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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[465] No. 30.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Blaubart.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Die edle Gestalt der Fremden zeichnete sich wie eine Silhouette von dem lichten Hintergrund ab. Lilli erkannte an den scharf ausgeprägten Linien, daß eine prachtvolle Haarkrone den Hinterkopf schmücken müsse; feine, bunte Strahlen zuckten und blitzten über das Haupt hin, der schwarze Schleier, der auch heute die Erscheinung umfloß, war jedenfalls mit Brillantnadeln am Haar befestigt. Jetzt sah Lilli auch, daß die Dame noch sehr jung sei, ihre Bewegungen waren von mädchenhafter Weiche und Zartheit; aber heute noch auffallender als gestern machte sich eine gewisse Müdigkeit bemerkbar, als sie langsam die Treppe hinabschritt. Vergebens spähte das junge Mädchen auch jetzt nach den Gesichtszügen; das dunkle Gewebe fiel in dichten Falten über Profil und Büste.

Unwillkürlich wich Lilli in diesem Moment zurück, wie ein elektrischer Schlag durchbebte das Gefühl des Schreckens ihr Inneres und jagte ihr das Blut in die klopfenden Schläfe. … Wie thöricht! Was hatte sie zu fürchten von dem Mann, der dort in die Thür trat? Kam er doch jetzt nicht als Rächer und Zerstörer! Seine ganze Aufmerksamkeit schien auf die junge Dame gerichtet zu sein. Mit jenen sicheren, entschiedenen Bewegungen, die ihr heute Morgen an ihm aufgefallen waren, schritt er über die Terrasse und traf mit der Fremden am Fuß der Treppe zusammen. Er sprach mit ihr. Das waren jene vollen sympathischen Klänge, mit denen er Lilli’s Ohr so bestochen hatte, daß sie sogar der Tante gegenüber für seinen Charakter in die Schranken getreten war. Was er sagte, verstand sie nicht; sie hörte ihn nur den Namen Beatrice mit unendlicher Weichheit aussprechen. Er bot der Dame die Hand, allein sie zog die ihre hastig zurück und sprach, den Kopf schüttelnd, einige Worte in leisen, flötenartigen Tönen, sie schienen in Thränen erstickt… Wie genau kannte Lilli bereits die Modulation seiner Stimme! Ohne zu verstehen, was er antwortete, ohne daß er irgend eine äußere Bewegung gemacht hätte, erkannte sie doch sofort, daß er unwillig wurde. Er trat näher an die Dame heran und hob den Arm; wollte er sie umschlingen? Abermals fuhr jenes elektrische Zucken durch Lilli’s Seele, aber diesmal war es wie ein jäher Stich, der sie schmerzte. Ihre Wangen brannten, sie schämte sich plötzlich hier zu lauschen und wollte sich zurückziehen; aber das, was sie in diesem Augenblick sah, fesselte ihren Fuß an die Schwelle. Bei der Annäherung des Blaubartes wich die Fremde zurück und floh mit wankenden Schritten, als schaudere sie vor seiner Berührung… Sie verabscheute ihn, das lag klar vor Augen – war er ein Verbrecher, und sie wußte um seine Schuld? Oder stieß seine Persönlichkeit sie zurück, und er heischte dennoch Gegenliebe von ihr? Warum sie dieser letzteren Vermuthung weniger Raum gab, darüber wurde Lilli sich selbst nicht klar; es blieb ihr auch nicht länger Zeit, zu beobachten und nachzudenken; denn in Tante Bärbchens Garten erhob sich ein lauter Lärm. Wie das junge Mädchen sah, hatte die Henne unvorsichtiger Weise ihren hohen Standpunkt verlassen und war ohne Zweifel in Tante Bärbchens Gesichtskreis gerathen; denn die beiden alten Damen, Sauer und die händeringende Dorte hatten sich zu einem wahren Treibjagen vereinigt, und eben, als Lilli zu ihnen gelangte, stürzte sich das geängstete Huhn in die Hofthür, die eilig hinter ihm geschlossen wurde. Dorte entging ihrem Schicksal nicht; sie erhielt am Schluß des unglückseligen Tages, der mit dem Streit um des Teufels Existenz begonnen hatte, einen tüchtigen Verweis; aber trotz dieser Sühne war nun doch der trauliche Gedankenaustausch zwischen den beiden alten Freundinnen gründlich gestört, dergleichen Unregelmäßigkeiten in ihrem exemplarischen Hauswesen brachten Tante Bärbchen leicht um ihr inneres Gleichgewicht. Man kehrte nicht mehr in die Laube zurück, und der Besuch entfernte sich.

Eine halbe Stunde später lag das alte Haus der Hofräthin im tiefsten Schweigen; aber wenn auch die fest verrammelten Thüren und Fensterladen wacker jeden fremden Eindringling abwehrten, so konnten sie doch nicht verhindern, daß sich die Celloklänge aus dem Thurmzimmer durch ihre Ritzen stahlen und als hinreißende Melodieen durch Lilli’s Stübchen rauschten. Das waren andere Klänge, als die gestern Abend gehörten! Bald erhoben sie sich im wilden Jubel und rissen die Seele des Hörers mit in ihren berauschenden Strudel, dann irrte es wieder klagend durch die Saiten, in jedem Ton aber bebte und glühte die Leidenschaft. … Lilli hatte die Fensterflügel geöffnet und preßte ihre heiße Stirn an den Laden. Sie fühlte fort und fort das große, feurige Auge des Blaubartes auf sich ruhen, und inmitten all der geheimnißvoll flüsternden oder entfesselt dahin brausenden Töne hörte sie seine Stimme in jenem seltsamen Gemisch von Scherz und Bitterkeit, wie sie vom verlorenen Frieden sprach.

Es war gut für Lilli’s eigenthümlich aufgeregten Seelenzustand, über den sie selbst keine Klarheit erlangte, daß nun Tage der Zerstreuung folgten. Visiten in Tante Bärbchens sehr ausgedehntem Bekanntenkreise und Gegenbesuche füllten beinahe den ganzen Tag aus; auch wurden Ausflüge in die Umgegend gemacht. Die öftere Abwesenheit vom Hause, der Verkehr mit Altersgenossinnen und das Wiederbetreten alter, entfernter Lieblingsplätze, all dies schwächte allmählich die Eindrücke der ersten Tage ab und gab ihr [466] wenigstens zum Theil die frühere Unbefangenheit zurück. Das konnte um so leichter geschehen, als sie nicht viel an die Nachbarschaft erinnert wurde. Die Hofräthin hielt unverrückbar fest an ihrem Ausspruch, daß mit ihrem Willen kein Ziegel an dem Pavillon fortgerückt werden solle, betrat nie jenen Theil des Gartens und erwähnte den Vorfall mit keiner Silbe. Sie hatte die Absicht, den Feind sein Zerstörungswerk vollenden zu lassen, so weit das Recht ihm zustand, und dann den Rest des Häuschens durch eine Rückwand zu stützen und zu erhalten, somit meinte sie, nach Kräften der Pietät zu genügen. Aber der alte Sauer, der hier und da nachsah, erzählte Lilli heimlicherweise, daß das Loch in der Wand sich nicht vergrößere; er könne sich gar nicht denken, was daraus werden solle, und dabei käme es ihm vor, als steige öfter Jemand durch die Wandöffnung, denn der Schutt auf dem Fußboden sähe ganz zertreten aus, und draußen auf dem Kiesweg fände er immer frische Kalkspuren, die nur an den Füßen dahin getragen sein könnten. Der Thurm schaute freilich nach wie vor herüber in den Garten, aber hinter den vier Fenstern, die ihn früher völlig durchsichtig gemacht hatten, hingen plötzlich dichte, schwerseidene Vorhänge. Manchmal, wenn die Fensterflügel offen standen, konnte Lilli von der Frühstückslaube aus sehen, wie sich diese Damastfalten leise bewegten; ja es sah aus, als erschiene ein schmaler, dunkler Spalt in Mitte derselben, und das junge Mädchen dachte dann an die verhangenen Fenster im Orient, hinter denen die Augen der Odalisken sprühen, und sah im Geiste jene zwei zarten Hände, „die wie von Marzipan, und an denen es blitzte wie Karfunkel“, die knisternde Seide lauschend und vorsichtig theilen; sie vermuthete, daß die Fremde jetzt den Thurm bewohne. Das Cello hatte sie nicht wieder gehört. Sonderbar, schien es doch fast, als ob sich die Töne vor lautem Geräusch und lebhafterem Menschenverkehr versteckten! Seit Lilli’s Besuchen in der Stadt brachte beinahe jeder Abend eine Schaar junger Freundinnen, die den Thee bei Tante Bärbchen tranken; dann brannte bei einbrechendem Dunkel die Lampe in der Frühstückslaube, und man blieb, ganz gegen die Hausordnung der Hofräthin, meist bis um elf Uhr zusammen. In diesen Kreisen wurde der Name des Nachbars nie genannt, man respectirte streng Tante Bärbchens Wünsche; nur hier und da fragte wohl eines der jungen Mädchen flüsternd, ob Lilli den verrufenen Einsiedler nebenan noch nicht gesehen, eine Frage, deren Beantwortung sie geschickt zu umgehen wußte. Freilich wurde damit auch stets seine Erscheinung vor ihr inneres Auge heraufbeschworen, und obwohl sich ihr Gründe genug aufdrängten, in ihm einen Schuldbelasteten zu sehen, zuckte doch jedes Mal ein geheimes Weh durch ihr Inneres, und sie hatte mit einer Art von schmerzlicher Entrüstung zu kämpfen, wenn ein fremder Mund seinen Namen mit Verachtung nannte. Aber sie grübelte mit Recht nicht über diese ihr neuen, seltsamen Empfindungen, und wer sie sah, wie sie mit dem ganzen Behagen des Kindes ihre kleinen Füße in den hohen Graswuchs der Wiesenplätze versenkte, oder im Wettlauf den Berg hinaufflog, der ahnte nicht, daß im Grunde ihrer Seele ein verschwiegenes Etwas liege, aber so tief, tief drunten, daß nicht einmal die Augen einen Strahl davon wiederspiegelten.

Ein beträchtliches Stück des Buchenwaldes, der hinter dem Hause begann und welcher die von da an ziemlich steil in die Lüfte steigende Bergwand bedeckte, gehörte zu Tante Bärbchens Besitzung. Sauer hatte unter unsäglichen, jahrelangen Mühen einen Schlangenpfad durch das wildverwachsene Unterholz gebahnt, und dieser Weg war mit der Zeit sein Steckenpferd geworden. Wie die Hofräthin behauptete, hatte er die Massen großer, hübsch abgerundeter Bachkiesel, die den Weg befestigten, allmählich in den Rocktaschen hinaufgetragen. Der Pfad mündete hoch droben unter einer schönen Buche, an deren Stamm eine sehr dürftige, aus Aesten zusammengenagelte Bank stand. Dies Gesammtwerk seiner Hände und Ausdauer nannte Sauer stets mit unbeschreiblichem Pathos „die Anlagen“. Sein schmunzelndes Gesicht ließ sich nur schwer wieder in die ursprünglichen, würdevollen Falten bringen, wenn er sah, daß die jungen Damen vor dem Theetrinken erst noch einmal auf seinem Weg den Berg hinaufeilten, um frische Bergluft zu athmen und Jubelrufe hinauszuschicken in die weite Welt.

An einem Sonntagmorgen trat Lilli aus der Thür, die nach dem Walde führte. Sie war bis dahin nie allein droben aus dem Berg gewesen und hatte dies jedes Mal unangenehm empfunden; denn das oft sehr gedankenlose Plaudern und laute Lachen ihrer jugendlichen Begleiterinnen störte häßlich die feierliche Stille, den geheimnißvollen Reiz des Waldes. Heute wollte sie droben sein, wenn die Kirchenglocken der Stadt anhoben; sie hatte sich deshalb von dem sonst unerläßlichen Gang zur Kirche bei Tante Bärbchen frei gemacht. Während sie die Thür hinter sich schloß, fiel ihr Blick unwillkürlich auf das Thurmfenster des Nachbarhauses, die Vorhänge waren in heftiger Bewegung. Offenbar war Jemand bei ihrem Aufblicken rasch vom offenen Fenster zurückgetreten; höchstwahrscheinlich die arme Gefangene, deren Augen vielleicht neidisch dem jungen Mädchen folgten, wie es flinken, ungehemmten Fußes den Berg hinauflief.

Lilli saß bald droben auf der Bank. Die prächtige Rothbuche stand wie ein vorgeschobener Posten ziemlich isolirt außerhalb des Waldes. Kurzer, trockener Graswuchs bedeckte den hier sehr steil abfallenden Berg; aber diese kurze Strecke zu Lilli’s Füßen sah aus wie eine niedrige, von einem verblichenen Teppich bedeckte Stufe, so täuschend schloß sich das blühende Gelände drunten im Thal an seine äußerste Linie. Das Sonnenlicht, ob es auch glühende Tinten über den unbedeckten Himmel, die gewaltigen Bergrücken und das Ackerland voll wogender Halme hinwarf, hatte noch wenig Macht über die thaufunkelnde Frische des Morgens. Drunten auf den Dächern der Stadt lagen noch Schatten und sonntägiges Schweigen; aber auf dem Heerd brodelte wohl der braune, erquickende Morgentrank; in einzelnen, leichten Wolken floh der Rauch aus den Schornsteinen, er zerstob sofort wie geblendet und erschrocken in der sonnenklaren Luft, oder flüchtete sich, von einem feinen Lufthauch getrieben in dünnen, durchsichtigen Streifen nach dem alten, finsteren Kirchthurm; allein auch da blitzte es eben hell auf über dem dunklen Schieferdach, ein Sonnenstrahl hatte den Thurmknopf erreicht und schlüpfte zugleich in die Luken der Glockenstube, und, als solle sich das tausendjährige ägyptische Wunder der Tonerweckung hier erneuen, schwebte in diesem Augenblick der erste Glockenklang hinaus in die Lüfte. Tauben und Dohlen verließen, entsetzt aufkreischend, das Thurmdach; noch einen Moment kreisten sie ängstlich über der Stadt und rauschten dann nahe an Lilli’s Füßen vorüber weit, weit hinaus, wo sie als sonnenbeschienene Pünktchen auf das Feld niedersanken. Lilli hatte ihren Flug verfolgt, aber dann kehrte ihr Blick geblendet zurück und haftete auf ihrer nächsten Umgebung. Neben der Bank lag ein großer Felsblock, vor Zeiten mochte ihn das Schneewasser vom Berggipfel herabgerissen haben; er hatte es in seiner isolirten, Wind und Wetter preisgegebenen Stellung für geeignet gehalten, sich in eine dicke, warme Moosdecke zu hüllen. Lange Brombeerranken kletterten über seinen Rücken, und an seiner Basis, da, wo die Sonne sich nicht breit machen durfte, zog sich ein Streifen frischgrüner Halme hin, zwischen denen sogar einige versprengte, zarte Waldblumen nickten. Die Moosdecke wimmelte von Käfern und anderem kleinen Gethier, das blutwenig von der Sabbathfeier zu wissen schien und sich rührig unter dem Urwaldsdunkel der Brombeerblätter tummelte. Lilli bog sich nieder und beobachtete sinnend und ergötzt diese kleine Welt voll wichtiger Geschäfte und Sorgen. Sie überhörte dabei, daß es plötzlich hinter ihr rauschte und knisterte, als ob ein starker Arm das Gestrüpp theile, zudem dämpfte der weiche Waldboden die sich nähernden raschen Schritte.

„Forschen Sie nicht nach Runenzügen; die alten Germanen haben einen Zauber hineingelegt, er könnte verderblich auf Sie zurückwirken!“ sagte plötzlich die Stimme des Blaubartes scherzend hinter ihr.

Hätte sich in diesem Augenblick die Erde vor ihr aufgethan, um unterirdische Gestalten emporsteigen zu lassen, sie hätte in keine größere Aufregung versetzt werden können, als durch die unerwartete Nähe dieses Mannes; aber trotz des heftigen Schreckens, der sie durchzuckte, blieb sie doch im ersten Moment unbeweglich.

„Ich gebe gern zu,“ fuhr er fort – die schwache Lehne der Bank erzitterte leicht unter seiner Hand – „daß auch die Steine reden können; muß man aber deshalb einer bittenden menschlichen Stimme sein Ohr verschließen?“

Welches Ausdrucks war doch gerade diese bittende menschliche Stimme fähig! Lilli hatte den Kopf noch nicht nach ihm umgewendet, und doch zweifelte sie nicht, daß, während seine Lippen zu scherzen versuchten, ein Blick voll Groll und Weichheit zugleich auf ihr ruhe. Aber jetzt galt es, diesen unerklärlichen Zauber für alle Zeiten abzuwehren. Die Warnung der Tante und ihre eigenen [467] kühnen Vorsätze standen mit einem Mal wie in riesengroßen Lettern vor ihr; sie erhob sich und wollte, ohne zu antworten, mit einer Verbeugung an ihm vorüberschreiten; ohne es zu wollen, sah sie dabei flüchtig zu ihm auf. Er stand, die Hand noch auf die Banklehne stützend, ernst und hoch aufgerichtet da; er machte nicht die geringste Bewegung, das junge Mädchen zurückzuhalten; allein in seiner ganzen Haltung lag plötzlich eine solche Hoheit, so viel Männerstolz, daß sie unwillkürlich ihre Schritte hemmte und den Blick senkte vor seinen sprühenden Augen, die weit eher strafend, als entrüstet auf sie niedersahen, während er mit beherrschter Stimme sagte:

„Ich habe nicht an unsere allgemeinen Umgangsformen appellirt, die, echt deutsch, pflichtschuldigst fremde Grimassen nachäffen, ich sage, nicht an sie habe ich appellirt, wohl aber an die Höflichkeit des Herzens, als ich abermals wagte, Sie anzureden. … Ich würde mich bescheiden und einen neuen Irrthum in meinem Leben beklagen, wüßte ich nicht zu viel von Ihnen… Aber ich weiß, daß Sie dem Alten, der allwöchentlich sein Almosen bei der Hofräthin Falk holt, mit liebenswürdigem Lächeln seine kindischen Fragen beantworten und in unerschöpflicher Geduld sein Klagen anhören und ihn zu trösten suchen; ich weiß, daß Sie die seltene Gabe haben, in verbindlicher und schmeichelhafter Weise zuzuhören, wenn die alten Freunde Ihrer Tante sprechen, und stets schlagfertig und mit Geist zu antworten wissen, sobald Sie in das Gespräch gezogen werden; ich weiß ferner, daß Sie Ihre Umgebung voll sprudelnden Muthwillens necken, und daß Sie lachen, so lieblich und herzerquickend lachen können, wie ein Kind, das noch keinen Raum hat für Haß und dergleichen unselige Dinge. Ich weiß … doch wozu noch fernere Beweise! Es genügt, zu wissen, daß Sie dies Alles vor mir zu verleugnen suchen. … Noch halte ich den glücklichen Wahn fest, ja, ich bin selbst bewußt genug, zu denken, daß diese Unfreundlichkeit nur in dem leidigen Dorn’schen Familienzwist wurzelt. … Ich sah Sie auf den Berg gehen und bin Ihnen gefolgt, um Sie daran zu erinnern, daß ich noch eine Frage gut habe; lassen Sie mich dieselbe in eine Bitte umwandeln: Uebernehmen Sie die Vermittlung zwischen der Hofräthin Falk und mir und bewirken Sie eine mir sehr wünschenswerthe Aussöhnung.“

Er hatte in sehr ernstem, nachdrücklichem Ton gesprochen, und es kam ihr vor, als sei sie heute zum ersten Mal in ihrem Leben mit allem Recht und in sehr beschämender Weise gescholten worden… Aber wer war es, der sich unterstand, sie zur Rechenschaft zu ziehen für ihr Benehmen? Seine Beweisführung erschreckte und verdroß sie zugleich; wie kam er dazu, alles das zu wissen? Hatte er sich unterfangen, Erkundigungen über sie einzuziehen? … Und nun fußte er gar auch noch auf diesem unehrenhaften Spionirsystem und appellirte im Hinblick auf seine Aushorchereien an ihre menschenfreundlichen Gesinnungen! … Wieder trat Tante Bärbchens Warnung vor ihre Seele und die Gestalt der geheimnißvollen Unbekannten schwebte mahnend an ihr vorüber… Sie warf den Kopf zurück mit jener allerliebsten Bewegung, die Trotz und Opposition in jeder Linie ausdrückte; dabei vermied sie jedoch wohlweislich, in das Gesicht des „unberufenen Moralpredigers“ zu sehen, und somit entging ihr das entzückte Lächeln, das einen Moment seine Lippen umspielte. Um ihm zu beweisen, daß sie seinem „großmüthigen“ Auftrag sehr wenig Gewicht beilege, schlug sie geflissentlich einen leichten Ton an, und es erfüllte sie mit großer Genugthuung, daß ihr sogar, diesen durchdringenden Augen gegenüber, eine Beimischung von Ironie vortrefflich gelang, indem sie entgegnete:

„Zu dieser Mission gehört ein muthiges Herz. Bei Ihren eben entwickelten merkwürdigen Kenntnissen aber sollten Sie vor Allem wissen, daß ich ganz und gar nicht tapfer bin, und z. B. ein entsetzliches Grauen vor allen Fehlbitten habe… Es ist sehr unhöflich von mir, Ihre Appellation an die Höflichkeit meines Herzens zurückzuweisen, ich sehe das ein; aber ich weiß auch, daß ich vor Tante Bärbchen nicht einmal Ihren Namen, geschweige denn die Bitte um Vergeben und Vergessen aussprechen darf.“

„Wer spricht auch von Vergeben und Bitten! … Wie das herb und verletzend klingt!“ unterbrach er sie rauh und auflodernd. Mit derselben Anstrengung jedoch, wie neulich beim ersten Begegnen, suchte er seiner Aufregung Herr zu werden; nach einem einmaligen raschen Auf- und Abschreiten blieb er mit verschränkten Armen vor dem jungen Mädchen stehen.

„Man ruft Sie Lilli,“ sagte er gepreßt, „selbst die harte, schwerfällige Stimme der Hofräthin Falk klingt mir sympathischer, wenn sie diese zwei weichen, süßen Klänge ausspricht… Wer das Wesen sieht, dem dieser Ruf gilt, der möchte an ein Blumendasein denken, das geschaffen ist zur Freude und erquickenden Augenweide der Menschen… Sie lieben offenbar dergleichen poetische Illusionen nicht, denn Sie bieten geflissentlich Alles auf, mir dieselben zu rauben … oder sollten Sie wissen, daß gerade in dieser Opposition, in dem Contrast zwischen einem kindlich zarten Aeußeren und einer stets verneinenden, trotzigen Seele Gefahren für Andere liegen, und – doch nein, nein,“ unterbrach er sich selbst in einem eigenthümlich reuevollen Ton, als habe er ihr einen schweren Verdacht abzubitten. Lilli hatte jedoch seine letzten Worte gar nicht verstanden; so scharf und durchdringend auch ihr Denken war, hier, wo die Erfahrung hauptsächlich das Verständniß herbeiführen mußte, genügte es nicht; ihre Gesinnungen waren zu rein und unschuldig, und deshalb ahnte sie nicht einmal, daß er sich in seiner Gereiztheit hatte hinreißen lassen, sie der Koketterie zu beschuldigen. Er hatte sich abgewendet und schwieg einen Moment.

„Also förmlich verfehmt und verpönt ist mein unglücklicher Name da drunten?“ frug er endlich mit bitterer Ironie, während seine Hand nach dem Haus der Hofräthin deutete. „Die alte Frau sollte doch bedenken, daß wir von einem Stamme sind, daß sie einst den Namen getragen hat, den ich führe.“

„Sie vergessen, daß auch dieses Band nicht mehr existirt – Sie sind von Adel.“

Bei diesem Einwurf des jungen Mädchens, der ziemlich herb klang, wandte er überrascht den Kopf und sah sie durchdringend an, aber gleich darauf erschien jenes sarkastische, überlegene Lächeln in seinem Gesicht, das stets ein Gemisch von Verdruß und Beschämung in ihr hervorrief.

„Die Hofräthin Falk hat mir allerdings noch sehr wenig Veranlassung gegeben, eine ganz besonders hohe Meinung von ihr zu gewinnen,“ entgegnete er, „allein zu ihrer Ehre will ich trotzdem gern glauben, daß sie die Ansprüche an den Adel der eigenen Gesinnungen nicht niedriger stellt, als ich, einen anderen Adel besitze auch ich nicht. Es giebt zwar Leute, die sich beharrlich einbilden, mich zu schimpfen, wenn sie nicht das harmlose Wörtchen ‚von‘ zwischen meinen Tauf- und Familiennamen schieben, aber mir selbst ist es nie eingefallen, Gebrauch von demselben zu machen und somit eine augenblickliche Schwäche meines Vaters immer wieder an die große Glocke zu schlagen.“

Er hielt inne und sah noch immer lächelnd auf Lilli herab, die, gründlich geschlagen durch diese Erklärung, ihre Augen betroffen am Boden haften ließ.

„Dies Band wäre also nicht zerrissen,“ fuhr er fort, „und ich halte es um so fester in meiner Hand, als es mich möglicherweise zu einem Ziel hinleitet, das ich um jeden Preis zu erreichen wünsche… Wir harmoniren zwar – so sehr Sie auch der Gedanke an die Möglichkeit einer Harmonie zwischen uns kränken mag – wunderbar im Betreff der Fehlbitten, allein, was den Muth betrifft –“

„So sind Sie jedenfalls tapfer genug, die Erfüllung Ihrer Wünsche zu erzwingen, Sie waren ja Soldat.“

„Ei, Sie wissen ja mehr von mir, als ich zu hoffen wagte. Uebrigens,“ fuhr er düster fort, „woran erinnern Sie mich, und noch dazu in diesem Ton des Hohns! Es giebt nichts Niederschlagenderes für den menschlichen Geist, als wenn er für eine schöne, hohe Idee gekämpft hat und schließlich den mit Blut erkauften Sieg in einem Netz selbstsüchtiger Berechnungen verkümmern und versanden sehen muß… Indeß, bleiben wir bei der Sache! Sie haben ganz recht, wenn Sie mich für beharrlich und im Nothfall energisch eingreifend halten, sobald es die Erreichung eines Zieles gilt, allein hier wäre jeglicher Zwang ein Todtschlag des Preises, denn er ist sehr idealer Natur. Wenn ich es also unternehme, das Haus der Hofräthin Falk ohne ihre Erlaubniß zu betreten, und trotz der zurückweisenden Haltung meiner Widersacherin persönlich einen Ausgleichungsversuch wagen will, so muß ich doch vor allen Dingen wissen, wie Sie über diesen Schritt denken würden.“

Lilli fühlte ihr Herz zittern schon bei dem bloßen Gedanken an die Möglichkeit dieses Schrittes. Sie kannte Tante Bärbchen genug, um zu wissen, daß sie nie die Hand zur Versöhnung bieten würde. Möglicherweise verzieh sie ihrem sogenannten Todfeind [468] die Demolirung des Pavillons, niemals aber, daß er ein Abkömmling der Hubert’s war. So ängstlich bemüht auch sonst die alte Dame war, Jedermann gerecht zu werden, hier hatte sie einen Punkt im Herzen, mit dem sie für alle Zeiten fertig zu sein glaubte, der völlig versteint war in seiner Isolirung und Unantastbarkeit; jede Nachgiebigkeit gegen die Hubert’sche Linie würde sie als eine tödtliche Beleidigung ihrer dahingeschiedenen Lieben angesehen haben. Welchen Auftritt mußte mithin das Erscheinen des verhaßten Nachbars in ihrem Hause zur Folge haben! Ein Gemisch von unsäglichem Bedauern und heftiger Angst überkam das junge Mädchen, indem sie sich die schroffe und rauhe Art und Weise vergegenwärtigte, mittels welcher die Hofräthin ohne allen Zweifel den Eindringling zurückweisen würde. Sie fühlte aber auch instinctmäßig, daß sie ihm dies seltsame Gefühl unaussprechlicher Theilnahme nicht zeigen dürfe, wenn sie ihn nicht geradezu bestärken wolle in seinem Vorhaben, und deshalb entgegnete sie so ruhig und beherrscht wie möglich:

„Ich habe Ihnen bereits gesagt, wie die Hofräthin Falk über Sie denkt; Sie können danach leicht bemessen, welche Aufnahme Sie finden würden. Jener Schritt wäre unter den obwaltenden Verhältnissen, gelind bezeichnet, eine Taktlosigkeit, die ich um so weniger entschuldigen würde, als sie für meine Tante nothwendig eine heftige Gemüthsbewegung herbeiführen müßte.“

„Diese Zärtlichkeit und ängstliche Fürsorge Ihres Herzens könnte in der That etwas Ergreifendes für mich haben, wenn sie nur nicht gar so – einseitig wäre,“ sagte er mit beißender Schärfe, „aber, um die Seelenruhe der alten Dame vor einer momentanen Schwankung zu behüten, wären Sie im Stande, andere unglückselige Menschenseelen in Verzweiflung und Elend zu stoßen… Wenn ich Ihnen nun sage, daß mich eine unbezähmbare Sehnsucht nach jenem alten Hause zieht, eine unwiderstehliche Macht, die mich schon längst alle Rücksicht vergessend, über seine Schwelle getrieben hätte, wären nicht – ja, wären nicht zwei Augen, die bei dem leisesten Annäherungsversuch so unsäglich kalt blicken können, und kennte ich nicht so verzweifelt genau jenes unheilvolle Zurückwerfen des Kopfes, das da entschieden und unwiderleglich sagt: weiche zurück, ich habe nichts mit dir zu schaffen! … Sie sehen, daß die Kühnheit und Zuversicht des Soldaten, Eigenschaften, die Sie vorhin in so spitzer Weise hervorhoben, trotz der überstandenen Feuerprobe, nicht in allen Fällen zum Durchbruch kommen.“

Er war, während er sprach, wieder mehrere Male rasch auf- und abgeschritten; seine Hände kreuzten sich auf dem Rücken, wobei Lilli bemerkte, daß die Finger in unaufhörlicher, fast krampfhafter Bewegung waren. Welche Scala der Leidenschaft, durchwandelte seine Stimme beim Sprechen! Und das Gemisch von Vorwürfen, Zorn und unaufhaltsam durchbrechenden inneren Leiden suchte er immer noch unter einer Art wilden Humors zu verstecken, eine völlig vergebliche Anstrengung, die Alles, was er sagte, nur um so bitterer erscheinen ließ.

Lilli gerieth allmählich in immer größere Aufregung. Es lag etwas wunderbar Fesselndes in der Erscheinung, die, von mächtiger innerer Bewegung getrieben, da vor ihr hin und wiederschritt; aber noch klangen, wenn auch leiser und ferner, die Mahnungen der Tante durch ihre Seele, und in dem Moment, wo sich ihr einige milde, versöhnliche Worte auf die Lippen drängen wollten, fiel ihr Blick auf einen glitzernden Gegenstand, der drunten durch das Gebüsch schimmerte: es war das Thurmfenster. Der Gedanke an die zwei weinenden Augen hinter den seidenen Gardinen drang wie ein Dolchstich durch ihr aufwallendes Herz und gab ihr sofort die Besonnenheit und Kraft zurück, den Anschein völliger Ruhe und Kälte festzuhalten.

„Sie finden natürlich die Unbeugsamkeit und Härte der alten Frau vollkommen gerechtfertigt?“ fragte er, plötzlich wieder vor dem jungen Mädchen stehen bleibend.

„Ich verdenke es ihr wenigstens nicht, wenn sie sich gegen einen Verkehr sträubt, der ihr nicht wünschenswerth ist.“

„Sie würden mithin ebenso handeln, auch wenn Sie damit ein menschliches Herz auf den Tod verwunden sollten? … Wo bleibt da die christliche Liebe?“

„Nun, ich denke, ein wenig Willensfreiheit müsse uns auch diesem Gebot gegenüber verbleiben.“

„Und kraft dieser Freiheit haben Sie beschlossen, mich meinem Schicksal zu überlassen?“

„Ich kann nichts für Sie thun.“

„Ist das Ihr letztes Wort?“

„Mein letztes!“ rief sie zurück, denn sie war bereits einige Schritte den Berg hinabgeeilt. Drunten aus dem Gebüsch tauchte Sauer’s grauer Kopf auf; der alte Diener machte die Meldung, daß eine junge Dame aus Lilli’s Bekanntenkreise im Hause warte. Sie folgte ihm tiefaufathmend, fand aber nicht den Muth, noch einmal dort hinaufzublicken, von wo die letzte Frage schneidend wie ein Weheruf herabgeklungen war.

(Schluß folgt.)




Scenen und Bilder aus dem Feld- und Lagerleben.
5. Am Saume des Nachoder Wäldchens.


Da liege ich hier auf der blanken Diele, die nichts weniger als blank ist, und quäle mich vergeblich ab, das kleine Ding von Trommel als Schreibtisch zu benutzen, um Ihnen wieder ein Lebenszeichen von mir zu geben. Gesund bin ich, Gott sei Dank, geistig und körperlich, aber wo ich mich befinde? – in einem böhmischen Dorfe, heißt – ja, wie – eine große Anzahl unaussprechbar zusammengesetzter Consonanten und daran ein itz gehängt. Wenn ich von Dielen sprach, so war dies freilich ein idealisirter Ausdruck, denn erst nach Abräumung einer dicken Schicht vegetabilischer und animalischer Reste stößt man auf Spuren einstiger Holzdielung, und die Merkmale eines Zimmers bestehen einzig in den leeren Löchern für Thüren und Fenster, aber das Dach ist noch heil und so bivouakirt man unter dessen Schutz.

Wir haben wieder viel erlebt, seitdem ich nicht geschrieben. Freilich ist Nachod längst vorüber und die Berichte aller nachfolgenden herrlichen Schlachten sind Ihnen jedenfalls bekannt. Nichtsdestoweniger bleiben selbsterlebte Details stets interessant, zumal sie dazu beitragen, das Räthsel preußischer Schlagfertigkeit zu lösen, die mächtigen Resultate auf factische Motive zurückzuführen. Die kolossalen strategischen Fehler, welche der Feind gleich bei Beginn der Feindseligkeiten beging, stärkten in uns die Zuversicht. Während jeder Tambour bei uns begriff, daß die böhmischen Pässe für uns hätten verderblich sein müssen, zögerte der Feind mit den betreffenden Maßregeln, verließ sich auf seine Spionage und that uns den Gefallen, uns und unsere Führer gering zu schätzen. Die Lehre, den Gegner stets für vollkommen zu halten, war dem Feinde fremd, und dieser Mangel sollte ihm verderblich werden.

Am Abend des 25. Juni hatten wir, das heißt die Avantgarde des alten Löwen Steinmetz, die Pässe nördlich von Nachod mit der äußersten Vorsicht durchschritten, wir glaubten in jedem Augenblick ein vernichtendes Feuer aus irgend einem Hinterhalt, von irgend einem Felsen her zu bekommen. Jeder von uns fühlte den Ernst des Augenblicks, Jeder fühlte den Tod unmittelbar über sich schweben und eine feierliche Stille herrschte in den Reihen. Hing doch von uns das Gewinnen der Pässe, die Sicherheit der Armee ab, und wir waren stolz auf unsere Aufgabe. Wohl mußten unsere Seiten-Patrouillen auf Feinde stoßen, denn alle Augenblicke knatterten Schüsse und jeder Schuß, so glaubten wir, verkündige den feindlichen Ueberfall. Ein prüfender Blick auf das treue Gewehr und entschlossen vorwärts! Aber nichts vom Feinde, außer einigen größeren Patrouillen, die nur einmal mit zwei Geschützen erschienen, von uns aber mit leichter Mühe und ohne Verlust unsererseits verjagt wurden. Endlich detachirten wir und – ich kann es wohl gestehen – ein Stein fiel uns Allen vom Herzen. Begreifen konnten wir das Unglaubliche freilich nicht.

Wir bivouakirten und patrouillirten die ganze Nacht fleißig gegen Nachod und Skalitz hin, ohne vom Feinde etwas Bedeutendes zu entdecken. Die Nacht verging auch ohne besondere Ereignisse. Am nächsten Morgen des 27. Juni stand uns die schwierige Aufgabe bevor, das lange Defilé südlich von Nachod

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Am Saume des Nachoder Waldes.

[470] zu passiren. Würden die Oesterreicher wiederum geduldig zusehen oder uns eine große Falle bereiten? Der ganze Engpaß, eine Straße, auf der kaum zwei Wagen nebeneinander fahren konnten, welche ein Abbiegen von der Straße durchaus unmöglich machte, war dicht gefüllt von einer ganz unabsehbar langen Colonne von Cavalerie, Geschützen, Wagen jeder Art, Infanterie, Munitionscolonnen etc. Nur eine energische Disciplin, wie die preußische, konnte hier Ordnung festhalten und den Marsch ohne Aufenthalt fortsetzen. Allein ein starker Angriff hätte eine Katastrophe herbeiführen müssen, denn an ein Umkehren war gar nicht zu denken. Diese Gefahr verstand jeder unserer Leute zu würdigen, wir brauchten unsere Patrouillen nicht erst darauf aufmerksam zu machen, und so rückten wir, die Avantgarde unter General von Löwenfeld, mit wirklich indianischer Vorsicht weiter. Die braven Siebenunddreißiger und Achtundfünfziger, die fünften Jäger, die ersten Ulanen und vierten Dragoner, Alle fühlten sie sich stolz über die hohe Wichtigkeit der Aufgabe. Plötzlich gingen zwei Dragoner im leichten Trabe vor, bis zum Ausgange, wo sie hielten und sich umschauten. Sie mußten wohl etwas Besonderes bemerkt haben, denn der eine sprengte im Galopp zurück und General v. Löwenfeld ihnen entgegen. Jetzt endlich ist der Moment da! Die Adjutanten fliegen. Zwei Schwadronen gehen im Galopp vor, sie marschiren, so wie sie Platz haben, in Schwadronsfront auf und – richtig, der Kampf ist da. – Ventre à terre fliegen die Dragoner gegen einen überlegenen angreifenden Feind, zwei Schwadronen gegen zwei Kürassier-Regimenter, ein Wagniß, was an Uebermuth grenzt. Dadurch gewinnen wir, fünfte Jäger- und die siebenunddreißiger Füsiliere, Platz. Im heftigsten Dauerlauf hinaus aus dem Defilé und im rasendsten Lauf hinein in ein links der Straße gelegenes Wäldchen. Hurrah, der Feind ist nicht darin, wir haben den Saum, und nun her, treue Zündnadel, jetzt den Cameraden Zeit und Luft geschafft!

Die Schlacht kam zum Stehen und ich gewann Zeit mich umzuschauen. Zudem waren wir auch gezwungen eine kurze Pause zu machen, denn die Läufe unserer Buchsen waren heiß wie ein Ofen und Schweiß, Staub und Pulverschleim klebten uns fast die Augen zu.

Erlassen Sie mir die Schilderung dieses furchtbaren Zusammenstoßes der Reiterschaaren. Die beiden Schwadronen kamen arg in die Klemme und wären sicher zusammengehauen worden, wenn nicht zur rechten Zeit die Zündnadelgewehre unserer Jäger und der Siebenunddreißiger und später noch eine Artillerieabtheilung von zwölf Geschützen – fünfzig feindlichen gegenüber – so wacker unter den Gegnern aufgeräumt hätten, daß nicht nur die Reiter, sondern auch einige der unangenehmsten Geschütze abschwenkten. Die 58er und 37er setzten sich zum Sturme an.

Es war elf Uhr früh, von uns waren bereits etwa sechszehn Bataillone und eine imposante Artillerie im Gefecht. Allein die Oesterreicher waren doppelt so stark. Das ganze Corps Ramming, darunter die eiserne Brigade, vier Jägerbataillone, die Windischgrätzjäger und Kürassiere fochten gegen uns. Sie wollten uns in’s Defilé zurückwerfen und dort vernichten. Wir aber überließen uns wirklich schon einer Art Sicherheit, und obschon wir von ferne her immer neue feindliche Streitkräfte heranziehen sahen, vermochte das nicht unsere momentane Ruhe zu stören. Ueberdies hatten wir Befehl, im Walde zu bleiben und weitere Zuzüge zu hindern. Wir lagen an dem Saume eines herrlichen Eichenwaldes und die prachtvollen alten Bäume gaben uns gastfrei nicht allein ihren Schatten her, sie schützten uns auch vor feindlichen Kugeln; üppige Farrenkräuter bedeckten dicht den Boden und das grüne Volk unserer Jäger fühlte sich so recht eigentlich in seiner Natur. Vor uns eine saftige Wiese und jenseits derselben die Straße nach Neustadt, die wir eben bestreichen sollten. Unterdeß wogte der Kampf fort, ohne daß wir viel sehen konnten, wir hatten uns hinter unseren dicken Bäumen verborgen zu halten, der Feind sollte das Holz für unbesetzt halten und wir mußten uns schon darein fügen, einstweilen nur den Donner der Kanonen zu hören. Unsere Leute streckten sich behaglich auf den weichen Teppich, den die Natur so freigebig ausbreitete, und erfreuten sich an den kärglichen Gaben ihrer Brodbeutel.

Auf dem rechten Flügel unserer Stellung befand sich in dem Saume eine breite Lücke von hohen dichten Farrenkräutern bedeckt. Auf diese Lücke kroch unser Hauptmann auf allen Vieren zu und bog die üppigen Kräuter zurück, um einen Blick in’s Freie zu thun. Wir selbst hatten natürlich zurückbleiben und nur der Hornist, der naseweise Patron, mißbrauchte sein Privilegium, stets in der Nähe des Hauptmanns sein zu müssen, um auch seine Nase aus dem Dickicht hervorzustrecken. Der Hauptmann mußte wohl Wichtiges sehen. Ein zischendes „Pst“ brachte uns auf, Jeder prüfte seine Büchse und gebückt schlichen wir zum äußersten Saum. „Kinder,“ sagt er, „dort auf der Straße kommt feindliche Verstärkung, eine Munitionscolonne, weiter hinten Infanterie, die dürfen wir nicht vorüberlassen. Camerad,“ wandte er sich an mich, „lassen Sie die erste Section Ihres Zuges Explosionspatronen zur Hand nehmen, ich werde es auch thun, nehmen Sie die drei ersten Wagen, ich nehme die folgenden. Wir wollen einige Wagen in die Luft schicken.“ Ein freudiges Gemurmel folgte. Die Sectionen versorgten sich mit Explosionspatronen und mit gespanntester Aufmerksamkeit erwarteten die Jäger Weiteres. Nochmals begab sich der Hauptmann an die Lücke; hinter ihm, die schußbereite Büchse zum Anschlage fertig, die Gruppen seiner Jäger. Die Colonne sollte erst so weit vor, daß ein Umkehren nicht mehr möglich. „Fünfhundert Schritt, Leute, Klappvisir, nehmt volles Korn und haltet mitten auf den Wagen. Bleibt aber gedeckt. Wir wollen ihnen eine Lehre geben. Ihr Andern schießt noch nicht. Und nun, Feuer!“ commandirte er. Die Schüsse weckten das Echo des Waldes und drei Wagen explodiren! Große Verwirrung! Wer hätte geglaubt, auf diese Entfernung! Aber der Feind läßt sich dadurch nicht in Schreck setzen; rasch rasselt eine Batterie gegen uns herbei und im Nu kracht’s und schmettert den eisernen Hagel in die Eichen. „Achtung, Leute, Achtung vor den stürzenden Aesten, das Schießen geht uns nichts an, es gilt den Eichen. Nehmt die Bedienungsmannschaften auf’s Korn. Die Unterofficiere schießen auf die Officiere, die Flügelleute auf den Kanonier, der die Kartäsch einsetzt. Es war eine Freude, wie die Leute ihrem geliebten Hauptmann folgten. „So recht, Leute,“ rief er; „brav geschossen, Schmidt, da liegt er, dem Folgenden eine Warnung. Brav Kerls, diese Kanoniere, thun ihre Schuldigkeit!“

Die Batterie fängt an mürbe zu werden, denn unser Feuer vermindert sich nicht, und ihre Bedienungsmannschaft ist mächtig gelichtet. Da sprengt der Commandeur derselben vor die Front, ein tapferer Officier; er reitet näher zum Saume, um den Feind zu sehen, den noch Niemand zu Gesichte bekam. Ich sehe mir den Mann an. „Hertel,“ sagte ich leise, „Ihre Büchse, ich werde ihn selbst nehmen; Schmidt, nehmen Sie das Pferd, schießen Sie aber unmittelbar nach mir.“ Ein Doppelschuß! Pferd und Mann wälzen sich am Boden. „Hädeke, Sie Sacramentskerl, ich schicke Sie zur Reserve, wenn Sie nicht Ihre schlechten Witze lassen.“ Hädeke wird mäuschenstill, die Drohung wirkt.

Jetzt deployiren drei feindliche Bataillone, und drei lange Linien avanciren im Sturmschritt (tambour battant) auf den Saum los. Jede Compagnie, heißt es, nimmt ein Bataillon, die vierte Compagnie behält die Batterie. „Holla, Jäger,“ rief der Hauptmann, „jetzt gilt’s Ruhe; Hertel, ich behalte Ihre Büchse noch, geben Sie mir Patronen. Sergeant Friedrich und Oberjäger Heinz, nehmen Sie den Commandeur; die Unterofficiere und besten Schützen die Officiere; da wo kein Bajonnet blitzt, da ist ein Officier. Vierhundert Schritt, Leute, erste Klappe, Schulterhöhe.“ Ein mörderisches, ein vernichtendes Schnellfeuer beginnt, fast jede Kugel rafft ihren Mann; aber die braven österreichischen Bataillone wanken nicht, sind ebenbürtige Feinde und entschlossen, uns mit dem Bajonnet zu vernichten. Noch dreihundert Schritt! Plötzlich bei uns das Signal „Gewehr in Ruh“. Kein Schuß mehr. „Teufel, wir werden doch nicht zurückgehen!“ Entsetzliche Stille. „Richtig, sie bringen uns ihre Fahnen,“ meint Hädeke, der selbst in diesem furchtbaren Moment seine Bemerkungen nicht unterdrücken kann.

„Aufgepaßt, Leute,“ ruft der Hauptmann, „herunter die Klappe. Dreihundert Schritt – Standvisir – Brusthöhe – legt an – Feuer! – Geladen! – Brusthöhe – legt an – Feuer! – Geladen!“ Die Salven krachen durch den Wald, die feindliche Batterie speit, wenn auch nur noch spärlich, Kartätschen und Vollkugeln. Dicke Aeste prasseln herab, und unsere Verwundeten werden zurückgeschafft. Die Farrenkräuter sind jetzt mit Blut gefärbt, und zwischen dem Krachen unserer Salven hört man die dumpfe Trommel der stürmenden Bataillone. Der Pulverdampf nimmt die Aussicht, aber der Feind avancirt! Niemand denkt an die Möglichkeit eines Rückzuges. Kurze Pause. Der Dampf verzieht sich. Barmherziger Himmel, ist das der Rest [471] des Bataillons? Die Linie ist nicht mehr halb so lang, aber dicht geschlossen und im Avanciren. Brave Soldaten, diese Oesterreicher namentlich die deutschen Regimenter. „Aufgepaßt, Leute,“ ruft wieder der Hauptmann – „einhundertundfünfzig Schritt, – Standvisir – Bauchhöhe – legt an – Feuer! – Geladen – Bauchhöhe – legt an – Feuer! – Geladen! Heraus jetzt mit dem Bajonnet,[1] flink, ihr Jäger, heraus aus dem Saume und nach dem rechten Flügel fest geschlossen. Bataillon, vorwärts Marsch! Zur Attake Gewehr rechts! Fällt’s Gewehr! Marsch, Marsch! Hurrah!“ Und der Rest der Jäger-Compagnie stürzt sich auf den Rest des stürmenden Bataillons.

Den Kampf mit dem Bajonnet mag ich Ihnen nicht schildern, er ist entsetzlich. Aber in dem Augenblick empfindet man das Entsetzliche nicht, man sprüht eben selber Vernichtung. Der Feind, zu drei Viertel vernichtet und völlig erschüttert, hält den Anprall nicht aus; nach kurzem Kampfe weicht er. Hurrah, Hurrah! ihm nach unsere Jäger. Leider sind die feindlichen Fahnen unerklärlich verschwunden, verschwunden auch die Batterie, die uns so viel zu schaffen gemacht. Auf allen Punkten beginnt der Rückzug des Feindes und wir, die wir die Ehre der Avantgarde gehabt hatten, verfolgten ihn zunächst. Dabei kamen wir wiederum mit demselben Bataillon Siebenunddreißiger zusammen. Wirklich, es giebt bei uns gar keine ausnahmsweise Bravour, denn die höchste Bravour ist bei unsern Leuten ausnahmslose Regel. Wir denken Wunder was geleistet zu haben, da erfahren wir, daß dies eine Bataillon ein Dorf zwei Stunden lang gegen eine ganze Brigade, d. h. gegen sechs tapfere Bataillone, gehalten habe, und bescheiden senkten wir unsere Augen. Dagegen war unser Thun Nichts. Aber kein Neid, eine warme Brüderlichkeit durchzog unsere Herzen, und Füsilier und Jäger umarmten sich, als ob zwei treue Freunde nach langer Trennung sich wiederfänden. In der That wiegen solche Stunden Jahrzehnte auf und bleiben unvergeßlich.

Wir bezogen ein Bivouak gegen Skalitz hin und kamen für diese Nacht zum Gros, um ungestörte Ruhe zu genießen. Mein Herr, eine solche Nacht auf der harten Erde, den blauen Himmel über sich, bedeckt mit dem Palletot, inmitten lieber Cameraden, das Bewußtsein treuer Pflichterfüllung im Herzen, eine solche Nacht, sage ich Ihnen, wiegt alle Gefahren, alle Strapazen auf. Die harte Erde verwandelt sich in weiche Daunen, süßer Schlaf stärkt den erschöpften Körper und der freundliche Traumgott führt uns zu den theuren Unsrigen, die für uns beten und arbeiten.

An diesem Briefe, mein Herr, habe ich zehn Tage geschrieben, meist auf einer Trommel, da ich meist mit Infanterie zusammenlag, zuweilen auf dreibeinigen Tischen. Ob Sie es werden lesen können, weiß ich nicht. Noch weniger weiß ich, ob Ihnen die Sache interessant erscheint. Wenn seitdem auch Großes geschehen, so wird mir das Bild an dem Saume des Waldes stets unvergeßlich sein, und Nachod war das erste bedeutende Gefecht, hier lernte der Feind uns und unsere Waffen kennen, seitdem sind wir „verflixte Preußen“, und ich kann wohl sagen, Nachod bereitete Königgrätz vor.




Ausplaudereien aus der Apotheke.
4. Das Quecksilber und seine Salben als Volksheilmittel.


Mit achtundsechszig Briefen bin ich von den Herren Apothekern in Folge der ersten drei „Ausplaudereien“ beehrt, erfreut und zum Theil insultirt worden. Sonderbarer Weise hat aber die große Mehrzahl aller dieser Herren meine Ausführungen als persönliche, gegen sie und „ihren Stand“ gerichtete, natürlich höchst ungerechte Angriffe aufgefaßt. Ja, man ist soweit gegangen, mich zu beschuldigen, daß ich im Solde eines Geheimmittelkrämers stehe, ohne zu bedenken, daß ich doch seit einer Reihe von Jahren bereits unermüdlich und in zahlreichen Schriften gegen den Geheimmittelschwindel angekämpft und namentlich in meinem Buche „Naturwissenschaftliche Blicke in’s tägliche Leben“ Aufklärungen über die Geheimmittel in die Familien zu bringen gesucht, also mindestens indirect für den Vortheil der Apotheker gewirkt habe. Fast ohne Ausnahme legen die Apotheker darauf Gewicht, daß sie bei der immer mehr zunehmenden Bedrängniß und Misere ihres Gewerbes gar nicht anders können, als den Verkauf jener Gegenstände auszuüben oder ihm doch den Willen zu lassen; damit sehen sie meine Darlegungen natürlich als Schädigung ihrer Interessen an. Hiergegen protestire ich ganz entschieden: denn, sobald die Leute nicht mehr Werthloses und Ueberflüssiges kaufen, holen sie dafür wirksame Heilmittel und in jedem Falle müssen sie dennoch zu dem Apotheker ihre Zuflucht nehmen. Verluste entstehen den Apothekern also nimmermehr – wohl aber den Armen wesentliche Ersparungen bei wirklicher Abhülfe ihrer Leiden.

Ferner klammern sich fast sämmtliche Erwiderungen der Apotheker mit wahrhaft krampfhaftem Triumph und Ingrimm an die „Unrichtigkeiten“ in meinen Artikeln; mindestens, so behaupten sie jederzeit den eclatantesten Angaben gegenüber, sei in ihren Apotheken dergleichen unerhört. Auch hat man mich kategorisch „zum Beweisen“ meiner Aufstellungen aufgefordert. Ich muß hiermit gern zugeben, daß theils in Provinzialismen, theils in einseitiger Auffassung einiges Unrichtige und nicht allgemein Gültige sich darin befindet; allein Niemand wird die Behauptung wagen wollen, daß diese Aufklärungen im Ganzen nicht durchaus richtig seien. Im Uebrigen habe ich in ihnen ja mehrfach an das Publicum appellirt: man möge sich von den Thatsachen, ob dieser oder jener alte Unrath in den Apotheken noch verkauft werde oder nicht, durch Versuche doch selbst überzeugen! Freilich erwidert man, daß jeder dieser Stoffe doch „noch irgend eine Wirkung“ habe, doch noch für irgend einen Zweck zu brauchen sei, und ein Apotheker hatte eine bogenlange Erörterung eingeschickt, in der er die heilkräftigen Wirkungen von Schachtelhalm, Bärlappkraut, Wolfslunge, Mumie etc. auf das Gewissenhafteste erläuterte. Selbstverständlich liegt ja aber einer der Hauptzwecke der „Ausplaudereien“ gerade darin, das Publicum von den Ausgaben für solche werthlose oder mindestens überflüssige Stoffe zurückzuhalten.

Auch alle übrigen „Erwiderungen“ und „Erklärungen“ der Apotheker haben ohne Ausnahme am Ziele vorbeigeschossen. Entweder ergehen sie sich in Lamentationen über die derzeitige Misere des Geschäfts und das Unrecht, welches ihnen angethan wird, oder sie geben theils recht wissenschaftliche Ehrenrettungen der von mir geschmähten und gebrandmarkten, ihnen allerdings theuren alten Arzneistoffe, oder schließlich sie ergießen sich in bitterbösen Aergerausbrüchen über den „Literaten, der nichts davon versteht“, ohne zu bedenken, daß es doch wohl ein Fachmann geschrieben haben müsse. Wenn unter den zahlreichen „Erwiderungen“ eine einzige Abhandlung gewesen wäre, welche die in den drei ersten „Ausplaudereien“ aufgestellten Thatsachen Punkt für Punkt wirklich thatsächlich hätte widerlegen oder auch nur commentiren können, so würde dieselbe wahrlich sofort in der Gartenlaube abgedruckt sein.

Wenn aber andere, jedenfalls recht tüchtige und menschenfreundliche Apotheker einwenden, daß meine Ausführungen doch nichts nützen könnten, mindestens also überflüssig seien, so muß ich allerdings zugeben, daß „mit der Dummheit, die sich nicht belehren lassen will, selbst die Götter vergebens kämpfen“, und daß ebenso derartige Aufklärungen und Wahrheiten in die ihrer vorzugsweise bedürftige große Menge freilich kaum oder doch nur sehr spärlich dringen. Doch Niemand wird es bestreiten können, daß auch in den Kreisen der „Gebildeten“ nur zu viele und beklagenswerthe derartige Düsterkeiten noch herrschen. Und wenn nun von den Hunderttausenden der Gartenlaubenleser nur der hundertste Theil meine Aufklärungen gelesen, von ihnen aber wiederum nur ein Zehntel sie beherzigt und in die große Masse zu tragen gesucht, [472] dann dürften meine Artikel völlig ihren Zweck erreicht haben und ihre Resultate wahrlich als befriedigende erachtet werden.

Gern erkläre ich noch, daß ich den Stand der Apotheker hoch achte und für einen viel zu wichtigen halte, als daß ich zu seinen leider hier und da ohnehin schon sehr großen Bedrängnissen irgendwie beitragen möchte. Man wolle es doch ja nicht außer Augen setzen, sondern stets von vornherein beachten: daß ich nur für das Publicum und nicht etwa gegen die Apotheker zu schreiben beabsichtige. In den obigen Auseinandersetzungen glaubte ich meinen Standpunkt und meine Absichten darlegen zu müssen, damit über dieselben sowohl das Publicum, als die Apotheker völlig im Klaren seien, bevor ich in meinen „Ausplaudereien“ fortfahren kann. –

Es giebt einige menschliche Leiden, bei denen der davon Heimgesuchte noch obendrein der Schande und Verachtung seiner Mitmenschen anheimfällt. Dies sind namentlich die sogenannten Schmutzkrankheiten. In ihrer Heilung, oder richtiger den gegen sie angewandten Mitteln, liegt aber zugleich eine außerordentlich große Gefahr für die Gesundheit und wohl gar für das Leben dieser Patienten. Dies bezieht sich auf die Quecksilber-Salben und sonstigen Präparate, welche gegen die den Menschenkörper äußerlich heimsuchenden Parasiten gebraucht werden.

Das gefährlichste von diesen Mitteln ist eine Salbe, welche aus salpetersaurem Quecksilberoxyd und Fett besteht und die gegen jene scheußlichen, winzigen Milben gebraucht wird, die in die menschliche Haut sich einnisten und den verächtlichen Ausschlag Krätze hervorbringen. Leider nur zu populär ist dies Mittel, das bezeugen seine zahlreichen Namen: Citronen-, Glogauer-, harte Krätz-, Lauk’sche, Niteröl- und Scheidewasser-Salbe, Jungfernfett etc., während es bekanntlich auch noch andere Krätzsalben unter fast unzähligen weiteren Namen giebt.

Diese gelbe Quecksilbersalbe, wie sie am richtigsten genannt wird, bereitet die Pharmacie, indem sie einen Theil Quecksilber in zwei Theilen reiner Salpetersäure durch Erhitzen auflöst, mit zwölf Theilen geschmolzenem Schweinefett vermischt und in Papierkapseln ausgießt. Die Salbe bildet gelbe Tafeln. Nur zu oft bereiten sich die Landleute dies Mittel selbst, entweder aber gelingt die Zubereitung nicht, oder sie machen die Salbe zu stark und in beiden Fällen kann eine große Gefahr entstehen. Unseres Erachtens sollte selbst in den Apotheken der Verkauf dieser Quecksilbersalbe nur unter den für sehr heftig wirkende Stoffe eingeführten gesetzlichen Beschränkungen gestattet sein. Vor der Selbstbereitung der Salbe aber sollte allenthalben recht ernstlich gewarnt werden. Wohl jedem Apotheker und Arzte sind bereits hier und da durch diese Salbe vorgekommene Unglücksfälle bekannt geworden. Namentlich bei Kindern, Frauen und andern Personen mit zarter Haut können durch ihre Einwirkungen Entzündungen, große, entsetzliche Wunden, wohl gar mit brandigem, tödtlichem Ausgang, hervorgebracht werden. Die Salpetersäure, „Scheidewasser“ und auch das metallische Quecksilber sind ja bekanntlich fast überall in den Apotheken zu haben; wenn wir nun hiermit ein gesetzliches Verbot Beider auch wohl schwerlich zu provociren vermögen, so sei es doch allen Apothekern an das Herz gelegt: um der Menschlichkeit willen die Landleute, welche die gelbe Quecksilbersalbe sich selbst bereiten wollen, dringend zu warnen oder ihnen die Ingredienzien lieber gar nicht zu verkaufen! Namentlich aber seien die Gutsbesitzer und Lehrer auf dem Lande auf diesen übeln Gast in armer Hütte aufmerksam gemacht, um ihm durch Belehrung und Aufklärung möglichst entgegenzutreten und so alljährlich sich wiederholende zahlreiche Unglücksfälle abzuwenden.

Auch die graue Quecksilbersalbe, welche aus nur mechanisch mit Fett zerriebenem, metallischem Quecksilber besteht, ist als Volksheilmittel gefährlich. In ihrer kräftigsten Zusammensetzung ist sie für die ärztliche Praxis sehr heilkräftig. Sie ist dann aber, als Unguetum Hydrargyri cinereum, bestehend aus sechs Theilen gereinigtem Quecksilber, vier Theilen Talg und acht Theilen Schweinefett, von so energischer Wirkung, daß sie ohne ärztliche Verordnung nicht verabreicht werden darf. Bedeutend verdünnt, d. h. mit alten und schlechten Fetten vermischt, ist sie die Läusesalbe des Handverkaufs in den Apotheken. Ihre Popularität als solche ist eine ungeheuere, wofür uns wieder ihre Namen zeugen: graue, Grind-, Kuckuks-, Material-, Mercurial-, Papageien-, zugerichtete Quecksilber-, Räuber-, Reiter- und Soldatensalbe, Annepotanne, blauer Umwand, Klokkenkling etc. In manchen Apotheken werden zu ihrer Bereitung noch verschiedene andere Stoffe, grüne Seife, mancherlei vegetabilische Pulver etc. gebraucht; auch wird sie ganz ohne Quecksilber (als Unguentium Pediculorum), blos aus Fett mit scharfen, den Parasiten schädlichen Pflanzenstoffen hergestellt. Wenn aber in einigen Apotheken, seiner Gefährlichkeit und des etwaigen Mißbrauchs wegen, das Quecksilber ganz fortgelassen, das bloße Fett mit Graphit graugefärbt und dann als Quecksilber- oder Läusesalbe verkauft wird, so ist die menschenfreundliche Absicht wohl anzuerkennen, allein dies „Geschäft“ doch keineswegs zu billigen, denn die armen, unwissenden Landleute erhalten wiederum für ihr sauer erworbenes Geld etwas durchaus Werthloses. Als vorzüglichstes Mittel gegen alle Parasiten, zu deren Bekriegung, respective Heilung der durch sie verursachten Hautausschläge man die vorstehenden beiden Quecksilbersalben gebraucht, hat sich, nebenbei bemerkt, neuerdings das Petroleum, als Einreibung an und für sich oder mit Fett zur Salbe bereitet, gezeigt, und dabei ist die Verwendung desselben zugleich durchaus gefahrlos.

Ebenfalls gegen die Krätze, doch auch zu anderen Zwecken wird auch die weiße Quecksilbersalbe häufig gebraucht und unter den Namen: Gliedergrind-, Handteller-, weiße Krätz-, weiße Nies-, Officier-, weiße Präcipitat-, weiße Principal- und weiße Schebsalbe, Champon, zugerichtetes Kupfer und weißer Scholajak gekauft. Da das in ihr enthaltene Quecksilberchloramid ein äußerst gefährlicher Stoff ist, so sollte sie im Handverkauf eigentlich ebenfalls gar nicht verabreicht werden.

Ungleich weniger bedenklich ist die rothe Quecksilbersalbe, welche bei vielen Wunden, sowie als Augensalbe für ein treffliches Haus- und Volksheilmittel gehalten werden kann. Auch gegen jene Parasiten wird sie hin und wieder gebraucht. Ihr gegenüber ist zu bemerken, daß man sie nur unter einem Namen kaufen wolle und nicht unter den folgenden, etwa mehrmals als verschiedene Mittel: rother Augenbalsam, St. Yve’s Augenbalsam, rothe Augensalbe, rothe Kopf-, rothe Präcipitat-, Principal-, Potes-Salbe und „Frevelthat“.

Andere Quecksilbersalben kommen als Volksheilmittel nicht in Betracht. Dagegen sei es uns vergönnt, jetzt das metallische Quecksilber selbst als solches zu beleuchten. Mit wahrhaft unbegreiflichem Leichtsinn gestattet die polizeiliche Gesetzgebung, die sonst doch so gern bevormundet, allenthalben den Verkauf von metallischem Quecksilber und die Landleute kaufen dasselbe, wie man sich leicht überzeugen kann, überall sehr fleißig aus den Apotheken, wo es in Federposen, mit Baumwachs verschlossen, verabfolgt wird. Außer den in der gelben Quecksilbersalbe, sowie in der Läusesalbe, sofern die Leute auch die letztere sich selbst zu bereiten verstehen, verborgenen, wahrlich nicht zu übersehenden Gefahren, liegt auch eine solche bereits von vornherein in der Handhabung des metallischen Quecksilbers. Wir führen das Folgende aus Dr. Hager’s Commentar zur preußischen Pharmacopöe hier an: „Das Quecksilber bildet einen farblosen Dampf und verdunstet schon bei gewöhnlicher Temperatur, wovon man sich überzeugen kann, wenn man eine Goldmünze über Quecksilber, welches sich in einer Flasche befindet, aufhängt. Das Gold überzieht sich nach einiger Zeit mit einer weißen Quecksilberhaut. Es erfordert beim Abwägen alle Vorsicht, weil es eine leichtbewegliche und zugleich schwere Flüssigkeit ist. Ueberhaupt sollte man mit Quecksilber nicht im Dispensirlocal oder gar in einem Wohnzimmer arbeiten. Das Metall, welches auf die Erde verschüttet wird, ist verloren und läßt sich nicht wieder aufsammeln, kann aber durch seine Verdunstung sehr nachtheilig auf die Gesundheit einwirken. Fühl- und sichtbare Zeichen dieser Einwirkung sind bleiches, kachektisches Aussehen, Schwindel, Eingenommenheit des Kopfes, Mattigkeit, Appetitlosigkeit, Entzündung und Anschwellung der Drüsen, Speichelfluß, Zittern der Glieder, Engbrüstigkeit, Lähmung, Schlagfluß. Die Einwirkung ist langsam schleichend. Beim unvorsichtigen innerlichen und selbst äußerlichen Gebrauch des Quecksilbers und seiner Präparate (selbstverständlich auch der Salben) tritt später oder früher Mercurialvergiftung ein, von welcher der Speichelfluß nur ein Theilsymptom ist.“ Bedenken wir nun aber, daß beim Zubereiten der Quecksilbersalben, für die Menschen oder das Vieh, in großen Massen, so manche Federpose voll zur Erde fällt und daß die kleinsten Kinder der Landleute dann die ganzen Tage auf dem Boden umherkriechen und den unheilvollen Dunst einathmen, wie wünschenswerth muß uns dann eine entschiedene Verbannung [473] desselben aus dem Hausgebrauchs erscheinen! Ja, eine einzige Federpose voll, die durch Ungeschicklichkeit vergossen wird und in die Ritzen sich verläuft, kann auf die Jüngsten des Bauernhauses schon sehr schädlich einwirken. Darum wolle man also die derartigen Salben jederzeit, für Menschen aus Fett und für die Hausthiere aus grüner Seife, nur mit Petroleum sich herstellen. Noch wirksamer gegen die Parasiten ist bekanntlich die Insectenpulvertinctur, ein Auszug jenes Pulvers mit drei Theilen Spiritus und einem Theil Wasser, den man sich leicht und billig selbst bereiten kann.

Wie alle Uebertreibungen beim Gebrauch von Arzneimitteln, so kann namentlich die bei der Anwendung von grauer Quecksilbersalbe sehr leicht traurige Folgen haben. Es ist ein bedauernswerthes, leider nur zu allgemeines Vorurtheil ungebildeter Leute, daß man durch recht große Portionen einer vom Arzte verordneten Arznei die Heilung beschleunigen, gleichsam erzwingen könne, während doch jeder Verständige einsehen muß, daß eben nur ganz genaue und pünktliche Befolgung der ärztlichen Vorschrift allein eine Wirkung des Heilmittels ermöglichen und herbeiführen kann! Fast bei keinem ähnlichen Mittel kann aber die übermäßige Anwendung so üble und nachhaltige Folgen bringen, wie bei der grauen Quecksilbersalbe, die, vom Arzte vielleicht zur Entfernung einer unbedeutenden Geschwulst verordnet, Quecksilbervergiftung, Speichelfluß und jahrelanges Elend hervorzurufen vermag. In ähnlicher, wenn auch nicht völlig so bedrohlicher Weise kann auch das Quecksilberpflaster gefährlich werden. Alle übrigen Präparate und Zubereitungen des Quecksilbers sind von vornherein so drastisch und furchtbar bedrohend, obwohl oft zugleich unersetzbar heilkräftig in ihren Wirkungen auf den menschlichen Körper, daß sie niemals ohne ärztliche Verordnung verabreicht werden dürfen und daher als Volksheilmittel gar nicht in Betracht kommen können.




Mein Bruder.
Episode aus dem gegenwärtigen Kriege.


Mit klingendem Spiele und fliegenden Fahnen zog am 16. Juni d. J. ein sächsisches Regiment durch die Straßen von Dresden. Die Regierung des Königreichs Sachsen hatte sich, wie bekannt, in dem bevorstehenden Kampfe auf die Seite von Oesterreich gestellt, und die sächsischen Krieger gingen, gehorsam dem Befehle ihres Landesherrn, entschlossen – wenn auch nicht immer gerade freudigen Muthes – den drohenden Gefahren entgegen, die eine ernste Zukunft wie in gewitterhafter Schwüle dem menschlichen Blicke noch verhüllte.

Der Zufall führte mich an dem genannten Tage mit einer jungen und interessanten Dame, die ich bei irgend einer Gelegenheit flüchtig kennen gelernt hatte, auf der Straße zusammen; sie hatte sich einen etwas versteckten Platz ausgesucht, von dem aus sie jedoch die vorbeimarschirenden Soldaten ziemlich gut sehen konnte. Als die letzten Reihen des die Stadt verlassenden Regimentes an uns vorübergezogen waren, bemerkte ich, daß meine junge Freundin, die ich Elise Martins nennen will, obschon dies nicht ihr richtiger Name ist, sehr still und ernst geworden war. Ich näherte mich ihr, und erhielt auf meine an sie gerichtete Frage, ob vielleicht ein lieber Freund oder ein naher Verwandter von ihr unter den so eben ausgezogenen Kriegern sei, die Antwort: „Ja wohl, mein Herr; mein einziger Bruder ist darunter. Ich hatte zwar schon Abschied von ihm genommen und ihm dabei versprechen müssen, daß ich zu Hause bleiben wollte; allein es duldete mich nicht daheim. So lange ich ihm in’s Auge blicken und seine liebe Stimme hören konnte, war ich voller Kraft und Muth; als sich aber die Hausthür hinter ihm geschlossen hatte und die nächste Ecke ihn meinen Blicken entzog, da war all’ meine Kraft dahin, mein Muth begann zu wanken und es war mir, als ob ich ihn niemals wiedersehen würde. Rasch nahm ich meinen Shawl und meinen Hut, und eilte auf die Straße. Ich suchte diese etwas verborgene Ecke auf, denn ich wußte ja von ihm, daß er und sein Regiment hier vorbeikommen würden. Ich habe ihn nun auch noch einmal gesehen und fühle mich jetzt etwas beruhigter.“

„Ich kann und will Sie nicht tadeln, liebes Fräulein,“ erwiderte ich, „mag der letzte Scheideblick, den Sie mit liebevollem Herzen Ihrem Bruder zusandten, ihm unsichtbaren Schutz und Schirm gewähren gegen die vielfachen Gefahren, die den Krieger bedrohen.“

„O möchte es so sein,“ antwortete meine junge Freundin, „allein Ulrich, so heißt mein Bruder, sagte nur zu oft und wohl mit Recht, daß einem Bruderkriege so leicht kein Heil entsprießen könnte. Zwar glaube ich nicht, daß ihn selbst je eine Art von Todesahnung befallen hat, aber er äußerte wiederholt und – wie ich fest überzeugt bin – mit voller Aufrichtigkeit, daß er mit Freuden sein Leben zum Opfer bringen wolle, wenn dem Vaterlande, unserem Sachsen und dem ganzen großen, schönen Deutschland dadurch ein Dienst erwiesen werden könne, Er war aber eigentlich stets mit sich im Zweifel, auf welcher Seite das wirkliche Recht sei, ob auf Seiten Preußens oder Oesterreichs. Er liebt unser schönes Sachsen von ganzem Herzen, aber über Alles geht ihm doch stets die Freiheit und Einheit Deutschlands. Seit er nun von mir geschieden, ist es mir immer, als ob eine innere Stimme mir zuriefe: ‚Dein Bruder wird ein Opfer dieses unseligen Krieges sein, in welchem Deutsche gegen Deutsche stehen und Bruderblut die deutsche Erde tränken wird!‘“

Ich wußte kaum, womit ich die verlassene, tief betrübte Schwester trösten sollte, doch suchte ich ihr das Gefährliche und Unberechtigte sogenannter Ahnungen auseinander zu setzen, und fügte hinzu, daß ich aus eigener Erfahrung, die sich im nordamerikanischen Bürgerkriege mehr als einmal gemacht, wüßte, wie häufig solche traurige Vorgefühle, selbst wenn sie einem gerechten Schmerze entsprängen, sich als falsche, leere Truggebilde herausstellten. Wir waren unterdessen in die Nähe ihrer Wohnung gekommen, und ich empfahl mich Fräulein Elise, indem ich ihre durch trübe Ahnungen hart erschütterte Hoffnung auf ein frohes und glückliches Wiedersehen mit ihrem Bruder, den sie mir fast abgöttisch zu lieben schien, frisch zu beleben suchte.

„Der Himmel stehe uns Frauen bei,“ sagte das tiefergriffene Mädchen, bevor wir uns trennten, „uns Frauen, die wir durch Natur und Erziehung weicheren und regelloseren Gefühlen unterworfen sind, als die Männer. Da sitzen wir zu Hause, und nähen und sticken, oder lesen auch wohl irgend ein unserem Geschmacke und unseren Neigungen zusagendes Buch; unseren Lieben aber, die da draußen den mühseligsten Anstrengungen und Märschen, Hunger und Durst, Gefangenschaft und Tod ausgesetzt sind, ihnen vermögen wir nicht zu helfen und in nichts beizustehen. Alles, was uns übrigbleibt, ist, unseren Thränen freien Lauf zu lassen und unsere heißesten Wünsche für die theuren Entfernten zum Himmel empor zu senden.“

Als ich meine Wohnung erreicht hatte, konnte ich lange nicht meine Gedanken regeln, immer kehrten dieselben zu Fräulein Elise Martins und der mit ihr gepflogenen Unterhaltung zurück. Endlich aber gelang es meiner Frau, welche – obschon in Preußen geboren – sich in Amerika eine gewisse praktisch-kosmopolitische Richtung erworben hat, die mir sonst ziemlich fremden sentimentalen Anwandlungen zu bannen. Dazu kam, daß wir, meine Frau sowohl wie ich, nahe und liebe Verwandte in der preußischen Armee haben, daß auch unsere Familie mithin durch den ausgebrochenen Bruderkrieg in tiefe Trauer versetzt, ja, daß möglicherweise einer der Unsrigen durch eine tödtliche Kugel gerade von Elisens Bruder in das unbekannte Jenseits gesandt werden konnte. Allein wir haben die Schrecken des Krieges in dem Secessionskampfe hinlänglich kennen gelernt und gaben uns darum schließlich der tröstlichen Hoffnung hin, daß hier, wie drüben in der neuen Welt, das Recht endlich doch siegen und „der Freiheit Rose“, wenn auch „aus blutbespritztem Grunde“, frisch und kräftig emporsprießen werde. – –

Seit meinem zufälligen Zusammentreffen mit Elise Martins waren etwa zwei Wochen vergangen. Die Preußen waren längst in Sachsen eingedrungen und hatten das ganze Königreich, ohne irgendwo Widerstand zu finden, in Besitz genommen. In der [474] Nähe von Dresden wurden verschiedene Schanzen aufgeworfen, wozu man Hunderte von Arbeitern aus Berlin hatte kommen lassen, und es hieß, daß man bei diesem Schanzenbau an manchen Stellen auf wohlerhaltene Schädel und Menschenknochen gestoßen sei. Es waren dies wahrscheinlich die Gebeine gefallener Krieger, welche nach der Schlacht bei Dresden am 26. und 27. August 1813 hier ihr gemeinsames Grab gefunden hatten. Ein entscheidendes Kriegsjahr hatte sie dem Schooß der Erde übergeben, ein nicht minder verhängnißvolles Kriegsjahr brachte sie wieder an das Licht der Sonne.

Es war am 6. Juli d. J., als ich hinausging, um mit eigenen Augen die Schanzarbeiten und die ausgegrabenen Gebeine anzusehen. Da es noch nicht spät war, als ich von diesem traurigen Ausfluge wieder heimkehrte, so beschloß ich, einem der verschiedenen Hospitäler, die in Dresden errichtet worden, einen Besuch abzustatten. Bei meinem Eintritte in das Hospital erblickte ich mehrere Damen, Frauen und Mädchen, die ebenfalls in die weiten Räumlichkeiten, welche mit verwundeten Preußen, Oesterreichern und Sachsen angefüllt waren, Einlaß begehrten. Nicht weit von mir saß, leidend und schwach, Fräulein Elise Martins. Einer der dienstthuenden Aerzte näherte sich ihr, vielleicht durch den Mitleid erregenden Schmerz, der sich in ihrer ganzen Haltung aussprach, dazu bewogen, und redete sie freundlich und mit theilnehmenden Worten an. Das junge Mädchen ergriff convulsivisch die Hand des Arztes und bat in wahrhaft rührender Weise: „Wenn Sie hier einigen Einfluß besitzen, mein Herr, so verschaffen Sie mir Einlaß zu den Verwundeten. Mein Bruder ist da drinnen, er ist schwer verwundet und ich möchte ihn so gern sehen und sprechen. Es ist schrecklich, ihm in seiner Noth so nahe zu sein, und doch so lange warten zu müssen, bevor ich zu ihm kommen und seine Leiden mildern kann.“

Der Arzt fragte nach ihrem und ihres Bruders Namen; nachdem er die Namen erfahren und eine in einem Buche verzeichnete Liste durchgesehen hatte, erwiderte er: „Ja, mein Fräulein, Ihr Bruder befindet sich, wenn ich nicht sehr irre, in diesem Hospitale; er scheint ein braver, junger Mann zu sein, aber er ist schwer, sehr schwer verwundet.“

„Er ist doch nicht tödtlich verwundet,“ rief mit angstvoll gepreßter Stimme die liebende Schwester, „o Gott, er ist doch nicht bereits todt?“

„Er lebt,“ beruhigte der Arzt, und fügte in ernster Weise hinzu: „treten Sie ein, mein Fräulein, doch nähern Sie sich ihm vorsichtig, oder besser, lassen Sie ihn durch eine der Wärterinnen auf Ihre Ankunft vorbereiten.“

Ich folgte dem jungen Mädchen nicht, denn ich wollte das erschütternde Wiedersehen in keiner Weise stören; ich ahnte die traurige Wahrheit und das geschehene Unglück, welches nunmehr durch Menschenmacht nicht abzuändern war. Ulrich Martins hatte, wie ich von dem menschenfreundlichen Doctor erfuhr, eine gefährliche Schußwunde durch die Brust erhalten und man hegte keine Hoffnung für seine Wiederherstellung; doch konnte ihm sein Leben bei richtiger Behandlung und guter Pflege immerhin noch längere Zeit gefristet werden.

Nach Verlauf von ungefähr zehn oder zwölf Tagen führte mich theils ein Auftrag meiner Frau, theils das Mitgefühl mit dem Unglück in die Wohnung meiner jungen Freundin. Ich fand dieselbe in tiefer Trauer, aber gefaßt und wunderbar ruhig an der Seite ihrer Mutter, einer alten, achtbaren Matrone. Es war nämlich den dringenden Bitten der Schwester gelungen, den schwer verwundeten Bruder aus dem Hospitale herauszubekommen und in die Wohnung der Mutter gebracht zu sehen. Ein möglicherweise wohlthätiger Schlaf hatte, gerade bevor ich eingetreten war, den Todkranken auf eine kurze Zeit seine Schmerzen vergessen lassen, und Mutter und Tochter saßen in der an das Krankenzimmer stoßenden Wohnstube, eifrig mit Charpiezupfen beschäftigt.

„Sehen Sie,“ sagte Elise, nachdem ich, ihrer Einladung folgend, auf einem mir freundlich angebotenen Stuhle Platz genommen hatte, „sehen Sie, daß meine Ahnung, die mir am 16. vorigen Monats, das Herz so schwer machte, nur zu schnell zur bittersten Wahrheit geworden ist. Zwar habe ich meinen Bruder wiedergesehen, aber welch’ ein Wiedersehen war dies! O, ein Hospitalzimmer voll verwundeter Menschen ist an sich schon ein grausiger und herzerschütternder Anblick, in welch’ erhöhtem Maße ist dies aber erst der Fall, wenn man einen geliebten nahen Verwandten, wenn man einen Bruder unter den dort leidenden Verwundeten sucht und findet! Ich weiß,“ fügte sie hinzu, „daß Sie Mitgefühl mit meinem Schmerze haben, und ich will Ihnen daher das traurige Schicksal meines einzig geliebten Bruders, wie er es selbst in Zwischenräumen – soweit seine Schwäche es zuließ – mir erzählte, mittheilen. Fürchten Sie nicht,“ sagte sie, einige Bemerkungen meinerseits widerlegend, „daß eine solche Erzählung mich zu sehr aufregt oder angreift, im Gegentheil, es beruhigt mich, wenn ich von meinem Ulrich zu Jemandem reden kann, von dem ich weiß, daß er meinen Schmerz mitfühlt und denselben zu würdigen versteht. Meine gute Mutter hat einen nothwendigen Gang, den ich ihr nicht gut abnehmen kann, von dem sie indessen bald zurückkehren wird, zu thun, und so würde es mir sogar sehr lieb sein, wenn Sie mir in deren Abwesenheit Gesellschaft leisten wollten.“

Ich erfüllte gern Elisens wehmüthige Bitte und blieb. Die alte Frau verließ uns nach wenigen Minuten und die Tochter erzählte mir nun Folgendes: „Mein Bruder erhielt seine Schußwunde in der Schlacht bei Gitschin (böhmisch Jicin.) Die Heeresabtheilung, zu welcher er gehörte, war auf einem Höhenzuge zwischen den Dörfern Brada und Diletz, nördlich von Gitschin und nahe der nach Turnau führenden Landstraße, aufgestellt. Am Nachmittage des unseligen 29. Juni griffen die Preußen mit voller Energie die feste Stellung, welche die Unsrigen bei Diletz genommen hatten, an; ein gewaltiges Granatfeuer empfing sie und schmetterte Tod und Verderben in ihre Reihen. Es ist bekannt, wie außerordentlich brav sich auch dort die Sachsen geschlagen haben. Allein auch die Preußen führten bald ihre Geschütze – um mit den Worten meines Bruders zu reden – gegen uns auf, und nun begann ein grausiges, die Erde erschütterndes Kanonenconcert. Trotz der muthigsten Gegenwehr von unserer Seite drangen die Preußen vor und richteten ihren Angriff direct gegen das Dorf Diletz, welches – wie mein Bruder meint – vornehmlich von sächsischen Bataillonen besetzt war und auf das Hartnäckigste vertheidigt wurde. Es verbreitete sich nämlich das Gerücht in den Reihen unserer Soldaten, daß König Johann selbst in der nächsten Nähe des Kampfes sei und die Gefahren seiner tapferen Krieger theilen wolle. Dies Gerücht trug aber nicht wenig dazu bei, daß sich unsere Sachsen in und bei Diletz mit so verzweifeltem Muthe schlugen. Das Sausen der Granatsplitter und das Pfeifen der Flintenkugeln, die hageldicht durch die Luft flogen, soll hier wahrhaft entsetzlich gewesen sein, noch entsetzlicher aber der Anblick und das Geschrei der verwundeten und sterbenden Thiere und Menschen. Aber noch immer war mein Bruder unversehrt geblieben, während die Hauptleute Fickelscherer und Klette, sowie auch der durch manche Eigenthümlichkeiten seines Wesens bekannte Hauptmann von Rex bereits im Kampfgetümmel gefallen waren und die Obersten von Boxberg und Ludwiger schwer verwundet auf dem blutgetränkten Schlachtfelde lagen. Unsere braven Soldaten vertheidigten mit wahrem Löwenmuth jede nur irgend haltbare Position; doch der Andrang der Preußen, die sich ebenfalls mit beispielloser Bravour schlugen, war unwiderstehlich. Das Dorf Diletz ging verloren und die Unsrigen wurden zum Rückzuge nach Gitschin gezwungen, wobei nun auch meinen Bruder sein Geschick ereilte. Das Kleingewehrfeuer der stets rasch und unaufhaltsam vorwärts dringenden Preußen war fürchterlich und ihre Zündnadelbüchsen lichteten die Reihen der Unsrigen in grauenhafter Weise. Die Kugeln flogen so dicht, sagt mein Bruder, daß es war, als wenn bleierner Sand haufenweise über die langsam sich zurückziehenden Sachsen und Oesterreicher ausgestreut worden wäre. Der Nebenmann Ulrich’s ward durch den Schenkel geschossen und rief ihn flehentlich um Hülfe an, aber gerade als er sich bückte, um dem verwundeten Freunde und Kampfgenossen beizustehen, traf ihn selbst die mörderische Kugel.“

Hier mußte Elise in ihrer Erzählung innehalten. Das Schmerzgefühl übermannte das starke Mädchen für einen kurzen Augenblick. Sie ging nach dem Krankenzimmer, um, wie sie vorgab, nachzusehen, ob etwa ihr Bruder auch aufgewacht sei und nach ihr verlange. Sie kam indessen bald zu mir zurück und fuhr also fort: „Was soll ich Ihnen nun noch weiter erzählen, lieber Doctor? Mein Bruder hatte, da die feindliche Kugel ihn nur zu wohl getroffen hatte, sein Bewußtsein verloren. Als er wieder zu sich kam, befand er sich, mit Blut überströmt, neben vielen anderen sächsischen und österreichischen Verwundeten in dem alten, wie man [475] sagt, von dem finsteren Kriegsmeister Wallenstein erbauten Schlosse zu Gitschin. Von dort ward er, sobald sein Zustand es irgend erlaubte, mit anderen Schicksalsgenossen hierher nach Dresden transportirt. Es ist mir, als wenn ich Sie am 6. Juli im Hospitale sah, ich weiß es aber nicht ganz genau, denn ich war an dem Tage kaum meiner Sinne mächtig. Die entsetzliche Nachricht hatte mich zuerst bis in’s Mark erschüttert. Es gelang mir, meinen Bruder aus dem Hospitale in unsere Wohnung zu bringen, damit er unter mütterlicher und schwesterlicher Pflege, wenn es sonst möglich ist, gesunden oder – wenn es anders im Buche des Schicksals geschrieben steht – in unseren Armen sein theures Leben aushauchen möge.“

Hier schwieg Elise und ich versuchte nun, soweit dies unter den Umständen zulässig und rathsam war, ihr Trost zu spenden und sie zu bestimmen, die Hoffnung auf ein Geheiltwerden ihres Bruders noch nicht aufzugeben.

Sie hörte mir eine Weile schweigend und nur hin und wieder mit dem Kopfe schüttelnd zu; dann aber unterbrach sie mich, indem ein eigenthümliches, melancholisches Lächeln über ihr Antlitz dahinzog, mit den Worten: „Mein bester Herr Doctor, versuchen Sie jetzt, in diesem Augenblick, nicht, mich weiter zu trösten. Ich selbst gebe, so lange nur noch die geringste Möglichkeit einer Heilung übrig bleibt, die Hoffnung auf eine Wiederherstellung meines einzig geliebten Bruders nicht auf. Im Uebrigen aber muß mir auch wohl, wie allen Schmerzbedrückten, der wahre Trost aus mir selber kommen. Nur Eins möchte ich Ihnen doch noch anvertrauen und von Ihnen hören, ob Sie, nachdem Sie mein Bekenntniß vernommen haben werden, mich verdammen oder entschuldigen.“

Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort: „Wundern Sie sich nicht über das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, und auch nicht darüber, daß ich es Ihnen überhaupt sage. Doch hören Sie. Bis gestern habe ich geglaubt, daß ich die Liebe meines Bruders nur mit meiner guten Mutter zu theilen hätte. Gestern Abend aber, es war wohl gegen elf Uhr und das furchtbare Gewitter, welches über die Stadt dahinzog, hatte so ziemlich ausgetobt, da rief Ulrich mich an seine Seite und sagte mit seiner lieben, aber ach, nun so schwachen Stimme: ‚Meine gute, meine herzige Schwester, wenn es geschehen sollte – und ich bin darauf‘ gefaßt, daß es geschieht – daß ich Euch für immer verlassen muß, dann, – ich bitte Dich recht herzlich darum, dann nimm das kleine Medaillon, welches man bei mir finden wird, an Dich; es enthält eine Locke von – (hier nannte er den Namen einer mir wohlbekannten Dame), und sage ihr, daß ich es bis zu meinem letzten Athemzuge treu auf meinem Herzen getragen. Sei und bleibe ihre Freundin im wahren Sinne des Wortes und trage das kleine Vermächtniß zu ihrem und meinem Angedenken.‘ Als ich ihm unter Thränen versprochen hatte, seinen Willen zu erfüllen, wandte er sein Haupt und schlief wieder sanft und ruhig ein.

Nun, lieber Doctor, was sagen Sie, wenn ich Ihnen gestehe, daß mich seit gestern Abend elf Uhr ein wirklich eifersüchtiges Gefühl – ich kann es nicht anders nennen – gegen meine Bekannte, die – –, welche in diesem Augenblick von Dresden abwesend und bei Verwandten auf dem Lande ist, peinigt? Verdiene ich nicht den schärfsten Tadel als Freundin und als Schwester, daß ich, während mein Bruder bis auf den Tod krank darniederliegt, solch eifersüchtigen Gefühlen in meinem Herzen Raum gebe? Sagen Sie, bin ich für meinen eigensüchtigen Egoismus zu verdammen, oder können Sie mich noch entschuldigen?“

Ich trat ihr näher, der ihren Bruder so heiß und innig liebenden Schwester, ergriff ihre Hand und sagte: „Liebes Fräulein, beruhigen Sie sich; lieben Sie Ihren Bruder mit aller Kraft Ihrer Seele, denn er verdient es, aber ehren Sie auch, wenn der traurige Fall, daß Sie seinen Wunsch erfüllen sollen, eintritt, seinen gegen Sie ausgesprochenen Willen.“

Elise schien noch weiter zu mir sprechen zu wollen, als wir die Schritte der zurückkehrenden Mutter in dem Vorsaale vernahmen. Ich aber leitete das Gespräch, weil ich glaubte, ihr damit einen Dienst zu erweisen, auf die jetzt so naheliegende Frage über die zukünftige Gestaltung Deutschlands, ob der gegenwärtige grausame und blutige Krieg die Freiheit und Einheit unseres Gesammtvaterlandes anbahnen würde oder nicht etc.

Wir unterhielten uns noch eine kurze Zeit lang, dann aber erhob ich mich und verabschiedete mich von den beiden Damen mit den besten Wünschen für das Wiederaufkommen des so sehr geliebten Sohnes und Bruders.

Möchten meine Wünsche in Erfüllung gehen, denn Mutter, Tochter und Sohn – sie alle Drei sind brave und gute Menschen und verdienen alles Glück auf dieser Erde.[2]
R. Doehn.




Fünf preußische Feldherren.


Wenn im preußischen Heere nicht „jeder Soldat den Marschallsstab im Tornister trägt“, wie der erste Napoleon dies von seinen Armeen rühmte, so ist auch die Schule eine andere, welche in unserer Zeit, und namentlich in Deutschland, Feldherren zu erziehen hatte. Für den Bändiger der französischen Revolution und den Kaiser eines Soldatenreichs war der Krieg zum Lebensberuf, zum – Geschäft geworden. Die Armeen zogen von einem Feldzug in den andern, der Friede war eine Ausnahme im damaligen Staatsleben, und eben darum konnte der Krieg die französische Feldherrnschule sein.

Preußen, das fünfzig Jahre lang keine Kriege führte, mußte sich die Schule für soldatische und feldherrliche Tüchtigkeit selbst schaffen, und dies that es vollkommen angemessen der nationalen Eigenthümlichkeit, den geschichtlichen Erinnerungen und der hohen Culturstufe seines Volks. Es erstrebte nämlich eine möglichst kriegswissenschaftliche Ausbildung des Officiercorps, eine möglichst vollendete Dressur der Mannschaft mit der Pflege eines echt soldatischen Geistes, und fügte alle Dem eine gewissenhafte Beachtung jeder neuen Erfindung und Verbesserung der Waffe hinzu. Aber noch Eines zeichnet die preußische Armee vor allen übrigen europäischen Truppen aus und verdient eine besondere Hervorhebung: das ist der Bürgergeist, der bei der Zusammensetzung des preußischen Heeres aus allen Elementen der männlichen Staatsbevölkerung unzertrennlich mit ihm verbunden ist und der sich durchweg als liberal documentirt hat und jeden Standesvorzug von vornherein ausschließt. Der Einfluß der Bildung und Intelligenz, die in diesem Heere wie in keinem andern vertreten ist, auf die gesammte Masse unter den Fahnen wird Jedem fühlbar, der mit dem einzelnen Mann eine Unterhaltung eingeht; sichtbar ist er aber geworden in der Art der Kämpfe und Siege, die von jedem Einzelnen, neben der Zuversicht auf die Tüchtigkeit seiner Führung und dem Vertrauen auf die Vortrefflichkeit seiner Waffe, das Selbstgefühl des Mannes forderte, welcher weiß, wofür er kämpft, und die Fähigkeit, in den Geist der Führung einzugehen.

Von den Feldherren, welche die preußischen Armeen bis jetzt geführt, hat den Jüngsten derselben das Waffenglück in wahrhaft auffallender Weise bevorzugt. Bekanntlich war es der Kronprinz, dem in der Schlacht bei Königgrätz die Rolle Blücher’s bei Waterloo zufiel. An der Spitze der zweiten Armee gab er der bis dahin schwankenden Schlacht die Entscheidung. Der Glanz dieses Siegs wird dem Mann einst auf den Thron folgen, und dies verleiht ihm eine besondere Bedeutung für die Zukunft. Der Kronprinz, Friedrich Wilhelm, am 18. October 1831 geboren, ist eine hohe Gestalt, blond, von intelligenten und sanften Zügen und edler Einfachheit der Manieren. Zu seiner militärischen Ausbildung hat er kriegerische Erfahrungen im letzten Dänenkriege zu sammeln Gelegenheit gehabt.

Chef des Generalstabs des gesammten preußischen Heeres ist der Generallieutenant Freiherr von Moltke. Von dänischer Familie, trat er vor mehr als vierzig Jahren in preußische Dienste, ward früh dem Generalstab zugetheilt und wohnte 1839 gemeinsam mit dem Freiherrn von Vincke-Olbendorf dem Krieg zwischen der Türkei und Aegypten (unter Mehemed Ali) und namentlich der Schlacht bei Nisib bei. Ihm wird das Verdienst des großartigen Operationsplans zugeschrieben, dessen energische Durchführung den Kriegszug in Böhmen zu einem großen Siegeszug

[476]

Preußische Heerführer.

Kronprinz Friedrich Wilhelm.      v. Moltke.           v. Steinmetz.
     Vogel v. Falckenstein. Herwarth v. Bittenfeld.

machte. Es ist dabei bemerkenswerth, daß der Plan des Ganzen nicht blos selbstverständlich dem Generalstabe der einzelnen Corps mitgetheilt, sondern theilweis mit dem Beirath und Einverständniß jedes einzelnen Generalstabs aufgestellt wird, daß aber dann die einzelnen Corps nach ihrem eigenen Ermessen für die Lösung ihrer Aufgabe zu sorgen haben. Wie groß aber auch die Freiheit für die einzelnen Bewegungen sein mag, so geschehen sie immer nur von Gliedern eines Organismus, dessen Gehirn im Generalstab liegt. Daraus mögen die Leser selbst die Wichtigkeit der Stellung des Mannes ermessen, dessen Portrait ihnen vorliegt.

Von den Armeecorpsführern ist zuerst in diesem Kriege der Name des Generals von Steinmetz ein vom Volksjubel gefeierter geworden, weil an ihn sich die erste Siegesnachricht aus Böhmen knüpfte. Die blutigen Gefechte bei Nachod und Skalitz sammt [477] dem zweiten, diesmal siegreichen Gefecht bei Trautenau sind unter seiner Führung geschlagen worden. In Steinmetz sehen wir einen grauen Kämpfer der Befreiungskriege, den das eiserne Kreuz schmückt. Später war er Commandeur des Düsseldorfer Garde-Landwehr-Bataillons, führte, nach dem Berliner Barrikadenkampfe, zwei Bataillone des zweiten Infanterie-Regiments nach Schleswig und in der Schlacht bei Schleswig, überwachte dann die preußische Nationalversammlung in Brandenburg und war zuletzt Commandeur des Berliner Cadettenhauses. Nach seinen Siegen an der Grenze Böhmens bildete das von ihm befehligte fünfte Armeecorps das Reservecorps in der Königgrätzer Schlacht und ist mit diesem nach Mähren und Oesterreich vorgerückt.

Zu den Feldherren der böhmischen Siege gehört auch der General Herwarth von Bittenfeld, der Chef des achten Armeecorps, das erst Sachsen besetzte, dann bei Münchengrätz zuerst im Feuer stand und gemeinsam mit der ersten Armee des Prinzen Friedrich Karl bei Gitschin den blutigen Sieg errang. Auch dieser Feldherr gehört zu den Veteranen des Befreiungskriegs und hat fünfzig Jahre später in einem zweiten Befreiungskrieg, im Sturm auf Alsen, noch den alten, jugendkräftigen und doch ruhigen und besonnenen Geist bewährt.

Auf dem rechten Flügel der großen preußischen Heeresstellung, die jetzt von den Karpathen bis an den Rhein reicht, hat vor Allen der Chef des siebenten Armeecorps, General Vogel von Falckenstein, sich ausgezeichnet. Sein Zug von Hessen aus zwischen die Armeen Baierns und des Bundes hinein, deren jede der seinigen überlegen war, und nach blutigen Gefechten bei Lohr und Aschaffenburg nach Frankfurt gehört zu den kühnsten Unternehmungen, die je gelungen sind, und wird einst eines der interessantesten Blätter dieses an sich so traurigen Kriegs füllen. Vogel von Falckenstein trat 1813 als freiwilliger Jäger in die preußische Armee. Man erzählt, daß er damals seiner Mutter davongelaufen und so schwächlich gewesen sei, daß man ihm kaum habe eine Büchse anvertrauen wollen. Dennoch war er schon im December desselben Jahres Lieutenant und führte bei Montmirail, als alle Officiere kampfunfähig geworden waren, allein das Bataillon und erhielt das eiserne Kreuz. Auch er stand im Berliner Barrikadenkampf; 1864 ward er Chef des Generalstabs von Wrangel und 1866 General der Infanterie. Sein Antheil an den gegenwärtigen Kämpfen ist bekannt; die vollständige Sicherung des rechten Flügels des preußischen Heeres an der Mainlinie ist sein Werk.




Das Thor Amerika’s.[3]
1. New-Yorks Hafen und Umgebung.
Von H. Raster.


New-York ist die drittgrößte deutsche Stadt der Welt, soweit die Größe nach der Einwohnerschaft bemessen wird, denn außer Berlin und Wien hat keine andere eine größere Zahl deutscher Einwohner. Weiter freilich reichen die Ansprüche von New-York auf den Namen einer deutschen Stadt nicht. Der Einfluß, welchen die deutschen Bewohner derselben auf die Gestaltung ihres Charakters und ihrer Bedeutung als eine commercielle Weltstadt üben, steht keineswegs im Verhältniß zu ihrer Kopfzahl. Das ist deshalb nicht zu verwundern, weil unter ihnen selbst diejenigen Bedingungen, welche äußere Geltung oder moralischen und gesellschaftlichen Einfluß bestimmen, sich in weit geringerer Proportion vorfinden, als unter der gleichstarken seßhaften Bevölkerung einer Stadt in Deutschland. Mehr als neun Zehntel der Deutschen, die sich in New-York niederlassen, oft auch nur kleben bleiben, weil ihnen die Mittel zur Weiterreise in’s Inneres des Landes fehlen, gehören dem Arbeiterstande an. Sie sind durchweg sehr nützliche und willkommene Mitglieder des Gemeinwesens und sehr viele von ihnen arbeiten sich durch Fleiß und Ausdauer binnen kurzer Zeit zu mäßigem Wohlstande, nicht eben wenige sogar zu Reichthum empor, aber sie vermögen das nur, indem sie ihr deutsches Wesen mit größerem oder geringerem Erfolg dem amerikanischen anpassen, und dabei geht denn die Fähigkeit, ihrerseits gestaltend und verändernd auf das amerikanische Wesen einzuwirken, oft leider auch die Lust dazu größtentheils verloren.

Allein, wie dem auch sei, immerhin ist die Stadt New-York eine hinlänglich deutsche, um als solche auch in Deutschland zu gelten. Eine solche Stadt sollte in ihrer äußern Erscheinung wie in ihrem gesellschaftlichen Treiben der Anschauung des deutschen Publicums näher stehen, als es der Fall ist. Man sollte davon so bestimmte Eindrücke haben, wie man sie bei der Nennung der Städtenamen Berlin, Wien, Köln, Frankfurt oder Hamburg hat.

Freilich hat die Stadt weder jene große geschichtliche Vergangenheit aufzuweisen, welche das Gemüth erregt, noch stolze Baudenkmäler, welche als Merkmale und Erinnerungszeichen dieser Vergangenheit dienen. An öffentlichen Sammlungen von Werken der bildenden und darstellenden Kunst fehlt es gänzlich; Alles, was in dieser Beziehung vorhanden ist, befindet sich in den von außen unscheinbaren, innen aber mit fürstlicher Pracht eingerichteten Wohnungen begüterter Privatleute. Gleichwohl hat die Stadt ihre eigenthümlichen Schönheiten, nur muß sie der Realist suchen und nicht der lyrische Dichter. Denn sie sind nicht in Gemüthsbeziehungen auf eine durch die Entfernung in der Zeit verschönte Vergangenheit zu finden, sondern in der Betrachtung des stürmisch brausenden und lärmenden Getriebes einer in titanenhafter Anstrengung breite Grundlagen für eine große, reiche Zukunft legenden Gegenwart, in dem großartigen Kriege, welchen die amerikanische Cultur mit der rohen Naturkraft führt und dessen Hauptquartier die Stadt New-York ist. Nicht in Tempeln und Palästen, welche eine vergangene Gesittungsperiode himmlischen oder irdischen Herrschern errichtet hat, sondern in den Stätten, wo der die bewältigte Naturkraft als Sclavin verwendende Menschengeist zahllose neue Werthe schafft, um allen Menschen diejenigen Lebensgenüsse erreichbar zu machen, die sonst nur wenigen Auserwählten zugänglich waren; in den gewaltigen Speichern, welche die Arbeitserzeugnisse Hunderttausender von Menschen bergen, in den mächtigen Flotten, welche diese Erzeugnisse vertheilen, kurz, in den Wahrzeichen nützlicher, das Wohlergehen und Behagen freier Menschen fördernder Thätigkeit ist die Poesie amerikanischer Großstädte zu suchen und da ist sie auch zu finden.

Und zwar kann man sie in New-York finden, ohne nur die Stadt selbst zu betreten. Bei einer bloßen Umschiffung der Insel, welche die Stadt bildet, drängt sich von allen Seiten eine erdrückende Fülle der buntesten Mannigfaltigkeit von Erscheinungen heran, zu welcher die Natur und die Menschenhand zu gleichen Theilen beigesteuert haben. Der Hafen von New-York ist eine Welt für sich, und wenn von den Hauptstraßen der westlichen Metropole die Rede ist, sollte nicht der Broadway mit seinen meilenlangen Façaden von Marmor, Granit, Sandstein und dem fast ganz verdrängten Backstein, sondern der East-River in erster Reihe genannt werden.

Außer dem Golf von Neapel hat Europa wohl kaum eine Meeresbucht aufzuweisen, welche sich an lieblicher Schönheit mit der von New-York messen kann. Zwar an majestätischer Pracht der Uferbildung muß sie hinter mancher zurückstehen, – die grünen Gefilde von Long Island und die waldigen Hügel von Staten Island und New-Jersey erfrischen und erheitern das Auge, aber blenden es nicht durch imposante Größe. Doch der stillen Großartigkeit des von diesen Feldern und Hügeln eingeschlossenen Wasserbeckens, auf welchem sich die Flotten von ganz Europa in vollster Sicherheit schaukeln können, und der beiden gewaltigen Ströme, die sich von Norden her in dasselbe ergießen, giebt es nichts an die Seite zu stellen. Noch bieten die Ufer dieser Ströme landschaftliche Schönheiten genug dar, die Fernsichten von den felsigen Hügeln auf dem westlichen Ufer des Hudson sind von einer Herrlichkeit, welcher nicht einmal der Pinsel des Malers, geschweige das geschriebene Wort genugthun kann. Aber der Hauptreiz des [478] großen Bildes liegt doch in dem überwältigenden Eindruck von dem, was rastlose menschliche Thätigkeit aus einer für den Verkehr höchst günstigen Lage bereits gemacht hat und noch zu machen sich anschickt.

Die Insel Manhattan, auf deren südlichster Spitze vor dritthalb Jahrhunderten die Holländer das Dörfchen Neu-Amsterdam gründeten und auf welcher noch zu Anfang dieses Jahrhunderts außer dem zur reichen Handelsstadt New-York gewordenen holländischen Dorfe ein halbes Dutzend besonderer Dörfer Platz fand, deren Namen jetzt nur noch als Bezeichnungen für Straßen oder Viertel dienen, ist ein drei deutsche Meilen langer, doch an seiner breitesten Stelle nur zwei Fünftel Meilen, an dem dreiviertel Meile langen nördlichen Zipfel kaum dreitausend Fuß breiter Streifen Landes, welcher einen ungefähren Flächenraum von einer deutschen Quadratmeile hat. Sie liegt zwischen dem fünftausend Fuß breiten Hudsonstrom und einer Nebenmündung desselben oder einem besonderen Meeresarm, welcher durch den Harlemfluß (ebenfalls nur ein Arm des Stromes oder des Meeres) mit ihm in Verbindung steht und den Namen East-River (Oststrom) führt. An der stumpfen Südspitze der Insel vereinigen sich beide und bilden die von der Manhattan-Insel, Long Island, Staten Island und einem langgestreckten Zipfel des Festlandes von New-Jersey eingeschlossene, anderthalb deutsche Meilen lange und eine Meile breite innere Bay oder Rhede von New-York. Durch eine fünftausend Fuß breite Meerenge, auf deren schmales Fahrwasser die riesigen Fünfhundert- und Tausendpfünder der Forts Hamilton und Tompkins gerichtet sind, steht diese innere Rhede mit der äußeren in Verbindung, welche durch das sich in weitem Bogen um Staten Island herumschlingende Festland von New-Jersey gebildet wird und ungefähr drei deutsche Quadratmeilen umfaßt.

Auf dem rechten (westlichen) Ufer des Hudson liegt der Manhattan-Insel eine ihr an Gestalt ähnliche, nur mit dem schmalen Ende nach Süden hinabragende Halbinsel gegenüber durch den Hackensack-Fluß und die zur Newarker Bay ausgeweitete Mündung desselben im Westen begrenzt, ebenfalls drei deutsche Meilen lang, doch an der breitesten Stelle dreiviertel Meile breit. Nur die obere breite Hälfte der ganzen Länge bildet das unmittelbare Gegenüber von New-York, die schmale untere Hälfte ist das Westufer der Bay, im Süden durch einen tausend Schritt breiten Meeresarm von Staten Island getrennt. Die Halbinsel gehört zum Staate New-Jersey und hat bis vor wenigen Jahrzehnten, obwohl ihre Lage für den Handel kaum minder günstig, als die von New-York ist, nur einen spärlichen Antheil von dem Ueberschuß des in der großen Handelsstadt nach Anlagen suchenden Capitals erhalten. Aber seitdem hat sie einen raschen Aufschwung genommen. Zwei Städte (Jersey-City und Hoboken) mit zusammen an achtzigtausend Einwohnern, bilden den Kernpunkt für eine große Handelsstadt, die noch im Laufe des jetzigen Jahrhunderts, wie New-York, ein Dutzend besonderer kleiner Dörfer annectiren und dann bald genug ihrer Million Einwohner gewiß sein wird.

An der Begründung dieser Zukunftsstadt haben die Deutschen einen sehr hervorragenden Antheil. Denn die Stadt Hoboken ist vorwiegend deutsch, so sehr, daß die Communalverwaltung meist in deutschen Händen ist oder wenigstens unter deutschem Einflusse steht. Fast ausschließlich deutsch sind die westlich und nördlich davon im Laufe der letzten zwanzig Jahre hervorgezauberten Ortschaften Hudson-City, Union-Hill, Nord-Hoboken, Weehawken, Guttenberg. Auf den reizend-schönen felsigen Hügeln, welche sich dort bis hart an den Hudson drängen, bestehen volkreiche deutsche Ansiedelungen, in welchen Alles, außer der Bauart der Häuser, deutsch ist und wo an Sonntagen viele Tausende der in enger Häuser dumpfen Gemächern schmachtenden Arbeiterbevölkerung von New-York Erholung und harmlose Genüsse finden. Die auf der schmalen südlichen Hälfte der Halbinsel gelegenen zwölf Dörfer sind dagegen fast ebenso ausschließlich angloamerikanisch mit hier und da noch bemerkbarer Beimischung des ursprünglichen holländischen Elementes.

Zum östlichen Nachbar, nur durch den eintausendachthundert Fuß breiten East-River getrennt, hat New-York die Stadt Brooklyn. Ursprünglich eine bloße Vorstadt, in welcher die New-Yorker Kaufleute stille und behagliche, doch immerhin dem Geschäftstheile der Stadt nahegelegene Wohnsitze suchten, ist Brooklyn in einem halben Jahrhundert zu der an Einwohnerzahl drittgrößten Stadt Amerikas erwachsen. Ihre Bevölkerung zählt, nachdem sie sich vor zehn Jahren durch Annexion der Stadt Williamsburg und der Dörfer Greenpoint und Gowanus abgerundet hat, vollauf eine Drittel Million Seelen, steht also außer der von New-York nur der von Philadelphia nach und hat Boston langst überflügelt. Der Form nach ist sie ein rechtwinkliges Dreieck, dessen die Wasserfront bildende Hypotenuse mehrere Vorsprünge und Einbiegungen hat. Die lange Kathete, von der Gowanus-Bay bis zur dem Dorfe East-New-York, ist ein und drei Fünftel deutsche Meile lang; die kürzere, von East-New-York als Scheitelpunkt bis zur Einmündung des Newtown-Creek in den East-River reichend, ein und ein Achtel Meile. Die unregelmäßig geformte Wasserfronte der Stadt am East-River und der Bai mißt anderthalbe Meile, wovon schon jetzt volle zwei Drittel die erforderliche Tiefe als Anlegeplatz für die größten Seeschiffe haben.

Die Worte „schon jetzt“ bedürfen der Erklärung. In New-York, wie in Brooklyn, Jersey und Hoboken, sind die ursprünglichen, natürlichen Ufer der Ströme bis auf sehr wenige Ueberreste längst verschwunden. Ueberall hat man Land aufgeschüttet und so die Uferfront hinausgeschoben, bis sie an die für die größten Schiffe erforderliche Wassertiefe reichte. Riesenhafte Werke sind in dieser Richtung geschehen. Ueber die elenden aus halbverfaultem, zerbröckelndem und zerfallendem Pfahlwerk bestehenden Werften, welche von den Uferstraßen hunderte von Schritten weit in die Ströme hineinragen, haben schon viele an das solide und glatte Mauerwerk europäischer Häfen gewöhnte Touristen die Nasen gerümpft; aber daß Flächenräume, auf welchen die Einwohnerzahl mehr als eines kleinen deutschen Fürstenthums haust, durch Aufschüttung dem Strome und Meere abgewonnen sind, so daß ganze Flotten von Schiffen am Straßenpflaster anlegen und mit ihren Bugsprieten in die Fenster der Speicher stoßen können; daß auf einer Strecke von mehr als einer deutschen Meile rund um den südlichen Theil der Stadt ein Landstreifen in’s Wasser hinausgebaut worden ist, auf welchem zwei, ja drei Parallelstraßen hinter einander Platz haben – das bringen sie nicht in Anschlag. Was in dieser Richtung geleistet worden ist, davon kann man nur dann eine Anschauung gewinnen, wenn man einen Plan von New-York und seinen Nachbarstädten hat, auf welchem außer der jetzigen Hafenlinie das alte, natürliche Ufer bezeichnet ist. Da sieht man, daß in New-York viele Meilen lange Straßen stehen, wo noch vor hundert Jahren Fluth und Ebbe wechselten; man sieht an der Wasserfront von Brooklyn eine große Meeresbucht, welche noch vor neunzig Jahren der englischen Flotte Raum bot, die Wallabout-Bai, bis auf ein kleines Schiffsbau-Bassin verschwunden. Wo damals auf abgetakelten Schiffsrümpfen Tausende von amerikanischen Freiheitskämpfern durch englische Rachsucht so scheußlich zu Tode gemartert wurden, wie vor drei Jahren in dem Marterpferch zu Andersonville, da stehen jetzt auf trockenem Lande die kolossalen Baulichkeiten des Kriegsbauhafens, aus denen die gepanzerten Thurmschiffe hervorgegangen sind, und die Casernen der Seesoldaten. Und einige englische Meilen weiter südlich ist der Gowanus-Bai Gleiches widerfahren. Mehr als eine englische Quadratmeile Land ist dort bereits in’s Meer hinausgebaut worden. Die zwischen Brooklyn und der Südspitze von New-York gelegene Insel Governors-Island war von dem Ufer dessen, was jetzt Brooklyn ist und damals Feld war, durch ein so seichtes Gewässer getrennt, daß noch vor hundert Jahren die Bauern bei Ebbezeit hindurchwateten, um ihre auf der Insel weidenden Kühe zu melken. Durch die fortwährende Auffüllung hat man das Wasser so verengt und vertieft, daß die schwersten befrachteten Schiffe es unbehindert passiren. Noch heute heißt dieses Fahrwasser zur Erinnerung an jene frühere Zeit der Buttermilch-Canal. Noch Gewaltigeres ist innerhalb des letzten halben Menschenalters auf dem rechten Ufer des Hudson vollbracht worden. Zwischen den Städten Jersey und Hoboken erstreckte sich bis zu Anfang der fünfziger Jahre eine breite, seichte Bucht, zwei bis drei englische Quadratmeilen groß. Schon heute ist sie Festland und der darauf wohnenden nächsten Generation wird kaum noch eine Erinnerung an die Bai übrig sein. Denn man lebt gar rasch in Amerika und hält sich bei einmal Gethanem nicht auf. Was heute vollbracht ist, ist morgen schon alt und nach Jahr und Tag fast vergessen. Am südlichen Ende von Jersey, da wo die Halbinsel sich mit einer plötzlichen Einbiegung zu dem schmalen bis in die Nähe von Staten-Island hinabreichenden Halse verlängert, baut man jetzt ein Areal von einer Sechstel deutschen Quadratmeile in’s Meer hinaus. Mitten im Wasser sieht man da Pfahlwerke von mehreren tausend Fuß [479] Länge eingerammt, die sich schachbretartig kreuzen. An diese Pfahlwerke werden Steine, Erde und Schutt aufgeschüttet, bis sie zu Molen werden; dann werden von diesen aus die dazwischen liegenden Gevierte bewältigt. Binnen einem Jahrzehnt hat man einen neuen Stadttheil und – die Hauptsache – wieder einige Meilen Hafenfront.

So arbeitet hier die Menschenhand rastlos an der Verbesserung der Natur in einer Richtung und auf eine Weise, wie sie in Europa fast völlig unbekannt ist. Nicht blos der fruchtbare Urwald- oder Prairieboden, nicht blos Kohlenfelder und Minerallager, sondern selbst Meeresbuchten, Ströme und Uferbildung sind dem rastlos sinnenden und schaffenden Amerikaner nur Rohmaterial, aus welchem der Mensch erst etwas machen muß. Und welch’ ein Hafen ist auf diese Weise bereits aus New-York gemacht worden! Größer, als je die Welt einen gekannt hat. Die vollständig fertige Hafenlinie, d. h. die Linie der Uferstraßen, an welchen die Schiffe so unmittelbar anlegen können, daß man zwischen der Schiffswand und der Straße sich den Fuß zerquetschen, oder aus einer Kutsche auf die Schiffstreppe steigen kann, ohne den Erdboden zu betreten, beträgt in New-York, Brooklyn, Jersey und Hoboken zusammen bereits zwei und eine halbe deutsche Meile. Und auch das drückt noch bei Weitem nicht die Capacität des Hafens aus. Denn von den Quais springen in rechten Winkeln, auf dem Plane wie Borsten oder Franzen aussehend, die von dreihundert bis sechshundert Fuß langen und fünfzig Fuß breiten Docks (Piers) in das Wasser hinaus, an deren einem bis zu fünf oder sechs Schiffe zum Löschen und Einnehmen von Fracht Raum finden. Die Zahl dieser Piers im ganzen Hafen übersteigt bereits einhundert. Durch sie wird der Uferrand so verlängert, daß ungefähr ebensoviel Schiffe Raum für ihre Längenseite finden, als in Abwesenheit der Piers mit dem Bug am Ufer nebeneinander Platz haben würden. Und überdies bilden die Räume zwischen den Piers (Bulkheads) sichere und bequeme Bassins für Hunderte, ja Tausende kleinerer Fahrzeuge: Schleppboote, Canalboote, Prahmen, Schaluppen, Flachkähne, Jollen, Yachten etc. Wenn, woran nicht zu zweifeln, die ganze Wasserfronte des Hafens zu beiden Seiten beider Ströme in gleicher Weise verbessert wird, so wird binnen hundert Jahren der Hafen von New-York eine Quai-, resp. Docklinie von zwölf bis fünfzehn deutschen Meilen, d. h. mehr als alle Häfen des europäischen Festlandes zusammengenommen, haben.

Doch das hat uns weit von Brooklyn abgeführt und es wird Zeit, daß wir dahin zurückkehren. In jeder Beziehung ist Brooklyn als ein Theil Dessen zu betrachten, was man in Europa unter dem Namen New-York versteht. Der Unterschied zwischen beiden ist kaum so groß, wie der zwischen der Altstadt und der Neustadt von Dresden. In commercieller, industrieller und gesellschaftlicher Beziehung sind beide zusammen nur eine Stadt; blos die communalen Verwaltungsinteressen sind geschieden. Der East-River, durch zahllose Dampffährboote auf wirksamere und bequemere Weise überbrückt, als es durch eine steinerne Brücke geschehen könnte, ist schon heute kaum noch etwas Anderes für New-York und Brooklyn, als die Themse für London, oder die Seine für Paris. Aber so weit es das Wachsthum der Bevölkerung betrifft, hat Brooklyn glänzendere Aussichten als New-York. Das letztere bildet einen geschlossenen Raum und wird mit Bequemlichkeit nicht leicht mehr, als eine Million, mit Unbequemlichkeit höchstens anderthalb Millionen Einwohner fassen können. Für Brooklyn dagegen giebt es gar keine Grenze. Es ist bis jetzt noch nicht zur Hälfte ausgebaut. Meilen über Meilen von Straßen, die auf dem Plane bereits als solche mit Namen bezeichnet sind, sind noch Aecker, Wiesen, Triften und Wald, Hügel, die abgetragen, und Thäler, die aufgefüllt werden wollen. Ist erst die ganze Stadt, so wie sie jetzt auf der Karte aussieht, vollgebaut, so kann sie recht gut eine Million Einwohner haben. Dann aber steht ihr noch in dem Bezirke (County), zu welchem sie gehört, ein doppelt so großer Flächenraum, wie ihr jetziger, als Ellbogenraum zur Verfügung. Die ganze Südwestspitze von Long-Island bis zu der Meerenge hinab, welche zwischen ihr und Staten-Island aus der innern auf die äußere Rhede führt, und ostwärts bis zur Jamaica-Bai wird binnen hundert Jahren zur Stadt Brooklyn gehören. Es sind über zwei deutsche Quadratmeilen, jetzt vertheilt unter die Ortschaften Flatbush, New-Utrecht, Gravesend, Flatlands und New-Lots.

In dieser Richtung ist die materielle Möglichkeit für den Fortgang des beispiellos schnellen Wachsthums der Stadt New York zu suchen. Die Zeit wird kommen und manche der heute schon Lebenden werden sie sehen, wo die Stadt auf der Manhattan-Insel nur die City, die Isle de France der kolossalsten Weltstadt der Erde ist. Für diese Weltstadt werden der Hudsonstrom und der East-River nun nicht mehr Grenzen gegen Nachbarstädte, sondern Hauptstraßen, wie die Canäle in Venedig, sein und die anderthalb Quadratmeilen große Bai ein Marktplatz voll unabsehbaren Getümmels. Die Halbinsel zwischen dem Hudson und dem Hackensack, die der heutigen Generation noch ein Stück landschaftlicher Romantik darbietet, auf deren bewaldeten Hügeln und Wiesen sich der Städter dem Getöse des Erwerbslebens entrückt glauben kann, wird zu einer Großstadt werden, ähnlich dem heutigen New-York. Wahrscheinlich wird auch das drei Viertel Meilen breite Delta zwischen dem Hackensack und Passaiu, an welchem die blühende Stadt Newark, mit 80,000 Einwohnern, liegt und dessen größter Theil jetzt noch aus unbewohnbaren Salzwiesen besteht, mit Ansiedelungen überbrückt sein. Die Stadt Brooklyn wird das ganze heutige Kings-County bedecken und für sich allein so viel Einwohner haben, wie London heute hat. Endlich wird das ihr gegenüber liegende, das Südwestufer der innern Bai bildende, drei Viertel deutsche Meilen lange Nordostufer von Staten Island, welches auch heute schon in seinen vier Ortschaften New-Brighton, Stapleton, Tompkinsville und Clifton ebenso viele Vorstädte von New-York besitzt, in den unmittelbaren Bannkreis der Riesenstadt gezogen sein und diese wird auf die Zeit, wo sie sich mit der Insel Manhattan identificirte, ebenso mitleidig zurückblicken, wie sie heute auf die Zeit sieht, da sie als Neu-Amsterdam nur den untersten kleinen Zipfel jener Insel ausfüllte und die Wallstreet – die amerikanische Threadneedlestreet – die äußerste Nordgrenze des Städtchens bildete. Die Stadt New-York mit Allem, was jetzt nur drum und dran hängt, dann aber einen integrirenden Theil von ihr bilden wird, kann dann leicht (und wird) ihre sechs bis sieben Millionen Einwohner haben.

Wie ganz anders, als heute, wird es dann aussehen! Das, was dem heutigen Bewohner von New-York oder Brooklyn noch als Zufluchtsort für stille deutsche Gemüthlichkeit oder sinnigen Naturgenuß erscheint, wird verschwunden sein, wie hundert andere ähnliche Plätze schon in der Erinnerung der heutigen Generation verschwunden sind. Vor einem halben Menschenalter fand man wenig über eine halbe deutsche Meile nördlich vom Stadthause an der Stelle, wo jetzt eine steife Straße von langweiligen Backsteinhäusern steht, ein kleines, rings von felsigen Hügeln umschlossenes Thalkesselchen, in welchem ein geschwätziger Felsbach über Kiesel und Blumen nach dem Strome hinabsprang. Alles ist dahin: die Hügel sind abgetragen, das Thal ist aufgefüllt, der Bach in eine unterirdische Cloake abgeleitet, und man kennt nur noch eine 42. Straße mit denselben einförmigen Backsteinfaçaden, demselben glatten Trottoir und holprigen Pflaster, wie tausend andere Straßen. Um heute ein ähnlich Stück lieblicher Naturschönheit zu genießen, muß man Meilen weiter nach Norden fahren, oder westwärts über den Strom setzen. Doch so ergeht es überall, wie in New-York, so in Brooklyn.

Weit hinaus an das äußerste Südende von Brooklyn verlegte man vor fünfundzwanzig Jahren eine große Todtenstadt, nicht einen öden Gottesacker mit seinen schaurigen, ernsten Umgebungen, sondern einen paradiesisch schönen Gottespark, einen wonnigen Lustgarten des Todes. Man glaubte ihn für immer dem lärmenden Geschwirr und Getöse der Weltstadt entrückt zu haben. Vergebliche Hoffnung! Wie bei der steigenden Springfluth des Meeres die gierigen Wogen hier und da am Strande herauflecken, ehe der ganze Schwall ihn überschwemmt, so spielen schon jetzt die Straßen- und Häuserbauten rings an die Gehege jenes kleinen Paradieses hinan. O Greenwood, entzückendster aller heiligen Haine, welche jemals die Pietät eines seine dahingeschiedenen Lieben mit mehr als religiöser Innigkeit ehrenden Volks gepflanzt hat, auch du wirst bald in der höher und höher steigenden Fluth des rastlosen Schaffens, in welchem nur der Lebende Recht hat, zu einer Insel werden, die, wie die Halligen der Nordsee, im Getöse der Sturmfluthen allmählich zerbröckelt! Aber mag es darum sein: das Gemüth und das Herz werden sich neue Weihestätten errichten, wenn die alten vergehen. Denn über alle Wandlungen hinaus, welche der Verstand an den äußern Gestaltungen der Dinge vollzieht, behalten sie ihr ewiges Recht und ihre ewige Macht.



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Blätter und Blüthen.


Die Ueberrumpelung von Stade. Von einem preußischen Marineofficier erhalten wir die folgende authentische und interessante Mittheilung, die auch nachträglich noch willkommen sein wird.

Eines der Ziele der Preußen war bekanntlich die Besetzung der Residenz Hannover und die Cernirung der hannoverschen Truppen; dabei durften jedoch keine feindlichen Streitkräfte im Rücken gelassen und die Festung Stade mußte zuvor genommen werden. General v. Manteuffel beschloß, sie zu überrumpeln, und am 16. wurde die Flottille mit einer Recognoscirung beauftragt. Nachmittags ging der zum Soutien bestimmte Arminius die Elbe hinunter über die Barre von Blankenese und legte sich bei der Lühe vor Anker, während das Kanonenboot Cyclop mit einbrechender Nacht Harburg verließ und mit voller Kraft stromabwärts dampfte. Ein feiner Regen schuf die nothwendige Dunkelheit und begünstigte eine unbemerkte Landung bei Brunshausen, dem durch eine Strandbatterie von acht Geschützen geschirmten Hafen von Stade. Diese Batterie sollte bei dem Coup womöglich unbrauchbar gemacht werden. An Bord herrschte natürlich eine freudige Aufregung; auf die umsichtigste Weise wurden alle Vorkehrungen getroffen, zwanzig der gewandtesten Matrosen ausgesucht und Niemand zweifelte am Gelingen. Da wurde auf einmal ein unangenehmer Strich durch die Rechnung gemacht! Ein heftiger Ruck erfolgte und der Cyclop saß auf dem Blankeneser Sande fest. Bei der Dunkelheit hatte der Lootse die Merkzeichen verwechselt und das Kanonenboot auf die Barre gesetzt. Es war Ebbe, die Uhr elf, vor Tagesanbruch an kein Flottwerden zu denken und Brunshausen noch drei Meilen entfernt. Einen Augenblick sah man sehr lange Gesichter, doch das Commando „Mannt den Kutter!“ heiterte Alles wieder auf. So schnell wie heute ist mit Ausnahme des Schreckensrufes „Mann über Bord“ selten ein Boot fertig gemacht worden. In zwei Minuten war er zu Wasser und „klar“ gemeldet. Unmittelbar danach schoß er von zehn Paar kräftigen Armen getrieben pfeilschnell, aber bei den vorsichtig bewickelten Rudern geräuschlos durch die Strömung.

Gegen zwölf Uhr tauchte ein niedriger langgestreckter Schiffsrumpf aus der Wasserfläche auf. „Boot ahoi!“ schallte es mit gedämpfter Stimme von ihm herüber. „Cyclop Kutter“ lautete die Antwort und alsbald lösten sich vom Arminius – das war jener gespenstige Rumpf – zwei dunkle Punkte, die bereits klar gemachten bewaffneten Kutter des Eisenschiffes ab. Einige kurze, halblaute Befehle, dann setzten sich die drei Fahrzeuge in eine Linie und nahmen das linke Elbufer. Gegen zwei Uhr kam der vor Brunshausen liegende Zollkutter in Sicht. Ein Boot des Arminius schor unbemerkt Briegseit und nahm ihn. Als die erschreckte Mannschaft durch die Luken an Deck kommen wollte, wurde sie von den Zündnadelbüchsen der Matrosen zurückgeworfen. Vier Mann blieben an Bord, die übrigen stießen eben so schnell und geräuschlos, wie sie gekommen, mit dem Kutter wieder ab. Jetzt schossen alle drei Boote an das Ufer unmittelbar unter der Batterie. Auf ein gegebenes Zeichen sprangen fünfzig Matrosen an Land, schwärmten aus und kletterten, Zündnadelbüchse oder Revolver fertig, von allen Seiten behende die Böschung hinan. Der linke Flügel nahm Posto auf der nach Stade führenden Straße, der rechte verschwand zwischen den Geschützen, das Centrum besetzte das Zollhaus, den Telegraphen und die übrigen Gebäude. Niemand sprach ein Wort, nur Schatten schienen sich auf dem Deiche zu bewegen. Plötzlich ertönten Hammerschläge durch die Stille der Nacht – die acht Geschütze wurden vernagelt.

Auf das Geräusch trat ein Zollbeamter, der seine einsame Runde ging, hinter den Häusern hervor: Er wurde sofort arretirt und über die Besatzungsverhältnisse von Stade befragt. Nach seinen Aussagen befanden sich fünfhundert Mann Infanterie und drei reitende Batterien in der Festung. Diese Aussagen stimmten mit denen anderer inzwischen geweckter Einwohner von Brunshausen überein. Der Zweck der Recognoscirung war damit erreicht und der Handstreich gelungen. Um halb drei, als der erste Tagesschimmer den Osten färbte, waren die Mannschaften wieder eingeschifft, der Zollkutter kreuzte unter preußischer Flagge die Elbe hinauf und Arminius dampfte nach Altona, bald gefolgt vom flottgewordenen Cyclop, der unterdessen der Batterie von Grauenort einen Besuch abgestattet, aber nur drei Lafetten ohne Geschützröhre gefunden hatte.

Auf den Abend des 17. wurde nun die Ueberrumpelung von Stade festgesetzt und das Bataillon des Oberstlieutenants von Kranach (achthundert Mann) vom Generallieutenant von Manteuffel dazu bestimmt. Vierzig Matrosen von der Loreley und dem Cyclop unter Capitän-Lieutenant Ratzeburg wurden den Soldaten beigegeben, um mit geeigneten Instrumenten die Thore zu sprengen. Es war ein kühner Gedanke, mit achthundert und vierzig Mann eine Festung zu überrumpeln, aber er wurde ausgeführt und gelang glänzend. Um zehn Uhr Abends wurden die Truppen in Harburg auf der Loreley, dem Cyclop und einem gemietheten Privatdampfer eingeschifft. Gegen ein Uhr erreichten sie Twickenfleth, eine halbe Stunde oberhalb Brunshausen, wo sich eine bequeme Anlegestelle befand. Nach zehn Minuten war das Bataillon aufmarschirt und in zwei Colonnen formirt. Alles geschah so geordnet, umsichtig und ruhig, daß kein Bewohner Twickenfleths etwas merkte. Der Nachtwächter war der einzige hannover’sche Zeuge der Ausschiffung, wurde jedoch unschädlich gemacht, ehe er Alarm zu geben vermochte. Die „affenartige Behendigkeit“ der Preußen zeigte sich bereits hier in glänzendem Lichte.

Stade hat zwei gemauerte und zwei eiserne Thore. Oberstlieutenant v. Kranach wollte die letzteren forciren; es handelte sich jedoch jetzt darum, die richtigen Wege aufzufinden, die Niemand von den Preußen kannte. Man weckte daher den Wirth des Gasthofes und ersuchte ihn auf höfliche Weise, als Führer zu dienen. Der so plötzlich aus süßem Schlummer Gestörte bedurfte keiner weiteren Ueberredung, als er die achthundert preußischen Bajonnete sah. Die Colonnen setzten sich nach dem dreiviertel Stunde entfernten Stade in Marsch, voran die Matrosen mit Brecheisen, Hammern etc., während Loreley und der Privatdampfer am Ufer fertig zur Aufnahme liegen blieben, der Cyclop aber klar zum Gefecht sich etwas weiter auf den Strom hinauslegte, um einen etwa nöthig werdenden Rückzug zu decken. Das Eindringen der Preußen in die Festung selbst ist mit allen seinen Einzelheiten schon so viel erzählt worden, daß wir hier nicht noch einmal darauf zurückkommen wollen.

Im Vergleich zu den glänzenden Waffenthaten der preußischen Armeen in Böhmen nimmt die Ueberrumpelung von Stade freilich nur eine unscheinbare Stelle ein, aber sie war das Resultat desselben muthigen Geistes, der thatkräftigen Energie, des einheitlichen Wollens und Vollführens, der das ganze Heer beseelt und jene wunderbaren Erfolge herbeiführte, welche die Welt kaum zu begreifen vermag. Sodann war es der erste kühne Handstreich in diesem Kriege, bei dem sich außerdem Landtruppen und Marine die Hand reichten, im edlen Wetteifer dahin strebend, ihrem Vaterlande Ruhm und Ehre zu verschaffen, und deshalb verdient er auch der Erwähnung und Anerkennung.




Viel verlangt. Auber ist bekanntlich Director des Pariser Conservatoriums der Musik und als solcher mannigfachen Quälereien und Anforderungen ausgesetzt, denen er sich jedoch mit einem trefflichen Humor zu entziehen weiß. So kam vor einiger Zeit der Erfinder einer neuen Art von Drehorgel zu ihm und quälte den Patriarchen der französischen Musik weidlich, er sollte eine besondere Classe im Conservatorium für diese Drehorgel schaffen. Auber wich diesem Ansinnen aus, so gut es gehen wollte; der Bittsteller wollte jedoch die höflichen Redensarten nicht verstehen und bestand energisch auf seiner Forderung, indem er sagte:

„Ich kann Ihnen versichern, daß Sie sehr Unrecht thun, wenn Sie mein Gesuch zurückweisen, Sie würden der musikalischen Ausbildung des Volkes einen wirklichen Dienst thun, denn Sie glauben gar nicht, welch’ ein volksthümliches Instrument eine Orgel ist. Sie ist es in dem Maße, daß .…“

„Ach, lieber Herr,“ unterbrach ihn der Componist nun lächelnd, „der Waldteufel ist auch ein volksthümliches Instrument, und wir haben doch keine Classe dafür im Conservatorium!“




Kleiner Briefkasten.


G. H. in K..n. Was Sie in verschiedenen Blättern gelesen haben, ist allerdings begründet. Der bekannte Berliner Schriftsteller und Stadtverordnete, Ferdinand Pflug, dessen populäre militärgeschichtliche Skizzen und Erzählungen überall mit dem größten Interesse gelesen und von der Kritik allseitig als vorzüglich anerkannt werden, ist als „Specialberichterstatter“ der Gartenlaube nach dem Hauptkriegsschauplatze in Böhmen, Mähren und Oesterreich abgegangen, um uns eine Reihe von Mittheilungen aus dem Felde zu senden, welche durch Sachkenntniß ihres Verfassers wie durch dessen lebendige Darstellungsweise die allgemeine Aufmerksamkeit erregen dürften. Kriegsberichte, wie sie die Tagesblätter bringen, dürfen Sie in diesen geschlossenen und abgerundeten Einzelbildern aus dem Kampfe freilich nicht erwarten. Eben vor Schluß dieser Nummer ist uns die erste dieser Skizzen unter dem Titel: „Auf dem Capellenberge bei Trautenau“ geworden, die wir in der nächsten Nummer zu veröffentlichen gedenken.

G. H… in W… r. Ein großes Bild von der Schlacht bei Langensalza wird in der angekündigten Doppelnummer unsers Blattes – Nr. 31 u. 32 – erscheinen und sicher Ihren Erwartungen in jeder Beziehung entsprechen. Die Illustration eher zu bringen, war unmöglich, wenn etwas Authentisches und künstlerisch Gelungenes gegeben werden sollte.




Für die Verwundeten und Hinterbliebenen der Gefallenen


gingen wieder ein: B. Schimpke 1 Thlr. – J. Schmidt 1 Thlr. – J. M. Schimpke 1 Thlr. – Aus Jena, ohne alle weitere Bezeichnung 5 Thlr. – Ferber u. Seydel 6 Thlr. – Musikal.-declamatorische Gesellschaft Andante-Allegro in Leipzig 50 Thlr. – Marie 2 Thlr. – Frau Zierfuß 1 Thlr. – Advocat Kind 10 Thlr. – Trepte u. Ferkow 10 Thlr. – Eine Abonnentin der Gartenlaube in Löbau 6 Thlr. – Friederike Reinke in Gotha 5 Thlr. – Graeser in Wolkenstein 2 Thlr. – W. Biener, G. E. Biener, C. Rudiger in Krippen, Hönel in Postelwitz (à 15 Ngr.) 2 Thlr. – F. H. in Großenhain 2 Thlr. – Ein sächsischer Soldat in Chemnitz 1 Thlr. „Zwar selbst an’s Bett und zukünftig an die Krücke gefesselt, doch in der Lage, seinen leidenden Mitbrüdern den beifolgenden Thaler opfern zu können.“ Dem braven Manne im Waffenrocke den herzlichsten Dank für diese Liebesgabe. Sein Brief ist uns sofort mit einem Thaler abgekauft worden, so daß sich seine Gabe auf zwei Thaler erhöht. – Xyl. Schulze 5 Thlr. – P. R. Teuscher in Plauen 5 Thlr. – Eine Dame in Plauen 1 Thlr. – Hy–D. in Leipzig 4 Thlr. – Dr. Steger 5 Thlr. – Das Personal der Schriftgießerei von Schelter u. Giesecke. „Zur Unterstützung bedrängter Familien sächsischer Krieger“ 12 Thlr. – R. M. in Lpzg. 2 Thlr. – W. Zöller in Weimar 1 Thlr. – S. M. in Gera 1 Thlr. – Anna u. Louise 1 Thlr. 20 Ngr. – Caroline u. Christel 10 Ngr. – N. N. in Sebnitz 1 Thlr. – H. H. in Nassau 1 Thlr. – Vom Arbeitspersonal des Herrn Eduard Lohse in Chemnitz (von Arbeitern und Arbeiterinnen, welche nur 2/3 der sonstigen Tagesarbeit beschäftigt sind) 11 Thlr. 12 Ngr. – Aus Oberweisbach 1 Thlr. – Eine ungenannte Dame aus Leipzig: Ein goldenes Collier und ein Paar Ohrringe mit Türkisen besetzt. – Eine unbekannte Wohlthäterin aus PIauen: Zwei Ringe mit Türkisen besetzt. – Madame Rigaux in Leipzig: Ein Paket Verbandzeug. – Frau H. in Leipzig: Zwei Pakete Verbandzeug. – St. M–O. Verschiedene Pakete Verbandzeug. – Ein Strauß prachtvoll gearbeiteter Moosrosen. „Ich bin ein armes Mädchen,“ schreibt die Uebersenderin, Laura St. in Leipzig, „und komme mit einer Gabe, die vielleicht nicht zu gebrauchen ist. Lachen Sie mich aus, aber verschmähen Sie meiner Hände Arbeit nicht; der liebe Gott wird mir Kraft verleihen, daß ich später mehr für die armen Verwundeten thun kann. Jetzt fühle ich zum ersten Male recht bitter, wie weh es thut, arm zu sein!“ – Wer bietet auf den Strauß des armen Blumenmädchens?
Die Redaction.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Jägerbüchsen tragen im Schaft an der Stelle des früheren Ladestocks, den wir bekanntlich nicht brauchen, eine starke, dreikantige Klinge, die, herausgezogen, in eine starke Feder springt und dann ein festes, scharfes Bajonnet bildet. – Noch eins. Wenn ich Ihnen die Commandos so genau mittheile, so sehen Sie darin keinen überflüssigen Schlachteneffect, sondern eben nur den Beweis, wie viel auf ein richtiges Commando ankommt. Der preußische Infanterieofficier hat sich fortwährend auf Distanzen einzuüben und die Commandos beim Schießen danach einzurichten. Seine richtige Bemessung trägt viel zur verheerenden Wirkung des Zündnadelgewehrs bei.
    D. V.
  2. Soeben, als der Druck der Nummer beginnen soll, erhalten wir vom Verfasser der obigen Skizze wenige Zeilen: „Ulrich ist todt. Er starb ruhig, die Hände seiner Mutter und Schwester haltend und küssend.“
  3. Wir eröffnen mit obigem Artikel, aus der Feder des bekannten und geistreichen Correspondenten der Nationalzeitung, eine Reihe von Skizzen über New-York, die in ihrer Gesammtheit ein treues und interessantes Bild der amerikanischen Weltstadt, für uns Deutsche gewissermaßen des Thores von Amerika, liefern werden. Die vorstehende Schilderung will der Verfasser nur als Einleitung angesehen wissen, als eine Art Vogelperspective zur topographischen Orientirung, welcher Detailschilderungen und Genrebilder folgen werden.
    D. Red.