren lange, blonde Locken unter einem Kindermützchen hervorquollen.

„Ein reizendes Geschöpfchen!“ unterbrach er plötzlich das peinliche Schweigen. „Es würde mich sehr interessiren, zu wissen, ob es auch schreien kann.“

Welche Ironie lag in dieser Stimme! Er hatte die Absicht, sie zu beleidigen, er behandelte sie wie ein Kind! Tief empört warf sie ihm einen zornsprühenden Blick zu.

„Ah, gut!“ rief er, indem er lächelnd diesen Blick auffing, „Ich wollte einfach wissen, ob Sie des Deutschen mächtig sind. Es bleibt mir in diesem Augenblick kein Zweifel, und so darf ich wohl hoffen, daß Sie mir wenigstens eine Frage beantworten: Wollen Sie mir verzeihen, daß Sie durch mein Verschulden erschreckt und gestört worden sind?“

„Ich erschrecke nicht so leicht, somit bin ich wohl jeder ferneren Antwort überhoben?“

Es zuckte etwas wie ein Wetterleuchten über sein Gesicht, aber er machte nicht die geringste Bewegung, seinen Posten zu verlassen.

„Nothgedrungen muß ich mich damit zufriedengestellt erklären,“ entgegnete er endlich mit Humor. „Aber sagen Sie selbst, ob Moses, nachdem er den ersten süßen Laut der von ihm hervorgelockten Silberquelle gehört, es wohl bei diesem einmaligen Hören hat bewenden lassen? Ich bin in dem gleichen Fall, wenn ich auch eine herbe Beimischung mit in den Kauf nehmen mußte… Ich habe zwar, vielleicht die Ansprüche der allgemeinen Nächstenliebe ausgenommen, Ihnen gegenüber nicht einen Zoll breit Rechtsboden unter meinen Füßen, und dennoch unterfange ich mich, Ihnen einen Vergleich in Güte vorzuschlagen. Seien Sie wie jene freundliche Fee, die dem armen Mann drei Wünsche gewährte und gestatten Sie mir drei Fragen.“

Sie hatte die größte Selbstbeherrschung nöthig, um sich nicht von seinem Humor anstecken zu lassen. Am liebsten hätte sie ihm bei seinem originellen Vorschlag in das Gesicht gelacht, aber das durfte sie um Alles nicht dem feindseligen Nachbar gegenüber. Er mußte mit Ernst und Kälte für immer in die Schranken zurückgewiesen werden. Sie wandte ihm den Rücken, nahm eines der Bilder von der Wand, und während sie den Staub von dem Rahmen zu entfernen suchte, entgegnete sie gleichgültig: „Und was bieten Sie dagegen, wenn ich mich herbeilasse, Ihnen Rede zu stehen?“

„Nun, vielleicht – die Zurückweisung in Ihrem Gesicht läßt mich nicht bezweifeln, was Ihnen zunächst wünschenswerth ist – vielleicht das Versprechen, daß ich dann gehen und Sie allein lassen will!“

„Gut.“

„Das heißt, es bleibt nur für heute in Kraft.“

„Ich sehe die Möglichkeit nicht ein, daß wir uns je wieder begegnen werden.“

„Wollen Sie das nicht meine Sorge sein lassen?“

„Das steht Ihnen frei, ich werde es stets zu vermeiden wissen.“

Die alte Dorte hatte Recht, er war furchtbar jähzornig. Eine flammende Röthe flog über sein Gesicht, während er die Lippen fest aufeinander preßte, als wolle er einen Strom heftiger Worte gewaltsam unterdrücken. Mit einer ungestümen Bewegung trat er einen Schritt in den Garten zurück, riß von einem nahestehenden Rosenstrauch zwei Blüthen ab, zerdrückte sie in der geballten Hand und ließ sie dann auf den Boden fallen.

Lilli sah erschreckt zu ihm hinüber. Sie hatte ihn tief verletzt… Wie thöricht! es kam urplötzlich wie ein Anflug von Reue über sie, daß sie so herb geantwortet hatte, aber der Mann, der Tante Bärbchen so tief kränkte, er verdiente ja ganz und gar keine Schonung. Es war überhaupt, gelind geurtheilt, sehr rücksichtslos von ihm, sie in ein Gespräch verwickeln zu wollen, sie, die doch nothwendig auf Seiten der angefochtenen und beleidigten Nachbarin stehen mußte. Sie hatte sich mittels dieser Raisonnements sehr schnell wieder in ihre abweisende Haltung hineingefunden und nahm jetzt, als denke sie gar nicht mehr daran, daß er noch draußen stehe, geschäftig ein zweites Bild von der Wand. Auch das verscheuchte ihn nicht. Er schien seine Entrüstung bekämpft zu haben, wenigstens war das Auge nicht mehr zornfunkelnd, das einen Moment ihren schnell vorbeihuschenden Blick traf. Er trat wieder näher und betrachtete die innere Fläche seiner kräftigen, aber schöngeformten Hand, ein Tropfen Blut rieselte über die weiße Haut.

„Da sehen Sie,“ sagte er, indem er einen Dorn aus dem Fleisch zog, „die Nutzanwendung bleibt stets neu, wenn auch das abgenutzte Wort: ‚Keine Rose ohne Dornen‘ nicht einmal in dem Aufsatz eines Schulkindes mehr Raum finden mag… Wer denkt aber auch,“ sein Auge glitt bei diesen Worten über die Puppen auf dem Tisch und ein sarkastisches Lächeln zuckte um seinen Mund, „daß bei einer so kindlich lieblichen Beschäftigung der Hände ein [451] verborgener Stachel hinter den Lippen sitzt! … Sie finden es vielleicht unbegreiflich,“ hob er nach einem momentanen Schweigen wieder an, „daß ich nach Ihrer letzten Erklärung noch ein Wort verliere, aber die drei Fragen sind viel zu theuer erkauft, um ihre Erledigung so ohne Weiteres aufzugeben… Ich will billig sein, die erste haben Sie mir bereits beantwortet, aber als Numero zwei möchte ich gern wissen, ob Sie mit der Hofräthin Falk, also auch mit den Dorn’s, verwandt sind?“

„Nein.“

„Nun, warum tragen Sie mir da den unseligen Familienhaß entgegen, als seien Sie der allernächste Abkömmling des alten Erich Dorn?“

Sie sah erstaunt auf. Dieser Barbar begriff nicht einmal, daß er sich vor wenig Augenblicken einer unverzeihlichen Rohheit schuldig gemacht hatte, infolge deren ihn jedes Frauengemüth verurtheilen müsse… Las er auf ihrer Stirn diesen Gedanken, der freilich noch einen besonderen Ausdruck erhielt durch einen indignirten, über den Schutt hinstreifenden Blick des jungen Mädchens? Genug, er streckte ihr die Hand entgegen, als wolle er die Antwort abwehren, die bereits auf ihren Lippen schwebte.

„Nein, nein, sagen Sie nichts!“ rief er hastig und bemüht, seinen Worten abermals einen Anstrich von Humor zu geben, „ich war mit dieser Frage unvorsichtig wie ein Kind, das sich auf einbrechendes Eis wagt! … Sie wollten mir eben antworten, es bedürfe der alten, verschimmelten Traditionen ganz und gar nicht, um in mir ein haarsträubendes Beispiel männlicher Willkür und Brutalität zu sehen; hier liege der Beweis vor Ihren kleinen Füßen u. s. w. u. s. w. … Ich führe eine Art Einsiedlerleben und habe mich bisher auch nie darum gekümmert, was jenseits dieses Zaunes lebt und webt und vorgeht, ich weiß also nicht einmal, in welchen Beziehungen Sie zu dem Haus da drüben stehen.“

Lilli lachte innerlich über die Schlauheit, mit der er sich in Betreff ihrer Person zu orientiren suchte.

„Gehört das in das Bereich Ihrer Fragen?“ fragte sie ohne aufzublicken.

„Nein, um’s Himmelswillen nicht! Ich muß haushälterisch sein … aber Sie würden mir einen großen Theil meiner Vertheidigungsrede ersparen, wenn Sie mir wenigstens sagen wollten, seit wie lange Sie hier sind.“

„Seit gestern.“

„Ah, dann muß ich Sie freilich bitten, mir noch einige Augenblicke Gehör zu schenken! … Ich bin, nach langen Irrfahrten durch die Welt, schließlich zu der Ueberzeugung gekommen, daß ich das beste Theil meines Lebens – d. h. den Moment, wo die Seele mit der ganzen übrigen Welt in vollkommener Harmonie steht, mithin ihren Frieden hat – in den ersten sechs Jahren meines Daseins zu suchen habe. Infolge vielfacher Enttäuschungen verfiel ich endlich dem leidigen Aberglauben und vermuthete im Lande meiner Geburt einen Hort, einen Zauber, der mich sofort in das Glück des ursprünglichen Friedens zurückversetzen müsse. Sie werden begreifen, daß ich mich ohne Weiteres auf den Weg nach Thüringen machte.“

Er hatte in leichtem Scherz gesprochen, aber Lilli’s feinem Ohr entging die Bitterkeit nicht, die leise hindurchklang.

„Das begreife ich vollkommen,“ entgegnete sie, „aber es ist mir ein Räthsel, wie Sie Ihren innern Frieden darin finden können, Andern das Dasein zu verbittern.“

„Das wäre auch für mich selbst eine ebenso unlösbare Aufgabe, wie der Gedanke, daß diese Andern die Annehmlichkeit ihres Daseins auf so viel Hinfälligkeit stützen mögen.“

Er überblickte bei diesen Worten spöttisch die allerdings sehr altersschwachen Wände des Gartenhauses.

„Sie sehen,“ fuhr er in dem früheren humoristischen Tone fort, „ich kam in der friedlichsten Absicht hierher. Ich hatte sogar rein vergessen, daß die alte Frau da drüben, von allen Kindern aus der Stadt schon damals ‚Tante Bärbchen‘ genannt, für mich nur kalte, strenge Blicke hatte, was mich, als kleinen, heißblütigen Jungen, oft so ingrimmig machte, daß ich Steine in ihre Zwetschenbäume warf… Sie hat den Familienhaß treulich festgehalten, ihr Blick ist nicht wärmer geworden. Trotzdem lag es durchaus nicht in meinem Willen,“ sagte er ernster, „ihr feindselig gegenüberzutreten, ich entschloß mich ja sogar, ihre Besitzung zu kaufen, um dies klägliche Zerrbild eines Pavillons aus meinen neuen Anlagen ungehindert entfernen zu können; nicht allein, daß mein Schönheitssinn durch dasselbe stark beleidigt wird, sondern hauptsächlich, weil ein besonderer Umstand es mir zur Pflicht macht, diese Ausschau auf meinen Grund und Boden nicht zu dulden.“

„Dieser besondere Umstand ist uns durchaus kein Geheimniß, verehrtester Herr Blaubart!“ dachte Lilli und ließ zum ersten Mal ihre großen, dunklen Augen voll und fest auf seinem Gesicht ruhen… Hatte sie den dämonischen Zauber jenes Märchenhelden vergessen, der immer und immer wieder die Mädchenseelen hinüberzog in sein Bereich? … Wer mochte auch daran denken! Diese Gefahr lag so fern! Waren auch jene männlich schönen Züge dort unergründlich für ihren unerfahrenen Blick, so schwebte doch in der That, als untrügliches Warnungszeichen, ein tiefer, blauer Hauch um das Kinn und den unteren Theil der Wangen. … Ah, sein Gewissen war doch wohl noch nicht gänzlich verhärtet; denn ihr forschendes Aufblicken hatte eine eigenthümliche Wirkung! Er verstummte plötzlich mitten in seiner Rede; es war, als ob sich sein Auge erweitere und aufflamme … war es die Verwirrung des Schuldbewußtseins? Sie wußte es nicht; aber es lag in diesem Ausdruck Etwas, das beklemmend auf sie zurückwirkte.

„Ah, die Lösung, die Lösung!“ rief er mit gänzlich veränderter Stimme, es klang fast, als erwache er aus einem Traume und spräche mit sich selbst.

„Ja, die Lösung des Räthsels war gar nicht so schwer, das hat selbst die alte Dorte herausgebracht,“ dachte Lilli, schlug aber doch, trotz dieser inneren kühnen Bemerkung, die Augen nieder. Er ging einmal draußen auf und ab und nahm dann seine vorige Stellung wieder ein.

„Ich bin ein schlechter Advocat,“ sagte er lächelnd und bemüht, den leichten Ton wieder aufzunehmen. „Mitten in meiner wohlgesetzten Rede reißt mir der Faden … aber ich machte plötzlich eine wunderbare Entdeckung. Es lag Etwas wie eine dunkle Weissagung in meiner Seele, und ich fand, daß sich dies Etwas mit der Schnelligkeit des Blitzes an einem einzigen Strahl erfüllt habe.“

Er strich mit der Hand über die Stirn, als wolle er seine Gedanken sammeln; Lilli aber schickte sich an, den Pavillon zu verlassen. Es kam eine unerklärliche Bangigkeit über sie, er war doch zu sonderbar. Auch fiel ihr ein, daß es eigentlich ganz gegen Sitte und Anstand sei, einem ihr gänzlich fremden Herrn, und noch dazu einem ausgesprochenen Widersacher der Tante, ein längeres Gespräch zu gestatten. Sie hatte den Reiz seines originellen Wesens auf sich einwirken lassen, das war thöricht gewesen und mußte nun so schnell wie möglich wieder gut gemacht werden.

„Nun, darf ich meine Vertheidigung nicht zu Ende führen?“ fragte er bittend, als sie sich der Thür näherte.

„Den Schluß kann ich Ihnen selbst sagen,“ entgegnete sie, das Gesicht halb nach ihm zurückwendend. „Sie haben die Hofräthin Falk gerichtlich verklagt; das Recht ist Ihnen zugesprochen worden, und da Ihr leidenschaftlicher Wunsch nicht sofort in Erfüllung gegangen ist, so sind Sie zornig geworden, haben dies Loch in die Wand schlagen lassen und erwarten nun ohne Zweifel eine unvergleichliche Wirkung dieses Gewaltstreichs.“

„Leidenschaftlich, zornig, Gewaltstreich!“ wiederholte er mit persiflirendem Pathos, aber ein tiefer Verdruß ließ sich in Stimme und Gesichtsausdruck nicht verkennen. „Noch einige wenige Striche, und das Portrait eines Wütherichs ist fertig! … Ich kann Ihnen übrigens versichern, daß ich trotz all dieser aufgebürdeten Laster ein Freund der Wahrheit bin, und will deshalb nicht verhehlen, zornig geworden zu sein. Die alte Frau hat mich bitter gereizt. Es sind bereits mehrere Tage über die ihr festgestellte Frist verflossen; aber vielleicht hätte ich doch noch nicht zur Selbsthülfe gegriffen, wären nicht gestern durch nächtliche Erscheinungen an diesem Fenster Aufregung und Schrecken auf meinem Gebiet hervorgerufen worden.“

Also ihr unverantwortlicher Leichtsinn war in der That schuld an der heutigen Katastrophe! Diese Gewißheit wirkte sehr deprimirend auf das junge Mädchen. Der Fehler ließ sich nicht wieder ausgleichen, aber sie konnte ihn wenigstens sühnen dadurch, daß sie frei bekannte, wer die Schuldige gewesen. Sie öffnete eben die Lippen zu einer Entgegnung, als die tiefe, aber weithin schallende Stimme der Hofräthin vom Hause her ihren Namen rief… Wie kam es nur, daß ihr plötzlich der Gedanke überaus peinlich war, [452] die Tante möchte mit ihrem Widersacher hier zusammentreffen und in Wort und Benehmen ihren Groll, ihre Empörung ungescheut und verletzend an den Tag legen? Sie eilte deshalb nach einer leichten Verbeugung zur Thür hinaus und fand richtig die Hofräthin im Begriff, sie im Pavillon aufzusuchen. Mit fliegenden Worten und unterdrückter Stimme erzählte sie sofort das Geschehene. Die kräftige dunkle Hautfarbe der Tante wurde um einen Hauch blässer, und in den etwas grellblauen, scharfblickenden Augen tauchte der innere Grimm auf; aber sie blieb äußerlich ruhig und rief den alten Sauer herbei.

„Hole Er mir gleich die Bilder aus dem Pavillon, aber nehme Er sie fein säuberlich vom Nagel!“ befahl sie. „Sie können einstweilen in die grüne Stube getragen werden, bis ich mir überlegt habe, wo sie für die Zukunft hängen sollen… Sehen will ich sie jetzt nicht, daß Er sie mir nicht etwa vor die Augen bringt, Sauer! … Es ist mir gar zu schrecklich, daß sie nun doch fortmüssen von ihrem alten Platz, und ich kann’s nicht ändern!“

Lilli folgte der Hofräthin in’s Wohnzimmer, schlang die Arme um den Hals derselben und beichtete ihre Schuld. Ihre Augen steckten tief in Tante Bärbchens großer Tüllkrause, und deshalb entging ihr das heimliche Lächeln, das gleich zu Anfang ihres Bekenntnisses um die Mundwinkel der Hofräthin flog.

„Schäme Dich, Lilli!“ sagte sie, als das junge Mädchen zu Ende war mit ihrer Selbstanklage. „Kömmst da her aus der großen Stadt, gebehrdest Dich als völlig erwachsene Dame mit Deinem entsetzlichen Reifrock und den Schleppkleidern, die zu Dortens Aerger den Sand von Flur und Treppen wegfegen; hast Englisch und Französisch gelernt und Deine Nase in Chemie und andere hochgelehrte Sachen gesteckt, und bist so kindisch dabei geblieben, daß ich nächstens die Schulregeln wieder dort neben das Uhrgehäuse werde hängen müssen… Uebrigens – Du verdienst es zwar nicht – will ich Dir einen Trost geben: der saubere Herr hätte auch ohne Dein Zuthun seine Heldenthat heute ausgeführt, ich hab’ es nicht anders erwartet. Dem mag’s wohl in den Fingern gezuckt haben, bis er über das arme, alte Gartenhaus hat herfallen dürfen!“

„Das glaube ich eben nicht, Tante,“ entgegnete das junge Mädchen und hob lebhaft den Kopf in die Höhe. „Er hat mir durchaus nicht den Eindruck eines bösartigen Menschen gemacht; ich bin fest überzeugt, hättest Du ihm ruhig vorgestellt –“

„Ei, da will wieder einmal das Ei klüger sein, als die Henne!“ schalt die Hofräthin, in der That jetzt heftig erzürnt. „Ruhig vorstellen, ich, eine von den Erich’s, dem da drüben! Meine Großmutter hätte eher mit eigener Hand den Pavillon in Brand gesteckt, als den Hubert’s ein gutes Wort d’rum gegeben. … Komme mir nie wieder mit dergleichen Redensarten, Lilli! Ich bin alt geworden in dem Bewußtsein, daß die Hubert’s auf unsere Linie einen Flecken geworfen haben, und den Groll und Schmerz darüber nehme ich mit in’s Grab… Hörst Du, Lilli, ich will nie wieder eine Bemerkung über den da drüben hören, nicht einmal seinen Namen, weder im Scherz, noch im Ernst! … Und noch Eines, Kind! Wenn ich einmal die Augen zugethan habe, dann hast Du hier zu befehlen, und es ist Alles Dein, was den Erich’s gehört hat seit undenklichen Zeiten. Müßte ich mir aber denken, daß nach meinem Tode etwas von meinem Grundbesitz, und sei es auch nur ein Zollbreit Gartenboden, in die Hände Derer da drüben käme, ich stiftete lieber gleich Haus und Garten als Armenspital für ewige Zeiten! … Da hast Du mein unabänderliches Glaubensbekenntniß, und nun will ich Dir schließlich noch sagen, daß ich Dein heutiges Benehmen bitter tadle. Wie kannst Du Dich mit einem völlig fremden Manne in einen Wortwechsel einlassen, noch dazu mit einem Manne, der … hast Du vergessen, was gestern Dorte von ihm sagte? Solch Einer ist nicht werth, daß ein Frauenzimmer von Reputation mit ihm spricht, denn er denkt gewöhnlich schlecht von den Frauen und beurtheilt alle nach einer Sorte.“

Eine tiefe Gluth stieg in Lilli’s weißes Gesicht bis hinauf an die dunkle, graziös geschwungene Linie der Haarwellen; aber sie warf den Kopf zurück, und um ihre Lippen trat der stolze Zug, der dem kindlich weichen Antlitz oft so unerwartet den Ausdruck geistiger Reife und Ueberlegenheit geben konnte. Alles, was sie mit Herrn von Dorn gesprochen, glitt noch einmal an ihrem prüfenden, inneren Auge vorüber. Die von ihrer englischen Gouvernante unzählige Mal wiederholte Anstandsregel, welche ein Gespräch mit einem nicht vorgestellten Herrn verbietet, war ihr freilich ein wenig spät eingefallen; gleichwohl, hatte sie ihn mit ihren Antworten nicht ebenso energisch hinter die Schranken völligen Fremdseins zurückgewiesen, als wenn sie ihm schweigend den Rücken gekehrt hätte? … Der ihr noch vor wenig Augenblicken so peinliche Gedanke, daß sie doch wohl zu rauh und unliebenswürdig gewesen sei, war jetzt ein wahrer Trost für sie. Die vornehme Erscheinung des Blaubartes, die ihr wider Willen imponirt hatte, stand ja nicht mehr vor ihr und deshalb gewann die Warnung und Bemerkung der erfahrenen Tante um so rascher die Oberhand. Sie beschloß unwiderruflich, dem Pavillon nicht nahe kommen zu wollen, so lange keine feste Scheidewand zwischen hier und drüben wieder aufgerichtet sei … sie wollte dem Blaubart beweisen, daß sie in der That jede Begegnung mit ihm vermeide; dann werde er schon merken, daß sie nicht zu der sogenannten „Sorte“ gezählt werden dürfe.

Ueber diese Angelegenheit fiel nun zwischen der Hofräthin und dem jungen Mädchen kein Wort mehr. Die Bilder und Möbel waren geräuschlos in die grüne Stube geschafft worden, und in ihrem kleinen Zimmer hatte Lilli den Puppen eine Ecke eingeräumt. Am Abend kam eine alte Freundin der Tante und blieb zum Thee, der in der sogenannten Frühstückslaube getrunken wurde, und als die Nacht hereindämmerte, da saßen die beiden alten Damen noch und sprachen von längstvergangenen Zeiten, von Träumen und Enttäuschungen, von Hoffen und Entsagen. Lilli saß auf einem niedrigen Gartenstuhl, hatte die Hände um die Kniee gelegt und hörte aufmerksam und bewegt zu, wie da ein erblaßtes Bild um das andere aufstieg, während sie hinaussah in die schweigende Abenddämmerung.

Ihr umherschweifender Blick wurde plötzlich gefesselt durch einen hellen Gegenstand, der sich gleichsam von einem mattschimmernden Nachtviolenbusch ablöste und langsam weiter schritt. Sie erkannte sehr bald die Beschaffenheit des kleinen Nachtwandlers: ein weißes Huhn war dem Hofraum entkommen und spazierte, in völliger Gemüthsruhe hier und da die lockere Erde aufkratzend, über die Gurkenbeete. Zum Glück für Dorte – denn sie hatte die Aufsicht über das Geflügel – bemerkte die Hofräthin die scharrende Missethäterin nicht. Lilli erhob sich leise und unbemerkt, um womöglich das dräuende Ungewitter vom Haupt der pflichtvergessenen, alten Köchin noch rechtzeitig wegzulenken, allein das Thier rannte wie besessen bei ihrer Annäherung über die Beete, huschte durch Gebüsch und Hecken und tauchte binnen Kurzem wie ein höhnender Kobold in der entferntesten Ecke des Gartens wieder auf. Alle Bemühungen, die Henne nach der Richtung des Hauses zu scheuchen, waren vergeblich; plötzlich erhob sie sich, flog schwerfällig eine Strecke weit und setzte sich auf das Dach des Pavillons. Da half kein Rufen und Locken; sie kauerte sich nieder und drehte gravitätisch, in vollkommener Sicherheit, den Kopf hin und her. Ihr weißes Gefieder leuchtete doppelt über der dunklen Thüröffnung. Der innere Raum des Gartenhauses war unheimlich finster, nur durch das Loch in der Wand kam das schwache Dämmerlicht von draußen herein.

Da stand das junge Mädchen nun doch wieder wie festgewurzelt in der Thür. Fahl und gespensterhaft, ein verwischtes Bild, von den gezackten Umrissen der zerstörten Wand umrahmt, lag das weiße Haus drüben; sein Thurm starrte wie ein drohender Riesenfinger in die Lüfte. Die Fontainen plätscherten zwar ununterbrochen fort; aber sie standen dort als unbewegliche, mattglänzende Säulen, ihren zarten Schleier, die Millionen herniederfallender Wasserperlen, sog die Dämmerung auf… Im Hause schien alles Leben ausgestorben, nirgends ein erleuchtetes Fenster, eine offene Thür; vielleicht war der Gebieter in Begleitung seiner Hausgenossen nach dem Gut Liebenberg gefahren und hatte dort sein ängstlich behütetes Kleinod geborgen, um dasselbe vor neuem Schrecken zu bewahren; aber in diesem Augenblick öffnete sich die Thür nach der Terrasse, aus der gestern Abend der Neger gekommen war; ein breiter Lichtstrom quoll aus der hellerleuchteten Halle und legte sich über das Orangengebüsch, die Steintreppe und einen Theil des Rasenplatzes.

Lilli sah plötzlich mit klopfendem Herzen die Fremde auf die Schwelle treten.

(Fortsetzung folgt.)



[453]
Scenen und Bilder aus dem Feld- und Lagerleben.
4. Das erste böhmische Quartier.


Es mag recht interessant sein, aus einem Fenster auf die vorbeimarschirenden Colonnen hinabschauen zu können, aber dem, der in dieser staubumhüllten Colonne mitmarschiren muß, sei es bescheiden zu Fuß, oder hoch zu Roß, oder auf dem Protzkasten der Kanone, ist wahrlich nicht wohl dabei zu Muthe, zumal, wenn der Marsch bereits acht Stunden gewährt hat und die Aussicht auf Ruhe sich dem sehnlichst in die Ferne schauenden Blicke noch immer nicht zeigen will. Vorauf die Infanterie mit ihren blitzenden Helmen und Gewehrläufen, mit ihrem Tambour-Major und der Janitscharen-Musik an der Spitze; dann die Cavallerie mit schmetterndem Hörnerklang und zum Schluß die Artillerie mit den Tod und Vernichtung speienden Geschützen! Das sieht Alles recht hübsch aus.

Im ersten böhmischen Quartier.
Originalzeichnung von A. Nikutowski

Wenn man aber wie wir seit dem 8. Juni theils in furchtbarer Sonnenhitze, theils in strömendem Regen tagtäglich sechs und acht Stunden die Landstraße getreten, wenn man die nicht ganz Arkadien gleichenden Gegenden von Jüterbogk, Warmbruck, Finsterwalde, Pockwitz etc. etc. mit gepacktem „Affen“ und warmen Mantel in fortwährenden Staubwolken durchwandert, Abends schlechte Quartiere bezogen und kein vernünftiges Bier gefunden, dann lernt man auch die Kehrseite des Soldatenlebens kennen. Aber, Gott sei Dank, den preußischen Soldaten verläßt der gute Humor nicht. Der gestrige Tag – wir hatten in Großhennersdorf in guten Quartieren uns erholt – hatte Vieles wieder gut gemacht und heute den 23. Juni sollte nun endlich die österreichische Grenze überschritten werden.

Kein Lüftchen regte sich, drückend, fast erdrückend lag die Sommerschwüle auf uns, vergeblich wurden die Helme gelüftet, vergeblich die Röcke aufgeknöpft, so weit das Marschreglement es erlaubte, kein kühler Wind fächelte die heiße Brust und die nasse Stirn. Die Feldflaschen waren geleert, die Marketender weit hinter der Colonne, der betäubende Duft von Hoffmann’s Tropfen, Pfefferminze und anderen Universalmitteln, der bald hier, bald dort emporstieg, war keineswegs geeignet, die ermatteten Kräfte neu zu beleben. Diese Universalmittel erfüllen ihren Zweck nur für den Augenblick, sie reizen und spannen die Nerven an, die gleich darauf um so mehr wieder erschlaffen. Die hübsche Marketenderin, die hoch oben auf dem Gepäckwagen thronte und von diesem hohen Sitzpunkte aus recht vergnügt in die Lande hinausschaute und recht mitleidig auf mich herunterschaute, reichte mir eine gefüllte Weinflasche, die ich, ohne vorher ihren Inhalt zu prüfen, unverzüglich an die Lippen setzte und zur Hälfte leerte. Sie enthielt Branntwein, einen ganz gewöhnlichen Fusel, ich entdeckte es erst, als ich die Flasche absetzte, und ich bleibe auch heute noch bei dieser Behauptung, wenn gleich auch die Marketenderin mich belehren wollte, daß ich den feinsten Batavia-Rum getrunken habe! Die Gute! Sie ahnte wohl nicht, daß in dem staubbedeckten Rocke ein Mann steckte, der das würzige Aroma des Rums in mancher Tasse Thee mit Behagen geschlürft hatte. Der Labetrunk raubte meinem Geldbeutel fünfzehn Silbergroschen, und ich kann nicht leugnen, daß meine fünf Sinne die Wirkung desselben etwas stärker empfanden, als mir lieb war. Aber ich [454] fühlte mich für den Augenblick neu gekräftigt und blickte geringschätzend auf die, welche es vorzogen, sich den Aerzten und Lazarethgehülfen anzuvertrauen, die mit Schachteln und Fläschchen bald hier bald da Trost und Hülfe zu spenden suchten.

Steh ich in finstrer Mitternacht
So einsam auf der stillen Wacht etc. etc.

Ich hatte es unzählige Male gehört, dieses alte Soldatenlied, wenn eine verstimmte Straßenorgel es ableierte oder eine wandernde Harfenistin in einer Restauration die Ohren der Gäste damit beleidigte, aber heute zuckte ich weder die Achseln noch rümpfte ich die Nase, als die Cameraden es anstimmten, es marschirte sich ganz vortrefflich nach dem Takt. Endlich sahen wir in der Ferne einige Helme blitzen, „die Quartiermacher sind da,“ rief Einer dem Andern zu, und ein „Gott sei Dank!“ flüsterte manche Lippe. Da lag das Dorf, kaum eine Stunde von der böhmischen Grenze bei Grottau entfernt; mir entfiel der Muth, als ich die wenigen Schornsteine sah und hinter mich blickend die Truppenmasse überschaute, die dort Obdach finden sollte. Ich gedachte so manches guten Quartiers, welches ich in früheren Jahren auf Märschen und während der Manöver bezogen hatte, so mancher Flasche Wein und Champagner, so manches Rehbratens, die damals gespendet worden waren. Heute im Palast des Commerzienrathes, morgen in der Hütte des Taglöhners – es ist einmal nicht anders! Das Quartierbillet ist ein Lotterieloos, Wenige ziehen einen Treffer, die Meisten erhalten eine Niete. Aber der Soldat begnügt sich gerne mit einer Strohschütte und einem frugalen Imbiß, wenn er nur sieht, daß der Quartierwirth ihn freundlich aufnimmt, daß er giebt, was er hat. Und zumal der Landwehrmann, der den eigenen Heerd, der Haus und Hof, Weib und Kind verlassen hat, um für das Vaterland Gut und Blut zu opfern, verlangt eine freundliche Aufnahme; die Opfer, die er bringt, sind ja weit größer, als die, welche er von seinem Wirth fordern kann. Er macht keinen Anspruch auf die drei Viertelpfund Fleisch, vier Pfund Kartoffeln oder ein Viertelpfund Reis, ein Loth Kaffee, anderthalb Loth Salz, ein Zwölftel Quart Branntwein, ein Quart Bier, zwei Pfund Brod und sechs Cigarren, die er als tägliche Verpflegungs-Ration von seinem Quartierwirth verlangen kann, wenn er nur die Ueberzeugung erhält, daß man giebt, was man hat. Freilich, die Cavallerie schreitet gerne über den Verpflegungsetat hinaus, wenn eine Gelegenheit dazu sich bietet, das ermüdete Roß verlangt eine gute Streu und reichliches Futter.

Der sächsische Bauer hat’s erfahren und ich glaube, er wird’s nie vergessen! Ich meine jenen Bauer, der beim Einrücken der preußischen Cavallerie ein Päckchen Banknoten in Sicherheit bringen zu müssen glaubte. Der Husar, der bei ihm Quartier erhielt, dachte in erster Reihe an sein Pferd, er „fouragirte auf eigene Faust“, die Häckselmaschine arbeitete recht wacker, daß der Bauer in ihr unter dem Stroh seine Werthpapiere versteckt haben könne, ahnte der biedere Sohn der Uckermark nicht, und das Rößlein fraß die Banknoten sammt dem Häcksel. Eine gute Lehre war’s für den Bauer, der die Ehrlichkeit des preußischen Soldaten bezweifelte. Er hätte besser gethan, seine Banknoten gegen Silber umzutauschen. Wer die strenge Mannszucht im preußischen Heere kennt, wer da weiß, aus welchen Elementen das Heer gebildet ist, der wird, auch wenn der preußische Soldat als siegender Feind einrückt, keine Furcht vor ihm empfinden.

Die Quartiermacher waren freilich zur Stelle, aber das Quartier selbst lag noch eine Stunde entfernt. Ungefähr der dritte Theil unseres Corps rückte in das vor uns liegende Dorf ein, die Uebrigen mußten weiter marschiren und zwei andere Dörfer besetzen.

Eine Viertelstunde Rast! Die Gewehre wurden zusammengestellt, die Tornister und Helme abgelegt, die Cavallerie saß ab, die Kanoniere verließen den Protzkasten und Alles gruppirte sich um die Marketender und Marketenderinnen, die ihren famosen „Batavia“- und Jamaika-Rum den durstigen Kehlen mit wahrhaft rührender Aufopferung spendeten. Alles lechzte nach Wasser und in der Nähe plätscherte ein Bach lustig über die Kiesel, aber die Herren Unterofficiere, Aerzte und Lazarethgehülfen bewachten den Born der Erquickung mit Argusaugen. Und mit Recht! „Niemand wandelt ungestraft unter Palmen“, und ein kalter Trunk hat schon mancher erhitzten Lunge den Todesstoß gegeben. Aber die Qualen des Tantalus kann nicht jeder Sterbliche ertragen, da werden dann alle Mittel und Wege versucht, die Wachsamkeit der Hüter zu täuschen, was hie und da auch einem Glücklichen gelingt. Das Kalbfell rasselt, gestärkt und erfrischt geht’s wieder weiter, die Cigarren und Pfeifen werden angezündet, der Compagnie-Lustigmacher, deren jede Compagnie, jede Schwadron einen besitzt, stimmt ein heiteres Lied an.

Endlich spät Abends hatten wir unser Dorf erreicht, die Vertheilung der Quartierbillets ging rasch von statten, die Aufsuchung des Quartiers selbst bot keine besonderen Schwierigkeiten, da das Dorf klein war und Jeder sich beeiferte, die erschöpften Soldaten zurechtzuweisen. Ein Billet auf „vier Mann für einen Tag mit Verpflegung“ lautend, war mir zu Theil geworden. Das Quartier war rasch gefunden, ein alter Bauer und dessen junge, hübsche Tochter empfingen uns. Der Alte bat mich, ihm zu sagen, was wir zu beanspruchen hätten, er habe nie Soldaten im Quartier gehabt, wir müßten ja besser wissen, als er, was uns zukomme. Ich führte ihm das ganze Register an. Cigarren habe er nicht, Bier könne er nicht beschaffen und mit der täglichen Fleischportion von drei Viertelpfund für den Mann werde es auf die Dauer auch nichts geben, meinte er. Ich beruhigte ihn, Cigarren hätten wir selbst, wenn kein Bier zu erhalten sei, nähmen wir auch mit Wasser vorlieb, und was die Fleischportion betreffe, so gelte das Billet mit Verpflegung ja nur für einen Tag, schon am nächsten Tage würden wir Natural-Verpflegung erhalten. Wir würden alsdann täglich Jeder Fleisch, Gemüse, Salz und Branntwein von den Armee-Lieferanten empfangen, er dagegen müsse uns das nöthige Kochgeschirr und die Feuerung liefern. Die Tochter fragte etwas ungläubig, ob wir selbst uns die Mahlzeit zubereiten könnten, was mich zu der Gegenfrage veranlaßte, ob sie vielleicht die Mühe für uns übernehmen wolle, was uns bereitwillig zugesagt wurde. Das junge Mädchen führte uns in die Scheune, eigentlich mehr ein Schuppen, dort sollten wir schlafen und uns so bequem wie möglich einzurichten suchen. Meine liebe Frau, die mich vor einigen Jahren mit einer Eiderdaunendecke überraschte, würde sich freilich über die Einfachheit meiner Schlafstätte gewundert haben. Schlechtes Stroh, auf dem sich Katzen und einiges anderes Ungeziefer breit gemacht, eine zerrissene Pferdedecke, statt der nothwendigsten Möbel einige Heugabeln, Sensen, Karren etc. – das war unser erstes böhmisches Quartier. Aber wir schliefen später doch wie Ratzen.

Schon nach einer Stunde glich das Dorf einem wohlorganisirten Feldlager. Die Kanonen richteten ihre Mündungen drohend gegen den Feind, die Pferde der Cavallerie und Artillerie, welche in den Ställen kein Unterkommen fanden, standen gegen Wind und Wetter so gut wie möglich geschützt auf den freien Plätzen. Allenthalben ein reges Leben und Treiben! Gruppenweise standen hie und da die Soldaten beisammen und trotz dem Ernst des Augenblicks fehlte auch der Scherz nicht. Vor dem Dorfe, eine Viertelstunde von demselben entfernt, hatte die Feldwache sich aufgestellt, eine starke Abtheilung Infanterie und Cavallerie bildete sie. Die Doppelposten waren vorgeschoben, sie zogen in Verbindung mit den Doppelposten der seitwärts liegenden Dörfer eine Kette entlang der Grenze, die der Feind unbemerkt nicht durchbrechen konnte.

Die Schatten der Nacht senkten sich dichter, die Sterne zogen empor; ach, wie manches Menschenherz blickte in dieser Nacht bangend und hoffend zugleich zu ihnen hinauf! Das Gewehr im Arm, den Blick in die Ferne gerichtet und doch in Gedanken daheim bei Weib und Kind! Ob sie wohl auch jetzt an dich denken? Gewiß, und ihr frommes Gebet steigt für dich zum Höchsten empor!

„Und wenn du traurig bist und weinst,
Mich von Gefahr umrungen meinst,
Sei ruhig, bin in Gottes Hut,
Er liebt ein treu Soldatenblut!“

„Halt, wer da!“

„Gut Freund!“

„Steh’ – Parole!“

„Deserteure von den ungarischen Husaren.“

„Kehrt, legt die Waffen nieder. Marsch. Halt!“

Zwei österreichische Deserteure, die heimlich aus ihrem Lager entwichen waren und die Gefangenschaft dem Kriegsleben vorzogen. Sobald sie die Waffen niedergelegt und sich weit genug entfernt [455] hatten, wurde ihnen „Halt“ geboten, mit dem Rücken gegen uns gewendet, mußten sie geduldig warten, bis die von unserer Feldwache ausgesendete Visitation-Patrouille erschien, die sie mit zur Feldwache nehm. Die beiden Deserteure berichteten nichts Rühmliches über die Verpflegung der k. k. österreichischen Armee, der Hunger hatte sie im vollsten Sinne des Wortes zur Desertion bewogen. Wir schickten sie in’s Dorf, dort wurden sie gastfreundlich bewirthet. Gleich nach Tagesanbruch wurden wir abgelöst wir marschirten in’s Dorf zurück und fanden erst jetzt die längst ersehnte Ruhe.




Aus dem Mormonenstaat.


Bis jetzt ist über die unter den Mormonen herrschenden Zustände selbst in Amerika nur wenig Positives bekannt, da in der Regel nur solche Leute nach Utah kamen, welche nach Gold und Silber oder Handelsgewinn jagten und sich wenig um sociale Studien kümmerten. Im verwichenen Sommer reiste der Sprecher des Repräsentantenhauses Schuyler Colfax über Land durch alle diese westlichen Gebiete und Staaten, um die dortigen Zustände kennen zu lernen. In seiner Gesellschaft befanden sich einige Journalisten und einer derselben, Samuel Bowles, der Redacteur des Springfield Republican, hat seine auf dieser Reise gemachten Beobachtungen in einem kürzlich erschienenen Buche niedergelegt. Es finden sich in demselben viele interessante Angaben über das Leben und Treiben der Mormonen, und es wird wohl auch für deutsche Leser von Interesse sein, wenn wir ihnen in dem folgenden Auszug etwas Näheres über diese wunderlichen Heiligen und ihr Land mittheilen.

Im Territorium Utah, fünfzehn englische Meilen südlich von dem großen Salzsee, dessen Wasser fünfundzwanzig Procent reines Kochsalz enthält, haben die Mormonen ihre Salzseestadt gegründet, die jetzt ungefähr zwanzigtausend Einwohner zählt und ohne Zweifel als Stapelplatz des Handelsverkehrs zwischen den östlichen und westlichen Staaten der Union einer großen Zukunft entgegengeht.

Von dieser Stadt an erstrecken sich die Ansiedelungen der Mormonen einige hundert Meilen nach Norden und ebenso weit nach Süden, in einer Breite von etwa fünfzig Meilen. Die meisten Ansiedelungen umfassen nur einige hundert Bewohner, die Gesammtzahl wird auf einhundertundzwanzigtausend geschätzt. Die Salzseestadt liegt in einem weiten Thale, das vom Jordanfluß durchströmt und nach Osten von einem kahlen Plateau begrenzt wird. Von dieser Höhe bietet sich dem Auge des Reisenden, der tagelang zwischen den schneebedeckten Gipfeln der Felsengebirge durch rauhe, nackte Thäler und Schluchten gefahren ist, ein entzückender Anblick. Die Stadt ist nach amerikanischer Sitte in regelmäßigen Vierecken angelegt, mit manchen schönen Gebäuden verziert und in allen Richtungen durchsetzt von großen Blumen- und Baumgärten. Um die Stadt hin ziehen sich meilenweit zerstreute Farmhäuser und grünende Felder, zwischen welchen sich die silberglänzenden Gewässer des Flusses und der Canäle hinschlängeln.

Die reiche Vegetation des Thales ist durchaus das Ergebniß der energischen Thätigkeit der Mormonen. Die ganze westliche Hälfte des nordamerikanischen Continents kann nur mittelst künstlicher Bewässerung angebaut werden; der dürre Thonboden, die langen regenlosen Sommer, die trockenen Winde lassen keine Gewächse aufkommen, und die Mormonen mußten erst das feuchte Element künstlich herleiten, um ihre Felder zu befruchten. In dieser Beziehung haben sie Staunenswerthes geleistet. Die Flüsse sind in verschiedenen Höhen abgegraben und das Wasser wird durch eine Menge von Canälen nach den Gärten und Pflanzungen geleitet, selbst durch die Straßen der Stadt strömt das Wasser in gemauerten Rinnen, und die schattigen Bäume, die in tropischer Ueppigkeit grünenden Gartengewächse können nur durch diese beständige Bewässerung erhalten werden. Allein schon genügt der Fluß dem wachsenden Bedürfnisse nicht mehr und es wird jetzt ein großer Canal gegraben, der das Wasser aus dem dreißig Meilen südlich gelegenen Utah-See nach der Salzseestadt führen und neue Anpflanzungen ermöglichen wird.

Die Häupter der Mormonen waren von Anfang an bestrebt, ihr Volk auf den Ackerbau zu beschränken, eine sich selbst genügende, mäßige und fleißige Landbevölkerung zu entwickeln, die, in kleinen Dörfern zerstreut, leicht durch die hierarchische Organisation beherrscht werden könnte, und dieser Plan ist bisher consequent durchgeführt worden. Die Manufacturwaaren werden von den Staaten des Ostens importirt und nur einige einfachere Industriezweige wurden in der letzten Zeit eingeführt. Mehl, Schinken, Butter, getrocknete Früchte, Garne und Häute werden im Ueberfluß producirt und bilden die Ausfuhrartikel, die theils an durchziehende Auswanderer, theils nach den Bergwerksdistricten der Gebiete Idaho, Nevada und anderer verkauft werden. In den südlichen Ansiedelungen gedeiht auch die Baumwolle und die Seidenraupe.

Als eine hervorragende politische Persönlichkeit wurde Colfax nebst seinen Begleitern mit großer Höflichkeit in der Salzseestadt empfangen, von den Häuptern der Mormonen sowie von manchen „heidnischen“ Bürgern zu Lustpartien und Gastmählern geladen, und so wurde es den Reisenden möglich, werthvolle Aufschlüsse über das Thun und Treiben der sonderbaren Secte zu erhalten. Selbst die Ansichten und Gefühle der in Polygamie lebenden Frauen wurden ihnen nicht ganz vorenthalten, obwohl die Gatten dieselben nur wenig in die Gesellschaft brachten – der einzige Punkt, in welchem sich ihre Gastfreundschaft karg erwies.

„Als Resultat meiner Erfahrungen über die Mormonen,“ sagt Bowles, „kann ich aussprechen, daß ich den Werth ihres materiellen Fortschritts auf’s Höchste schätzen lernte, daß sich die Mormonen wie das ganze Land zu dem Reichthum, den sie geschaffen, und zu der Ordnung, der Mäßigkeit, der Sittlichkeit und Industrie, die sie in diesem entfernten Winkel unsres Continents begründet haben, Glück wünschen dürfen, daß die Vollkommenheit und die Macht ihrer Kirche, der weite Umfang ihrer Verzweigungen, ihr weitreichender Einfluß Staunen erregen, daß die Aufrichtigkeit und der Charakter vieler Häupter Achtung gebieten, daß aber andrerseits mein Abscheu vor ihrer Vielweiberei gestiegen und meine Ueberzeugung von dem barbarischen und entwürdigenden Einfluß dieser Sitte fester geworden ist. Sie üben dieselbe unter den günstigsten Umständen und vielleicht in der möglichst milden Form aus, allein hier wie immer und überall führt die Polygamie stets nur zur Herabwürdigung der Frau. Sie wird einfach die Sclavin, nicht die Gefährtin des Mannes.

„Allein der Mormonismus bedingt nicht nothwendiger Weise die Vielweiberei, sie wurde erst später eingeführt, und selbst jetzt noch widerstreben viele Mormonen dieser Sitte und kaum ein Viertheil, vielleicht noch weniger, übt sie praktisch aus. Schließlich wird auch unter dem Einfluß des wechselnden Verkehrs und der Einwanderung von ‚Heiden‘ nach Utah diese Institution sicher fallen. Nur eine abermalige Flucht und eine vollständigere Isolirung könnte diesen specifischen Charakterzug des Mormonismus retten. Die Führer der Mormonen scheinen auch diese Gefahr erkannt zu haben, und die Colonie, welche sie in den letzten Jahren auf den Sandwich-Inseln gegründet haben, ist wahrscheinlich zu einem letzten Zufluchtsort vor dem Andringen der Heiden bestimmt.“

In den Unterredungen, welche Colfax mit Brigham Young, dem Oberhaupte der Mormonen, hielt, deutete er dem Letzteren an, daß die Bundesregierung ohne Zweifel die religiösen Lehrsätze und die kirchliche Organisation der Mormonen nicht antasten, daß aber der Congreß das Gebiet Utah nie als Staat anerkennen werde, so lange die Vielweiberei gesetzlich erlaubt sei. Er hoffe deshalb, daß die Propheten der Kirche eine höhere Offenbarung empfangen möchten, welche die Polygamie verbiete. Young gab zur Antwort, daß er eine solche Offenbarung mit Freuden willkommen heißen würde, die Polygamie sei auch nicht in dem ursprünglichen Mormonenbuche begründet, sie sei nur ein Privilegium und eine Pflicht, speciell von Gott anbefohlen und durch die Bibel autorisirt. In der Praxis habe sich das Institut trefflich bewährt, denn die Sittlichkeit stehe bei den Mormonen weit höher, als bei den übrigen Christen.

Unter den Gebäuden der Salzseestadt ragt besonders das Theater hervor, das sich, wie Bowles versichert, sowohl an Größe [456] wie an eleganter Bauart mit den schönsten Opernhäusern der Union messen kann. Eben so reich sind die Costüme und Decorationen, und die Vorstellungen, obwohl nur von Dilettanten aufgeführt, würden der geübtesten Schauspielergesellschaft Ehre gemacht haben. Auf ein gutes Drama folgte ein komisches Singspiel und dann ein reizend durchgeführtes Ballet, bei welchem einige Töchter des Präsidenten Young mitwirkten. Dieses Theater ist eine Privatunternehmung Brigham Young’s, wie er auch der Besitzer verschiedener gewinnbringender Fabriken und trefflicher Farmen ist. Im Winter wird jede Woche zwei Mal gespielt, und da die Schauspieler nichts kosten, die Eintrittspreise dagegen hoch sind, macht der ehrwürdige Prophet offenbar ein gutes Geschäft mit dieser Anstalt.

Ein großartiger Tempel, der nach seiner Vollendung die schönste Kirche Amerikas sein wird, ist eben im Bau begriffen, der übrigens nur langsam voranschreitet. Der Gottesdienst wird vorläufig noch in dem alten „Tabernakel“ abgehalten und die Propheten predigen abwechselnd in demselben. Die Reisenden hörten eine Predigt von Brigham Young selbst, in welcher er die wichtigsten Doctrinen der Kirche erörterte und vertheidigte. Diese Sätze sind im Folgenden kurz zusammengefaßt:

Die Bibel hat für die Mormonen dieselbe Autorität, wie für die übrigen Christen; die Mormonenbücher enthalten aber neu hinzugekommene Lehren, welche die ursprünglichen Lehren der Schrift bestätigen und ergänzen. Nach dem Mormonenglauben ist Gott ein menschenähnliches, materielles Wesen mit Fleisch, Blut und Leidenschaften, wie der Mensch, nur vollkommen in allen Dingen, sein Sohn Jesus ein Menschenkind wie andere. Jesus und der Vater sind sich gleich und unterscheiden sich nur dadurch, daß der Letztere älter ist. Unsere Auferstehung wird eine materielle sein und wir werden im Himmel mit denselben Körpern und denselben Leidenschaften fortleben, wie auf der Erde. Die Nichtmormonen werden nicht nothwendigerweise in die Hölle fahren, allein sie werden nicht die hohe Stelle im Himmel einnehmen, wie die Heiligen der jüngsten Tage. Die Polygamie war in den älteren Zeiten bei allen Kindern Gottes gebräuchlich und wurde erst von den Gothen und Vandalen, welche Rom plünderten und dann die römische Kirche gründeten, abgeschafft. Luther billigte sie wenigstens in einem Falle. Dann rühmte der Prediger die guten Eigenschaften und die Erfolge der Gläubigen, pries die Vortrefflichkeit ihres Kirchensystems, die es seinen Präsidenten, Concilien, Bischöfen und Aeltesten verdanke, und behauptete schließlich, daß ihre Prediger göttliche Inspirationen empfangen, wie die Propheten des alten Testaments.

Unsere Reisenden waren natürlich nicht sehr erbaut von diesen rohen, sinnlichen Lehren, die offenbar nur auf ganz ungebildete Menschen berechnet sind, und in der That gehören denn auch die meisten Mormonen den untersten Classen an. Die von der Kirche ausgesandten Missionäre machen in allen Ländern Propaganda, namentlich in den englischen Fabrikstädten, und so findet sich denn in Utah eine äußerst gemischte Bevölkerung, und Brigham Young rühmt sich, daß unter seiner Heerde fünfzig verschiedene Nationalitäten vertreten seien.

Den Präsidenten Young schildert Bowles als einen kräftig und gesund aussehenden Greis, dem man seine vierundsechszig Jahre nicht ansieht. Sein hellgraues Auge hat einen kalten und unsicheren Ausdruck, der Mund und das Kinn verrathen einen starken und entschiedenen Willen. Er ist in Haltung und Gesichtszügen vielleicht ein schöner Mann, allein im Ganzen macht er einen abstoßenden Eindruck. In der Unterhaltung ist er kühl und ruhig und drückt sich treffend aus; er entwickelt kühne und originelle Ideen, spricht aber nicht sehr correct. Seinen Anhängern zeigte er eine milde, väterliche Sorgfalt, und dann war der Ausdruck seines Gesichtes gewinnend, wenn auch nicht erwärmend.

Unter den übrigen Häuptern zeichnet sich Heber Kimball, der erste Vicepräsident, durch seine gemeine und rohe Sprechweise aus. Er steht in hoher Achtung unter den Propheten, seine Manieren sind salbungsvoll wie Macassar-Oel, seine Phrasen fromm wie die Reden eines Thomas a Kempis. Dr. Bernhisel ist ein alter, ehrwürdiger Mann, der sich durch seine Bildung vor allen seinen Collegen auszeichnet. Eine besondere Erwähnung verdient noch Porter Rockwell, der berüchtigte Führer der Daniten oder rächenden Engel der Kirche, einer engeren Verbrüderung von fanatischen Mormonen. Diesem Manne und seiner Bande werden eine Menge Mordthaten zugeschrieben, welche in früheren Jahren an Auswanderern, die auf der damals noch sehr einsamen Ueberlandroute nach Californien zogen, sowie an abtrünnigen Mormonen die zu entfliehen suchten, verübt wurden. Die Mormonen behaupten, daß die Indianer diese Verbrechen begangen hätten, und bestimmte Beweise wird man wohl nie finden können. Nach Bowles ist übrigens dieser Rockwell ein Mann von starkem Geist und starkem Herzen, den man seinem Benehmen und seinem Aeußeren nach kaum solcher Verbrechen fähig halten könnte, es sei denn, daß er durch einen wilden Fanatismus dazu getrieben würde.

Die meisten dieser frommen Propheten haben eine reichliche Zahl von Frauen. Brigham Young selbst ist der glückliche Besitzer von etwa zwanzig wirklichen Ehefrauen, und überdies sind ihm noch etwa ebenso viele der Form nach angetraut; diese letzteren sind meistens fromme alte Damen, die nach hohen Sitzen im Mormonenhimmel streben und den Anschluß an des Propheten Engelsprocession als den sichersten Weg zu diesem erhabenen Ziele betrachten. Es ist nämlich ein mormonischer Glaubensartikel, daß die Frauen durch den Mann selig werden und daß dem Manne alle Autorität in der Familie zusteht. Die Größe eines wahren Mormonen wird denn auch nach der Zahl der Frauen berechnet, die er in einträchtiger, liebender und vor allem in gehorsamer Unterwürfigkeit halten kann. Ein solcher Mann kann so viele Weiber nehmen, als er für gut findet; dagegen widersetzt sich der Prophet, wenn Männer, welchen diese schätzbare Eigenschaft abgeht, mehrere Frauen nehmen wollen. Sein eigener Haushalt ist in der That in der trefflichsten Ordnung, doch zeichnen sich seine Damen mehr durch ihre Unterwürfigkeit, als durch Schönheit aus. Selbst die Jüngste, die er nur nach langer Werbung gewonnen haben soll, ist wohl ziemlich hübsch, aber gemein aussehend, trotz der feinen Kleider und Spitzen, mit welchen sie allein unter der ganzen Schaar herausgeputzt ist. Noch weniger glücklich war der zweite Prophet Heber Kimball, bei dessen Gattinnen man das Wort Schönheit gar nicht anwenden kann.

Im Ganzen scheint die weibliche Schönheit unter den Mormonen selten zu sein, und man trifft unter der kleinen Zahl der Heiden weit mehr schöne Frauen und Mädchen. Ein boshafter Ungläubiger könnte daraus den Schluß ziehen, daß die schönen Frauen größere Ansprüche machen, während die andern sich noch lieber einem vielbeweibten Mormonen anschließen, als ganz ledig bleiben. Nur bei einem Mormonen fand Bowles zwei sehr hübsche Frauen, die sich freundschaftlich in ihren Gatten zu theilen schienen. Sie waren geborene Engländerinnen und fast von gleichem Alter, gingen stets gleich gekleidet und erschienen zusammen im Besuchzimmer und auf der Promenade. Allein auch bei diesen konnte man die stille, ängstliche, halb traurige Miene bemerken, welche alle Mormonenfrauen, junge wie alte, charakterisirt. Nirgends beobachtet man bei ihnen das lebhafte, gesprächige Wesen, wie unter andern Frauen, und dieser Unterschied ist gewiß nicht der höheren Bildung der Mormoninnen zuzuschreiben, er ist vielmehr in Wirklichkeit das Zeichen ihrer Sclaverei, ihrer Erniedrigung.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Frauen das Institut der Vielweiberei als einen peinlichen, entwürdigenden Zustand betrachten, dem sie sich aber freudig fügen, angetrieben durch religiösen Fanatismus und eine seltene, nur einer Frau mögliche Selbstverleugnung. Man sucht ihnen den Glauben beizubringen, daß sie sich dadurch eine höhere und glorreichere Belohnung in der zukünftigen Welt sichern. „Der Herr Jesus hat mir eine schwere Bürde auferlegt,“ sagte eine arme, sanftmüthige Frau, „allein ich werde sie um seinetwillen und um die Herrlichkeit, die er mir in seinem Reiche gewähren wird, ertragen.“ Dies ist die allgemeine Klage, der allgemeine Trost, und ohne Zweifel nehmen die meisten Gatten und Ehefrauen diese Ansicht ehrlich an und unterwerfen sich der Vielweiberei als einem gottgefälligen Institut, das sie und alle mit ihnen Verbundenen in der andern Welt zu Heiligen erhöhen wird.

Doch fügt sich die menschliche Natur nur widerwillig diesen unnatürlichen Geboten. Wenn auch in manchen Familien die Frauen verträglich zusammenleben, so herrscht doch bei der Mehrzahl Unfrieden und häufig bewohnen die einzelnen Frauen getrennte Abtheilungen des Hauses oder selbst verschiedene Häuser. Die erste Frau ist gewöhnlich die in der Gesellschaft anerkannte Gattin und betrachtet häufig die andern mit Verachtung als Concubinen. Es ist im Ganzen ein schrecklicher Zustand für einen feinfühlenden Menschen, er raubt dem Eheleben das Zartgefühl und die Genossenschaft, [457] entwürdigt die Frau und macht den Mann zum Tyrannen. Es erzeugt Eifersucht und Mißtrauen und reizt zur Untreue; das Spionirsystem der Kirche und des Gemeinwesens wird aber so streng und unablässig gehandhabt, daß das letztere Laster nur äußerst selten vorkommt.

Auf die Kinder kann die Vielweiberei nur entwürdigend einwirken, so gut sie auch bewacht und erzogen werden mögen. Das Letztere ist übrigens nicht einmal der Fall, denn die Mormonen haben für ihre Kinder, die überall schwärmen, wie die Heuschrecken in Aegypten, keine Freischulen gegründet, wie dies in Amerika selbst in den rohesten neuen Ansiedelungen geschieht. In den Gotteshäusern der Stadt und der größern Dörfer wird wohl Schulunterricht ertheilt unter der Aufsicht der Ortsbischöfe, allein es muß Schulgeld dafür bezahlt werden, und so sind denn die Armen vom Unterricht factisch ausgeschlossen. Indessen ist es ein gutes und ermuthigendes Zeichen, daß die heranwachsenden Mormonenmädchen meistens der Vielweiberei abgeneigt sind und ihre Ehemänner lieber unter den Heiden, als unter ihren Glaubensgenossen suchen. Die Officiere und Soldaten im Douglas-Lager haben schon manche Proselyten gemacht. Zwei Compagnien, die im letzten Jahre nach Californien abzogen, nahmen fünfundzwanzig Frauen mit, die aus der Mormonenheerde rekrutirt waren. Gegenwärtig befinden sich über fünfzig Frauen unter dem Schutze des commandirenden Generals, die im Lager Schutz vor Verfolgungen suchten oder ihren fragmentarischen Gatten entflohen waren, und die meisten haben bereits Ehemänner unter den Soldaten gefunden. Nicht selten kommen Väter oder Mütter mit ihren Familien in das Lager, um dort ihre Töchter vor dem polygamischen Treiben in Sicherheit zu bringen. Solche Vorgänge berechtigen aber zu der Erwartung, daß die Mormonen entweder bald ihre Doctrin ändern oder abermals den Wanderstab ergreifen und ihre bewundernswerthen Schöpfungen den Heiden überlassen müssen.

Durch die Polygamie sind in Utah mitunter sehr seltsame Verwandtschaften entstanden und die Zweige eines Stammbaums verschlingen sich oft so wunderlich, daß sich der geübteste Mathematiker kaum darin zurechtfinden kann. Sehr häufig heirathet ein Mormone zwei oder mehr Schwestern, andere haben eine Wittwe sammt ihren Töchtern genommen, die erstere zu dem Zweck, um die jungen Mädchen zu bekommen, und alle haben Kinder. Es giebt aber noch unnatürlichere Verbindungen, ein Mormone hat selbst seine Stiefschwester geheirathet. Bedenkt man, wie sich diese Kinder eines Vaters und verschiedener Mütter, die oft Blutsverwandte sind, in der zweiten und dritten Generation wieder zu neuen Heirathen verbinden werden, so kann man wohl mit Sicherheit voraussagen, daß in wenigen Generationen eine schreckenerregende physische und geistige Degeneration eintreten muß. Man findet sogar jetzt schon Vorboten einer solchen traurigen Zukunft.

Häufig ernähren die Mormonenfrauen nicht nur sich und ihre Kinder, sondern tragen auch noch zum Unterhalt ihres Mannes bei. Ein Handlungsdiener oder sonstiger Mann mit mäßigem Einkommen, der drei oder vier Frauen zu gewinnen wußte, lebt vielleicht mit der ersten unter einem Dache, während die anderen getrennt wohnen und sich mit weiblichen Arbeiten ernähren. Diese besucht der Herr Gemahl von Zeit zu Zeit und wird von den armen Geschöpfen auf’s Beste bewirthet, da jede den theuren heiligen Mann möglichst lange in ihrer Nähe zu behalten wünscht. In dieser Weise kann sich ein arbeitsscheuer Mensch das ganze Jahr hindurch von seinen Frauen füttern lassen, wenn er sich nur mit den Strahlen eines Frommen und Heiligen zu umgeben versteht.

Schließlich noch einige Worte über das Verhältniß, in welchem die Mormonen zu der Bundesregierung stehen. Sie erkennen die Autorität derselben nur gezwungen an, und seit zehn Jahren liegt stets eine Abtheilung von eintausend bis zweitausend Mann Bundestruppen in der Nähe der Salzseestadt, um die Autorität des vom Präsidenten der Union ernannten Gouverneurs und der übrigen Bundesbeamten aufrecht zu halten. Während des Bürgerkrieges sprachen sie offen ihre Sympathie für die Sclavenhalter aus, da auch nach mormonischen Begriffen die Sclaverei ein göttliches Institut ist. Wahrscheinlich würden sie den Südstaaten auch Hülfstruppen geschickt haben, wenn sie nicht durch die Anwesenheit der Bundestruppen und durch allzu große Entfernung vom Kriegsschauplatze daran verhindert worden wären.




Die Schlacht bei Langensalza.
(Schluß.)
Das Ende und die Waffenstreckung. – Hannoversche und Spitzkugeln. – Die letzte Proclamation. – Die hannoverschen Truppen und ihr Zug. – Der Hoftroß. – Der König und die Langensalzaer Deputation. – Betragen der Truppen. – Abschied von Illeben.


Spät am Abend des 27. kehrten die Hannoveraner von ihrer Blutarbeit nach Langensalza zurück und suchten ihre alten Quartiere wieder auf oder bivouakirten in der Nähe. Mein Nachbar hatte drei Mal dieselben Leute im Quartier – drei Mal also hatte der Besitz der Stadt gewechselt. Die Leute waren wahrhaft am Verschmachten und nahmen jede Labung mit großer Dankbarkeit in Empfang. Auch der folgende Tag wurde für sie ein Rasttag und man sah sie massenhaft in den Straßen der Stadt umher stehen und gehen, aber ohne jeglichen Exceß oder Tumult.

An diesem Tage, am 28. Juni, waren neue Verhandlungen wegen einer Capitulation im Gange und dieses Mal mit Erfolg, die Generale v. Manteuffel und v. Goeben standen mit 18,000 Mann frischer Truppen und 82 Geschützen in dem nahen Mühlhausen und die Hannoveraner sahen sich von allen Seiten eingeschlossen. Bei nur einiger Nachgiebigkeit des Königs hätte man die Hannoveraner am 29. Juni mit allen kriegerischen Ehren ziehen lassen – jetzt konnte davon nicht mehr die Rede sein. Sie hatten zwar einen augenblicklichen Sieg errungen und hätten bei richtiger Führung leicht durchbrechen können, aber jetzt waren sie erschöpft, die Pferde ruinirt, die Mannschaften zum Tode ermattet. Die Bedingungen sind bekannt: König und Kronprinz zogen frei ab, die Officiere hatten ihr Ehrenwort zu geben nicht gegen Preußen zu fechten, die Mannschaften lieferten Waffen, Pferde und Munition ab und wurden nach der Heimath gesandt.

So mußte die tapfere hannoversche Armee die Waffen strecken und abliefern. Die Preußen thaten alles Mögliche, um dem Feinde diese schweren Augenblicke zu erleichtern, und die hannoverschen Officiere haben dies auch dankend anerkannt. Aber schwer wurde es doch den meisten Kriegern, besonders der Artillerie und Cavalerie mit ihren prächtigen Geschützen, Waffen und Pferden, und Mancher weinte bei der Ablieferung seines treuen Rosses bittere Zähren und verwünschte diesen Tag des Unglücks. Grimmiger noch leuchteten die Augen der Officiere, und man sah ihnen deutlich die Unzufriedenheit an. Ein großer Theil der Truppen dagegen unterwarf sich mit sichtbarer Resignation, besonders unter der Infanterie. Mit Knüttel, Stock und Quersack zogen sie zu Haufen in den Tagen des 29. und 30. Juni in ihre Heimath ab, nicht ohne Hurrahs auf ihre gastlichen Pfleger und Quartiergeber in Langensalza.

Am 28. wurde der größte Theil der Todten begraben, sowohl auf dem nahgelegenen Gottesacker zu Merxleben, als auf freiem Felde, bei der Liebfrauenkirche, auf dem Wege von der genannten Oelmühle nach der Fabrik des Herrn Eduard Weiß und endlich auch auf dem städtischen Friedhofe. Unter diesen befand sich auch die Leiche des Sohnes eines hiesigen Bürgers, Namens Rudolph Bechstedt. Auf dem Rückzuge hatte eine Kugel durch den Kopf sein junges Leben unerwartet, aber jedenfalls schmerzlos geendet. – Die Zahl der Todten läßt sich mit Bestimmtheit zur Zeit noch nicht genau feststellen, weil der unerbittliche Tod immer noch neue Opfer in den vielen Lazarethen fordert. Jeden Tag, besonders an den Morgen und Abenden, wirbeln die gedämpften Trommeln preußischer Tamboure schauerlich den Todtenmarsch und ihnen folgen ganze Gruppen von Särgen mit den Opfern des ungemessenen Ehrgeizes und hartnäckiger Verblendung. Sie werden, ob Feind oder Freund, mit militärischen Ehren begraben.

Unter den Verwundeten befanden sich eine Menge selbst hoher Officiere, und preußische Soldaten und Officiere haben wiederholt versichert, eine solche Feuertaufe hätten sie selbst bei Düppel und Alsen nicht bestanden. Bei dieser Gelegenheit ist auch allgemein die Erfahrung gemacht worden, daß die scharfgekanteten [458] drei Loth schweren hannoverschen Flintenkugeln die schmerzlichsten, nur sehr schwer heilenden Wunden, welche von ihnen ganz zerfleischt und zerrissen waren, hervorgebracht haben, während die kleinen glatten und eirunden Kugeln der Zündnadelgewehre das Fleisch scharf durchschnitten, sich leicht und schmerzlos herausdrücken ließen und den Heilungsproceß lange nicht in dem Maße störten, wie die ersteren. Vor dem Weggang erließ der König noch folgende Proclamation an sein Kriegsheer:

„Hauptquartier Langensalza, 27. Juni 1866.

Ihr, Mein tapferes Kriegsheer, habt mit einer in der Geschichte beispiellosen Begeisterung und mit einer noch nie dagewesenen Willigkeit Euch auf Meinen Ruf und freiwillig in den südlichen Provinzen Meines Königreichs, ja, selbst als Ich bereits, von Meinem theuren Sohne, dem Kronprinzen, begleitet, an der Spitze von Euch nach dem südlichen Deutschland zog, noch auf dem Marsche um Eure Fahnen versammelt, um die heiligsten Rechte Meiner Krone und die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit unseres theuren Vaterlandes zu bewahren; und heute habt Ihr, in Meiner und Meines theuren Sohnes und Thronfolgers Gegenwart mit dem Heldenmuthe Eurer Väter kämpfend, unter dem gnädigen Beistand des Allmächtigen für unsere gemeinsame geheiligte Sache, an dem Schlachttage zu Langensalza, einen glänzenden Sieg erfochten.

Die Namen der todesmuthig gefallenen Opfer werden in unserer Geschichte mit unauslöschlichen Zügen prangen, und unser göttlicher Heiland wird ihnen dort oben den himmlischen Lohn verleihen. Erheben wir vereinigt die Hände zu dem dreieinigen Gott, ihn für unsern Sieg zu loben und zu preisen, und empfanget, Ihr treuen Krieger alle, den nie erlöschenden Dank Eures Königs, der mit seinem ganzen Hause und Euch den Herrn, um Jesu Christi willen, anflehet, unserer Sache, welche die seinige, weil sie die Sache der Gerechtigkeit, seinen Segen zu verleihen.
Georg V. Rex.

Das blutige Drama war somit ausgespielt. Daß der König es über sich gewinnen konnte, seiner nutzlosen Verschwendung von Menschenleben auch dieses Schriftstück hinzuzufügen, setzt dem Ganzen die Krone auf. Es ist ein wahrhaft anwidernder Gedanke, daß eine gewisse Art von frömmelnder Religiosität und orthodoxer Hochkirchlichkeit selbst in solchen Momenten noch den unangenehm berührenden Muth besitzen kann ihre salbungsreichen Worte abzusingen und ohne Bedenken das Einverständniß Gottes und des Heilandes mit Thaten und Unternehmungen irdischer Selbstsucht und erbarmungsloser Ueberhebung vorauszusetzen, die vernünftige Einsicht, Humanität und unbefangenes Menschengefühl mit einer Regung des Schauders immer und unbedingt verdammen werden. Gott und der Heiland haben nichts mit dieser verwerflichen und nutzlosen Menschenschlächterei zu thun, und es ist geradezu eine Blasphemie den Segen des Himmels auf eine Blutthat – das furchtbare Resultat einer fürstlichen Laune – herabflehen zu wollen.

Der so überaus tapfern und schlagfertigen preußischen Armee gegenüber, die sich auch hier wieder mit seltener Aufopferung geschlagen, ist es Schuldigkeit des Geschichtsschreibers auch der Leistungen des Feindes nicht zu vergessen.

Allerdings waren die hannover’schen Truppen noch nicht feldtüchtig, als sie aus ihren Garnisonen vertrieben wurden. Die rasche Energie, womit Preußen in diesem Kriege überall vorgegangen ist, hatte die Fäden der hannover’schen Politik durchschnitten, ehe sie noch fertig gesponnen waren. War doch der Krieg wie ein Blitz aus heiterm Himmel über Hannover hereingebrochen! Aber die Militärbehörden arbeiteten mit Energie. Die Beurlaubten, schleunigst einberufen, schlichen sich zu Hunderten mitten durch die Feinde hindurch zu ihren Regimentern. Und während der dreitägigen Rast, die ihnen in Göttingen vergönnt gewesen, hatten sich die Truppen rasch geordnet und mit fast übermenschlicher Anstrengung in dieser unglaublich kurzen Zeit das Möglichste geleistet, um ihre Ausrüstung zu vervollständigen und mit Ehren ihren Kriegszug antreten zu können. Das Officier-Corps wurde neu organisirt und durch viele, kaum dem Knabenalter entwachsene Cadetten ergänzt, denen keine Zeit übrig blieb, ihre Cadettenuniform abzulegen. Viele der noch in letzter Stunde beigezogenen Reservisten konnten erst während des Marsches eingekleidet werden, während andere in ihrer bürgerlichen Tracht, anfangs sogar unbewaffnet, dem Heere nachzogen. Zahlreiche Pferde wurden herbeigeschafft, um, wenn auch nur mit Leinengeschirr, vor den langen Zug der Munitions-, Proviant- und Bagagewagen gespannt zu werden. Wurden doch mehrere Geschütze sogar von den kostbaren Pferden des königlichen Marstalls gezogen und hatte man doch sogar einen vollständigen Pontontrain mitgenommen, zu dessen Transport sechsundzwanzig Wagen erforderlich waren! Er ist, ohne auch nur einmal benutzt worden zu sein, in die Hände der Preußen gefallen.

Vornehmlich aber war es der endlose Hoftroß, der sich wie ein Bleigewicht an den Marsch der Truppen hängte, obgleich es darauf ankam, mit Siebenmeilenstiefeln das feindliche Land zu durcheilen. Da paradirten, wie bereits alle Zeitungen erzählten, die königlichen Galawagen, mit zahlreichem Hofstaat besetzt, wobei auch der Hofprediger nicht fehlte, welcher tägliche Betstunden hielt und wie bereits erzählt, dem König das Abendmahl reichte. Ihnen folgte eine vielgeschäftige Dienerschaft mit vollständiger Kanzlei. Nicht minder war für die königliche Küche und für den königlichen Keller gesorgt. Auch die Silberkammer wurde nachgeführt, damit dem königlichen Herrn auf seiner Flucht nichts abgehe. Er selbst, der König Georg, fuhr gewöhnlich in einem verschlossenen Wagen, ihm zur Seite der einundzwanzigjährige Kronprinz in Husarenuniform. Zuweilen aber saß er auch zu Pferde, das von seinen Adjutanten kaum bemerkbar, geleitet wurde. Wer es nicht wußte, dachte nicht daran, daß der König des Augenlichtes beraubt sei. Ernst, aber leutselig, neigte er sich dem Volke zu, das ihn ehrerbietig grüßte. Viele wollen gesehen haben, daß die Adjutanten, die ihm stets zur Seite ritten, durch eine feine Schnur, die an seinen Armen befestigt war, bald rechts, bald links ein Zeichen gaben, wann und wohin er grüßen sollte. Als am Morgen nach der Schlacht mehrere Deputationen der Langensalzaer Bürgerschaft (auch von Seiten der Freimaurerloge) um wiederholte Audienzen nachsuchten, um den König zu beschwören, dem Blutvergießen Einhalt zu thun, nahm er sie bereitwillig an und horchte ihren Vorstellungen mit emporgerichtetem Haupte und mit nachdenklicher Miene. Ohne jedoch einen definitiven Bescheid zu ertheilen, berief er sich auf Gott und auf sein gutes Recht, und entließ die Bittsteller mit dem heftigen Worte: „Für alles Unglück, welches über Deutschland und auch über Ihre Stadt hereingebrochen ist, mögen Sie diejenigen verantwortlich machen, die es heraufbeschworen.“

Bald ward die übermäßige Ausrüstung den Truppen lästig. Tag und Nacht unter freiem Himmel campirend, in glühender Hitze zu forcirten Märschen gezwungen, so daß sie an manchem Tage (z. B. von Nörten bis Heiligenstadt) sechszehn Wegstunden zurücklegten, häufig ohne Wasser und Proviant, oder doch nur mit kalter Küche versorgt, die sie in den Ortschaften, welche sie durcheilten, mühsam erpressen mußten, um nur den Hunger zu stillen, konnten sich die kräftigen Leute, trotz aller heldenmüthigen Ausdauer, womit sie dem Rufe ihres Kriegsherrn folgten, oft kaum noch fortschleppen. Nun hatte man zwar schon vor dem Abzuge aus Göttingen, weil es an hinreichenden Zugkräften fehlte, einen nicht unerheblichen Vorrath werthvoller Munition in die Leine geworfen; je weiter sich aber der schwerfällige Zug bewegte, um so lästiger ward das wuchtige Gepäck, so daß viele Officiere den Befehl gaben, Alles, was nicht unumgänglich nöthig sei, stracks von sich zu werfen. Gesagt, gethan. Ueberflüssige Montirungsstücke, die zum Theil noch nicht getragen waren, flogen links und rechts und wurden von den Bewohnern der Umgegend als willkommene Beute gesammelt. In Langensalza füllte man, bevor noch die Schlacht daselbst gewüthet hatte, mehrere Wagen mit solch weggeworfenen und zurückgelassenen Utensilien aller Art.

Fürwahr, wenn man bedenkt, welche Vorräthe an kostbaren! Kriegsmaterial von den in Hannover einrückenden Preußen mit Beschlag belegt, und welche Vorräthe durch die spätere Capitulation (am 28. Juni) erbeutet worden sind – man hat in Langensalza eintausendvierhundert Pferde gebraucht, um sie auf endlosen Wagenzügen fortzuschaffen – so erstaunt man, ohne die Schätze in Anschlag zu bringen, die geradezu verschleudert und in den Koth getreten, oder von den zahllos herumschwärmenden Marodeurs in Sicherheit gebracht worden sind, über den Reichthum des hannoverschen Landes und über die fast verschwenderische Ausstattung seiner Armee, und kann sich eines wehmüthigen Gefühls nicht erwehren, daß dieses in der That herrliche Kriegsheer seine Rolle auf eine so klägliche Weise vorläufig ausgespielt hat.

Und welche Leute waren das! Trotz aller Strapazen und Entbehrungen so rüstig und so kräftig, daß man seine Freude an [459] ihnen sah! Wenn sich freilich der unheimliche Zug im glühenden Sonnenbrand durch die Fluren wälzte, oder wenn die vom langen Marsche, von Hunger und Durst erschöpften Soldaten todesmatt zu Boden sanken, sobald zur kurzen Rast commandirt wurde; wenn Viele es nicht verbergen konnten, daß sie einer faulen, verzweiflungsvollen Sache dienten, und es mit bittern Worten, wohl gar mit unverhohlener Scham, geradezu aussprachen, daß in diesem Kampfe keine Lorbeeren zu ernten seien, gleichviel ob man siege oder unterliege: dann flog wohl ein dunkler Schatten über das seltsame Bild, und der hin und her gehetzte Kriegszug, welcher das friedliche Thüringen urplötzlich in ein geräuschvolles Heerlager verwandelte, schien zu einem phantastischen Leichenzug zu werden, der in manches Auge eine Thräne lockte, zumal in jener mondhellen Mitternachtsstunde, als die Hannoveraner durch Langensalza gen Eisenach zogen und die Garde-Husaren, während die Regiments-Musik schwieg, den feierlichen Choral anstimmten: „Eine feste Burg ist unser Gott, eine gute Wehr und Waffe.“

Kaum hatten jedoch die wackern Truppen ein sicheres Quartier erreicht, so lebten sie bald wieder auf. Flugs säuberten sie sich von dem Staube, der sie mit einer schmutzigen Kruste überzogen hatte. Die Officiere lechzten gewöhnlich nach einem kalten Bade. Auch die sonstige Mannschaft verschmähte eine solche Erquickung nicht. Wir sahen, wie sich, in Ermangelung einer Badewanne, die anstelligen Köpfe zu helfen wußten. Kaum war der Abend hereingebrochen, als Einer nach dem Andern sich entkleidete und mit sichtlichem Wohlbehagen unter die Röhre eines Pumpbrunnens trat, um sich, während der Camerad als Badediener fungirte, von einem lustigen Sturzbade überströmen zu lassen. Und mit welch gottgesegnetem Appetite vertilgten sie die Mahlzeit, zumal die warme, die ihnen geboten ward; wie ward ihrem müden Haupte der harte Stein, der Tornister oder Sattel zum weichen Polster, auf dem sie alsbald entschliefen, wenn die müden Füße rasten durften! Galt es jedoch dem Dienste, so mußten alle leiblichen Bedürfnisse zurücktreten. Am 26. Juni, also Tags vor der Schlacht, traf die vierte Brigade der hannoverschen Armee unter General von Bothmer in Gräfentonna, einem gothaischen Marktflecken bei Langensalza, ein. Es war gegen Mittag, als die Mannschaft, die Tag und Nacht keine Ruhe gehabt, endlich ein Mal unter einem menschlichen Obdache sich zu pflegen hoffte. Aber siehe, da sie sich zu Tische setzen wollte und mit lüsternen Augen die dampfenden Schüsseln sah, – hatten doch Viele seit ihrem Abzuge aus der Heimath keine warme Mahlzeit genossen und die Kleider nicht vom Leibe gebracht! – da ertönte das Alarm-Signal und rief sie alsbald wieder unter die Waffen. Der Feind sollte im Anzuge sein. Mit bewundernswerther Resignation sprangen sie von den gedeckten Tafeln empor und eilten zu ihren Fahnen. Alle Ausgänge des Ortes wurden mit gezogenen Gußstahl-Kanonen bepflanzt, die Hannover jüngst erst aus den preußischen Werkstätten bezogen hatte, die Straßen verbarrikadirt, Bäume niedergeschlagen, Mauern und Häuser mit Schießscharten durchbrochen, und das alte Schloß des Grafen von Gleichen, das seit Jahr und Tag zu einem Zuchthaus umgewandelt war, castellartig besetzt, und dies Alles mit einer so rapiden Energie, als ob die Leute soeben aus ihren Garnisonen zu einem Manöver ausgerückt seien. So standen und lagen sie bis gegen Abend auf ihren Posten, den Feind erwartend. Als dieser aber nicht kam, ließ der Commandeur die Regimentsmusik aufspielen, und die Bewohner des Ortes, denen es zu Muthe war, als ob diese Töne den entsetzlichen Alp, der auf ihrer Brust gelegen, plötzlich verscheuche, trugen von allen Seiten Erfrischungen herbei. Da veränderte sich die tragische Scene wie mit einem Zauberschlage zu Wallenstein’s Lager: „Heisa, Juchheisa! Dudeldumdei!“ Die Soldaten sangen und tanzten auf den offenen Plätzen, bald sich gegenseitig umschlingend, bald die friedlichen Bewohner umfassend, die mit vollen Gläsern in ihrer Mitte verkehrten; Andere trieben Spiel und allerlei Kurzweil. Endlich wagten sich auch die Frauen und Mädchen des Ortes hinzu, das bunte, lustige Treiben zu sehen. Und sie durften es getrost. Keine unanständige Bewegung, kein rohes Wort, kein frecher Blick scheuchte sie von hinnen. Da krochen allmählich auch die Furchtsamsten aus ihren Verstecken hervor befreundeten sich mit den vermeintlichen Kannibalen und tranken mit ihren politischen Widersachern auf das Wohl des deutschen Vaterlandes.

„Wahrheit gegen Freund und Feind!“ Die öffentlichen Blätter, auf lawinenartig sich fortwälzende Gerüchte gestützt, haben den Hannoveranern viel Uebles nachgeredet. Es mag sein, daß sie bei der unsichern Hast ihres Zuges, und bei dem empfindlichen Mangel ausreichenden Proviantes und unentbehrlicher Transportmittel, da und dort bei ihren Requisitionen mit militärischer Rücksichtslosigkeit verfuhren und manchem Ort und mancher Flur empfindliche Nachtheile zugefügt haben. Das ist jedoch allüberall die unvermeidliche Begleitung des Krieges, der nun einmal nicht mit lackirten Saffianschuhen, sondern mit ehernem Fuße durch die Länder schreitet. Wir sind absichtlich vielen harten Klagen nachgegangen, welche den Hannoveranern wie krächzende Unglücksraben vorausflogen. Und wenn man sie bis zu ihren Quellen verfolgte, so wurde entweder aus dem Berge eine Maus, oder es bestätigte sich das alte Sprüchwort: „Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es wieder heraus“. Wo man vor den hannoverschen Truppen die Thüren verschloß, da schlugen sie freilich diese Thüren ein; wo man nicht willig gab, was sie nun einmal nicht entbehren konnten, da haben sie es ohne langen Proceß genommen; wo sich Menschen und Thiere vor dem anrückenden „Feinde“ geflüchtet hatten, da mußten sie sich selbst zu helfen suchen, wie es eben gehen wollte. Aber das Privateigenthum haben sie überall mit der strengsten Gewissenhaftigkeit respectirt, so daß sie eines Theils lachten, andern Theils aber auch böse wurden, wenn sie mit Blechlöffeln sich begnügen mußten, weil man in übertriebener Angst die silbernen versteckt hatte, auch die Saatfelder haben sie möglichst geschont, und ihre Bedürfnisse entweder baar, oder doch mit Anweisungen bezahlt.

Waren sie doch reichlich mit Geld versehen. Sobald die Officiere ihr Quartier betraten, entledigten sie sich gewöhnlich zuerst ihrer schweren Börsen und der langen Rollen, die mit neugeprägten Thalerstücken gefüllt waren. Und mit denselben geizten sie nicht. Wenn der Wirth keine Bezahlung annahm, so gaben sie reiche Trinkgelder in’s Haus. Selbst die Kinder, die sie zu ihren Quartieren führten, entließen sie selten ohne eine Gabe. Hier und da haben sie sogar, um sich irgendwie dankbar zu erweisen, die Armencassen bedacht und mit milden Händen Spenden ausgetheilt.

Mit einer überaus wohlthuenden Artigkeit und Bescheidenheit, welche nicht blos die Officiere, sondern die ganze Mannschaft charakterisirte, und mit einer Freundlichkeit, die für jede Belästigung tausend Mal um Entschuldigung bat und jeden Dienst mit einem warmen Händedruck vergalt, ging die strengste Mannszucht Hand in Hand. So weit unsere Erfahrungen reichen, nirgends ein Exceß, nirgends eine Klage. Als bei einem Barrikadenbau ein ermatteter Soldat aus einem Hause Breter holte, reichte ihm der Hausherr freiwillig ein Butterbrod und ein Glas Bier. Während er die willkommene Gabe verzehrte trat ein Officier zur Thür herein und fragte alsbald den Soldaten mit aufgeregter Stimme: „Was haben Sie hier zu thun?“ – „Ich habe Breter geholt,“ war die stotternde Antwort. Der Officier aber, der das Butterbrod in der Hand des Soldaten sah, zürnte ihm entgegen: „Wissen Sie nicht, daß Sie nicht das Geringste fordern dürfen?“ und führte ihn, selbst in diesem kritischen Momente, zur Strafe ab, ohne daß sich der Schuldlose auch nur mit einer Sylbe verantwortete. Der Hausherr klärte jedoch alsbald das Mißverständniß auf, daß es sich nicht um „Butter“, sondern um „Breter“ handle und daß dem Soldaten die leibliche Erquickung freiwillig gereicht worden sei. Natürlich ging er straffrei aus.

Solche kleine Züge kennzeichnen die Disciplin eines wohlgeschulten Heeres und sind für die hannoversche Armee um so ehrenvoller, je desolater sie aus ihrer Heimath ausgerückt war und je leichter ihre bisherigen Kreuz- und Querzüge die Bande der Zucht und Ordnung lockern konnten. Darum hatte man sich auch bald mit den vermeintlichen Feinden versöhnt. In Mühlhausen, in Langensalza und später in Gotha, sowie in vielen umliegenden Ortschaften, sind sie auf das Freundlichste bewirthet worden. Sie haben es dankbar anerkannt und selbst in öffentlichen Erlassen gerühmt.

In Illeben, einem Dorfe bei Langensalza, verbrachte ein Theil der ersten Brigade unter General von Knesebeck die traurigen Tage, in welchen die Capitulation abgeschlossen wurde. Als sie abziehen wollten, sagte der General zu den Ortsbewohnern, die sich noch einmal um ihre liebgewordenen Gäste versammelt hatten: „Habt tausend Dank für die gute Aufnahme, die wir in Euerm Dorfe gefunden. Eure Freundlichkeit hat uns den schmerzlichsten Tag unseres Lebens versüßt.“ Da wurden die Bauern so ergriffen, daß sie kaum der Thränen sich erwehren konnten, und drückten den [460] Soldaten, die ohne Waffen und Tornister, selbst ohne Mantel und Käppi zum Abmarsch bereit standen, noch einmal die Hände. Endlich erhob der Schultheiß seine Stimme: „Nein, ihr guten Leute, ihr sollt nicht mit dem Stocke in der Hand nach Gotha gehen.“ Und zu den Nachbarn gewendet: „Wer will anspannen und freiwillig die Hannoveraner fahren?“ Und alle Bauern, die über Wagen und Pferde zu gebieten hatten, eilten spornstreichs nach Hause und bald darauf fuhren die Hannoveraner auf mehr als vierzig Wagen wie im Triumphe der Eisenbahn zu.

Als die ersten hannoverschen Husaren nach der siegreichen Schlacht bei Langensalza, mit Staub und Blut bedeckt, in ein benachbartes Dorf sprengten, rief einer derselben den entsetzten Ortsbewohnern, die erschrocken aus einander stoben, mit bewegter Stimme zu: „Bleibt doch, ihr lieben Leute! Wir haben heute eine traurige Pflicht erfüllt. Nehmt es uns nicht übel, wenn wir eure Felder zerstampft, eure Söhne getödtet oder verstümmelt haben. Wir thaten es mit schweren Herzen und rühmen uns des Sieges nicht, denn es war Bruderblut, das hüben und drüben floß. Möge es büßen, wer dieses Blutbad angerichtet hat!“[1]




Unter dem Johanniterkreuze.


Das internationale Lazareth in der Leipziger Turnhalle.
Nach der Natur aufgenommen

Wenn wir durch die Straßen Leipzigs in den letzten Tagen viele hochaufgethürmte Wagenladungen von frischen hölzernen Bettstellen zu den hiesigen Lazarethen fahren sahen, so faßte bei dem Anblick uns ein grauenvolles Mitleid: „von wie viel und welchen Schmerzen werden diese einfachen Lager nun Zeugen sein!“ Aber wie entsetzlich wahr dieses Mitleid auch voraus gefühlt haben möge, – selbst auf diesem Marterholze ist der wunde Mann noch glücklich Dem gegenüber, was er überstanden hat.

„Aus der Hölle durch das Fegefeuer in den Himmel – das ist der Weg des Verwundeten vom Schlachtfeld bis in’s Lazareth.“

In diesem Ausspruch treffen die Erzählungen aller Verwundeten zusammen, mit denen ich in den Leipziger Lazarethen zu sprechen Gelegenheit hatte. Eine heißere oder gelindere Hölle, ein schwereres oder leichteres Fegefeuer allein unterscheiden sie, im Preisen ihres Himmels sind sie einstimmig. – Die Bedeutung dieser drei Stationen aller Verwundeten ist eine selbstverständliche: die erste begreift die fürchterliche Zeit vom Augenblick der Verwundung bis zum ersten Verband, die zweite den Transport bis zum Lazareth, und hier schon zeigt sich ein Grad des Glücks beim Uebergang vom Leiterwagen in den Eisenbahnwaggon; die dritte ist das Lazareth und noch über ihm steht die Aufnahme in eine bürgerliche Familie.

Von ihrer Höllenzeit sprechen Alle, ohne Ausnahme, noch heute mit tiefer Erregung und, wenn auch noch so verständig, doch nicht ohne Klage über den großen Mangel an willigen und hülfsbereiten Händen in den schlimmsten Augenblicken, denn selbst wen die eigenen Schmerzen nicht marterten, der litt an seiner gräßlichen Umgebung. Ein preußischer Verwundeter erzählte mir: [461] „Mich traf’s bei Gitschin. Ein Granatenstück zerriß mir den linken Arm und warf mich nieder. Meine Betäubung dauerte nicht lange; ich fühlte, daß die unteren Gliedmaßen noch heil waren, raffte mich auf und hatte das Glück, in der Nähe Wasser zu sehen. Dort setzte ich mich hin und kühlte die Wunde. Aus Taschentuch und einem Fußlappen, den ich in den Helm gesteckt hatte, suchte ich eine Art Verbandstück zu machen, aber es gelang mir nicht, ich mußte mich damit begnügen, mit dem nassen Klumpen der Verblutung zu wehren. Ich blieb nicht lange allein, noch drei meiner Cameraden schleppten sich herbei und steckten die halben Köpfe in’s Wasser, um den grimmigen Durst zu löschen, während das Blut unter der Montur vordrang, ein vierter kroch auf beiden Händen und mit einem Beine heran, das andere nachschleppend. Zwei von den Trinkenden mußten den dritten emporreißen, der ohnmächtig geworden und mit dem Kopf gar untergesunken war. Derweil schrie der Vierte jämmerlich, die Cameraden sollten ihm helfen, sein Bein in’s Wasser zu stecken. Auch das geschah. Aber wie schrie’s gar rings um uns her, als die noch schwerer Hingestreckten von Wasser hörten! Und wahrlich, wir halfen, so viel wir konnten. Einer der leichter Getroffenen band mir meinen

Gruppe verschiedener verwundeter Soldaten aus den internationalen Lazarethen in Leipzig.
Nach der Natur aufgenommen.
1. Oesterreicher. Franz Guraj (Groß Kapoc) 10. Husaren-Reg. Unterofficier. – 2. Preuße. Ziethen Husaren-Reg. III. Gefreiter. – 3. Preuße. (Berlin) Garde-Schütze. – 4. Preuße. Brandenb. Uhlanen-Reg. Nr. 11. – 5. Preuße. Reinsdorf. (Magdeburg) 25. Inf.-Reg. – 6. Preuße. v. Schwedler. 17. Inf.-Reg. – 7. und 8. Oesterreicher. Regiment König von Hannover. (7. Hornist.) – 9. Oesterreicher. Gust. Gumpl (Palanka) Franz Ferd.-Reg. 32, 5. Comp. Corporal. – 10. Preuße. 1. Garde-Reg. – 11. Sachse. III. Reiter-Reg. 1. Schwadron. – 12. Oesterreicher. Wenzel Kaisch. 13. Jäger-Bataillon
Nr. 2. 3. 4. 6. Granatverwundungen. – Nr. 5. 12. Schußverwundungen – Nr. 1. 7. 11. Hiebverwundungen. – Nr. 9. 10. Bajonnetverwundungen. – Nr. 8. Streifschuß.

nassen Klumpen am Arme fest, und nun füllten wir zu dritt die Feldflaschen und Helme mit dem Wasser, das nun freilich arg genug aussah, und theilten den Jammernden mit, soweit wir konnten. Endlich war unsere Kraft am Ende, und doch schrie’s und jammerte es und zuckten die menschlichen Gliedmaßen, hoben sich flehende Hände, so weit wir sehen konnten. Dazu hinkte und kroch es nun von allen Seiten heran; ich wurde von dem Wasserloch weggedrängt, Jeder wollte nur die Zunge kühlen, trotzdem längst mehr Blut als Wasser darin war. Da machten wir zu dritt uns auf, den Verbandplatz zu suchen, wären aber nicht weit gekommen, wenn wir nicht nach wenigen Schritten das große Glück gehabt hätten, den Schlachtfeldengeln in die Hände zu laufen.“

„Ja, wie Engel erschienen sie Einem,“ nahm ein Anderer das Wort, „besonders wenn man, wie ich, den halben Tag und eine ganze Nacht im nassen Getreide vergeblich auf sie gewartet hat; sie können nichts dazu, daß der Himmel miserabel aussah, in den sie uns brachten, denn ich lag dann mit meinem Schuß durch die rechte Hüfte noch fünf volle Stunden auf dem blanken Boden in einer Scheune und mußte sogar den Säbel ziehen, um das böhmische Gesindel von mir abzuwehren, das die Auskleiderdienste bei mir verrichten wollte. Man mußte ja froh sein, nur irgendwo untergesteckt zu werden, und da konnten unsere Wachen nicht überall zur Hand sein.“

„Und ich war froh,“ erzählte ein Dritter, „wieder in’s Freie, wenn auch auf nasses Stroh, zu kommen. In der Schulstube, wo ich neben dem Ofen lag, sah es wie in einer Metzgerei aus, so lagen die amputirten menschlichen Gliedmaßen umher, dazu das gräßliche Schmerzgebrüll und Todesächzen, und endlich fand sich bald ein Pestgestank ein, der mich erstickt hätte, wenn ich nicht einem noch schwerer Verwundeten hätte Platz machen müssen.“

„Und der Hunger!“ rief Einer, „und gar der Durst!“ fielen Alle ein. „Das war doch das Schrecklichste, das einen nicht blos auf dem Schlachtfelde und in den Verbandhöhlen, sondern ganz besonders in den geschlossenen Eisenbahnwägen während der heißen Tage fast um den Verstand brachte. Ich werde keinen Güterwagen mehr ansehen können, ohne an den Marterkasten zu denken, [462] der mich aus Böhmen hierher brachte.“ Kurz, die Summe der Leiden, von denen diese sämmtlich nicht schwer Verwundeten zu erzählen hatten, war schon so groß, daß für das Maß des ganzen entsetzlichen Menschenelends, das vom Schlachtfeld bis zum Lazareth sich hinzieht, uns die Kraft der Auffassung abgeht.

Zwei große Mängel haben sich in den menschenfressenden Gefechten und Schlachten dieses mit so außerordentlich „vervollkommneten Waffen“ ausgerüsteten Krieges herausgestellt: der Mangel an helfenden Händen für das Bergen und erste Verbinden der Verwundeten, und der ebenso schwer zu beklagende Mangel an rohem Eis, durch welch letzteren die Zahl der durch Amputationen erzeugten Krüppel in’s wahrhaft Unglaubliche vermehrt worden ist. Wären die Turner (und die ebenfalls fahnenführenden Sängerschaaren) als freiwillige Retter den Heeren gefolgt und hätten Alle dann ihre Schuldigkeit mit demselben Heldenmuth gethan, wie bei Langensalza und Merxleben die braven Turner von Gotha und den Nachbarstädten, so würden viel edle Menschenleben dem Vaterlande und ihren Lieben erhalten worden sein.

Unsere Leser begleiten uns nun in einige Lazarethe. In Leipzig sind gegenwärtig deren vier eingerichtet: im neuen Gebäude des Waisenhauses, in der neuen großen Turnhalle, in dem ebenfalls neuen und großen Gebäude der fünften Bürgerschule (das Bild derselben brachte die Gartenlaube 1865, in Nr. 21) und in dem bisherigen königlich sächsischen Militär-Hospital zwischen Gohlis und Leipzig. Zu einem etwa nöthigen fünften ist das große Armenhaus ausersehen.

Wir wenden uns zuerst zum Waisenhause. Auf der Hochebene jenseits des sogenannten Johannisthals, einer langgestreckten Thalmulde, die ganz von kleinen, freundlich gepflegten, mit Lusthäuschen und Lauben geschmückten und von vielen, zwischen lebendigen Hecken und bunten Zäunen hinlaufenden Wegen durchzogenen bäume- und blumenreichen Gärten und Gärtchen eingenommen ist, erhebt sich das stattliche Gebäude mit seinen drei aus dem Hauptbau hervortretenden Flügeln und zweien Höfen, umgeben von einem großen Garten. Seine jetzige Bestimmung verkündet uns die auf seinem Dache wehende weiße Fahne mit dem rothen Kreuz, das alte Symbol des Johanniterordens, das jetzt alle internationalen Hospitäler schmückt.

Der Anblick dieser Fahne wirkt auf jedes Gemüth, das in dieser blutigen Zeit sich ihm nähert, wie ein Friedensgruß. Wer durch die Gruppen der vielen Theilnehmenden und Neugierigen, welche von früh bis Abend die Straße vor der Pforte belagern, gedrungen ist und diese Pforte mit ihren Wachtposten hinter sich hat, der sieht schon auf der Freitreppe und links und rechts in den freien Räumen die lebenden Beweise, daß dieser Gruß Wahrheit ist. Hier wandeln und sitzen viele der Genesung entgegengehende Soldaten all der drei Armeen, die im Kampfe gegeneinander gestanden, Preußen, Oesterreicher und Sachsen. Der steierische Jäger und der ungarische Husar, der böhmische Grenadier und der schlanke Italiener, der sächsische Jäger und Reiter, der Mann der preußischen Linie und der Landwehr, – sie stehen und sitzen nun ohne Groll beieinander. Die im Pulverdampf sich gegenseitig zerschmettert, thun hier einander alle mögliche Liebe an. Der junge, blühende Joppenträger mit dem Jägerhorn am Hut, der, wie ein Greis, an zwei Stöcken daherwankt, den zerschossenen Fuß vorsichtig nachziehend, wird freundlich unterstützt und geführt von dem Preußen, der, wie er, die schleswig-holsteinsche Medaille trägt. Dort mühen ein Ungar und ein Italiener sich ab, sich gegenseitig etwas verständlich zu machen, und weil dies keinem in seiner Muttersprache gelingt, so arbeiten sie mit den paar deutschen Brocken, die sie in den Garnisonen aufgelesen, ein kluges Berliner Kind aber hilft Beiden nach und zu Beider Wohlgefallen. „Wie geht’s heute?“ fragt der ehemalige Feind den Feind, besonders nach der schlimmen Stunde der Wunden-Untersuchung oder eines neuen Verbandes, und es ist wirkliche schöne Theilnahme, die aus dem befriedigten Gesicht leuchtet auf ein „Es geht besser“ oder „Es wird bald wieder werden.“

Im Garten hinter dem Gebäude steht die große sogenannte Luftbude, in welcher über einhundert der niedrigen Betten mit ihren Strohmatratzen, Kopfkissen und Wollendecken Platz fanden, auf denen Preußen, Oesterreicher und Sachsen bunt durcheinander liegen. Der Raum ist luftig und kühl, trotz der auf das getheerte Dach brennenden Sonne. Die Bedienung geht unaufhörlich auf und ab und der gute Brunnen daneben bietet vielbegehrte Labung. Im Schatten einer einfachen Breterhütte unweit davon weilt, so oft es Tageszeit und Witterung gestattet, immer eine unterhaltsame Gesellschaft. Ich habe schon manches Stündchen dort verlauscht, denn die Unterhaltung weicht und wankt nicht von dem Feld der bittersten Erlebnisse eines Jeden und wir hoffen noch manches lebendige Kriegsbild aus dieser Hütte für unsere Leser davon zu tragen. Sehr bezeichnend ist’s, wie die Preußen ihren österreichischen und sächsischen Gegnern nie mit dem geringsten Zweifel an der einzelnen Mannestapferkeit zu nahe treten; dagegen sind die Oesterreicher um so offenherziger in ihrem Urtheil über ihre eigenen Befehlshaber. „Wir haben stundenlang bei einer Holz- und Breterniederlage gestanden, aus der wir zehn solche Luftbuden, wie die da, gebaut hätten, in einer Viertelstunde hätten wir uns eine Barrikade gegen die preußischen Kugeln hergestellt, wir haben’s den Lieutenants und die den Hauptleuten und die haben’s wieder weiter und immer höher hinauf gesagt, aber nein, wir mußten uns neben und auf dem Holze hernach zusammenschießen lassen. So ging’s uns!“ erzählte ein Deutschböhme. „Und wir haben gar preußische Infanterie in einem Wald angreifen müssen,“ murrte ein sächsischer Reiter.

Dort den Gartenzaun nach der Straße entlang stehen immer Gruppen von Oesterreichern, die dem draußen versammelten Publicum ihre Schicksale erzählen und ihre Wunden zeigen. Da wird manches Gemüth gerührt und manche Gabe fällt ab, wenn auch wohl manche ungeheuerliche Nachricht von dieser Berichterstatterstelle mit fortgenommen wird.

So bunt und lebhaft das Treiben im Freien ist, so ernst, gemessen und still tritt uns Alles im Hause selbst entgegen, man mag die breiten hellen Corridore durchwandeln nach jeder Richtung, überall Ruhe, Reinlichkeit, Luft, Licht, Ordnung, Friede.

Die alten unverwischlichen Inschriften der Zimmerabtheilungen contrastiren freilich mit den neuen auf den aufgeklebten Papierblättern. Hier: „Kinderstube“ – „Knabenstation“ – „Mädchenstation“ – und jetzt: „Stationsarzt .…“, – „Assistent .…“, darüber die Namen der in dem Zimmer liegenden Verwundeten, darunter die Nummer des Zimmers und die Bettzahl, z. B. „Bett: 490–499“ – Hier Zimmer der Diakonissinnen, dort Zimmer für die wachthabenden Aerzte u. s. w. Durchschnittlich werden fünfhundert Verwundete im Waisenhause gepflegt.

In diesen stillen Räumen befinden sich die Schwerverwundeten oder an ihren Wunden noch schwer Darniederliegenden, deren erster Ausgang aus dem Bett noch nicht weiter als bis an die Fenster oder bis auf den Corridor geht. Hier begegnet man vielen Gesichtern, in denen die Schmerzenszüge noch tief ausgeprägt sind. Wie alle aus großem Unglück geretteten, aus herber Krankheit genesenden Menschen kommen auch diese jedem Fragenden so mild, gut, zuthunlich entgegen, und namentlich viele Oesterreicher fand ich so dankbar-glücklich. Sie hatten endlich die Hände kennen gelernt, in die sie gefallen waren; müssen doch nicht wenige derselben erst von der namenlosen Angst geheilt werden, die ihnen vor der preußischen Gefangenschaft eingeredet war, ehe ihre Wundenheilung mit Glück gefördert werden konnte. Oeffentliche Blätter erzählten von einem schwerverwundeten Böhmen, dem in Liegnitz eine Dame Erfrischungen darbot. Mit Augen, die in Fieber glühen, mit ganz vertrockneten Lippen weist er die Gabe in sichtlicher Angst zurück. „Schaun’s, Gnaden, der dalkete Kerl fürcht’ sich halt,“ sagt endlich sein Nebenmann, nimmt das Glas und trinkt einen tüchtigen Schluck. Erst jetzt war der Böhme überzeugt, daß er nicht vergiftet werden soll, und nahm die Labung an. Uns erzählte ein Böhme, daß die „Herren“ und die Geistlichen ihnen gesagt hätten, jeder gefangene Oesterreicher werde von den Preußen nach und nach in kleine Stücke zerschnitten, – und als wir dies ungläubig belachten, riefen seine sämmtlichen Cameraden: „Ja, ja, so ist es, so hat man es uns gesagt.“ Leider lag’s in ihren Mienen nur zu deutlich, daß sie es auch geglaubt hatten!

Ein ganz anderes Bild zeigt uns die Turnhalle. Während wir im Waisenhause, die beiden Bettenreihen der Luftbude ausgenommen, nirgends eine große Anzahl von Leidenden in einem Raume erblicken, sondern die vielen einzelnen Zimmer den Anblick des Jammers wenigstens theilen, in vielen Fällen auch ganz verschließen, und während uns besonders in den oberen Etagen des Hauses überall die tiefste Stille umgiebt, die meisten Wärter und Diener in Hausschuhen gehen, liegt beim Eintritt in den großen Turnsaal mit einer Aufschau die reihenweise Lagerstatt von Hunderten der Männer, die in der schönsten Lebenskraft an ihren Wunden [463] dahingestreckt sind, vor unseren Augen. In einer Turnhalle! In den Winkeln stehen noch Barren und Recke, im Hintergrunde ragen Säulen des Klettergerüstes auf, – die Werkzeuge, dazu bestimmt, der männlichen Körperkraft ihre höchste Ausbildung zu geben, und jetzt Jünglinge und junge Männer mit zerrissenen Gliedern, auf hundert Betten in ruhiger starrer Reihe! Der Anblick ist tief erschütternd, wenn wir uns auch zehnmal einreden, daß wir meist nur leichter Verwundete vor uns sehen, die wenigstens sicherlich mit dem Leben davon kommen.

Mit dem Leben freilich, aber in welchen Gestalten! Wie viel Tausend Verkrüppelte kehren aus diesem Krieg in ihre Heimath zurück! Die lebhafteste Phantasie kann die vielerlei Verwundungsarten nicht ersinnen, die dieser eine Saal in sich schließt. So viel Gliedmaßen der Mensch eben besitzt, so viele sind verletzt und verstümmelt in allen möglichen Graden des Mehr oder Weniger. Ein Landwehrmann zeigte mir seine beiden durchschossenen Hände. „Beide Hände! Ich hätte ein Bein drum gegeben, wenn ich meine gesunden Hände behalten hätte.“ Und doch ist der Mann vor Tausenden glücklich, wie schon ein Blick auf die Hunderte lehrt, die hier herum liegen und sitzen, hinken und kauern.

Trotz des großen Zusammenlagerns der Verwundeten im Saal und auf den Galerien herrscht auch hier, neben der selbstverständlichen Ordnung, angemessene Ruhe. – Nur ein Labsal hat der Verwundete auf dem oft langwierigen Krankenlager, und das ist das Rauchen. Was jene Oesterreicher in Liebau sagten, kann man hier alltäglich hören: „Jetzt, wann wir nöt mehr rauchen könnten, hernach da wärsch bald vorbei.“ Die Glücklichen, welche Tags über bereits das Bett verlassen dürfen, zieht es in’s Freie hinaus, auf die Freitreppe der Turnhalle und die breite Straße vor derselben; Andere gehen in der Stadt umher, die Oesterreicher, als Gefangene, unter Aufsicht.

Auch vor der Turnhalle bilden sich die verschiedensten „internationalen“ Gruppen und hier um so leichter als im Waisenhaus, weil dort der Zutritt überhaupt nur den Verwandten der Verwundeten gestattet ist. Die neu eingerückten preußischen Truppen suchen Bekannte und Freunde, und finden sich solche, so ist’s ein rührend schönes Wiedersehen. „Und was macht Der? Wo ist Jener?“ – Da laufen Trost- und Hoffnungs- und Trauerbotschaften so hart durcheinander, wie die Kriegswürfel mit dem Leben spielten. Man muß sich immer wieder daran erinnern, daß wir in einem furchtbaren Krieg leben, um dies Alles nicht für Zeitungsneuigkeiten aus weiter Ferne oder gar für einen Traum zu halten.

Warum soll man es verschweigen, wenn auch ein liebliches Bild zwischen den ernsten auftaucht? Am Gitter saß ein österreichischer Jäger, blutjung und bildschön, den Mantel um den verbundenen Arm hüllend. Mit ihm machte ein ebenso hübsches Mädchen sich gar sorglich zu schaffen, so daß man’s nur gern ansah. Zwei Paar so schöne Augen, – wer kann dafür, wenn etwa die geheimnißvollen unsichtbaren Fäden, die durch die Augen bis in’s Herz gehen, sich unlösbar verwickeln?

Einen recht erfreuenden Anblick gewähren endlich die Abfahrten vom Lazareth in Bürgerhäuser, d. h. aus dem Himmel des Lazareths in den höheren Himmel der Familienpflege. Daß dies viel geschieht, thut Einem im Herzen der braven Leipziger wohl. „Ihr glaubt nicht, wie mein Preuße sich gestreckt hat,“ erzählte ein Bürger, „ich weckte ihn zum Frühstück und zum besten Gläschen Wein, er aber blieb ruhig im Halbschlummer liegen und sagte nur: ‚Ach, wie wohl, wie wohl!‘“ Nach wochenlangem Lagern auf schlechter Streu oder der bloßen Erde und wochenlangem Liegen auf der Lazareth-Matratze – endlich ein Bett: wahrlich, Millionen wissen es nicht, welche Seligkeit für den Genesenden in dem Uebergang von der Strohmatratze zum lieben sanften, häuslichen, stillen Bette liegt!

Trotz dieser und vieler andern einzelnen schönen Beispiele von patriotischem Sinn und wahrer Herzensbildung müssen wir dennoch leider beklagen, daß die Opferfähigkeit der Deutschen in diesem Krieg sich noch keineswegs glänzend gezeigt hat. Kommt auch das Unglück von Tausenden in nie erhörter Größe und Plötzlichkeit über uns, so zählen wir dafür nach Millionen und es dürften nicht die unaufhörlichen Jammerschreie aus Böhmen und Schlesien so nothwendig sein, wie dies der Fall ist. Es steht das Schicksal Deutschlands für seine ganze Zukunft auf dem Spiel – um keinen Athemzug geringer, als beim Bürgerkrieg Nordamerikas! – und was haben die Bürger jenes Landes geopfert, freiwillig dargebracht an Blut und Gut – und was hat bis heute Deutschland aufgebracht? Und welche Lock- und Reizmittel, welche Aufrufe und Bitten sind dazu nöthig erfunden worden, um nur das bis jetzt so Wenige möglich zu machen! Hat man in Nordamerika auch musikalische Abendunterhaltungen zum Gabensammeln, hat man zum Charpiezupfen Gartenmusik bedurft?

Man wird es einst nicht glauben, daß in patriotischer Opferfähigkeit Deutschland so tief stand, als es seine höchste Höhe ersteigen sollte!“

Fr. Hfm.




Blätter und Blüthen.


Ein preußischer Landwehrmann. „In und bei Leipzig wird ein Reserve-Armeecorps von dreißigtausend Mann aufgestellt. Auch bei uns ist Einquartierung angesagt. Liebe Frau, wie sollen wir das erschwingen! Da mag Gott helfen!“ So sprach ein armer Handwerker, der mit seiner zahlreichen Familie ein Stübchen des vierten Stocks eines Hauses in der Hainstraße bewohnt, zu seiner Gattin. Die sorgliche Hausfrau räumt ihr einziges Dachkämmerchen aus und macht es mit einem Bett, Tisch und Stuhl zu einem leidlich wohnlichen Aufenthalt.

Die Einquartierung kommt: ein preußischer Landwehrmann. Der Bürger führt ihn in das Kämmerchen und bittet ihn fürlieb zu nehmen. „Es ist freilich nur eine Dachkammer und die Aussicht wieder auf’s Dach, aber wir haben’s selbst nicht besser. Machen Sie sich’s bequem und kommen Sie nachher gefälligst herüber zum Mittagessen.“ Zur großen Beruhigung des besorgten Bürgers fand der bärtige Soldat Alles ja ganz gut und hübsch, und mit erleichtertem Gemüth kehrt der bedrängte Mann zur ängstlich harrenden Gattin zurück.

Der Mittag ist da und der Landwehrmann begiebt sich in das Wohnstübchen seines Wirths. Da sitzt um den Tisch ein Häuflein Kinder und auf dem Tisch steht eine mächtige Kanne voll Kaffee und ein frisches großes Brod liegt daneben. Für den Soldaten trägt aber die Frau eine lange, gebratene Rauchwurst und ein Tellerchen voll Salat auf und bittet ihn, nun das Brod anzuschneiden. Es bringt Ja Frieden und Glück in’s Haus, wenn ein Gast das Brod anschneidet.

Und der Landwehrmann that’s. Er schnitt Stück um Stück vom Laib ab, dann je für ein Stück Brod ein Stückchen Wurst und theilte so von Kind zu Kind am Tisch herum mit und auch den beiden Eltern. Je freundlicher die Gesichtchen der Kinder, um so bedenklicher wurde das Antlitz der Mutter; in bekannter Hausfrauenweise betrübt und verletzt äußerte sie: „Ich sehe wohl, daß es Ihnen nicht gut genug ist, aber ich kann Ihnen mit dem besten Willen nichts Besseres geben.“

„Werthe Frau, so ist’s nicht gemeint. Mir schmeckt das Einfachste vortrefflich, wenn ich fröhliche Gesichter um mich sehe. Sie werden sich gleich davon überzeugen.“ Und nun aß er den ihm gebliebenen Rest der Wurst und den Salat mit großem Behagen und theilnehmender Unterhaltung, während die übrige Tischgesellschaft ihrem Kaffeetopf noch einmal so munter zusprach, und empfahl sich dann.

Wir werden nicht falsch berichten, wenn wir behaupten, daß Mann und Frau sich Glück zu einer so bescheidenen und gemüthlichen Einquartierung wünschten. Aber es kam noch anders. Gegen Abend keuchte ein Packträger mit einem schweren Korb die Treppe herauf, pochte an des Handwerkers Thür an, setzte, nachdem Frage und Antwort ihn überzeugt, daß er an die richtige Adresse gekommen, seine Last nieder und begann auf den Tisch auszukramen: Schinken und Schweinskeulen, lange Würste, Butter, Käse, Brod und was sonst so manches Auge am Schaufenster des „Victualien-Händlers“ anzieht.

„Aber um’s Himmelswillen, was sollen wir denn mit den theuern Sachen? Wir haben sie wirklich und durchaus nicht bestellt. Wo sollten wir jetzt so viel Geld auftreiben, um eine solche Ausgabe zu bestreiten? Sie haben sich ganz gewiß geirrt.“

„Nein, es ist Alles in der Ordnung,“ behauptete der Packträger. „Name, Stand, Wohnung, Alles trifft, und der preußische Soldat, der mir diese Waaren zur Besorgung übergeben hat, läßt Ihnen sagen, er werde gleich selbst kommen.“

„Da hast Du nun die Bescheidenheit und Gemüthlichkeit! Der zeigt uns, was er beansprucht, ohne viel Umstände. Das sind Vorräthe für eine Herrschaftsküche! Gott weiß, wie wir Das erschwingen sollen!“ Während die Hausfrau noch in solchen Klagen sich ergeht, tritt der Landwehrmann zur Thür herein, und schon sein herzlicher Gruß verscheucht die aufgethürmten Sorgenwolken.

„Ihr lieben Leute,“ sprach er, „nehmt’s nicht übel, daß ich etwas Vorrath beigeschafft habe. Ich sah heute Mittag, daß Ihr selbst Mangel leidet und habt mir doch das Beste gebracht, was Ihr aufzubringen vermochtet. So laßt es Euch denn gefallen, daß wir’s einmal umgekehrt machen. Hier ist Vorrath für mich und für Euch, und ich bitte Euch, auch wenn ich einmal nicht zu Tisch komme, doch herzhaft davon zu essen. So lange ich bei Euch im Quartier liege, sollt Ihr nicht über Mangel zu [464] klagen haben. Und damit Sie, werthe Hausfrau, sich keine Sorgen meinethalb dieser Ausgabe wegen machen, so erlaub’ ich Ihnen, einen Blick in meine Casse zu thun.“

Damit öffnete er sein Portemonnaie, aus welchem der erstaunten Frau so viele Goldstücke entgegenblitzten, daß sie die Hände zusammenschlug. Schließlich erklärte der Landwehrmann, daß er ein Rittergutsbesitzer aus P. sei.

Das ist gewiß in dieser Zeit, wo der Krieg uns so viele Trauerbilder bringt, eine schöne Geschichte, aber das Schönste an ihr bleibt, daß sie wahr ist.


Ursprung des Schellacks. Wohl die Wenigsten unter dem großen Publicum, die beim Versiegeln eines Briefes eine Stange Siegellacks in den Händen halten, wissen, auf welche Weise der Grundstoff zu dieser oft in den schönsten Farben und gefälligsten Formen prangenden Stange erhalten wird. Die Wenigsten wissen, wie viele hundert Thierchen dazu beitrugen, um das Grundmaterial für eine mäßig große Siegellackstange zu liefern. Ja die Wenigsten wissen überhaupt, daß dieser Grundstoff die Arbeit eines Thierchens, eines Insects ist.

Den Grundstoff des Siegellacks bildet bekanntlich stets der Schellack, wenigstens bei den guten Sorten, welche man eben zum Versiegeln der Briefe benutzt. Dieser Schellack nun, der übrigens nicht blos zu Siegellack, sondern auch zur Politur, zu Marineleim, zu Elektrophorkuchen und zu vielem Anderen verwandt wird, ist ein vegetabilisch-animalisches Erzeugniß. Vegetabilisch-animalisch daher, weil ihn die Pflanze ohne das betreffende Thier, sowie das Thier ohne die betreffende Pflanze nicht erzeugen kann. Beide Factoren müssen nothwendig zusammenwirken. Das Thierchen, welches den einen Factor bildet, gehört zu den Schildläusen, jener berüchtigten Familie aus der Ordnung der Halbflügler, welche unsern Pflanzen, besonders den Pfirsichbäumen, Weinstöcken, Orangen, Citronen, Oleandern etc. sehr schädlich werden, aber auch, wie die zu erwähnende Schildlaus und besonders die Cochenilleschildlaus, auf welche wir in einem späteren Artikel vielleicht zurückkommen, sehr nützliche Glieder zählen.

Dieses Thierchen, welches den Schellack erzeugt, führt den zoologischen Namen Coccus lacca, Kerr, Lackschildlaus. Es ist eine Viertel- bis eine halbe Linie lang (die letztere Größe erlangen nur die Weibchen), oval, von rother Färbung, auf dem gewölbten Rücken mit einer Leiste versehen. Die Fühlhörner sind von halber Körperlänge und hinten am Körperende hat das Thierchen zwei divergirende Schwanzborsten. Die Männchen haben glashelle Flügel. Das Vaterland dieses Insects ist Ostindien, vorzüglich das Gangesgebiet, wo es von den Bewohnern gepflegt wird.

Die Pflanzen, auf welchen die Thierchen ihren Aufenthalt haben, sind vorzüglich der Mehlbaum und mehrere Feigenarten. Sie suchen die jungen Triebe auf und setzen sich an ihren Spitzen, das Holz mit ihrem Rüssel anbohrend, in ungeheurer Menge an, so daß die äußersten Zweige dieser Bäume das Aussehen erhalten, als ob sie von einem rothen Ueberzug bedeckt wären. Haben sie sich einmal angebohrt, so wechseln sie ihren Ort nicht, sondern bleiben unbeweglich an den Baumwunden haften, wie der seßhafteste Schmarotzer.

In Folge des Anbohrens der Rinde quillt aus dem Holze der Saft heraus, von welchem das Insect sich nährt und welcher um die Insecten einen Rand bildet, der von Zeit zu Zeit durch Anhäufung des Saftes immer höher wird und zuletzt das ganze Insect umgiebt, so daß es encystirt erscheint und ein lebloses Oval darstellt. Wenn diese Periode eingetreten ist, d. h. wenn das Insect von einer Zelle umschlossen ist, hört die Absorption der Säfte auf. Die äußere Hülle der Cyste erhärtet und die verwundeten Pflanzentriebe verdorren.

Das Innere der Cyste oder Zelle hingegen bleibt eine Zeit lang feucht, indem dieselbe mit einer schönen rothen Flüssigkeit angefüllt ist, in welcher Flüssigkeit sich zwanzig bis dreißig ovale Eier dieser Schildlaus befinden, die von dem todten Leib der Mutter bedeckt sind. Die Mutter stirbt nämlich alsbald nach dem Ablegen der Eier, wie dies überhaupt unter den Insecten meist der Fall ist. Sobald die Jungen aus den Eiern gekrochen sind, bohren sie sich durch den Körper der Mutter hindurch und gelangen so aus der Zelle. Sie begeben sich nun gesellschaftlich auf einen saftigen Schößling der Pflanze und treiben ihr Wesen, wie vorhin beschrieben.

Diese das weibliche Insect umgebenden Zellen mit ihrem rothen Inhalte, der aus dem Harze der Pflanze und den wachsartigen Absonderungen des Thierchens besteht, bilden einen wichtigen Handelsartikel, der uns zwei nützliche Stoffe liefert: die Lackfarben und den Schellack. Durch Auskochen und Behandeln mit verschiedenen chemischen Reagentien wird den von der ersten Generation des Insects im Februar und der zweiten Generation im August eingesammelten Harzzellen dieser Thierchen zunächst der Farbstoff entzogen und sodann das zum größten Theil entfärbte Harz, welches den Schellack bildet, in Tafeln oder Blättchen ausgegossen. Um ein Pfund Schellack zu erhalten, sind oft fünf- bis sechstausend Thierchen erforderlich. Eduard Aßmuß.     

Ein Besuch bei Alfred Tennyson. Auf meiner Heimkehr nach dem lieben Deutschland nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Amerika verweilte ich auch längere Zeit in England, wo es mich trieb, den englischen Lieblingsdichter der Gegenwart, ihren poeta laureatus, Alfred Tennyson, in seinem eigenen home, dem reizend gelegenen „Farringford House“ auf der Insel Wight aufzusuchen, da ich so glücklich war, einige Empfehlungsbriefe an ihn zu besitzen. Sein Haus ist so recht das Ideal einer Dichterheimath, zugleich geräumig, malerisch, elegant und dennoch anspruchslos. Die breite Front ist ganz mit Epheu bezogen, während sich rechts eine schöne, mit Geißblatt umrankte Veranda hinzieht, zu der links ein Treibhaus mit ausgewählten exotischen Pflanzen das Pendant bildet. Als ich auf das liebliche Haus zuschritt, freute ich mich über die wohlgepflegten breiten Pfade, die von uralten Eichen zu beiden Seiten völlig überdacht waren, da dieselben oben ihre Zweige und Wipfel wie zu einer schützenden Laube verbunden hatten. Von dieser kühlen, schattigen Allee aus blickt man auf große, saftiggrüne Rasenplätze mit reizenden Blumen- und Strauchpartien und jenseits derselben sind wieder herrliche Baumgänge, wo ich mir den Dichter auf- und abwandelnd vorstellte, wenn er die lieblichen Phantasiegebilde ersinnt, welche später die Welt entzücken.

Jetzt begegnete mir ein Diener, welcher mich in ein Cabinet führte, wo er mich bat, zu warten, bis er seinem Herrn meinen Besuch gemeldet haben würde. Hier wurde mir das Warten leicht, denn ich befand mich in einem sehr interessanten kleinen Naturaliencabinet, das mir förmlich ein Inhaltsverzeichniß der Lieblingspassionen Tennyson’s zu sein schien; da war eine größtentheils von ihm selbst zusammengetragene Sammlung von Mineralien und Versteinerungen, merkwürdigen Crustaceen, Muscheln und Krystallen, Alles sorgfältig geordnet und classificirt. Wenige Minuten später wurde ich in ein äußerst gemüthliches Zimmer geführt, wo ich von Tennyson’s Gattin und seiner unverheiratheten Schwester freundlich bewillkommnet ward. Die Damen zeigten mir einige auserlesene Photographie-Albums, in denen die Nachbildungen der berühmtesten Meisterwerke der Malerei und Baukunst enthalten waren; dann trat Tennyson selbst ein. Wie soll ich sein Aeußeres beschreiben? Er ist wohl beinahe fünf und einen halben Fuß groß, erscheint jedoch viel kleiner, da er ziemlich gebeugt geht; sein Alter beträgt höchstens fünfzig Jahre, allein eben die gebückte Haltung und die Brille läßt ihn älter erscheinen: dazu ist er so merkwürdig altmodisch gekleidet, daß er mehr einem alten Gemälde als einem Zeitgenossen aus dem nennzehnten Jahrhunderte gleicht.

Sein Rock mit der kurzen Taille und den langen Schößen glich etwa den Röcken, in denen wir Schiller abgebildet sehen; er schloß eng an und bestand aus einem graumelirten Stoff, ebenso die Weste und die Beinkleider; unter den breiten Hemdkragen war eine schwarze Cravatte lose geschlungen, deren Enden vorn herabhingen. Aber dies Alles vergißt man bei dem Anblick seines Gesichtes, der mächtigen, gedankenschweren, breiten, hohen Stirn, dem langen, seidenweichen, schwarzen oder vielmehr stark mit Grau gemischten Haar, das bis auf die Schultern fällt, und vor Allem den dunkelgrauen, sanften Augen. Sein Mund lächelt fast immer, allein die Augen sind wie abwesend und scheinen in entfernten Regionen umherzuirren, wenn er spricht; dieser eigenthümliche Blick läßt sich gar nicht beschreiben, man muß ihn selbst beobachten. Seine Stimme ist voll und klangreich, aber er wählt seine Worte bedächtig, und ich möchte deshalb fast glauben, daß er ebenso langsam und bedächtig arbeitet, jeden Satz nochmals abwägt und daran herumfeilt, bevor er ihn niederschreibt.

Unser Gespräch drehte sich um die Schönheiten der Insel Wight, um England und meinen Aufenthalt daselbst, dann kamen wir auf Deutschland zu sprechen und ich war erfreut, Tennyson so bewandert in unserer Literatur zu finden und ihn so eingenommen dafür zu sehen. Er wurde ordentlich lebhaft, als er von Schiller’s dramatischen Werken sprach, unter denen er Don Carlos den Vorzug zu geben schien. Zuletzt wandte sich unser Gespräch auf Amerika und mein dortiges Leben, und ich fragte ihn, ob er nicht einmal dorthin reisen werde, wo ihn viele tausend Bewunderer seiner Werke freudig willkommen heißen würden. Er unterbrach mich jedoch mit einem entschiedenen:

„Nein, das werd’ ich nie!“

„Aber warum nicht?“

„Ach, die Amerikaner sind mir zu gewaltthätig, ich liebe sie nicht, ich denke noch mit Grauen an den langen, langen Bruderkrieg.“

„Aber jetzt herrscht ja Friede und die Sclaverei ist zu Ende –“

„Mag sein,“ fiel er schnell ein, „aber die amerikanische Presse ist entschieden brutal und unvernünftig!“

Ich suchte ihn zwar von der Einseitigkeit dieser Ansicht zu überzeugen, fand es aber doch für besser, auf ein anderes Gesprächsthema überzugehen, und so verrauschten mir die Augenblicke mit Windesflügeln in der Unterhaltung mit dieser reinen, klaren Seele. Ich verließ Farringford House mit den freundlichsten Erinnerungen und reich beschenkt mit Bildern, Blumen und Autographen.



Für die Verwundeten und Hinterlassenen der Gefallenen gingen wieder ein:

Carl Rdl. 3 Thlr. – Frau Born 2 Thlr. – Ein nicht gefeiertes Fest 2 Thlr. – F. Stolle 4 Thlr. – Gretchen 2 Thlr. – F. W. Vollberth 4 Thlr., wovon 2 Thlr. für die Verwundeten, 2 Thlr. für die Hinterlassenen. – E. S. in Leipzig 2 Thlr. – Herm. Engler 10 Thlr. – H u. C. 50 Thlr. – Molly 2 Thlr. – Fr. Hüttner 5 Thlr. – Aus den Resten einer Sammlung für die Verwundeten und Kriegsbeschädigten in Schleswig-Holstein 500 Thlr. – Prof. Bock 22 Thlr. Ertrag eines noch ungedruckten Artikels für die Gartenlaube. – E. Keßler 1 Thlr. – X. A. W. Ald. 10 Thlr.

Gesammtbetrag der ersten beiden Quittungen 1228 Thlr. Auf besondern Wunsch nehmen wir auch Charpie-Einsendungen an. D. Red.     


Ein Bitten um möglichst rasche und ergiebige Fortsetzung der Gabensammlungen für unsere Verwundeten wie für die Familien der Verstümmelten und die Hinterbliebenen der Gefallenen ist in Deutschland wohl nirgends mehr nöthig. Jetzt gilt es, die kürzesten Wege anzuzeigen, auf welchen in möglichster Eile möglichst Großes geleistet werden kann, und hier habt Ihr an’s Werk zu gehen, Ihr Gesellschaften und Vereine aller Art! Veranstaltet Sammlungen von Haus zu Haus, leert Eure eigenen Cassen, laßt selbst die Kindersparbüchsen in den Schulen eröffnen und betretet und verlaßt keinen Vergnügungsplatz, ohne eine Gabe in die öffentlichen Sammelbüchsen zu legen, die überall jetzt angebracht sein müssen. Nach ihren Opfern wird heute die Ehre der Nation gemessen!


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Verfasser dieser Skizze beabsichtigt eine ausführliche Darstellung der Schlacht bei Langensalza demnächst zu veröffentlichen, welche unter dem Titel: „Die Hannoveraner in Thüringen und die Schlacht bei Langensalza“ bei J. W. Klinghammer in Langensalza erscheinen wird.
    D. Red.