Die Gartenlaube (1866)/Heft 22
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Dem Rathsherrn zuckte es über das Gesicht, doch regte sich auch der reichsstädtische Stolz in ihm und er sagte mit unruhiger Stimme zwar, aber mit festem Blick: „Rechenschaft zu geben habe ich, als Bürger einer freien, deutschen Stadt, dem französischen Convent zwar nicht von meinem Thun und Lassen, aber Ihnen, dem Freunde, will ich schon erklären, daß allerdings mein Neffe als Officier in hessischen Diensten steht, in welche er vor Jahren mit meiner Bewilligung eingetreten ist. Seitdem haben sich freilich die Verhältnisse geändert und ich würde ihn lieber nicht in den Reihen der Feinde Frankreichs sehen, da er aber mündig und Herr seiner Handlungen ist, kann ich nichts dagegen thun. Eine Verkleidung bitte ich die bürgerliche Tracht nicht zu nennen, in welcher er nur aus dem Grunde nach Frankfurt gekommen ist, um durch seine hessische Uniform nirgend Aergerniß zu geben.“
„Ich danke Ihnen, daß Sie mich mit dieser völlig beruhigenden Erklärung beehrt haben,“ erwiderte der Elsasser warm. „Wenn es nöthig sein sollte, werde ich zu Ihren Gunsten davon Gebrauch machen, doch können Sie von meiner Discretion überzeugt sein. Verdenken Sie es mir aber nicht, wenn der Umstand mich in Bestürzung setzte, daß ich Ihren Herrn Neveu, Officier im Dienste des Landgrafen von Hessen, unsers unversöhnlichsten Feindes, in bürgerlicher Kleidung auf Ihrer Treppe mit einem notorischen Spion, den ich allein vor einem schimpflichen Tode gerettet habe, in angelegentlichem Gespräch überraschte und daß der Spion bei meiner Annäherung die Flucht ergriff.“
„Doris war dabei?“ rief Hartinger. „Da werde ich doch eine scharfe Nachfrage halten!“
„Thun Sie das nicht!“ bat Stamm. „Es liegt viel daran, daß der Elende nicht ahnt, von mir erkannt zu sein, wir müssen ihn sicher machen. Warnen Sie nur Ihren Neveu, daß er Ihr Haus nicht compromittirt.“
„Mein Neffe hat Frankfurt in diesem Augenblicke schon verlassen,“ entgegnete der Rathsherr. „Er hat Marschordre erhalten, sein Regiment gehörte bis jetzt zur Reserve, welche in der Landgrafschaft zurückgeblieben war, nun aber soll ein Theil derselben nachrücken. Hermann kam deshalb mit kurzem Urlaube hierher, um Abschied von uns zu nehmen, ehe er in’s Feld ging.“
„Mainz zu Hülfe, nicht wahr?“ fragte Stamm. „Ist die Reserve stark?“
„Das weiß ich nicht, mein Neffe hat davon nicht gesprochen. Nach den Generalen zu urtheilen, die er gelegentlich nannte, Loßberg, Donop, Cochenhausen, muß sie stark genug sein.“
„Ach, lieber Herr, mit Generalstiteln sind die kleinen Potentaten Deutschlands freigebig,“ versetzte Stamm lächelnd. „Die Eminenz-Durchlaucht zu Mainz hatte bei dreitausend Mann zwölf, sage zwölf Generale, auf zweihundert und fünfzig Mann einen! Sein Gardecapitän über fünfzig Grenadiere hat sogar den Rang eines Feldmarschall-Lieutenants! Marschirt die hessische Reserve auf Mainz?“
„Soviel ich weiß, ist es nur Ersatz für das Corps im Felde, das, glaube ich, noch im Luxemburgischen sich aufhält.“
„Jede Hülfe würde auch zu spät kommen,“ sagte der Elsasser. „Mainz hat in diesem Augenblicke schon capitulirt.“
„Sie sagen das mit solcher Bestimmtheit!“ rief Hartinger. „Es wäre ja eine Schande, wie die von Straßburg.“
„Ei, mein theurer Herr, Straßburg hat seiner Zeit wohl daran gethan,“ versetzte Stamm; „fragen Sie nach dort, ob nicht jeder Straßburger stolz darauf ist, zu Frankreich zu gehören. Fragen Sie in den kleinsten ehemaligen Reichsstädten im Elsaß nach, ob sich eine einzige danach sehnt, wieder zu Deutschland zu kommen, ob sie nicht glücklich sind, das Phantom ihrer Reichsfreiheit gegen die sehr reellen französischen Municipalitätsrechte vertauscht zu haben. Ich halte mich aber zu lange auf. Leben Sie wohl, und Verschwiegenheit, sowohl was meine Liebe zu Ihrer himmlischen Mademoiselle Tochter betrifft, als auch die Entrevue des preußischen Spions mit dem hessischen Officier, Ihrem Neveu.“
Er küßte bei der Erwähnung seiner Liebe die Fingerspitzen seiner beringten Hand und nahm einen raschen Abschied. Dem zurückbleibenden Rathsherrn blieb es überlassen, die Nutzanwendung jener erwähnten Analogien von Straßburg und den ehemaligen Reichsstädten im Elsaß auf die Gegenwart zu machen. Er ging im Zimmer gedankenvoll auf und ab, wurde aber bald in seinen Meditationen durch den Eintritt seiner Frau gestört. Eine stattliche Erscheinung, die Frau Senatorin, in der Figur und Haltung wohl passend zu dem Gemahl und noch blühend für ihr Alter, ohne Schminke. Sie war zum Ausgehen gerüstet und hatte daher auf ihrem hochtoupirten Haar, das hinten in einen schwer herabhängenden, der heutigen Mode sehr ähnlichen Chignon gebunden war, einen gestärkten Zeugaufsatz, der einer in zwei aufrechtstehende dicke Streifen geknifften Tafelserviette glich und von einem bunten Bande, vorn mit einer kurzen, hinten mit einer langflatternden Schleife, gehalten wurde. Ein weitausgeschnittenes Miederjäckchen mit engen Aermeln, hinten mit Schößchen, vorn von der Taille bis zum Ausschnitt mit einem Besatz in Form [338] eines quergetheilten Schildes spitz zulaufend, der übervolle Busen durch ein um den Rand des Ausschnitts lose hängendes Tuch eingefaßt, von der Taille herabwallend das faltige Kleid von schwerem Stoff, nicht mehr aufgebauscht durch den unlängst verbannten Reifrock, der in unsern Tagen um so schreckenerregender zurückgekehrt ist, in halber Kniehöhe das Kleid mit prächtigen in Schleifen aufgenommenen Festons besetzt – lachen unsere Leserinnen über die Modedame von 1792? Diese, wenn sie nur leiblichen Augen noch einmal in einen Salon von 1866 blicken könnte, würde gewiß auch ihre Heiterkeit an den heutigen Moden haben, und gar erst, wie wird eine Zukunftsdame von 1966 über die eleganteste Tonangeberin von heute lachen!
„Hier ist doch noch ein Blatt durchgewischt,“ sagte Frau Hartinger, indem sie eine Zeitung auf den Tisch legte.
„Die Mainzer? Nun, wie steht’s?“ rief der Rathsherr. „Wehren sie sich tapfer?“
„Das habe ich nicht gelesen,“ erwiderte sie, „was gehen mich die Händel an! Ich lese nur die andern Geschichten. Die Zeitung läuft Dir nicht fort,“ sagte sie, als er danach griff. „Ich wollte mit Dir noch ein vernünftiges Wort reden. Die Male sagt mir, daß Hermann tutti weg in Dorche ist –“
Der Vater erschrak sichtlich, doch faßte er sich schnell und sagte: „Kinderei! Daß sie einander lieb haben, ist ganz in der Ordnung, so nahe Blutsverwandte.“ Er hustete anhaltend, dann sagte er: „Wenn das Dein vernünftiges Wort ist, mag ich kein unvernünftiges von Dir hören. Tutti weg von Frankfurt ist Hermann jetzt, vielleicht auf immer, der arme Junge! … Der Male werde ich den schwatzhaften Mund stopfen. Wo gehst Du hin, so geputzt?“
„Zur Frau Bürgermeisterin Schweitzer! A propos, weißt Du, was sie mir neulich gesagt hat? Wenn Mainz verloren geht, bist Du schuld daran.“
„Ich?“ rief Hartinger mit dem höchsten Erstaunen und brach in ein schallendes Gelächter aus.
„Du lachst immer über mich,“ erwiderte die Frau Senatorin empfindlich, „diesmal aber werden die Leute mit Fingern auf Dich zeigen, und lachen, aber in’s Fäustchen, wird sich der Franzos. Hast Du etwa Kanonen nach Mainz geschickt? Rund abgeschlagen hast Du sie.“
„Gutes Trautche, Kanonen?“ rief Hartinger, stärker lachend. „Habe ich Kanonen in meinen Speichern? Oder braucht die Reichsfestung, deren Arsenale mit Festungsgeschütz aller Art gespickt sind, etwa Kanonen? Du hast die Frau Bürgermeisterin offenbar falsch verstanden. Es sind nicht Kanonen, sondern nur Kanoniere gewesen, um welche die Stadt Frankfurt angegangen worden ist, drüben fehlte es an Bedienungsmannschaft für das zahlreiche schwere Geschütz. Wenn ich auf dem Römer mein Votum dahin abgegeben habe, daß es für Frankfurt besser sei, den Antrag abzulehnen, und der Rath zu derselben Ueberzeugung gekommen ist, so kann ich mir das nur zum Verdienst anrechnen. Wer einmal neutral ist, muß sich auch gewissenhaft neutral halten, sonst hat er es sich selbst zuzuschreiben, wenn er feindlich behandelt wird, wie Worms, Speier und jetzt Mainz.“
„Warum nennen sie denn auf der Gasse den französischen General, der doch Custine heißt, Custinus?“ fragte die Gattin, nach ihrer Weise abspringend von einem Gegenstande, der Nachdenken forderte.
„Custinus? Ich habe das noch nicht gehört,“ erwiderte Hartinger, „irgend ein Schulmeisterwitz vielleicht? Custos, der Hüter, das paßt aber nicht. Wo hast Du das gehört?“
„Von Dorche; ein Handwerksbursch, dem sie ein paar Kreuzer geschenkt, hat ihn so genannt; den armen Schlucker haben die Franzosen hängen wollen –“
„Ha!“ rief der Rathsherr aufmerksam werdend. „Als Spion, nicht wahr?“
„Als Spion, ja. Der Custinus hat ihn aber begnadigt.“
„Unser Freund Stamm war bei Dir,“ sagte Hartinger, welcher sich daran erinnerte, was ihm der Elsasser zur Pflicht gemacht. „Wie gefällt er Dir bei näherer Bekanntschaft? Was hältst Du von ihm?“
„Er ist ein Kraftgenie,“ antwortete sie, mit dem Bewußtsein eines schönen Ausspruchs.
Ganz erstaunt blickte der Rathsherr sie an. Sie mußte sich mit einer fremden Feder geschmückt haben. „Was verstehst Du darunter?“ fragte er.
„Nun, Du wirst doch wissen, was ein Kraftgenie ist,“ entgegnete sie. „Kraft – das versteht sich doch von selber. Ist denn Stamm wirklich mainzischer Officier?“
„Wer sagt das?“ fuhr Hartinger auf.
„Die Günderode wollte es wissen, sie hat ihn in Mainz in der weißen Uniform gesehen und sich gewundert, daß er ihr hier als Stutzer begegnet ist. Wie sein Name genannt wurde, wollten ihn noch mehrere kennen, und ließen kein gutes Haar an ihm. Er hat noch keinen Bart und soll schon seine Eltern durch seine liederlichen Streiche unter die Erde gebracht haben. Ich wollte mir natürlich nicht den Mund seinetwegen verbrennen.“
„Du hast doch heut von diesen Verleumdungen nichts gegen ihn geäußert?“ fragte Hartinger heftig.
„Nicht ein Wort. Ich habe ihn nur gefragt, ob er nicht mainzischer Officier wäre und ob er so viel lustige Streiche begangen hätte, wie hier von ihm erzählt würden –“
Der Rathsherr schlug die Hände zusammen. „Was sagte er darauf?“ rief er ganz außer sich.
„Nichts. Es machte ihm Spaß; mainzischer Officier wäre er nicht, sagte er, das müßte ein anderer Stamm sein, lustige Streiche habe er als Student in Straßburg wohl gemacht; dann wollte er wissen, wer ihm die Ehre erzeige, von ihm zu sprechen, und ließ nicht locker, bis er’s mir abgeschwatzt hatte. Denn schwatzen kann er, wie ein Pariser.“
„Liebe Gertrud,“ sagte Hartinger, „Du verstehst diese Kunst auch und wirst uns noch die größten Ungelegenheiten dadurch zuziehen. Herr Stamm ist wohl in eurem Bleumourantkränzchen ein Kraftgenie genannt worden? Diese Bezeichnung, laß Dir sagen, paßt auf diesen hochbegabten, geistreichen jungen Mann in keiner Weise, denn sie gilt für einen Menschen, der durch auffallendes Wesen etwas aus sich machen will, ohne dazu befähigt zu sein. Wenn es Dir möglich ist, Trautche,“ setzte er bittend hinzu, „so sprich bei Deiner heutigen Visite gar nicht von ihm, überhaupt von nichts, das unser Haus betrifft, besonders nicht von Hermann’s Anwesenheit.“
„O, das wissen sie schon! Warum sollte ich davon nicht reden?“ erwiderte die Gattin, sich zum Gehen anschickend. „Die Schweitzer sagte mir viel zu Hermann’s Lobe und die Frau Syndicus Seeger äußerte, es wäre hübsch von ihm gewesen, wenn er noch ein paar Tausend Cameraden mitgebracht hätte: Frankfurt würde sie vielleicht bald. brauchen können. Adieu, mon cher. Ueberlege Dir’s, was nur die Male gesagt hat; die Alte schilt und sagt, daraus könne nichts werden, ich sehe das aber gar nicht ein und wüßte nicht, wem ich Dorche lieber gäbe.“
Ohne die Erwiderung auf dies offene Geständniß abzuwarten, verließ sie ihren Gemahl, der in mächtiger Aufregung in seinen Sessel sank und den Kopf, zu welchem das Blut heiß aufgestiegen war, in beide Hände stützte. Da wurde er durch einen Rathsboten aus seinen quälenden Gedanken aufgestört. Der Bote brachte ihm ein Circular, durch welches der Rath zu einer außerordentlichen Sitzung nach dem Römer beschieden wurde.
Am frühen Morgen des folgenden Tages entstand in Frankfurt eine unruhige Bewegung auf den Straßen, die sich immer mehr mit Menschen füllten. Das Volk drängte sich besonders nach dem Platze, welcher der Römerberg heißt; hier steht das Rathhaus, der sogenannte Römer, in welchem sich über den Gewölben der alterthümlichen Vorderfront der Kaisersaal und das Conferenzzimmer zur Kaiserwahl befindet, während die modern gebaute Rückseite eine Reihe von Zimmern für Stadtämter, für die Ständesitzungen des oberrheinischen Kreises, die Kreisdictatur und andere enthielt. Kopf an Kopf stand das Volk vor dem Römer, in welchem der Rath schon seit Tagesanbruch versammelt war, um die Maßregeln, die gestern nur für einen immerhin möglichen Fall erwogen worden waren, heute nach vollendeter Thatsache zu beschließen.
Mainz war in den Händen der Franzosen! Das Bollwerk Deutschlands am Rhein, die starke Festung, armirt mit einhundert dreiundneunzig Geschützen vom schwersten Kaliber, hatte sich einer schwachen französischen Armee von fünfzehntausend Mann, die gar [339] kein Belagerungsgeschütz, nur Bataillonskanonen (Dreipfünder) und zwei Batterien reitender Artillerie mit sich führte, in schmachvoller Capitulation ergeben. Man hat über Verrath geschrieen und dessen mehr als einen Namen beschuldigt, in Wahrheit aber war nur Feigheit und Dummheit, wie so oft, die Ursache der Schande, vorzüglich aber die Erbärmlichkeit aller Wehrverhältnisse nicht blos im Kurfürstenthum Mainz, sondern im ganzen deutschen Rheinland. Noch jetzt ist die am meisten bedrohte Grenze, wo eine starke, einheitliche Kriegsmacht am nöthigsten wäre, durch die Zersplitterung Deutschlands am wenigsten geschützt; alle Bundesfestungen werden das nicht ändern und „Germania auf der Wacht“ hat einen sehr gefährdeten Posten. Vom Rhein her bis in das Herz von Deutschland hinein ist die Kleinstaaterei, von Napoleon wohlweislich geschont und benutzt, nach seinem Sturze neu befestigt worden und die Franzosen wissen wohl, wo sie ihren Keil anzusetzen haben, um Deutschlands Eiche zu spalten. Vor der Auflösung des deutschen Reichs war es allerdings noch viel schlimmer, denn es gab mehrere Hundert reichsunmittelbarer Gebiete, von denen über zweihundert stimmberechtigt auf dem deutschen Reichstage waren; wir erwähnen nur, daß Deutschland 1792 neun Kurfürsten, dreiunddreißig geistliche und einundsechszig weltliche Reichsfürsten, fünfunddreißig stimmberechtigte Reichsprälaten (Aebte, Pröpste und Aebtissinnen), an einhundert reichsfreie Grafen und Herren, zweiundfünfzig freie Städte, eine zahlreiche unmittelbare Reichsritterschaft, in drei Ritterkreise getheilt, selbst freie Stifter, gauerbschaftliche (d. h. gemeinschaftlich besessene) Orte, ja Reichsdörfer und reichsunmittelbare Bauerhöfe besaß.
Nun denke man sich ein Bundesheer durch vereinbarte Reichsmatrikel auf die einzelnen Reichsstände vertheilt, und man wird sich einen Begriff von der Wehrhaftigkeit des deutschen Reichs machen, als Custine auf nichtige Beschuldigungen hin die Neutralität desselben durch frechen Einbruch verhöhnte! Auf diese Neutralität und noch mehr auf den Schutz der österreichischen und preußischen Armeen und ihrer Verbündeten bauend, hatte man aber auch am Rhein alle Wehranstalten versäumt. Der alte deutsche Wehrstand, der einst neben sich keinen andern geduldet und alle Kriege und Fehden geschlagen hatte, wir meinen den Adel – was war aus ihm unter dem Einflusse der Vielherrschaft, der Frivolität und Verweichlichung, besonders in den geistlichen Landen, geworden? Hat er am Rhein das Schwert gezogen für das Vaterland? Doch wir wollen ihn allein nicht anklagen, sondern die unheilvollen Zustände Deutschlands. So war es dem französischen General nicht schwer geworden, als die Heere Oesterreichs und Preußens den verhängnißvollen Rückzug aus der Champagne antraten, den ersten glücklichen Angriff auf Deutschland zu machen. „Mit einem raschen Handstreich,“ sagt einer unserer Meister historischer Darstellung, Häusser, „war die Revolution auf die wundeste Stelle des alten Reichs gefallen, warf die hülflose Ohnmacht geistlicher und weltlicher Kleinstaaterei ohne Mühe über den Haufen und feierte gerade an der Stelle ihre demokratischen Triumphe, wo drei Monate vorher sich die Fürsten und der Emigrantenadel zur Heerfahrt gegen die Revolution versammelt hatten.“
In Mainz! Noch hatte die Nachricht und mit ihr der Schrecken sich erst über die Nachbarschaft verbreiten können, und Frankfurt schien zunächst von einem Besuche der Franzosen bedroht.
Während im Sitzungssaale des Römers der Magistrat berieth, was bei einem solchen Besuche, dem man keinen Widerstand entgegensetzen könne, zu thun sei, um die Rechte der Stadt und die Wohlfahrt der Bürger zu wahren, ging es unten auf dem Platze ziemlich unruhig zu. Sympathien hatten die Franzosen hier nur sehr vereinzelt gewonnen, einen stärkern Gegensatz konnte man nicht finden, als Frankfurt und Mainz, und der Grund lag für jeden Einsichtigen sehr nahe. Unter dem geistlichen Regiment Erschlaffung der höhern Stände, Druck auf den Bürgern und Bauern lastend, daher keine Thatkraft gegen die Gefahr von außen und ein fruchtbarer Boden für die Verheißungen, welche von Frankreich herüber getragen wurden; in der freien Stadt dagegen, wo man „leidlich zufrieden“ mit seiner Verfassung war, ein Bürgersinn, welcher wohl eines nationalen Aufschwungs fähig war. Doch hörte man nicht die Prahlereien, welche vor Kurzem in Mainz und Koblenz Uebermuth und Siegeszuversicht ausgesprochen hatten, und wenn auch aufgeregte Worte genug, doch immer nur Aeußerungen entschlossener Nothwehr gegen ungerechte Gewalt. Am lautesten waren die Gesellen, die waren aber meist fremd eingewandert und hatten nichts zu verlieren, wie ein Schlossermeister dem handfesten Burschen, den er gestern erst in seine Werkstatt aufgenommen hatte, nachdrücklich vorhielt.
„Nun, Meister,“ antwortete der dreiste Gesell, „wenn Ihr Euch von den Franschen das Fell über die Ohren ziehen laßt, werdet Ihr bald auch nicht mehr zu verlieren haben, als Unsereins. Der Custinus hat nicht viel übrig, nach Frankfurt zu schicken, und wenn Ihr die Thore sperrt und ein paar Schuß thut, ziehen sie ab.“
Der Meister verwies ihm die aufwiegelnde Rede, welche mit Beifall von den Umstehenden aufgenommen wurde, und eine beruhigende Mittheilung, welche eben der Rath dem Volke laut verkünden ließ, kam ihm zu Hülfe. Frankfurt hatte sich jeder Feindseligkeit gegen die französische Nation gewissenhaft enthalten, folglich von ihr auch nichts zu befürchten, die Bürgerschaft wurde ermahnt, sich nicht durch grundlose Besorgnisse zu unbedachten Aeußerungen oder Schritten hinreißen zu lassen. Ein Theil des Volkes verlief sich darauf, doch kehrte die Ruhe im Laufe des Tages nicht zurück.
Am folgenden Morgen hörte man aber ein Laufen auf den Straßen. „Sie sind da!“ klang es ängstlich von unten herauf, wenn ein Fenster sich öffnete und nach der Ursache der Bewegung gefragt wurde. Alles strömte nach dem Bockenheimer Thor, auf den Wall. Da konnte man die ungebetenen Gäste bereits sehen. Reitertrupps streiften daher, in der Ferne blitzten im Schein der Morgensonne Bajonnete. Die Franzosen!
Am 21. October hatte Mainz capitulirt und gleich nach Abschluß der Capitulation Custine zwei Colonnen nach Frankfurt entsendet, Oberst Houchard mit fünfhundert Mann über Höchst, General Neuwinger mit eintausend fünfhundert Mann über Oppenheim. Mit Tagesanbruch sollten sie vor den Thoren der Stadt sein. Diese waren freilich versperrt und die Brücken aufgezogen, aber konnte ihnen der Einlaß ernstlich verweigert werden? Der Rath that dazu, was an ihm war. Noch hatte sich nur Houchard’s Colonne genähert, ein Parlamentär forderte die Erlaubniß, in Frankfurt nach versteckten französischen Emigranten zu suchen. Diese Erlaubniß wurde nach einigen Unterhandlungen gewährt – war man sich doch bewußt, den Emigranten keine Zuflucht, noch weniger Schutz gewährt zu haben!
Ein paar französische Officiere wurden denn eingelassen, sie mußten gut bedient gewesen sein, denn sie wandten sich gleich an die rechten Orte und fanden wirklich drei unglückliche Aristokraten ihrer Nation, welche sie gefangen mit sich fortführten. Unterdessen hatte draußen die Infanterie, lauter Nationalgarden, die Gewehre zusammengesetzt und sich zum Bivouak eingerichtet. Die Thore waren noch immer verschlossen, die Unterhandlungen auf dem Römer wurden weiter gepflogen. Viele Frankfurter, da Alles so friedlich verlief, wandelte die Lust an, sich die Nationalgarden, die ganz gemüthlich schienen, in der Nähe zu betrachten. Bald gingen ein paar starkbesetzte Kähne, die man nicht aus den Thoren lassen konnte, den Main hinab und brachten die Neugierigen unterhalb der Stadt an das Land, wo sie harmlos sich dem Lager nähern und sich unter die Franzosen mischen konnten, um sie zu fragen, was sie eigentlich in Frankfurt wollten. Das wußten diese selbst nicht, wenigstens die nicht, welche man fragen durfte.
Ihr Oberanführer, der Oberst Houchard, der mit einigen Officieren bei der Bockenheimer Warte auf und abging, hätte es den Wißbegierigen wohl sagen können, aber der sah so grimmig aus, daß man sich vor ihm fürchten mußte. Ein paar Hiebwunden, welche schlecht geheilt sein mußten, hatten sein Gesicht gräulich entstellt. Der eine Mundwinkel zog sich bis auf die halbe Backe hinauf, das andere Augenlid war tief hinabgeschlitzt. Vom Thor her kamen jetzt – es war Mittag geworden – einige beladene Wagen, welche mit lautem Geschrei begrüßt wurden: der Rath von Frankfurt schickte den Franzosen Lebensmittel und Holz. Jetzt wurde gekocht und gesotten, einige Frankfurter nahmen an dem „ländlichen Mahle“, wie sie es nannten, Theil und amüsirten sich prächtig, die Meisten aber kehrten in die Stadt zurück, wo die Ausfallspforte am Thor wenigstens für Fußgänger geöffnet war. Alles hatte die Ueberzeugung, daß die Franzosen morgen weiter marschiren würden. Gegen drei Uhr rückte aber General Neuwinger mit seiner stärkern Colonne gegen das Sachsenhäuser Thor und forderte sogleich Einlaß. Die Menschen, welche noch immer alle Straßen füllten, strömten jetzt in dieser Richtung ab.
[340] „Bist auch wieder da, Sperber? Möchtest auf sie stoßen, Du Raubvogel?“
„Mit Verlaub, Meister, wenn sich der hochedle Rath auf nix einließ –“
„Stille! Da kommt ein Wagen mit Herren vom Rath!“ Das Volk grüßte sie und schrie ihnen Allerlei zu, was sie nicht verstanden. Sie dankten ernst und fuhren durch das Thor, die Brücke wurde herabgelassen. „Wenn der dabei ist,“ brummte der Schlossermeister, so werden wir wohl bald Einquartierung haben.“
Es galt seinem Nachbar aus der Allerheiligengasse, dem Senator Hartinger, den er mit auf dem Wagen der Rathsdeputation gesehen hatte. Die Gesinnung des Mannes, der ein reicher Kaufmann und Bürger von Frankfurt, Besitzer eines Hauses auf der Zeil und zweier anderer und Mitglied des Raths war, schien also in der Stadt kein Geheimniß zu sein.
Draußen empfing General Neuwinger an der Spitze seiner Truppen die Deputation des Magistrats. Er hatte hineinmelden lassen, daß er ein Schreiben vom General en Chef an den Rath der Stadt Frankfurt zu übergeben habe. Die Deputation war nun abgeschickt, dasselbe in Empfang zu nehmen. Er aber erklärte, daß seine Ordre dahin laute, das Schreiben des Generals Custine persönlich auf dem Rathhause in die Hände des ersten Bürgermeisters zu überreichen. Unschlüssig blickten die Rathsherren einander an.
„En avant – marche!“ commandirte Neuwinger mit lauter Stimme. Das Linienbataillon an der Spitze seiner Colonne trat an, die Tambours schlugen. Rasch bestiegen die Deputirten wieder ihren Wagen, noch war so viel Zeit für den Kutscher, umzulenken, um in schnellem Lauf die Brücke zu gewinnen, welche unter einem Beifallsgeschrei vom Walle hinter dem Wagen wieder aufgezogen wurde.
Der französische General rückte mit seinen Truppen an und sah mit Zorn, daß ihm die Brücke vor der Nase aufgezogen war. „Halt!“ dröhnte wiederum sein Commando, von den Regiments- und Bataillonscommandanten wiederholt, die Tambours schwiegen. „Kanonen vor!“
Jedes Bataillon führte damals noch zwei kleine Feldstücke bei sich, die mit Kartätschenfeuer sein Gefecht vorbereiten sollten, von nennenswerther Wirkung weiß die Kriegsgeschichte nichts zu berichten. Es rasselten einige solche Kanönchen vor, von ihren blauröckigen Artilleristen im Lauf gefolgt. Als sie die Spitze der Masse, die in ihren weißen Uniformen noch ganz bourbonisch aussah, erreicht hatten, fuhren sie auf, protzten ab und wurden geladen. Ein neues Geschrei von dem Walle, diesmal aber nicht des Beifalls, sondern der Wuth, begrüßte das Manöver.
„Collegen, hört Ihr das? Wollt Ihr den Tiger der Volkswuth entfesseln, Mord und Plünderung in unsere Mauern ziehen?“ sprach eine Stimme auf dem Wagen der Deputation, welcher innerhalb des Thores Halt gemacht, um über das weitere Benehmen der Franzosen Bericht abstatten zu können. „Ich sage mich von aller Verantwortlichkeit los. Laßt mich aussteigen!“
Der Schlossermeister aus der Allerheiligengasse hatte schon Recht. Johann Jakob Hartinger hatte aber auch Recht: Mord und Plünderung, wenn auch nicht heute, so doch nach kurzer Frist, wären jedem Versuche zum Widerstande, wenn dieser scheiterte, unfehlbar gefolgt.
Die Brücke rasselte denn nieder, die Thorpforten standen weit geöffnet: mit klingendem Spiel hielten die Franzosen ihren Einzug in die freie deutsche Reichsstadt Frankfurt. Wohl legte der Rath feierlichen Protest ein unter Berufung auf die Neutralität des deutschen Reichs; was aber Proteste helfen, davon haben unsere Zeitgenossen in den Tagen der Gegenwart vielfach Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen. General Neuwinger zuckte die Achseln zu dem Protest des Frankfurter Magistrats. Auf dem Roßmarkt marschirten seine Truppen auf, während auch das Bockenheimer Thor für Houchard’s Colonne geöffnet wurde. Er selbst begab sich mit starker Escorte von Chasseurs à Cheval nach dem Römer, um dem versammelten Rath Custine’s Schreiben auszuhändigen. Auf den Stellplätzen wurden, bis das Einquartieren angeordnet war, die Gewehre in Pyramiden gesetzt, die Mannschaft durfte austreten; stark waren die Bande der Disciplin auch in der Linie längst nicht mehr, in der Nationalgarde noch gar nicht vorhanden: bald ertönte aus den nächsten Wirthshäusern das donnernde „ça ira“. Die Marseillaise war damals noch nicht gedichtet. Vor dem Römer duldete die französische Escorte des Generals keinen Zusammenlauf der Einwohner; diese, wie gespannt sie auch waren, die Botschaft Custine’s an den Rath zu vernehmen, mußten sich doch gedulden. „Es ist ein Durchmarsch nach dem Hanauischen!“ damit beruhigten sich die meisten Bürger.
Ein Mittag auf dem Marcusthurm in Venedig.
Ob die grüne Wellenflur, in welcher die Lagunenkönigin an der Adria sich spiegelt, in dem Kriegsunwetter, das südlich von den Alpen – wie zu gleicher Zeit nördlich vom Riesengebirge – gegen den alten Doppelaar Oesterreichs sich zusammenzieht, abermals ein zu Land und Meer eingesperrtes Wasser wird, über welches verderbenschleudernde Geschosse ihre Feuerbogen nach den weißen Domen und grauen Thürmen und Dächern der anderthalbtausendjährigen Inselfeste hinziehen? Es wäre tief zu beklagen! Die königliche Matrone mit dem ewig-grünen Lorbeer ihrer großen Vergangenheit auf dem sinkenden Haupt – sie sollte nur noch eine von Freund und Feind in Ehrfurcht begrüßte Hüterin der Denkmale ihres Ruhmes sein. Es ist ja die Kunst, die bauende und bildende, die mit den Augen ewiger Schönheit die Menschen aller Zungen bezaubernde, welche den Marmorkranz der „Bella Venezia“ flocht und mit der Farben- und Formenpracht ausschmückte, die noch durch den Flor ihrer Trauer den Fremdling berückt. Und eine solche Stadt sollte noch einmal der rohen Lust der Zerstörungskünste des Kriegs preisgegeben werden? Den Kugeln der gezogenen Kanonen will man die Bilder eines Titian und Tintoretto, Paul Veronese und Giorgione, will man die Bauwerke eines Rignola und Sansovino, Palladio, Scamozzi und Antonio del Ponte als Ziele hinstellen? Unter dem Erdbeben der Geschütze sollen die Hallen der Marcuskirche zusammenbrechen und die unschätzbaren Kunstkleinodien der Paläste unter ihren Trümmern begraben werden? Wahrlich, den Herren und Meistern des Kriegs der Gegenwart sollte schon der Gedanke, die von der Geschichte geweihten Reste edelster Geistesblüthenpracht unwiederbringlich ihrem Herrscherstolz zu opfern, vor der ganzen gebildeten Menschheit die Wangen röthen.
Am 16. Mai 1797 betrat der erste feindliche Fuß den Marmor des Marcusplatzes: dreitausend Franzosen des Republikaner-Generals Bonaparte besetzten die Dogenstadt, um sie im folgenden Jahr an Oesterreich auszuliefern. In Kunstraub und Zerstörung leisteten die Franzosen selbst während ihrer damaligen kurzen Herrschaft über Venedig nicht Geringes, in’s Große ging Beides aber erst, als der Kaiser Napoleon als König von Italien auch Herr der Lagunenstadt geworden war. Nicht weniger als einunddreißig Kirchen wurden in Kasernen, Arsenale, Militärküchen, Tabaks- und andere Waaren-Niederlagen verwandelt, zwölf Kirchen, und unter diesen eine der schönsten Venedigs, die der S. Maria ai Servi, niedergerissen und die Steine zu fortificatorischen Bauten verwendet. Die vier Rosse der Marcuskirche, der Löwe von St. Marcus (das Palladium der Stadt) und unzählige andere Kunstwerke der öffentlichen Sammlungen kamen nach Paris und wurden erst, allerdings nichts weniger als vollzählig, von den Oesterreichern zurückgebracht.
Oesterreich that offenbar das Gegentheil von dem, was Venedig Schlimmes von den Franzosen erfahren, aber für Alles erntete es nur den Haß, welchen weiland die deutschen Kaiser von Mailand bis Rom gesäet hatten. Die österreichische Regierung machte es zu ihrer Aufgabe, an geraubten Kunstschätzen zurückzubringen und an Bauwerken zu erhalten und wiederherzustellen, so viel eben möglich war; ebenso eifrig sorgte sie für das materielle Wohl der Bewohner, indem sie Venedig zum Freihafen erklärte, den verschlammten Hafen reinigen ließ und nicht nur die Riesen-Pfahlbauten der Stadt und ihrer Vorstadtinseln gegen das drohende Hereinbrechen der Seewogen durch die Erneuung der Murazzi (Steinwall zwischen den Lagunen und dem adriatischen Meer) schützte
[341][342] sondern auch die Verbindung mit dem Festland durch die Riesenbrücke der Eisenbahn vermittelte und so für den Seeverkehr neues Leben herbeizuziehen suchte. Diesem Allen setzten zwei Machtworte der Zeit, „nationale Unabhängigkeit“ und „politische Freiheit“, ihr tief in alle Herzen eingreifendes Triebwerk entgegen und erstrebten ihren Sieg durch Revolutionen, die wiederum nicht ohne Zerstörungen bewältigt werden konnten. Die längste und schlimmste derselben war die von 1847 bis 1849, in deren Folge ein Belagerungszustand eintrat, welcher erst mit dem 1. Mai 1854 sein Ende erreichte.
Unter all’ diesen Herrschaftswandelungen und Kämpfen, und trotz des unendlichen Fremdenstroms, der die Stadt durchfluthet, und des fremden Elements, das mit dem Beamten- und Soldatenheer dort sich festsetzte, bewahrte allezeit die große Masse der Bewohner, das sogenannte Volk von Venedig, treu seine Anhänglichkeit an das Heimathliche, das Gefühl für dessen Ehre und die Liebe zu seinen alten Erinnerungen und den Vermächtnissen der Altvordern in Glauben und Sitten, und ein Zug dieser edlen Volkseigenthümlichkeit, an sich unbedeutend, aber in seiner Heilighaltung zur schlimmsten Zeit ehrenwerth, ist es, der uns heute wieder einmal nach Venedig führt.
Gerade ein Jahr nach Aufhebung jenes Belagerungszustandes, am 1. Mai 1855, stand ich in der Glockenhalle des Marcusthurms, versunken im Anblick der unbeschreiblichen Herrlichkeit der Natur und der Menschenwerke, die dort das Auge fesselt, ja von Punkt zu Punkt, von Fenster zu Fenster, von Himmelsgegend zu Himmelsgegend fortreißt und das Herz mit Begeisterungsfeuer bis zu heiliger Andacht und bis zu tiefster Rührung erfüllt. Erst wenn das Ueberwältigende der ersten Eindrücke verwunden ist, kommt das dann überaus wohlthuende Behagen ruhiger Beschauung über uns, ob wir nun den Blick sich in dem Gewirre der fünfzehntausend Häuser, Paläste und Kirchen verirren oder auf dem weiten grünen Spiegel der Lagunen ausruhen lassen, oder ob wir weiter hinauseilend die Inseln, die schwimmenden Dörfer und Städtchen, Klöster und Castelle oder, die eine Meile lange Lagunenbrücke mit ihren zweihundert zweiundzwanzig Bogen verfolgend, das Festland von Italien besuchen und bei den euganeischen Hügeln in classischen Erinnerungen schwärmen, oder ob wir endlich ganz in die Ferne schweifend an den weit, weit am Nordwestrand des Himmels aufragenden Firsten und Zacken, Hörnern und Spitzen der weiß herleuchtenden Alpen uns erquicken oder jenseits der langen grün und grauen Linie des Lido im Südosten die blauschimmernde Adria begrüßen. Die Alpen und das Meer! Wie viel Tausende von Menschen sehnen sich ihr Leben lang nach dem Anblick von nur einem von diesen beiden, – und hier, auf diesem Thurm, haben wir Beides vor uns und, als Zugabe, noch Venedig dreihundert Fuß tief unter uns. Man kann Stunde um Stunde hier zubringen, immer in neuer, köstlicher Aufregung, und denkt nicht an’s Fortgehen, wenn nicht etwas Aeußerliches zum Aufbruch mahnt.
Mich mahnte, nach mehreren herrlich, bald in der Glockenhalle, bald auf der höheren Galerie verschwärmten Stunden, die Nähe der Mittagszeit an das Scheiden von dieser Stätte. Da erhob der Thurmwart (ich kenne seinen amtlichen Titel nicht, aber es war ein uniformirter Mann), der mir in gemüthlichem, österreichischem Deutsch freundlich auf manche Frage gute Auskunft gegeben, Einspruch dagegen. „Jetzt nunmehr bleiben Sie erst recht da und beschauen sich, was, wenn’s jetzt die Stunde ausschlägt, da drunten auf dem Marcusplatz passiren wird. Ich will Ihnen nichts verrathen, Sie werden schon selber die Sache inne werden.“
Ich begab mich, dem sachverständigen Winke gehorsam, vor die Fensterbogen, unter welchen, zwischen den alten und neuen Procuratien mit ihrem Mittelbau und ihren mehr als hundert Arcaden und der diesen gegenüber in bunter Pracht strahlenden Marcuskirche, der Riesensaal des Marcusplatzes mit seinem aus schwarzen Steinplatten und weißem Marmor getäfelten Fußboden sich ausbreitet, den der Marcusthurm als Riesensäule ziert und über dem der Himmel als ewig klare Decke sich wölbt. Auf dem Platze sah ich allerdings nur das bewegte Treiben, das in dieser einzigen Herzkammer einer wöchentlich von Tausenden von Gästen aller Zungen durchwogten Stadt freilich eine rastlos lebhafte Pulsation zeigt: eine zweite höhere Abtheilung bewegtesten Lebens entwickelte sich aber auf den Dächern der Paläste und den Domkuppeln rings um den Marcusplatz. Paar um Paar und Schaar um Schaar rauschten von allen Seiten die Mittagsgäste des heiligen Marcus herbei, die blauen Tauben von Venedig. Je näher dem Glockenschlag, desto dichter stürmen die Flüge an, desto lauter wird die Volksversammlung auf den Dächern, desto länger recken sich von Zeit zu Zeit die Hälse mit den aufmerksamen Köpfchen und den klugen Augen, die angeblich ohne Falsch sein sollen.
Auch auf dem Platze drunten ist man aufmerksam auf die höhere Bewegung geworden, die Wandelnden und Handelnden, Gehenden und Sehenden ziehen sich mehr an die Seite der Procuratien zurück, um des Platzes Mitte frei zu geben. Da endlich schallt in meine Ohren der dröhnende Glockenschlag, – alle Flügel heben sich – unten, aus der großen Halle des Mittelbaues der Procuratien tritt ein Mann mit einem großen Futterkorbe – und auf rauscht die Schaar der Tausende und schwebt mit all’ der Zierlichkeit und dem edlen Anstand, wie nur immer der Hunger sie gestattet, zu der offenen Tafel nieder, die S. Marco jeden Mittag ihnen bereitet und bereiten wird bis zum Ende aller Dinge.
Es giebt natürlich auch bei diesen Tauben außerordentlich Geschäftspünktliche, die sich immer etwas früher, als nöthig, einstellen, um nichts zu versäumen, aber auch poetische Schwärmer, die weit in der Freiheit draußen von der Einladung der Marcusglocke überrascht werden; das sind dann die Nachzügler, die immer noch zurecht kommen und sogar beitragen, das reizende Bild dieser Taubenfütterung nicht zu rasch vorübergehen zu lassen.
„Und jeden Mittag fliegen diese Tausende von Tauben mit gefüllten Kröpfen davon – und weiter hat’s keine praktische Nutzanwendung?“
„Nein,“ antwortete mein Thurmfreund. „Diese Tauben des heiligen Marcus sind den Venetianern so heilig, wie den Deutschen draußen die Schwalbe und der Storch. Niemand verfolgt sie, das Kind schon gewöhnt sich daran, sie nur mit Freude zu betrachten, während diese Italiener ihre Begierden an unseren Schwalben mit bestem Appetit stillen. Es ist groß, wie weit die Achtung vor einem alten Gebrauch oder einer frommen Stiftung von diesem venetianischen Volke getrieben wird. Sehen Sie dort, immer der Lagunenbrücke nach, dort geht jetzt ein Eisenbahnzug nach Mestre hinüber. Dort standen wir im März 1849 unter Haynau und ließen kein Kraut und keinen Halm nach Venedig. Und auch vom Lido her konnte es nur wenig beziehen. Nach der Schlacht von Novara kam der Radetzky selber in Mestre an und bot den Rebellen gute Bedingungen an, denn ihn dauerte das arme eingeschlossene Volk. Die Noth muß entsetzlich gewesen sein, die vergebliche Sehnsucht nach einem Bissen Brod machte viele Arme krank. Und als nun am 26. Mai das starke Fort Malghera, das Sie dort rechts von der Lagunenbrücke nach Mestre hin sehen, gefallen war, kam in der Stadt zur Hungersnoth noch die Verheerung durch unsere Geschosse. Dennoch hielten sich die Republikaner in der Stadt, ja sie sprengten lieber acht Bogen der herrlichen Lagunenbrücke in die Luft, als daß sie sich ergeben hätten. Desto schrecklicher stiegen Theurung und Mangel und zu den Hungerkrankheiten gesellte sich noch die Cholera, um die armen Menschen gar zur Verzweiflung zu bringen. Und noch zwei Monate nach dem Fall von Malghera dauerte dieses Elend fort, mit jedem Tage steigend, – aber, lieber Herr, – halten Sie’s für möglich? – die Tauben auf dem Marcusplatz haben während der ganzen Belagerung keinen Augenblick Mangel gelitten. Während die Menschen nach einem Bissen Brodes, während Hunderte von verschmachtenden Kranken nach einem Löffel Fleischsuppe lechzten, flogen jeden Mittag aus vollem Futterkorbe die nährenden Körner unter die Taubenhaufen, und nicht eine einzige Taube hat um eines Menschen willen ihr Leben lassen müssen. So große Stücke hält auf sie das Volk von Venedig, und darum ist diese Fütterung auch eine Sehenswürdigkeit der merkwürdigen Stadt.“
Er hat Recht, der Landsmann Oesterreicher. Ich drückte ihm zum Dank die Hand und stieg hinab zu dem Volke des Marcusplatzes, im Herzen voll Theilnahme für jeden der barfüßigen armen Kerle, die den Tauben zu Liebe mit gehungert hatten. – Jetzt saßen die gefiederten Schmauser wieder rings auf den Dächern und putzten sich, während hier unten das Menschengewoge allein den ganzen Platz überströmte.
Wer zum ersten Male diesen Raum betritt, der fühlt sich wie auf einem Jahrmarkt und einer Maskerade zugleich. Wie viel Völker und Zungen treiben sich da oft durcheinander! Wie [343] reichen sich Morgen- und Abendland da die Hände! Schaulust und Speculation, Wanderkunst und einförmigste Betriebsamkeit, Frömmigkeit und Bettelei – Alles findet hier seinen gedeihlichen Boden, und der Platz ist groß genug, um durch dies Alles mitten durch seinen ungehinderten Gang zu gehen. Ständige Gestalten des Marcusplatzes sind, neben den unvermeidlichen Geistlichen und Soldaten, die Stiefelputzer mit ihrem Wichskasten, die mitunter nebenbei noch andere Geschäftchen, wie Handel mit kleinen Schmucksachen, Schildkröten und dergleichen treiben, ferner die Blumenmädchen und die Wasserverkäuferinnen mit ihren blanken kupfernen Eimern am schwanken Joch; den reisenden Engländer mit Familie und den deutschen Handwerksburschen mit Knotenstock trifft man dort meist in vielen Exemplaren; gebildete Reisende mit begeisterten Augen veredeln die Gruppen und die bunten Trachten der Dalmatiner, Griechen, Türken und noch fernerer Völker von Morgen her bringen Leben in das Farbenspiel. Declamatoren sind jetzt seltener, dagegen Sänger und Sängerinnen zu Guitarre und Harfe so häufig zu finden, wie auf der Leipziger Messe. Und wo Musik erklingt, da bildet sich bald ein Kreis von Matrosen und Fischern, denen der barfüßige Gondler sich als Fachgenosse anschließt. Auch das Puppentheater findet sein theilnehmendes Publicum, und wenn am Abend ein Musikchor Posto faßt, so verwandelt sich leicht der Reihengang der Lustwandelnden in eine Riesenpolonaise, auf welche Hunderte von Gasflammen vor und in den tageshellen Arcaden herüberleuchten und Tausende von Sternen von der Decke des Himmels herniederschauen.
So stand das Friedensbild des Marcusplatzes vor nun elf Jahren mir vor Augen. Seitdem sind abermals Ströme von Blut geflossen, um das Losungswort des Kampfs „Frei bis zur Adria“ für Italien zur Wahrheit zu machen. Abermals gingen sieben Jahre dahin, die in dem Verhältniß Venedigs zu Oesterreich nichts veränderten, als eine Steigerung des Hasses bis zum gerüttelt vollen Maße, und heute steht ganz Italien in Waffen und ruft: Krieg um Venedig!
So ist denn der alten Lagunenkönigin der Kampfharnisch wieder angezogen und die Sturmhaube auf die grauen Locken gesetzt worden. Die an sich offene Stadt ist umringt von Forts und Batterien. – Muß wirklich der Krieg das Loos werfen, werden Nationen zur Schlachtbank geführt, um zu entscheiden, ob die Dogenstadt den Lorbeer oder die Kette tragen soll, sicherlich wird dann diesmal das Schicksal ein strenges Gericht halten. Die blauen Tauben werden auch diesmal ihre Körner picken, aber die Kugeln, welche die Stadt des heiligen Marcus erschüttern, könnten leicht einem Adler die Krone beugen. Fr. Hfm.
Die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.
Vor jetzt einem Jahre ist ein Verein in’s Leben getreten, der mit Recht als ein deutscher sich bezeichnet, unter die besten Errungenschaften unserer Tage zu zählen ist und sicher einer reichen Zukunft entgegen geht. Es ist die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, die am 29. Mai des verflossenen Jahres zu Kiel begründet wurde.
Die Gartenlaube hat oftmals ernst und dringend für das Rettungswesen an den deutschen Küsten ihre Stimme erhoben. Wenig glänzend waren die Aussichten für dasselbe, als wir 1861 unseren ersten „Mahnruf an das deutsche Volk“ erließen, aber wir haben nicht verzagt; eine neue Aera stand ihm bevor, als im vorigen Jahre in unserem Blatte jener Mahnruf wiederholt wurde, und die Hoffnungen, die wir damals aussprachen, sind nicht getäuscht worden.
Lange Zeit hat es gedauert, bis wir Deutsche daran dachten, die einhundertachtzig Meilen langen Seegrenzen unseres Vaterlandes mit tüchtigen Rüstzeugen zur Rettung aus Seegefahr zu versehen; Jahrzehnte lang konnten wir in England, Holland und selbst Dänemark die Segnungen erkennen, die ein gutgehandhabtes Rettungswesen der Seefahrt bringt; wir wußten es, daß unsere Küsten mit ihren Watten und Riffen zum großen Theil äußerst gefahrvoll sind; wir wußten es, daß an ihnen eine ungemein lebhafte Schifffahrtsbewegung herrscht, wie sie der Verkehr der drittgrößten Handelsmarine der Welt mit sich bringt; wir lasen von Seeunfällen, Strandungen, Schiffbrüchen, als gehe es uns nichts an. Erst in diesem Jahrzehnte fielen uns die Schuppen von den Augen.
Die furchtbaren Stürme des Jahres 1860 brachten in dem kleinen Bremischen Hafenorte Vegesack – der fast nur von Schifferfamilien bewohnt wird und eine Zahl Wittwen und Waisen beherbergt, wie wohl kein anderes deutsches Städtchen – einige Männer auf den Gedanken, daß doch auch an den deutschen Küsten Rettungsboote und Rettungsgeschosse aufzustellen seien; sie empfanden es, daß das deutsche Volk, dem seine Meere heilige Rechte verleihen und heilige Pflichten auferlegen, nicht zurückstehen dürfe gegen andere Völker; sie erkannten, wie es eine nationale Sache sei, dafür zu sorgen, daß an den Seegrenzen Deutschlands die erste Pflicht der Menschlichkeit erfüllt werde, und wiesen für die Ausführung dieses Gedankens auf England hin, wo unter der Beihülfe des Staates ein großer, die ganze Nation umfassender Verein mit dem glänzendsten Erfolge der Erfüllung jener Pflicht sich widme.
Freilich fand der im November des Jahres 1860 von jenem Weserstädtchen aus erlassene Aufruf manche Sympathie, freilich stimmte ihm die vierte Versammlung der wirthschaftlichen Gesellschaft für das nordwestliche Deutschland (Februar 1861) darin bei, daß das Rettungswesen an den deutschen Küsten eine nationale, vom Volke selbst in’s Werk zu setzende Angelegenheit sei: allein es gelang nicht eine der nationalen Sache angemessene einheitliche Organisation zu schaffen. Für die ostfriesischen Küsten bildete sich im März jenes Jahres ein besonderer Verein; in Hamburg trat ein Comité zusammen, das selbständig für die Elbmündung zu sorgen gedachte und im August einen neuen Sonderverein begründete; von Bremerhaven aus suchte man zu gleicher Zeit einen eigenen Verein für die Unterweser in’s Leben zu rufen, was nicht gelang; es fehlte jede Einigung in den Bestrebungen, jede Verwirklichung des nationalen Momentes, das in dem Unternehmen hätte leben müssen. So waren die Aussichten nicht sehr erfreulich, als unser erster Mahnruf an das deutsche Volk erging.[1]
Als dann im April 1863 auch in Bremen ein Sonderverein entstand, schien selbst auf diesem Gebiete die unselige deutsche Zerrissenheit feste Wurzeln geschlagen zu haben. Allein vom Bremischen Vereine wurde der ursprüngliche Gedanke, das Unternehmen als ein nationales zu erfassen, nicht aufgegeben. Schon Englands Beispiel mußte lehren, daß das See-Rettungswesen, wenn es mit Nachdruck und mit Erfolg gehandhabt werden sollte, als eine nationale Sache einheitlich organisirt werden müsse, denn auch dort hatte die Rettungsangelegenheit erst ihre volle Entwickelung gefunden, als mit dem Jahr 1854 die einzelnen Rettungsvereine, die bis dahin bestanden hatten, sich zu einem Centralverein verbanden und damit die ganze Nation für die Sache gewannen.
In Deutschland konnte die Zersplitterung noch viel größere Gefahren bereiten; hier fehlte noch eine weitverbreitete Theilnahme für alle maritimen Interessen, wie sie sich in England stets gezeigt hat. Hier war somit die Gefahr da, daß ein Fortgehen auf dem betretenen Wege das junge Unternehmen jeder Aussicht auf größere Erfolge beraube. So begann denn von Bremen aus auf’s Neue die Anregung, das deutsche See-Rettungswesen einheitlich im nationalen Sinne zu organisiren, ein Vorhaben, das von unserem Blatte sofort freudig begrüßt wurde.[2] Es kam glücklich dahin, daß auf Grund einer vom Bremischen Rettungsvereine ausgegangenen Einladung am 29. Mai v. J. zu Kiel eine Versammlung aller Freunde des Rettungswesens an Deutschlands Küsten zusammentrat. Es war hohe Zeit, an eine Einigung zu denken; denn schon waren in Kiel, Lübeck und Rostock, in Stettin und Danzig neue Sondervereine gebildet oder in der Begründung begriffen; schon hatten die älteren Sondervereine ihre völlige Selbstständigkeit so lieb gewonnen, daß sie über dieselbe das allgemeine Interesse zu vergessen anfingen. Das begonnene Werk gelang; am 29. Mai wurde die deutsche Gesellschaft gestiftet, obwohl die Vereine von Emden und Hamburg ihren Beitritt weigerten. Zu Kiel wurde also endlich das erreicht, was auf diesem Gebiete seit 1860 angestrebt [344] worden ist; es ward für ein nationales Unternehmen eine einheitliche Organisation geschaffen. Dem deutschen See-Rettungs-Vereine ist eine völlig zweckentsprechende Verfassung gegeben worden. An die Spitze desselben ist ein Vorstand gestellt, dem die Leitung der gesammten Vereinsthätigkeit, die Sorge für die gedeihliche Ausbildung und Entwickelung des deutschen Rettungswesens obliegt. So ist eine Centralbehörde geschaffen, welche dem ganzen Unternehmen Nachdruck verleiht, der Zersplitterung der verschiedenen Kräfte vorbeugt und für die Beschaffung der nothwendigen Mittel die beste Garantie gewährt. Der Vorstand führt indessen nicht die eigentlich entscheidende Stimme; diese ist vielmehr einem mindestens jährlich sich versammelnden Gesellschafts-Ausschusse überwiesen, einer Repräsentation der verschiedenen Bezirksvereine, zu denen die Mitglieder der Gesellschaft überall zusammentreten, wo dieselbe bereits in weiteren Kreisen festen Fuß gefaßt hat. Jener Ausschuß stellt den Ausgabe- und Einnahme-Etat für jedes Jahr fest; er beschließt über alle Anträge der Bezirksvereine, er ernennt den Generalsecretair, dem als ausführendem Beamten die gesammten laufenden Correspondenz-, Cassen- und Rechnungs-Geschäfte obliegen; der Ausschuß bestimmt auch die Regulative und Instructionen für den Stationsdienst. Die Verwaltungen der Bezirksvereine, in deren Bereich Rettungsstationen sich befinden, haben dagegen die selbstständige und verantwortliche Leitung derselben; ihnen ist in ihrem Kreise die Ueberwachung des gesammten Rettungsdienstes anvertraut, sie können daher dort auch die Errichtung neuer Stationen vornehmen; sie besorgen das Inventar und das Personal für die Anstalten und sind in ihrer Wirksamkeit nur durch die Beschlüsse des Gesellschaftsausschusses gebunden, zu dem sie selbst ihre Vertreter absenden. So ist, ohne daß den einzelnen Kreisen die erforderliche Freiheit genommen wäre, Einheitlichkeit in den ganzen Organismus gebracht.
Schon jetzt, nachdem sie kaum zwölf Monate existirt, gehören zur deutschen Gesellschaft dreizehn Küstenbezirksvereine, die namhaft gemacht zu werden verdienen. An die ostfriesische Küste stößt der Bezirksverein für das Großherzogthum Oldenburg (seit 4. März d. J.), dem sich drei andere anschließen: der für den Freistaat Bremen (seit 10. Juli v. J.), der für die Hannover’sche Unterweser (seit 24. Januar d. J.) und der für die Hannoversche Elbküste (seit 18. März d. J.). Jenseits der Elbe sind dann für den schiffbruchreichen Nordseestrand die Vereine für Wilster und Umgebung (seit 7. Februar d. J.), für das westliche Holstein (seit 5. August v. J.), sowie für das westliche Schleswig und die Inseln (seit 30. Juni v. J.) bestimmt. An der Ostsee eröffnet der für das östliche Schleswig-Holstein (seit 7. Juli v. J.) den Reigen, dann folgt der für Lübeck und Umgebung (seit 16. Juni v. J.), sowie der für Rostock und die Warnemündung (seit 21. Juni v. J.). In Preußen besteht ein Bezirksverein für die pommersche Ostseeküste (seit 24. Nov. v. J.), ein anderer für die Ostseeküste zwischen Leba und Pillau (seit 9. Nov. v. J.) und ein dritter für Königsberg und Umgebung (seit 26. Januar d. J.). In den Kreisen dieser Bezirksvereine befinden sich jetzt fertig ausgerüstet die Stationen von Wangerooge, Bremerhaven, Amrum und Sylt, von Travemünde, Leba und Koppalin, während die Stationen Weserfeuerschiff und Büsum, Warnemünde, Rügenwaldermünde und Treptower Tief der Vollendung nahe sind; ein zwar noch kleiner, aber schöner Anfang.
Mit einer Ausnahme haben diese Stationen Rettungsboote erhalten, deren Eigenschaften wir früher beschrieben haben;[3] indessen sind je nach den besonderen Bedürfnissen jeder Station verschiedene Constructionen angewandt. Wir treffen das einfache Francisboot aus cannellirtem Eisen, das zuerst an der Küste der Vereinigten Staaten eingeführt ist, auf Wangerooge, Amrum und zu Travemünde; Peakesche Boote, mit denen der englische Rettungsverein seit dem Preisausschreiben des Herzogs von Northumberland seine sämmtlichen Stationen versehen hat, sind zu Bremerhaven und Büsum stationirt; an den übrigen Orten finden sich neue Eisenboote combinirter Construction, die mit dem Bau der Francisboote die Seitenluftkasten und Selbstentleerungsvorrichtungen des Peakeschen Modells verbinden. Neue Bootsstationen sind bereits für Horumer Siel und Dorumer Tief, für Hela und Bodenwinkel, für Alttief und Kraxtepellen in Aussicht genommen und ihre Errichtung wird sofort geschehen, wenn die jetzt eifrig ventilirte Frage entschieden ist, ob außer jenen Bootarten noch andere für den Rettungsdienst an unseren dünenreichen und menschenarmen Küsten zu verwenden sind, die der Ausrüstung der Stationen manche besondere Schwierigkeiten bereiten.
Bis jetzt besitzt die deutsche Gesellschaft erst eine Geschoßstation. Auf Sylt, wo die doppelte Brandung das Auslaufen von Booten fast unmöglich macht, aber die Strandungen meist dicht am Ufer sich ereignen, ist ein Manby’scher Mörserapparat stationirt. Die vollkommenere Art der Rettungsgeschosse kann indessen schon in nächster Zeit eingeführt werden, denn die im königl. preußischen Feuerwerkslaboratorium verfertigten Raketen, die nach den angestellten Proben alle bisherigen an Weite und Sicherheit des Wurfes übertreffen, stehen zur Verfügung der Gesellschaft. Zehn Stationen können, sobald die Einübung der Mannschaften stattgefunden hat, mit dergleichen Apparaten noch in diesem Jahre armirt werden, so daß voraussichtlich am Ende desselben achtundzwanzig Stationen von der deutschen Gesellschaft in Thätigkeit zu setzen sind und für die deutschen Küsten im Ganzen zweiundvierzig Anstalten aus Privatmitteln geschaffen sein werden, die in äußerster Noth dem Seefahrer Hülfe zu bringen vermögen. Die bisherigen Erfolge der deutschen Gesellschaft, die in einem solchen Stande ihrer jungen Einrichtungen sich kundgeben, dürfen nicht blos dem Eifer, mit dem die Küstenländer ihrem Unternehmen sich hingeben, zugeschrieben werden; auch das Binnenland hat demselben mit regem Interesse sich gewidmet. Der Ruf: „Gedenket Eurer Brüder zur See“, der vom provisorischen Vorstand im Juni vorigen Jahres in die deutschen Lande hinausgerufen ist, hat an vielen Orten des Inlands Beherzigung gefunden. Nicht blos, daß bereits zu Altenburg, Barmen, Braunschweig, Elberfeld, Halberstadt, Hildesheim und Nienburg Binnenbezirksvereine sich gebildet haben; an einhundertundein Binnenplätzen besitzt die Gesellschaft Vertreter, die für ihre Zwecke thätig sind, das Verständniß für dieselben zu verbreiten und immer mehr Freunde dem Unternehmen zuzuführen suchen.
Die Mitgliederzahl ward am Ende vorigen Jahres auf 4500 geschätzt; in dem ersten Jahresbericht, den der provisorische Vorstand auf der ersten Versammlung des Gesellschaftsausschusses am 27. Januar d. J. ablegte, ist mit Recht gesagt worden, diese Zahl könne höchstens dann als eine erfreuliche bezeichnet werden, wenn man die Jugend der Gesellschaft berücksichtige, sie müsse sich stark vervielfachen, bevor mit Rücksicht auf sie die Gesellschaft als ein wahrhaft nationales Institut angesehen werden könne; aber Muth und Hoffnung müsse die Wahrnehmung geben, daß viele ganz binnenländische, mittel- und süddeutsche Gegenden mit größeren Mitgliedszahlen vertreten seien. In der That wächst die Mitgliederzahl der Gesellschaft stetig, trotz der vielfach absorbirenden politischen Aufregung unserer Tage. Bis zum 5. Mai waren vom Vorstande bereits für dieses Jahr 6516 Mitgliedskarten im Werthe von 7670 Thaler und auf Wunsch der Vertreter oder Bezirksverwaltungen außerdem noch 1650 Karten in Blanco ausgegeben, ein den Voranschlag für dieses Jahr schon übersteigendes Ergebniß, das um so erfreulicher ist, als die Betheiligung der ersten Städte unseres Vaterlandes, der Sitze des reichen Handelsstandes und der Finanzwelt noch in Aussicht steht.
Mögen Kriegsrüstung und Kriegsgeschrei den glücklichen Fortgang des edlen Werkes nicht unterbrechen, das am 29. dieses Monats seinen ersten Jahrestag erlebt! Ueberall möge es sich zeigen, daß die Zeiten des „stumpfen Binnenlandsinns“ vorbei sind, in denen maritime Interessen nur an einzelnen Küstenpunkten Verständniß fanden; möge jeder Deutsche beweisen, daß er der deutschen Meere und ihrer Küsten gedenkt und sich der Aufgaben bewußt ist, die dort das deutsche Volk zu lösen hat! Das Rettungswerk gehört zu ihnen; gelingt es, die Anfänge, die es genommen, zu einem gedeihlichen, unserer Nation würdigen Ausgange zu führen, so muß die Behauptung verschwinden, daß das deutsche Volk in seiner Mehrheit, trotz seiner weiten Seegrenzen, nicht als ein Seevolk gelten könne.
- ↑ Siehe Gartenlaube 1861 Nr. 51.
- ↑ Vergl. Gartenlaube 1865 Nr. 23.
- ↑ Vergl. Gartenlaube 1861 Nr. 51 und 1865 Nr. 23.
Zwei fürstliche Geheimnisse neuerer Zeit.
Der Gartenlaube sind im vorigen Jahre Mittheilungen über einen „geheimnißvollen Glaubensfürsten“ zugekommen, die sie im Artikel „der heilige Herr“ (1865, Nr. 33 und 34) abdruckte. In demselben wird uns das von ungeheurer, geradezu verschwenderischer Pracht umgebene, in seinem Kern dem Blick der Oeffentlichkeit stets fast ängstlich entzogene Leben eines angeblich jüdisch-christlichen Sectenhauptes geschildert, das, von zahlreichen Glaubensanhängern als gleichsam verkörperter Gott Israels mit sclavischer Unterwürfigkeit verehrt, bewacht und bedient und von den Anhängern der Secte mit Millionen freiwilliger Opfergaben ausgestattet, seine hohepriesterliche Hofhaltung neben der des Fürsten von Isenburg zu Offenbach und mit dessen auf ein Eingeweihtsein in das Geheimniß hindeutenden Genehmigung Jahre lang fortführt, bis es stirbt und die Seinen verschwinden, ohne daß der Schleier vor diesem Dunkel bis heute gelüftet worden wäre. Gegen diese Darstellung tritt nun ein Mann auf, der mit allerdings gewichtigen Gründen und Thatsachen die Vermuthung zu rechtfertigen sucht, daß mit diesem angeblichen Sectenhaupte und seiner Umgebung ein Geheimniß des russischen Kaiserhauses, das in seiner Geschichte manches unaufgelöste Räthsel enthält, in harmloserer Weise seine letzten Acte auf deutschem Boden ausgespielt habe. Die engen Beziehungen, in welchen die Großeltern und Eltern dieses Mannes, des Herrn A. G. Schenck-Rinck in Frankfurt am Main, zu den geheimnißvollen Fremdlingen gestanden, die Strenge, mit welcher er selbst in seiner Darstellung die Vermuthungen von den Thatsachen scheidet, und die Belege, mit welchen er alle seine Angaben ausrüstet, verpflichten uns, alles Wesentliche seiner Berichtigungen – der Abdruck des vollständigen Manuscripts würde einen zu großen Raum in Anspruch nehmen – unseren Lesern vorzulegen.
Als Vermuthung stellt Herr Schenck-Rinck das hin, was in Zusammenhang steht mit dem im russischen Volke seiner Zeit weit herrschenden Gerüchte, daß Peter der Dritte, welcher, 1728 geboren, bekanntlich sechs Monate nach seiner Thronbesteigung, im Jahre 1762, plötzlich von der Weltbühne schied, damit nicht zugleich aus dem Leben geschieden sei. Das russische Volk glaubte nicht an seinen Tod, und um so leichter fand die Fama Beifall, welche in einem Herrn von Franck, der zu Anfang der siebziger Jahre am Hoflager der Kaiserin Maria Theresia in Wien erschien und dort mit fürstlicher Pracht und Auszeichnung lebte, Peter den Dritten wieder erkennen wollte. Ihn begleiteten, außer seinen „drei Pflegekindern“ Eva, Roch und Joseph, nahe an hundert meist junge Männer als eine militärisch organisirte Leibwache. Die durch die kostbare orientalische Tracht noch gehobene bezaubernde Schönheit des Fräuleins Eva von Franck soll hier auf den jugendlichen Joseph den Zweiten einen so gewaltigen Eindruck gemacht haben, daß er um ihre Hand geworben, dadurch aber die rasche Entfernung der ganzen Familie aus Wien verschuldet habe. Sie siedelte nach Brünn über. Hier, in der kleineren Stadt, trat das Auffällige der geheimnißvollen Erscheinung, der strahlende Luxus und die fast mehr als fürstliche Verschwendung dieses Hofhalts erst recht allgemein in die Augen; der unnahbare Mittelpunkt desselben blieb Herr von Franck mit seinen Pflegekindern, aber die Zahl der Leibwachen und Dienerschaft, worunter man vielen jungen russischen und polnischen Adel erkennen wollte, wuchs immer mehr an, sodaß bald in diesen Gästen die Einwohner Brünns ihre reichlichste Erwerbsquelle verehrten und die Bedürftigen und Faulen dort allezeit glänzender Gaben der Wohlthätigkeit sicher waren. Trotz der großen Geldsendungen, welche stets unter eigener bewaffneter Bedeckung an den alten Franck ankamen, häufte sich in kurzer Zeit eine enorme Schuldenmasse an, und wenn auch immer neue Sendungen die ungeduldigsten Gläubiger beruhigten, so regte sich doch endlich eine allgemeine Besorgniß über die reißend anschwellende Schuldenlast, sodaß selbst die Gefahr gerichtlichen Einschreitens nahe rückte. Da bezahlte Franck plötzlich sämmtliche Schulden, ließ sich von der Behörde amtlich bescheinigen, daß er alle seine Gläubiger befriedigt habe (dieses Schriftstück befand sich später wirklich noch im Besitz der Familie), und verließ Brünn, dessen Bewohner zu spät und darum vergeblich von der Unerschöpflichkeit der Einnahmequelle dieses „Polakenfürsten“ überzeugt worden waren. Dies geschah zu Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Der fürstlichen, von vielen russischen und polnischen Großen begleiteten Karawane ging eine Gesandtschaft voraus, die ihr einen neuen sichern Wohnsitz suchen sollte, – und mit dem feierlichen Aufzug derselben bei dem Fürsten Wolfgang Ernst dem Zweiten von Isenburg-Birstein vor dessen Residenz zu Offenbach tritt die Darstellung des Herrn Schenck-Rinck aus dem Gebiet der Vermuthungen und fremder Berichte auf das Feld des Thatsächlichen.
Der greise und humane Fürst stellte sofort dem Herrn von Franck eines seiner Schlösser in Offenbach zur Verfügung. Herr Schenck-Rinck ist der Ueberzeugung, daß der regierende Herr schwerlich aus blos finanziellen Rücksichten einem Haufen namenloser Abenteurer nicht nur einen fürstlichen Wohnsitz geöffnet, sondern sogar das Halten einer bewaffneten Leibgarde in seiner Residenz gestattet hätte; sondern er glaubt, daß nur genügende Aufklärung über den wahren Stand des „Polakenfürsten“ ihn zu solchem gastlichen Entgegenkommen bewogen habe.
Die Gesandtschaft war mit Empfehlungen an bedeutende Frankfurter Geschäftshäuser ausgerüstet, und darunter befand sich auch das des Großvaters des Herrn Schenck-Rinck, und da Franck bis zur angemessenen Herstellung des Offenbacher Wohnsitzes eine Interimswohnung suchte, so bot ihm K., der Großvater des Herrn Schenck-Rinck, dazu sein großes kaiserliches Freigut (jetzt „Frankfurter Hof“) in Oberrad, einem freundlichen Ort zwischen Frankfurt und Offenbach, an, während er selbst mit seiner Familie ein daneben liegendes, ihm ebenfalls zugehöriges Haus bezog.
Die Ankunft der geheimnißvollen Gäste wurde ein Festtag für die Neugierigen von Offenbach, Frankfurt, Sachsenhausen und der ganzen Umgegend. Tausende strömten nach Oberrad, um die Pracht zu sehen, von der das Gerücht so Unglaubliches verkündet hatte. Der Tag kam, der äußere Aufzug konnte allerdings Staunen genug erregen, von dem geharnischten Herold an bis zu der goldschimmernden Leibgarde und den vier- und zweispännigen, dichtverhängten Reise- und vielen hochgepackten Bagagewagen, – aber der lange Zug verschwand hinter dem Thor zu dem geräumigen Hof des K.’schen Freiguts und hinter dem letzten Reiter schlossen sich die Flügel. Kein Auge hatte den alten Herrn gesehen. Eine desto genauere Schilderung erhalten wir von der Scene, die sich nun innerhalb des Hofes abspann, denn ihr wohnte der Großvater des Herrn Schenck-Rinck mit seiner ganzen Familie bei, um die Gäste in seinem Hause zu empfangen und einzuführen. Herr Schenck-Rinck schreibt darüber: „Nachdem das Gefolge abgestiegen war, entleerten sich die mit Damen und Herren besetzten Wagen, Pagen eilten mit kostbaren Teppichen herbei, sie vor die vierspännigen, noch immer geschlossenen Reisewagen ausbreitend und bis zum Eingang in die Zimmer legend. Nun erst öffnete sich der erste Wagen, dem zwei Herren mit edlem Anstand entstiegen, welche dem alten Herrn, demüthig zu beiden Seiten tretend, aus dem Wagen halfen. Es war ein mittelgroßer Herr von gedrungener Gestalt, in rothem, bis zu den Knieen reichendem, mit Hermelin besetztem seidenen Leibrock und gleichverzierter hoher Pelzmütze, die mit schönen goldenen Schnüren behangen und mit weißem Reiherbusch geschmückt war, der von einer reich mit Brillanten besetzten Agraffe gehalten wurde. Auf der Brust spielte in tausend Farben ein großer Brillantstern, an goldener Kette um den Hals getragen. Das Gesicht Franck’s war häßlich und pockennarbig, aber aus ihm blitzten unter buschigen Augenbrauen zwei feurige Augen hervor. Das ganze Gesicht umrahmte ein langer, weißer Bart. Von dem Augenblick an, wo der alte Herr dem Wagen entstieg, lag das ganze Reisegefolge auf den Knieen. Auch die beiden Pflegesöhne, welche den Zug zu Pferde begleitet hatten, waren mittlerweile abgestiegen und stellten sich, in der Uniform höherer russischer Stabsofficiere und die Brust mit Orden geschmückt, ebenfalls entblößten Hauptes zu beiden Seiten des alten Herrn. Mit diesem hatte in Gesichtsform und Teint der ältere, Rochus, einige Aehnlichkeit, während der jüngere, Joseph, ein schöner Mann in der ersten Jugendblüthe, [346] mehr dem Fräulein Eva ähnelte. Auf den gebieterischen Wink des alten Herrn öffnete sich der zweite Wagen, welchem erst zwei Ehrendamen, dann in wunderbarer Grazie das von einem mit Gold durchwirkten und bis zu den Füßen reichenden Schleier umhüllte Fräulein Eva entstiegen. Bis zur Erde beugte sich der alte Herr und trat der Dame einige Schritte entgegen, leicht mit fürstlicher Courtoisie deren Hand berührend, um sie nach den geöffneten Zimmern zu geleiten. Erst jetzt erhob sich das Gefolge von den Knieen. Innerhalb der Zimmer, nachdem die Thüren geschlossen waren, entschleierte sich Eva von Franck; ein himmelblaues, seidenes, faltenreiches Gewand, umgürtet von einer Brillantenschnur, umschloß die edlen Formen der hohen Gestalt; aus der rabenschwarzen Lockenfülle strahlte das schönste Farbenspiel eines mit Perlen und Brillanten reich besetzten diademartigen Aufsatzes hervor. So trat sie, obwohl über die erste Jugendblüthe hinaus, doch immer noch von wunderbarer Schönheit, die ein reichgebildeter Geist und eine anspruchslose Liebenswürdigkeit noch erhöhten, meinem Großvater entgegen, ihn mit melodischer Stimme in deutscher Sprache anredend und die beiden russischen Officiere als ihre Brüder vorstellend. Mein Großvater, gewöhnt, sich in höheren Cirkeln zu bewegen, war überrascht von so bezaubernder Anmuth und blieb bis zu seinem Tode (1792) der eifrigste Verehrer der Dame.“
Der alte Herr sprach bei dieser Vorstellung kein Wort, und auch später pflegte er sich mit Herrn K. nur durch einen Dolmetscher zu unterhalten, als welcher gewöhnlich sein Geheimsecretär fungirte; sein lebhafter Blick und seine Mienen konnten jedoch ein Verständniß des deutsch Gesprochenen ahnen lassen. Dies war auch bei späteren Besuchen des Herrn K. und seiner Familie der Fall, die jedoch nie ohne ceremoniöse Anmeldung stattfanden. Der alte Herr saß dann stets in der Mitte des mit Teppichen belegten Zimmers, auf einer nach orientalischer Sitte am Boden liegenden Ottomane, mit kreuzweis übereinander gelegten Beinen und aus türkischer Pfeife rauchend, hinter ihm zwei Pagen, an der Thür zwei Diener in reichbordirter Livree. Dabei ist bemerkenswerth, daß der alte Herr, sobald die auch von ihm stets lebhaft geführte Unterhaltung von seinem Gaste auf das politische oder religiöse Gebiet hingelenkt wurde, sofort das Zeichen der Entlassung gab.
Während Fräulein Eva die Abgeschlossenheit des alten Herrn theilte und selbst ihre wahrhaft verschwenderische Wohlthätigkeit nur durch Vermittelung von Herren und Damen ihres Gefolges, niemals in eigener Person, ausübte, verkehrten die beiden Pflegesöhne frei und offen mit Jedermann. Das Gefolge, das in Oberrad nicht Platz finden konnte und theilweise in Offenbach untergebracht wurde, wuchs durch immer neue Zuzüge endlich bis auf sechshundert, ja später bis auf tausend Personen an. Trotzdem gingen alle Einrichtungen dieser so außerordentlich anspruchsvollen Hofhaltung und alle Dienstleistungen mit größter Ordnung und möglichster Geräuschlosigkeit vor sich, und Alle, wie viel sie auch mit Arbeits- und Geschäftsleuten in Berührung kommen mußten, bewahrten ihres Herrn und ihr Geheimniß. Einer Entdeckung desselben war zudem auch dadurch vorgebeugt, daß der alte Herr sich für seine auswärtigen Verbindungen nie der Post bediente; alle abgehenden und ankommenden Briefe und Pakete wurden durch reitende Boten aus dem Gefolge besorgt, die stationsweise bis nach Polen und Rußland ihre Posten hatten; Geldsendungen in Fässern langten unter bewaffneter Bedeckung an.
Schon von Oberrad aus fuhren der alte Herr und Fräulein Eva, Jedes – und überhaupt immer – im besonderen vierspännigen Wagen, an jedem Sonn- oder katholischen Feiertage, von der berittenen Leibgarde umringt, zur katholischen Kirche, zu unsrer lieben Frauen“ nach Frankfurt. War die Chaussee staubig, so ritt dem Zuge auf einem mit Schellen behangenen Rosse ein Reiter voraus, der einen vielfach um den ganzen Oberkörper und den Bauch des Pferdes gewundenen, mit Wasser gefüllten Schlauch führte, aus welchem er durch ein seiherförmiges Gießblech den Weg besprengte. Es war dies zwar für damalige Zeit in Frankfurt und weiter Umgegend wohl etwas außerordentlich Neues, aber eine religiöse Handlung war es nicht. Dieselbe Kirchfahrt geschah später auch von Offenbach aus nach Frankfurt, und dabei wurde, mit seltener Unterbrechung, in Oberrad auf dem Gute des Großvaters unsers Herrn Gewährsmanns Halt gemacht, bis der massenhafte Andrang der Neugierigen den alten Herrn bewog, sich zur Abhaltung des Gottesdienstes nach dem isenburgischen Orte Bürgel zu wenden. Und als auch dort der Zudrang der Gaffer allzulästig wurde, baute Herr von Franck am untern Theil der Baumallee in Offenbach sich selbst die noch heute stehende katholische Capelle, die er, nachdem er auch für die Dotation eines Geistlichen freigebig gesorgt, mit allen Einrichtungen und kostbaren Kirchengefäßen der damals kleinen katholischen Gemeinde Offenbachs zum Geschenk machte; nur hatte er sich und den Seinen den Privatgebrauch derselben vorbehalten, und zwar so, daß, während Familie und Gefolge ihre Andacht verrichteten, durchaus Niemandem der Zutritt gestattet war.
Ebensowenig wie das Begießen der staubigen Chaussee dienten die Fahrten nach dem Walde irgend einer religiösen Ceremonie, sondern ganz einfach dem Genuß der freien, schönen Natur. Die Veranlassung zu diesen Waldfahrten hatte der Großvater des Herrn Schenck-Rinck selbst gegeben; sie fanden schon von Oberrad aus statt, ebenso regelmäßig dann von Offenbach, und häufig kamen die beiden befreundeten Familien auf dem ihnen lieb gewordenen Plätzchen zusammen. Es ist leicht zu erklären, warum stets alle Zugänge dahin abgesperrt wurden; es geschah nur, um sich ein Ruheplätzchen im Freien ohne Zuschauermassen zu sichern. Teppiche wurden im Grünen unter dem Waldschatten ausgebreitet und der alte Herr rauchte sein Pfeifchen, während die Unterhaltung ihren heiteren Gang nahm. Der Pfeife wegen standen Bediente mit der brennenden Lunte da, und um den Rasenplatz schön grün zu erhalten, begoß ihn, wenn die Teppiche aufgehoben und die Herrschaften aufgebrochen waren, der Reiter mit dem Schlauch mit seinem Wasservorrathe.
So einfach hier das erklärt wird, was im Artikel „Der heilige Herr“ (Gartenl. 1865, Nr. 34, S. 535) als eine unerklärliche religiöse Handlung bezeichnet ist, so entschieden spricht Herr Schenck-Rinck sich dagegen aus, in dem alten Herrn v. Franck das Haupt einer religiösen Secte jüdischer Abkunft und in den Gliedern seiner Familie wie in seinem Gefolge, den Begleitern, der Dienerschaft und der Leibwache, nur Anhänger seiner Secte und getaufte Juden erkennen zu wollen. Allerdings hätten die Großeltern und Eltern des Herrn Schenck-Rinck, bei ihrer hohen geschäftlichen Stellung und gerade in Frankfurt, wo ihnen das Judenthum mit seinen sämmtlichen Lebensäußerungen auf jeder Bildungsstufe so nahe stand, und bei ihren fast vertrauten Beziehungen zu dem Hause von Franck sicherlich sofort irgend etwas Jüdisches an demselben zuerst erkannt. Aber gerade sie behaupteten, daß sie nie das geringste Zeichen von einem eigenen Cultus gefunden; daß nichts im Hause und an den Menschen auf jüdische Abkunft hingedeutet; daß alle häuslichen Einrichtungen für ein deutsches Auge wohl fremdartig, aber keineswegs jüdischer Natur gewesen. Nach der eigenen Aussage des Fräuleins von Franck war der alte Herr nur ihr und ihrer Brüder Pflegevater, nie wurde von einer Frau desselben oder der Mutter der Kinder gesprochen; daß Fräulein Eva früher Rachel geheißen, steht völlig unbegründet da, am wenigsten zeugte dafür ihre Persönlichkeit, die eher auf fürstliche, als auf jüdische Abstammung schließen ließ. Ebenso sprach die sclavische Unterwürfigkeit der Leibwache eher dafür, daß sie aus Leibeigenen bestanden, als für einen freiwilligen Dienst aus religiöser Schwärmerei, zu dem sich junge polnische und andere Juden hergegeben haben sollen; würde doch für solche eine strenge militärische Disciplin eine so schwere Zumuthung gewesen sein, wie ein Leben ohne die geringste andere äußere Thätigkeit, als Exerciren und Dienen. Fräulein Eva bot sich selbst zur Taufpathe einer Schwester des Herrn Schenck-Rinck an, wohnte mit kleinem Gefolge dem Taufacte bei und ließ sich ins Kirchenbuch eintragen als: „Eva von Franck, katholischer Religion.“ Sprächen endlich auch nicht der Bau und die Verschenkung einer katholischen Kirche in Offenbach gegen die Annahme, daß Franck ein getaufter Jude und das Haupt einer jüdisch-christlichen Secte mit eigenem Cultus gewesen, so genügt gegen dieselbe schon die Frage: Welchen Zweck sollte eine solche religiöse Secte damit verfolgt haben, ihr für heilig und unsterblich gehaltenes Oberhaupt dreißig Jahre lang im fernen Lande, in einer kleinen Stadt, abgeschlossen von der Menschheit und folglich auch ohne alle Einwirkung auf sie, und doch unaufhörlich von den Späherblicken der Neugierde umringt, mit ungeheueren Summen zu einem Leben voll des unerhörtesten Luxus, voll geradezu unsinniger Verschwendung auszustatten? Wären aber so kolossale Mittel zu irgendwelcher Proselytenmacherei verwendet worden, – hätten sie dann, bei der Wichtigkeit des Zieles, nicht [347] das Auge von Europa auf sich lenken müssen? Hätten sie so geheim, so aller Welt unbekannt bleiben können; wie sie es in der That jetzt noch sind? Und wie wäre eine Secte, und hätte sie über hunderttausend und sämmtlich sehr reiche Mitglieder gezählt, – im Stande gewesen, dreißig Jahre lang die vielen Millionen aufzubringen, und zwar nur zu dem Zweck, damit dieselben in fremdem Lande hinter Schloß und Riegel vergeudet würden? Und gewesene Juden sollen das gethan haben für ein „heiliges Haupt“, das nicht das Geringste für die Ausbreitung der Secte that, das keinen einzigen Priester des neuen Glaubens bei sich hatte, ja, das sammt all’ den Seinen, von den Pflegekindern bis zum letzten Leibgardisten, offen dem katholischen Cultus huldigte und für ihn die großartigsten Opfer brachte?
Mit welch’ namenloser Verschwendung das Schloß des Herrn von Franck in Offenbach ausgestattet war, kann man schon daraus ermessen, daß man im Treppenhaus die Stufen mit dem feinsten und kostbarsten isabellfarbigen Tuch belegt sah, das zu beiden Seiten mit vierfingerbreiten echten Goldborden besetzt war. Der Glanz, den das Haus durch den Wohlthätigkeitsprunk um sich verbreitete, mochte zu seiner Sicherheit beitragen, übertrieben war er für jedes Einnahmeverhältniß. Wie paßt dies zu einem Sectenhaupte, das von den Gaben dieser Secte abhängig war? Zur nächsten Umgebung des Fräuleins Eva gehörte eine „russische Fürstin Lubomirska“. Diese kam noch zu Oberrad ins Kindbett; nach neun Tagen durften die Frauen von Oberrad sie und das Kind sehen, und jeder gab sie aus einer neben ihr stehenden Schatulle voll Gold ein reiches Geschenk. Konnte auch diese Ausgabe im Interesse einer Secte geschehen?
Der alte Herr starb am 10. December 1791 eines raschen Todes. Herr Schenck-Rinck sah damals selbst, daß der auf dem Paradebett stehende Sarg mit rothem Sammt ausgeschlagen und mit goldenen Sternen und einer Krone verziert war. Die Kosten der Bestattung sind auf zehntausend Gulden geschätzt worden. Auch bei dieser Gelegenheit hörte man von einigen Personen, welche Peter den Dritten gesehen hatten, die Meinung äußern, daß nach Alter, Angesicht und Gestalt der „Polakenfürst“ kein Anderer gewesen sein könne, als jener so plötzlich verschwundene Russenkaiser. Nicht weniger auffällig ist der genau ermittelte Umstand, daß die auswärtigen Geldsendungen an die Familie von Franck nicht mit dem Tode des alten Herrn, sondern erst mit dem Tode der Kaiserin Katharina (sie starb am 17. November 1796) aufhörten. Bis dahin war die Hofhaltung, an deren Spitze nun Fräulein Eva stand, in der bisherigen Weise forterhalten worden, nur daß die Familie das Schloß verlassen und ein Haus bezogen hatte, das schon früher von ihr angekauft und mit derselben verschwenderischen Pracht, wie das alte, ausgestattet worden war.
Auch als von dem genannten Zeitpunkt an die geheime Einnahmequelle versiechte, ward keine Einschränkung in dem fürstlichen Leben bemerkbar; nur verließ nach und nach ein großer Theil des Gefolges Offenbach, so daß nur noch etwa Vierhundert zurückblieben. Aber trotz kostspieliger Wechselgeschäfte und Verpfändung von Pretiosen, Silbergeschirr und sonstigen Kostbarkeiten wuchs die Schuldenmasse der Familie bis 1799 zu einer Million Gulden an, und endlich drohten die Hauptcreditoren mit gerichtlichem Einschreiten. Da wurden am 17. Januar 1800 die Bewohner von Offenbach, Frankfurt, Mainz und anderen Städten durch eine an vielen Straßenecken angeschlagene und in viele Familien vertheilte Proclamation überrascht, die in jeder Beziehung ein denkwürdiges Actenstück ist, das wir deshalb hier vollständig mittheilen:
„Auf die so lange mit Sehnsucht erwartete Befriedigung unserer Gläubiger ist uns die Allerhöchste günstigste Antwort von Seiner Russischen Kaiserlichen Majestät, Selbstherrscher aller Reußen, erfolgt; auf Allerhöchst Deren Einladung wird sich unser geliebter Bruder den 1. Julius nach St. Petersburg begeben und nach sechsmonatlichem Aufenthalt zurückkehren und unter militärischer Bedeckung einen solchen gehörigen Geldtransport mitbringen, welcher alle unsere Gläubiger sowohl hier in Offenbach als in Frankfurt und aller Orten, wo nur unsere Schulden vorhanden, befriedigen wird. Sofort werden alle unsere hiesigen als auch auswärtigen Gläubiger um Geduld gebeten, ausgenommen unsere Bäcker, Metzger und anderen brauchbaren Leute, welche nach und nach abbezahlt werden. Nach geschehener Zurückkunft werden unsere Creditores durch öffentliche Blätter und unter dem Schall der Trompeten eingeladen, ihre Zahlungen sammt kommenden Interessen, welche pünktlich bis auf den letzten Heller ausbezahlt werden, zu empfangen; diejenigen aber, welche ohne zu können unsern Namen einigen Schandfleck angethan, werden nach geschehener Auszahlung ihre gebührende Strafe öffentlich dafür erhalten.
So geschehen |
Eva von Franck. |
Das landesherrliche Recht öffentlicher Proclamationen und Strafandrohungen, das sich die Familie mit diesem Actenstück herausnahm, und die Duldung desselben durch den regierenden Fürsten bestärkten die Bewohner der genannten Städte erst recht in der Annahme, daß man es mit nahen Verwandten des russischen Kaiserhauses zu thun habe.
Eine Reise des Fräuleins Eva nach Venedig sowie die so pomphaft angekündigte Geldfahrt Roch’s nach Petersburg verschlangen große Summen, blieben aber ohne den verheißenen Erfolg. Es trat nun wirklicher Mangel in der Hofhaltung ein; das noch zurückgebliebene Gefolge fing an, mit seiner Hände Arbeit, die Frauen durch Stickereien, die Männer durch Handel in Manufactur- und Goldwaaren, sich zu ernähren. Da starb plötzlich, ohne vorheriges Krankheitszeichen, der liebenswürdige Joseph von Franck und wurde mit großem Pomp auf dem Offenbacher Friedhof bestattet. Räthselhaft blieb freilich Allen das gar zu rasch abgespielte Ereigniß.
Neue Hoffnungen für die Geschwister von Franck wie für die Gläubiger brachte das Jahr 1815. Die drei verbündeten Monarchen hielten ihren Einzug in Frankfurt. Viele russische Große vom kaiserlichen Gefolge statteten dem Fräulein Eva ihre Besuche in Offenbach ab und sie selbst hatte eine Zusammenkunft mit dem Kaiser Alexander in Homburg vor der Höhe. Erfüllten sich auch nicht die Erwartungen der Gläubiger, so konnte doch von da an das Schuldenmachen aufhören; jeder Bedarf wurde sofort berichtigt, und schon dies erforderte nicht unbedeutende Mittel. Roch von Franck, der auch während der Anwesenheit des Kaisers in russischer Stabs-Officiersuniform in Frankfurt erschienen war und mit der kaiserlichen Umgebung in nahem Verkehr gestanden hatte, trat jetzt in activen Dienst der russischen Armee und war für Offenbach spurlos verschwunden.
Wie schon bemerkt, waren Großeltern und Eltern und mehrere nahe Verwandte der Familie des Herrn Schenck-Rinck an der Schuldenmasse Derer von Franck mit bedeutenden Summen betheiligt. Um eine gütliche Mahnung zu versuchen, begab sich, kurz nach dem Verschwinden Roch’s von Franck, die Mutter des Herrn Schenck-Rinck, ihn selbst mit sich führend, zu dem Fräulein Eva nach Offenbach. Herr Schenck-Rinck schreibt über diesen Besuch: „War schon die hier herrschende Pracht vollkommen geeignet, die kindliche Phantasie in die Märchenwelt zu führen, so verwischte sich mir nie der Eindruck, als sich die Portièren theilten und das Fräulein in noch immer wunderbarer Schönheit mit ihren glänzenden Augensternen, deren Feuer die Brillanten ihres Schmucks überstrahlte, auf meine Mutter mit herzlicher Begrüßung zutrat. Ich war damals ein Knabe von acht Jahren und blieb stumm und staunend im Anschauen der majestätischen Schönheit stehen; ja, ich gestehe offen, daß der Eindruck sich so tief dem kindlichen Gemüthe einprägte, daß ich noch jetzt, nach mehr als fünfzig Jahren, mich der feenhaften Erscheinung noch immer lebhaft erinnere. Das Fräulein konnte leicht den Zweck des Besuchs ahnen, und sie kam meiner Mutter mit Aufzählen von Aussichten und Hoffnungen zuvor; so groß war die Allmacht ihrer Schönheit und Liebenswürdigkeit, daß sie jeden Vorsatz einer ernsten Anforderung oder Drohung noch auf der Zunge entwaffnete.“
Das Jahr 1816 – das Hungerjahr – verlief ohne besonderes Ereigniß für Offenbach und seine geheimnißvollen Gäste; desto verhängnißvoller wurde das folgende Jahr. Eine Familie W. in Mainz, deren ganzes sehr bedeutendes Vermögen in den Säckel der von Franck’schen Hofhaltung geflossen und deren einst so geachtete Existenz dadurch vollständig gestört war, wandte sich endlich an den damaligen Gouverneur von Mainz, Erzherzog Carl, um Einschreiten. Sofort wurde über das Fräulein, die Kämmerlinge und die gesammte Dienerschaft Hausarrest verfügt; das geschah an einem Sonnabend, und am Montage wollte der Erzherzog selbst an Ort und Stelle die Erklärungen des Fräuleins [348] über deren wahren Stand und Namen entgegennehmen. – Da geschah in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag das Unglaublichste: auch Fräulein Eva war plötzlich gestorben.
Der Vater des Herrn Schenck-Rinck eilte sofort nach Offenbach, konnte nur mit Mühe den Eintritt in das Palais erlangen und verlangte die Leiche zu sehen; und siehe: kaum zwölf Stunden nach angeblich erfolgtem Tode der Verblichenen war der Sarg bereits geschlossen! Ein Arzt, welcher das Fräulein nie im Leben gesehen, hatte den Todesschein ausgestellt! Ohne besondres Gepränge wurde der Sarg mit weiß Gott welchem Inhalt zu Grab gebracht.
Erzherzog Carl kam nun nicht nach Offenbach; man begnügte sich damit, den Geheimsecretär und die dem Hofstaat attachirten Herren gefänglich einzuziehen und die übrige Dienerschaft gerichtlich zu vernehmen. Aller übereinstimmende Aussage lautete jedoch nur: „Wir wissen, daß das Fräulein unsere gütige angebetete Herrin und alleinige Gebieterin war“ – und: „Wir haben in dem Fräulein eine Romanowna gekannt und verehrt.“
Die Namen der damaligen höheren Beamten des Franck’schen Hofhalts waren: Johann und Michael Matuschewski, zwei Pawlowski, Piazewski und Saleski; Letzterer zeichnete sich später als Verfasser einer Geschichte seines Vaterlands Polen aus und ist erst 1864 gestorben, ohne den Schleier dieses Geheimnisses gelüftet zu haben.
An den Tod des Fräuleins Eva hat Niemand geglaubt, ja man nannte sogar damals offen einen fürstlich Isenburgischen hohen Staatsbeamten (v. G.) als Denjenigen, welcher dem Fräulein die Flucht ermöglicht habe.
Der Vorhang über das geheimnißvolle Geschlecht war somit gefallen, – um so offenbarer ging der vor den Schulden auf. Die Schuldenmasse betrug drei Millionen Gulden. Jetzt erst wurde Concurs über den Nachlaß des Fräuleins erkannt; der wenn auch nicht unbedeutende Erlös aus dem Verkauf der Mobilien und Immobilien minderte doch die Schuldsumme nur wenig, und so wurden den Creditoren gerichtlich alle Wechsel und Verschreibungen, die nach Beschluß nicht verjähren können, ausgeliefert, um später vielleicht einmal ihre Ansprüche geltend zu machen. – „Aber wohin sollten die Creditoren sich mit diesen Ansprüchen wenden?“ – so schließt Herr Schenck-Rinck. „Selbst das kaiserliche Haus Romanow, zu welchem die Franck’sche Familie vielleicht in nächster Beziehung stand, wird sie zurückweisen, – und so schlummern denn sämmtliche Wechsel und Briefe sammt jener merkwürdigen Proclamation in dem tiefsten Winkel unserer Familien-Erlebnisse.“ –
Auf einem niedersächsischen Bauernhofe.
An einem frischen Octobermorgen verließ ich in Begleitung eines Cameraden Ratzeburg, die kleine mitten im Ratzeburger See liegende Hauptstadt des kleinen Herzogthums Lauenburg, um einen Streifzug durch das platte Land zu machen. Wir wanderten über den St. Georgsberg, auf dem sich am hohen Ufer des Sees sehr schön ein Kirchlein erhebt, das man für das älteste im Lande hält, und befanden uns schon nach einer kleinen halben Stunde im „Ausland“, nämlich in der Lübeckschen Enclave Bahlendorf, welche aus einem Kirchdorfe und mehrern kleinern Ortschaften besteht. Mit dem Ueberschreiten der Stecknitz, die von Norden nach Süden mitten durch das Land fließt und den Hauptfluß desselben bildet, sind wir wieder im Herzogthum, und zwar im nordwestlichen Theile, wo sich der schwerste, fruchtbarste Boden und im Leben und Wesen der Bewohner noch ganz ursprüngliche Zustände vorfinden. Im Uebrigen ergötzten wir uns auch hier an der anmuthigen Landschaft, die sich aus sanften Hügeln, dichten Laubwäldern und hellen Seen zusammensetzt. Dazwischen laufen die braunen Acker- und saftigen Wiesenstücke, jede Koppel von einer lebenden Hecke, sogenannten Knicks, umfriedigt. Dann führte der Weg durch eines jener zahlreichen Gehölze von Eichen und Buchen, und alsbald vernahmen wir vor uns eine laute, kräftige Stimme, die mit folgendem Liedchen das Echo wachrief:
Kein bess’res Leben ist
Auf dieser Welt zu denken,
Als wenn man ißt und trinkt
Und läßt sich gar nichts kränken.
Ich lauf’ durch Wald und Feld
Und lach’ und sing’ dabei,
Hab’ ich auch nicht viel Geld: –
Es ist mir einerlei.
Deutlich drangen die Worte zu uns und wir eilten, den Sänger einzuholen. Es war ein untersetzter breitschulteriger Mann, der vierzig und etliche Jahre zählen mochte, mit einem wettergebräunten, scharfausgeprägten Gesicht, in welchem ein Paar kluge, graue Augen und ein starker Schnauzbart saßen. Unter dem linken Arm trug er einen Geigenkasten, mit dem rechten stützte er sich auf eine Krücke, mit welcher er trotz seines Stelzfußes rasch vorwärts humpelte. Wie er uns bemerkte, blieb er stehen und grüßte freundlich.
„Sie scheinen ja recht lustig und glücklich zu sein,“ redete ich ihn an.
„Jederzeit!“ entgegnete er. „Und ich habe alle Ursache dazu. Wie Sie mich hier sehen, bin ich ein wahres Glückskind.“
„Ein Glückskind?“ wiederholte ich zweifelnd und sah nach seinem hölzernen Bein.
„Ah!“ sprach er und folgte lächelnd meinem Blick. „Sie stoßen sich an diesen kleinen Verlust, aber glauben Sie mir, ich merke ihn schon lange nicht mehr. Ich komme mit Einem Bein eben so gut durch die Welt wie Sie und Andere auf zweien.“
„Sie sind ein Philosoph,“ sagte ich.
„Das weiß ich nicht,“ antwortete er, „denn ich kenne solch’ ein Thier nicht; aber ich weiß, daß ich ein Glückskind bin. Das Glück stand mir schon bei meiner Geburt bei, als ich noch gar keine Ahnung von ihm hatte, und es ist mir bis zur jetzigen Stunde treu geblieben.“
„Da möchte ich wohl Ihre Lebensgeschichte hören.“
„O, die ist kurz und einfach. Ich bin ein Zwillingskind, mein Bruder kam todt zur Welt, ich aber gesund und kräftig. War das nicht ein ganz besonderes Glück?“
„Allerdings.“ „Und was mein Bein betrifft, ich verlor es am 4. October 1850 beim Sturm auf Friedrichstadt, wo ich in den Reihen der schleswig-holsteinischen Armee kämpfte. Eine Kanonenkugel nahm es mir fort, aber meinem Vordermann hatte sie den Kopf abgerissen. War das etwa kein Glück?“
„Wie man’s nehmen will, aber –“
„Hören Sie nur weiter. Meine Geschwister, meine Vettern und Basen, meine ganze Verwandtschaft sitzen hier im Lande auf Bauerhöfen, wo sie vom frühen Morgen bis späten Abend sich wie das Vieh um das liebe Tagesbrod placken. Ihr ganzes Leben ist schwere Arbeit und ewige Sorge, sie haben von der Welt kaum etwas mehr gesehen als das Dorf, wo sie geboren sind und wahrscheinlich auch sterben werden. Mein Tagewerk dagegen ist Wandern und Nichtsthun; ich habe bereits ganz Deutschland durchstrichen, heute bin ich hier und morgen da, und wo ich hinkomme, streiche ich die Fiedel und lasse die Leute singen, springen und tanzen. Wo der Schornstein raucht, da wird auch für mich gekocht, und für die Nacht finde ich unter jedem Dache ein Unterkommen, sei es ein Federbett oder ein Strohlager. Häufig führt mich mein Glück zu Kindtaufen, Hochzeiten oder Jahrmärkten, wo es Speise und Trank in Hülle und Fülle giebt und nebenher noch Silber- und Kupfermünzen regnet. Nun sagen Sie selber, bin ich ein Glückskind oder bin ich es nicht?“
„Wenn Sie sich bei diesem Leben zufrieden und behaglich fühlen,“ entgegnete ich.
„Wie der Vogel in der Luft, wie der Fisch im Wasser. Habe ich doch darum einen hübschen Bauernhof fahren lassen, den Hof, auf welchem jetzt mein Bruder sitzt, der mich in seinem Herzen auslacht, mich einen Narren, einen Landstreicher schilt. Aber ich tausche mit ihm nicht, und wenn er’s mir heute anböte.
[349][350] Ich bin nämlich auf dem Wege, ihn und meine Verwandtschaft zu besuchen, was ich alle Jahr ein oder zwei Mal thue.“
„Jener Bauernhof war also Ihr Erbe? frug ich.
„Das gerade nicht. Wie Sie vielleicht schon wissen, sind die Bauergüter hier zu Lande nicht freies Eigenthum, sondern sie gehören eigentlich der Landesherrschaft, daher vererben sie sich nicht ohne Weiteres, sondern der Bauer kann den Hof einem seiner Kinder oder Verwandten überlassen, oder auch an einen Fremden verkaufen, wozu jedoch stets das Amt seine Genehmigung geben muß. Keins der Kinder hat ein gesetzliches Erbrecht, der Vater kann unter ihnen frei wählen, wer das Gut nach seinem Tode oder schon bei Lebzeiten erhalten soll, und die Geschwister in beliebiger Weise abfinden. Mein Vater hatte mich zu seinem Nachfolger erwählt, obgleich ich der jüngere Sohn bin, und dazu auch vom Amte bereits den Consens ausgewirkt. Mit dieser Bestimmung war jedoch weder ich, noch mein älterer Bruder zufrieden; dieser nicht, weil er den Hof selber haben wollte, und ich nicht, weil ich von Kindesbeinen keine Lust verspürte, ein Bauer zu werden und auf einem Hofe zu verschimmeln. Unser alter Schulmeister hatte mich die Geige spielen gelehrt und mir später seine eigene, dieses alte, prächtige Instrument, verkauft. Das spielte ich nun, so oft es im Dorf oder in der Umgegend eine Lustbarkeit gab oder ich sonst eine Stunde Zeit fand, häufig auch, wenn ich pflügen oder dreschen sollte, worüber mein Vater nicht wenig aufgebracht war und mich fast täglich ausschalt. Dennoch ließ er von seinem Plan nicht ab, sondern fuhr mit mir, als ich vierundzwanzig Jahre alt geworden, zu Amt, wo er mir den Hof verschreiben ließ, freiete mir auch ein Mädchen, das eine hübsche Aussteuer hatte und mich gern nehmen wollte. Da faßte ich meinen Entschluß und entlief wenige Wochen vor der Hochzeit mit einer Musikbande, die in unser Dorf gekommen. Ich nahm nur meine Sonntagskleider und ein paar Thaler aus meiner Sparcasse mit und schrieb dem Vater, er möge den Hof nur meinem Bruder übergeben. Das that er denn auch und ist bald darauf gestorben. Mein Bruder heirathete meine Braut und sitzt jetzt mit einem Nest voll Kindern auf dem Hofe. Ich aber bin seitdem in der Welt herumgezogen, bald mit einer Gesellschaft, bald auf eigene Hand, bis ich 1849 unter die Schleswig-Holsteinischen Freiwilligen trat und dort für eine leider verlorene Sache focht. Im Lazareth wurde mir das Bein abgenommen, dann habe ich wieder das alte, lustige Wanderleben angetreten und gedenke es bis zu meinem seligen Tode fortzusetzen. Das ist die ganze Geschichte!“
„Hat Ihnen Ihr Vater denn gar nichts hinterlassen?“
„Doch! Mein Bruder soll mir einhundert Thaler, ein Pferd, zwei Kühe, ein paar Schweine und etliche Schafe herausgeben, sobald ich mein Vagabundiren aufstecke, in meine Heimath zurückkehre und dort heirathe. Weil das aber – so Gott will! – nie und nimmer geschehen wird, werde ich auch nie einen Pfifferling erhalten, und mein Bruder lacht sich in’s Fäustchen. Um aber von meinem Vatertheil doch etwas zu haben, besuche ich ihn dann und wann und lasse mich von ihm ein paar Tage füttern. Doch nun sagen Sie mir, wohin geht denn Ihre Reise und was haben Sie für ein Geschäft?“
Ich gab ihm die nöthige Auskunft.
„Ah,“ rief er, „Sie wollen unsere Bauern und ihr Heimwesen kennen lernen! Da sind Sie just auf dem richtigen Fleck. Hier im Amte Steinhorst finden Sie noch Alles, wie es vor hundert, ja zweihundert Jahren war. Sehen Sie nur um sich! Die großen, langen, niedrigen, zerstreut liegenden Bauernhäuser mit den hölzernen Pferdeköpfen am Giebel, wo Menschen und Vieh einträchtig beisammen wohnen. Nur hin und wieder ein neumodischer Hof mit besonderen Ställen und Scheunen. Der gehört dann einem Fremden, der sich hier angekauft, oder einem Neuerer, der sein Geld verplempert oder mit Schulden gebaut hat. Die alten wohlhabenden Bauern sitzen auf ihren Geldkasten und rücken und rühren nicht, bis ihnen das Dach über den Kopf zu fallen droht, und dann ziehen sie einen neuen Ständer, eine neue Wand von Fachwerk ein. Ihre Kleider werden im Hause gesponnen, gewebt und genäht; nur an Festtagen tragen sie lange Röcke von blauem Tuch; mit gelben Messing-, zuweilen auch mit Silberknöpfen, die Hosen in den langen Stiefelschäften und auf den langen, grauen Haaren, die hinten durch einen Kamm zusammengehalten werden, einen verbogenen und verbolzten schwarzen Filzhut, mit dem schon der Großvater zur Einsegnung gegangen. Nur das jüngere Weibervolk hat auch hier die alte kleidsame Tracht abgeworfen und sich dafür mit Tonnenreifen, Federhüten und allerhand bunten Lappen behangen. Wie wär’s,“ fuhr er fort, „wenn Sie, da es Ihnen hier doch an Bekanntschaft fehlt, mit mir zu meinem Bruder kämen, wo Sie sich Alles selber ansehen können? Wir haben noch eine halbe Meile und langen vielleicht gerade zu Mittag dort an.“
„Das wäre uns ganz erwünscht, aber ungebetene Gäste würden Ihrem Bruder schwerlich willkommen sein,“ gab mein Gefährte zur Antwort.
„Ja, er ist ein zäher, filziger Bauer wie die anderen, aber soviel Gastfreundschaft finden Sie noch in jedem Lauenburgischen Hause, sonst würde es in der ganzen Umgegend das Ansehen verlieren.“
„Unter solchen Umständen nehmen wir Ihren Vorschlag gern an,“ sagte ich.
Gegen elf Uhr erreichten wir ein langes Dorf, das etwa aus zwanzig Bauerhöfen und ebenso vielen Kathen bestehen mochte, die sich nur wenig von einander unterschieden. Fast in der Mitte der Gasse lag ein unförmliches, wie die übrigen mit Stroh gedecktes Gebäude, auf welches unser Führer zuschritt. Den Eingang bildete ein großes, scheunenartiges, bis an die Dachsparren reichendes Thor, dessen beide Flügel ganz geöffnet und an der äußeren Mauer eingehakt waren. Im ersten Augenblick glaubten wir in eine endlose, halbdunkle Höhle zu blicken, bis wir im Hintergrunde ein großes, qualmiges Heerdfeuer entdeckten, dessen Rauch an der Decke und den Wänden hinauszog und im Kampfe mit den auflodernden Flammen und dem hereingaukelnden Sonnenlichte jenes magische Halbdunkel erzeugte. Dieser lange, breite Raum war mit Lehmestrich gepflastert und ließ in der Höhe das Strohdach erblicken. Im Vordergrunde stand ein halberwachsener Bursche und hieb auf einem Eichenklotze ein Strauchwerk klein, das wahrscheinlich den Knicks entnommen war, die in jedem Herbst abgeästelt werden. Er bemerkte uns nicht und außer ihm war kein menschliches Wesen zu sehen. Nur einige Hühner, Gänse, Enten und Ferkel pickten, schnatterten und grunzten umher, während links ein paar Pferdeköpfe und rechts mehrere Kühe neugierig die Fremdlinge anschauten. Auf dieser Tenne oder Diele concentrirt sich das Leben des Hofes; von hier aus geht es in das Wohnzimmer des Bauern, in die Kammern des Gesindes und in die Räume, die zum Aufbewahren der Küchengeräthe dienen. Hier ist in der Decke eine große Oeffnung angebracht, durch welche die in die Tenne einfahrenden mächtigen Erntewagen ihren Segen auf den Bodenraum entleeren; hier steht auf Gerüsten das in Säcke gefüllte Getreide, hier hängen im Rauche Mengen von Speckseiten, Schinken und Würsten.
„Nun werde ich mich anmelden, wie ich’s gewöhnlich thue,“ sagte der Stelzfuß leise zu uns. „Treten Sie nur ein wenig bei Seite.“
Dann öffnete er seinen Kasten, nahm die Geige heraus, trat auf die Schwelle des Thorwegs und begann einen munteren Tanz aufzustreichen.
Flugs ließ der Junge sein Beil sinken und glotzte den Musikanten überrascht an, bald aber sah sich dieser von einem Dutzend flachshaariger Buben und Mädchen umschwärmt, die aus den anstoßenden Thüren hervorquollen, Eins immer um einen halben Kopf höher als das Andere, und nun lärmend und in die Hände klatschend auf der Tenne hin- und hersprangen. Dann kamen auch einige erwachsene Männer und Frauenzimmer und endlich trippelte ein kleines, greises Mütterchen heran, indeß der Stelzfuß schneller und lustiger fortgeigte.
„Ohm Hinrich ist da! Ohm Hinrich ist da!“ jubelten die Kinder.
„Guten Tag, Bruder Hinrich! Willkommen, Schwager Hinrich!“ grüßten lachend die jungen Leute.
„Mein Sohn Hinrich, bist Du endlich wieder da?!“ sagte das Mütterchen und faßte die Hand des Spielmanns, so daß er im Geigen aufhören mußte.
„Ja, Großmutter,“ antwortete er, „ich bin wieder hier und denke diesmal ganzer acht Tage bei Euch zu bleiben.“
„Ach, mein Sohn,“ klagte die Alte, „warum willst Du nicht acht Wochen, acht Monate, nein, für immer bei uns bleiben?!“
[351] „Das würde mir und Euch nicht behagen,“ entgegnete er lächelnd. „Aber wo bleibt mein Bruder Christian?“
„Der Bauer sitzt in der Stube,“ sagte das Mütterchen.
„Hm!“ meinte Heinrich. „Er ist zu stolz, um seinem Bruder entgegenzukommen. Nun, dann müssen wir ihn wohl aufsuchen. Doch zuvor nehmt, was ich Euch mitgebracht. Hier!“
Er griff in die Taschen, an denen die Kleinen bereits schnupperten, und zog daraus eine Menge von Näschereien und Spielsachen hervor, die er unter sie vertheilte. Dann kamen die Erwachsenen an die Reihe, die Frauen erhielten Tücher, Bänder, glitzernde Nadeln und Ohrgehänge, die Männer hübsche Messer, buntbemalte Pfeifenköpfe und einige Päckchen Tabak.
„Euch, Großmutter, gebe ich eine neue Hornbrille und diesen Kuß!“
Dann winkte er uns, ihm zu folgen, und wir traten in das Wohnzimmer. Hier saß in einem hölzernen Armstuhle der Bauer, der aus einer kurzen Pfeife schmauchte und sich langsam erhob.
„Bruder Christian,“ rief der Stelzfuß, ihm die Hand schüttelnd, „hier sind ein paar Herren, die Dich und Deinen Hof abschreiben und abmalen wollen. Was sagst Du zu dieser Ehre? Bedanke Dich doch!“
„Seien Sie willkommen und setzen Sie sich!“ sprach der Bauer kühl und gemessen; dann ließ er sich in seinen Stuhl zurückfallen, rauchte weiter und blieb wortlos.
Alsbald begannen zwei Mägde eine lange Tafel aufzuschlagen, an der die Hausgenossen in bestimmter Reihenfolge Platz nahmen. An der einen Langseite saßen die Männer, Knechte, Jungen und Knaben, an der andern die Hausfrau, die Großmutter, ihre Töchter, die Mägde und kleinen Dirnen; der Platz zu oberst, wo sonst der Bauer zu sitzen pflegte, blieb leer. Der älteste Knabe sprach ein kurzes Tischgebet und die Mahlzeit nahm ihren Anfang, bei der eine Brodsuppe, Kartoffeln, Kohl und gebratene Speckschnitte die Hauptrolle spielten. Alle aßen langsam und bedächtig, aber ohne ein Wort zu verlieren.
Für uns, Heinrich und den Bauer ward etwas später ein Tisch im Nebenzimmer gedeckt und die Bäuerin wartete selber auf. Es gab einen Milchreis, Eierkuchen, gebratene Würste, Mehlklöße mit Pflaumen und zum Dessert Brod, Butter und Käse, Alles in gewaltigen Portionen und von guter Beschaffenheit. Heinrich, mein Camerad und ich führten die Unterhaltung, der Bauer sprach nur, wenn man ihn nach etwas fragte.
Nach dem Essen zeigte uns Heinrich das Haus, während uns die Kinder theils vor-, theils nachliefen.
„Sind das Alle Ihres Bruders Kinder?“ fragte ich.
„Nein,“ antwortete der Stelzfuß. „Etwa die Hälfte gehört meiner ältesten Schwester. Sie ist mit dem Großknecht verheirathet und dient nun hier gleichfalls als Magd, bis sie sich vielleicht später eine Kathe und ein Stückchen Land kaufen. So lange wohnen und speisen Beide mit ihren Kindern auf dem Hofe.“
„Heirathen denn die Bauerntöchter auch Knechte?“
„Je nun, wenn sie alt werden und keine anderen Männer bekommen.“
Außer der Schlafkammer für die Familie waren nur zwei Zimmer vorhanden, das Fremdenzimmer, in welchem wir speisten, und die große Wohnstube. Beide waren sehr einfach meublirt. In einer standen ein eiserner Klapptisch, ein halb Dutzend Rohrstühle und ein hohes breites Himmelbett mit buntgeblümten Kattunvorhängen, außerdem mehrere riesige Schränke und Truhen, in denen die Kleider- und Leinenschätze aufbewahrt werden; alle von massivem Eichenholz, schön geschnitzt und, wie uns Heinrich sagte, über hundert Jahre im Besitz der Familie. In der Wohnstube liefen rothgestrichene Bänke die Wände entlang und darüber waren ähnliche Gestelle angebracht, auf welchen Töpfe, Kannen, Tassen, Schüsseln, Teller, Löffel und anderes Geschirr lehnten. In der einen Ecke stand ein mächtiger Kachelofen von grüner Glasur, in der andern hing eine große geschwärzte Wanduhr. Durch ein in der Mauer angebrachtes Fensterchen konnte man die ganze Diele oder Tenne übersehen.
Diese ist der Hauptraum, denn sie enthält außer der Küche noch die Scheune, die Ställe, den Speicher und manches Andere. Rechts stehen die Kühe, links die Pferde und daneben logiren die Schweine, Schafe und das Federvieh. Nie erlischt auf dem großen Heerde das Feuer und stets hängt darüber ein riesiger Kessel, in welchem Wasser, Kartoffeln, Rüben oder ein Mehlbrei für das Vieh kochen. Daneben brodeln ein kleiner Kessel und mehrere Töpfe und Pfannen. Dieses Feuer heizt zugleich den Ofen der Wohnstube durch eine in die Mauer gebrochene Oeffnung, die während des Sommers durch eine Eisenplatte geschlossen wird. An der Heerdmauer hingen eine Menge Würste und Speckseiten, welche der immerwährende Rauch vortrefflich conservirt und die mit einer in der Nähe lehnenden Holzgabel zum täglichen Gebrauch heruntergelangt werden. Aber auch Menschen und Vieh befinden sich in diesem Rauche sehr wohl, der, da ein Schornstein fehlt, keinen andern Abzug hat als das Thor und einige oben an den Seitenmauern angebrachte Luftlöcher, daher er Wände und Balken schwarz und braun färbt. Er ist um so stärker und für den Fremdling um so empfindlicher, als er meist durch jenes den Knicks entnommene Strauchwerk erzeugt wird. Neben dem Heerde steht ein Wasserfaß, lehnt ein Backtrog, hängen die anderen Küchengeräthe, namentlich auch über einer Rolle ein drei Ellen langes Handtuch ohne Ende, das von allen Bewohnern gemeinsam benutzt wird. In einem besondern Verschlage befindet sich die Obst- und Speisekammer, in einem andern Flachs und sonstige Vorräthe. An den Wänden der Diele stehen in althergebrachter Ordnung ein Häckerlingkasten und eine Häckerlingschneide sowie die Kisten des Gesindes. Ihre Betten befinden sich in der Höhe auf einem über die Querbalken geschlagenen Gerüste, zu welchem eine Leiter hinaufführt. Noch höher bis zur Spitze des Daches auf langen Querstangen lagert das Getreide in Garben, die Stroh- und Heuvorräthe. Eine lange Leiter führt in den Dachraum, in welchem sich die obenerwähnte große viereckige Oeffnung befindet. Durch diese wird das Viehfutter und die Garben hinabgeworfen und letztere auf der Tenne ausgedroschen.
Die ganze Einrichtung des Hauses ist zwar sehr einfach und naturwüchsig, aber auch ebenso praktisch und bequem, weit zweckmäßiger als auf neuern Bauerhöfen, wo sich Scheune, Speicher und Ställe in besonderen Gebäuden befinden.
Freiligrath’s silberne Hochzeit. Es war am Nachmittage des 19. Mai, in der heitern Helle und Wärme des ersten schönen Tages während des diesjährigen kalten Frühlings, als wir uns von St. Johns Wood nach der Station der North London-Eisenbahn aufmachten, um an das entgegengesetzte Ende der Metropole, nach Lower Clapton, hinauszufahren. Eine deutsche Freundin hatte uns den Abend vorher durch die Nachricht überrascht, daß heute der fünfundzwanzigste Jahrestag von Freiligrath’s Vermählung sei, und wir waren um so rascher entschlossen, dem verehrten Dichterpaar unsere Glückwünsche zu seiner silbernen Hochzeit darzubringen, als wir schon länger einen Besuch beabsichtigt hatten. Ein voller Strauß von Frühlingsblumen, das frische Grün des Parks, die mildklare Luft um uns her, Alles stimmte zu der festlichen Empfindung des Tages, und wenn die Erinnerung an die Ereignisse der fünfundzwanzig Jahre, deren Kreis sich heute rundete, sammt dem Hinblick auf die gegenwärtige kritische Lage Deutschlands es nicht an ernsten Gedanken fehlen ließ, so konnten sie doch dem Feste sein Recht nicht rauben – sie gaben ihm nur den bedeutungsvollen Hintergrund, von dem es sich für uns, die seit langer Zeit zu der Familie des Dichters in freundschaftlicher Beziehung gestanden, charakteristisch abhob. Welch’ weite Kluft zwischen dem Mai 1841 und dem Mai 1866! Freiligrath, damals noch der orientalisch-exotische Schwärmer, der gekrönte Dichter eines romantischen Königs, Deutschland noch das unschuldige politische Paradies, in dem die Wölfe und die Lämmer, die Pardel und die Böcke friedlich nebeneinander lagen. Aber schon wenige Jahre später war Alles verändert. Der Dichter sagte seiner Ruhe im Schatten der tropischen Palmen, seinen phantastischen Wanderungen durch die Wüste, seinem Lehensverhältniß zu dem romantischen König Lebewohl. Entschlossen trat er mit seinem „Glaubensbekenntniß“ in die Schranken der vaterländischen Parteikämpfe und nahm ohne Zögern, als Folge dieser Revolution seines Innern, die Verbannung auf sich. Erst die Katastrophe jenes paradiesischen Zustandes der politischen Welt im Jahre 1848 rief ihn auf kurze Zeit in das Vaterland zurück. Doch sein persönliches Schicksal war fortan unauflöslich an das der deutschen Freiheit gebunden, seine Lieder gingen mit der Revolution und die Ebbe der großen Fluth, die so viel edle Kräfte auf’s Meer hinaustrieb, führte auch ihn von Neuem nach England in’s Exil. Traurig, fürwahr, sind die Verhältnisse eines Landes, das seine Dichter in die Verbannung stößt! und sehnend schweifte Freiligraths Auge seitdem aus der Fremde wohl oft in seine westphälische und rheinische Heimath hinüber. Allein er legte die Hände nicht müßig in den Schooß. Durch ausdauernde Arbeit gründete er sich während der langen Jahre der Reaction in London eine schöne Häuslichkeit; eine blühende Familie wuchs um ihn heran und das Glück, welches eine so gegründete Heimath dem freien Manne zu gewähren vermag, wurde ihm in reichem Maße zu Theil. So
[352] oft wir ihn früher besucht hatten, war es uns immer wie eine Fahrt in die Heimath gewesen. Der gastliche Willkomm, der freie, sympathische Sinn, die edle, anspruchslose Einfachheit und Heiterkeit des Dichterhauses hatten immer wieder die schönsten Nachklänge deutschen Familienlebens und deutscher Geselligkeit in uns wachgerufen, und durch die Unterhaltung wehte und rauschte es wie der Strom des Rheines, wie die Luft des Teutoburger Waldes. …
Auch diese Erinnerungen zogen durch uns hin, als wir, an der Hackney-Station aussteigend, der Wohnung des Dichters zuschritten. Clapton ist eine jener ländlichen Gartenvorstädte, die in meilenweitem Kreise das innere London umkränzen. Die Gärten grünten und blühten ringsum, der Himmel glänzte in dem schönsten Blau, dessen die Londoner Atmosphäre fähig ist. Wir fanden das silberne Brautpaar zu Hause, und es machte keinen Unterschied in dem herzlichen Empfang, als wir beim Aussprechen unserer Glückwünsche erfuhren, daß wir an dem Vorabend des fünfundzwanzigsten Jahrestages gekommen seien, da der Jahrestag selbst zusammenfalle mit dem zwanzigsten Mai, dem diesjährigen ersten Pfingsttage. Geschah doch auf solche Weise auch dem Polterabend seine Ehre! Und so saßen wir bald in traulichem Gespräch bei einander. Zunächst, wie sich von selbst versteht, galt es der Vergangenheit. Es war, im Rückblick auf den Verlauf eines Vierteljahrhunderts, ein heitrer Gedanke, zwei so schöne Gedächtnißtage der ersten und der zweiten Vermählung zusammentreffen zu sehen, indem jener durch den Himmelfahrtstag, dieser durch das Pfingstfest seine äußere Weihe erhielt. Aber bald wandte die Unterhaltung sich der Gegenwart zu, und wie Vieles da mit Wünschen, Befürchtungen, Hoffnungen durchgesprochen wurde, bedarf keiner Erklärung.
Auch Freiligrath’s persönliche Verhältnisse haben in Folgen des Eingehens der Schweizer Bank in London, als deren Director er während der letzten zehn Jahre fungirte, in jüngster Zeit einen Stoß erlitten, dessen Ueberwindung die ganze ruhige Entschlossenheit und Resignation eines Mannes erfordert, welcher, der Vollendung des sechsten Jahrzehnts nahe, nach so vielen Wechselfällen des Lebens gehofft hatte, endlich von der hohen See in einen sichern Hafen eingelaufen zu sein. Seine Familie hatte für den herannahenden Sommer einen Besuch in Deutschland beabsichtigt; Wolfgang, sein ältester Sohn, sollte demnächst eine Stelle in Görlitz antreten, aber bei dem drohenden Ausbruch des Krieges hatte man beide Pläne vertagen müssen. Die Frage, ob Freiligrath mit einer poetischen Arbeit beschäftigt sei, und die Antwort, daß er die älteren englischen Dichter in die Hand genommen, führte zu einem Besuch in seinem Studir- und Bibliothekzimmer. Ein schönes, großes Zimmer, mit weitem Blick in die umgebende Landschaft, und von oben bis unten angefüllt von Werken der Kunst und der Poesie. Bilder und Büsten von Dante, Shakespeare, Goethe, Schiller, Uhland, Grabbe, Immermann, Chamisso an den Wänden; in den Bücherschränken reiche Schätze deutscher und englischer Literatur. Hier die erste Ausgabe von Milton’s Paradise Lost, dort der Göttinger Musenalmanach, die Horen, die ersten Ausgaben des Faust, der Räuber, der Burns’schen Gedichte, der Byron’schen Hours of Idleness, der Percy’schen Volkslieder. Unwillkürlich fühlte man sich aus der chaotischen Wirklichkeit hingezaubert in die heitre Welt der Poesie, und nur zögernd trennten wir uns von dem Heiligthum des Dichters und der Dichtung, als der Thee angemeldet wurde. Nach dem Thee wurde Musik gemacht. Im Laufe des Abends fanden noch mehrere andere Freunde sich ein und zwischen Gesang, Spiel und Unterhaltung gingen die Stunden wie im Fluge vorüber. Endlich schien es Zeit zum Aufbruch. Aber siehe da, inzwischen war es Zeit zum Abendessen geworden und die Einladung zu einer Bowle Maitrank konnte unter den Umständen nicht ausgeschlagen werden. Und in Maitrank wurde dann unter lautem Jubel die Gesundheit des silbernen Brautpaars ausgebracht. Der Waldmeister, obschon auf englischem Boden gewachsen, duftete, als käme er aus den Gründen deutscher Wälder, die Blume des Rheinweins war unverblüht und das dazu schallende „Hoch“ tönte mit vaterländischem Gefühle drein.
Eben waren wir aufgestanden, um nochmals einen Gang durch die Bibliothek zu thun, als von unten her vierstimmiger Männergesang ertönte. Deutsche Stimmen, deutsche patriotische Lieder. Es war der Gesangverein des Londoner Turnerbundes, der noch spät Abends den weiten Weg nach Clapton hinausgekommen war, um das silberne Brautpaar durch den Klang seiner Lieder zu erfreuen. Als die letzten Töne verhallten, begab die ganze Gesellschaft, Freiligrath und seine Gemahlin an der Spitze, sich zu den Turnern hinunter. Man schüttelte sich die Hände, die Bowle wurde neu mit Rheinwein gefüllt und der Dichter drückte in einer kurzen Ansprache den Turnern seinen Dank für die ihm erwiesene Freundlichkeit aus. „Aber,“ so schloß er, „lassen Sie uns, die wir hier vereint sind, auch Deutschland nicht vergessen; lassen Sie uns hoffen, daß es aus seiner gegenwärtigen bedrängten Lage auferstehen werde zu neuem Leben! Deutschland hoch!“ Hoch, hoch! schallte es von allen Seiten nach, und unter den vereinten Wünschen für die Zukunft des Dichterhauses und des deutschen Vaterlandes nahm man Abschied.
So feierten wir Ferdinand Freiligrath’s silberne Hochzeit, eine Festfeier, die in der Geschichte der Dichter und mehr noch in der der Emigration gewiß zu den seltensten gehört und deren Erzählung mir daher auch mitten in dem Waffenlärm der Gegenwart als eine den zahlreichen Freunden des Dichters willkommene erschien.
Mein alter Koffer. Ich bin eben wieder von einer kleinen Tour nach Hause zurückgekehrt und mein alter Koffer steht noch neben mir in der Stube, kaum geräumt, aber jeden Augenblick bereit, auf’s Neue seine Ladung einzunehmen und mich auf einer frischen Reise zu begleiten. Alter, ehrlicher Koffer, wie manche lange Strecke haben wir schon zusammen zurückgelegt, und wie jugendfrisch sieht er eigentlich noch aus! Ein paar Runzeln hat er freilich bekommen und ein paar Narben, es geht das nicht anders im Leben, bei Menschen, wie bei Koffern, aber zäh hat er sich gehalten – und wenn ich denke, was er Alles durchgemacht!
Ich traf neulich einen Amerikaner, der mir seinen Koffer rühmte und behauptete, ein solches Fabrikat könne nur in Amerika geliefert werden; ich bewies ihm, daß unsere deutschen Arbeiter das Nämliche und Besseres leisten, wenn sie wollen. Diesen Koffer habe ich im Jahre 1849 von Moritz Mädler am Markt in Leipzig für elf Thaler gekauft, und wie viel tausend Meilen ich mit ihm in der Zeit gemacht, wäre wohl kaum zu sagen. Dabei ist nie ein Ueberzug über seine schwarze Haut gekommen und trotzig hat er der brennenden Sonne der Tropen, wie Schnee, Regen und Salzwasser die Stirn geboten.
Von 1849–52 begleitete er mich um die ganze Erde, dann lange Jahre auf allen Zwischenreisen, 1860 und 61 wieder nach Süd-Amerika, 1862 nach Afrika, und immer und immer hielt er treu aus. In Valparaiso lief er mir freilich einmal davon und ich mußte eine weite Strecke hinter ihm dreinfahren – er war damals noch jung. In Californien ließ er sich einmal plündern, wie es auch schon manchem mit Vernunft begabten Menschen geschehen ist, aber nichts konnte uns trennen. Packträger haben ihn über die Cordilleren geschleppt, die Südsee-Insulaner ihn über den Korallensand ihrer Eilande gezogen; auf den Rücken eines Maulthieres geschnallt, ist er durch die Pampas geflogen, das Cap Horn hat er umschifft und das Cap der guten Hoffnung, die Landengen von Panama und Suez gekreuzt und mehr als einmal die Spritzwellen der See über sich hinwegschlagen lassen. In Java ist er dabei von Termiten angefallen, in Abyssinien von Scorpionen besucht worden, hat bald in Hotels, bald unter einem Baume logirt, kennt die unteren Schiffsräume von zahllosen Fahrzeugen und darf sich rühmen, unausgesetzt den wahrhaft grausamen Mißhandlungen getrotzt zu haben, mit denen Koffer und sonstiges Passagiergut in ordentlich durchdachter Weise von deutschen Eisenbahn-Bediensteten behandelt werden. Aber trotzdem, wie wenig verändert, seit ich ihn im Laden kaufte, steht er da! Er ist älter geworden, ja, aber wahrlich nicht schlechter oder weniger brauchbar, und ich fürchte fast, daß er mich noch überlebt und mein Sohn vielleicht einmal das Geschäft mit ihm fortsetzt.
Darum tadle mir Keiner deutsche Fabrikate! Die Franzosen mögen eleganter, die Engländer und Amerikaner oft praktischer arbeiten, als die Deutschen, doch nie im Leben solider und dauerhafter, und dafür ist mein alter schwarzer Koffer zwar ein stummer, aber doch beredter Zeuge.
Wie Georges Sand jetzt lebt. Georges Sand lebt nicht mehr auf ihrem reizenden Schlosse Nohant, das sie ihrem Sohne Maurice Sand überlassen hat; sie bewohnt gegenwärtig in Paris, Rue des Feuillantines Nr. 97, eine neue Wohnung in einem neuen Hause. Damit haben wir zugleich gesagt, daß sie sich daselbst äußerst unbehaglich fühlt. Ihr Arbeitszimmer scheint sie zu geniren wie ein Kleid, dessen Aermelausschnitt zu eng ist. An den Wänden hängen einige sehr mittelmäßige Gemälde, die nicht von berühmten Meistern herrühren können. Georges Sand wird am 5. Juli zweiundsechszig Jahre alt; es ist jetzt vierundvierzig Jahre her, seit sie sich mit dem Baron Dudevant vermählte, von dem sie seit dreißig Jahren gesetzlich geschieden ist. Trotz dieses Alters hat sie noch immer etwas Jugendliches in ihrem Aussehen, was sie der Schönheit ihrer lebhaften Augen und dem kaum ergrauenden Haar verdankt, welches in kleinen, krausen Löckchen Stirn und Schläfen umgiebt. Sie bedient sich einer Brille, aber nur zum Schreiben.
Georges Sand hat eine sanfte, angenehme Stimme und drückt sich mit vieler Leichtigkeit und Einfachheit aus. Erhält sie Besuch, so ist ihr Erstes, dem Besucher eine Cigarette anzubieten und sich selbst eine anzuzünden, worauf sie mit großem Behagen die weißen Rauchwolken in die Luft wirbelt. So nimmt die Unterhaltung sofort einen vertraulichen Ton an, den sie überhaupt liebt, vorausgesetzt, daß der Besucher ein geistreicher Mann ohne große Prätensionen ist. War sie jemals schön? Es existiren viele Portraits von Georges Sand, und die Urtheile der Schriftsteller, welche sie in ihrer Jugendblüthe gekannt, sind völlig verschieden und unklar darüber. Heinrich Heine hat sich über diesen Punkt am deutlichsten ausgesprochen; er erblickte in der Verfasserin der „Consuelo“ ein Wunder von unvergleichlicher Schönheit, eine Art leidender und doch strahlender Gottheit, welche alle Anbetung verdiente. Wenn man heute diesen ausdrucksvollen Kopf, dieses Gesicht betrachtet, dessen Züge durch das Alter von den Verheerungen der Leidenschaft gereinigt und nur noch von Geist verklärt sind, so fühlt man sich versucht, zu glauben, daß er Recht hatte und daß er allein richtig gesehen hat.
Kleiner Briefkasten.
G. B. in Z. Dergleichen Spielerein gehören zwar eigentlich nicht in die Gartenlaube; da Sie aber die jetzt so in Mode gebrachte Vexirschrift – auch Prismatypie genannt – noch nicht kennen und uns ähnliche Wünsche auch von anderen Seiten geäußert worden sind, so lassen wir nebenstehend eine rechts hübsche Kleinigkeit dieser Art folgen, indem wir noch bemerken, daß Sie sich die Vexirkarten selbst von Th. Wendisch, Stralauer Straße 38 in Berlin verschaffen können. Versuchen Sie nun, ob Sie den scheinbaren Krikelkrakel unserer Prismatypie der Höhe und Quere nach entziffern können.