Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[321] No. 21.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Frankfurter Advent.
Historische Novelle von Bernd von Guseck.
1.

„Nicht von der Stelle, Hermann! Ich will doch hören, ob Du mir in’s Gesicht noch einmal das sagen wirst! Bleib’ da, ich befehle es Dir! In dem Rock da habe ich Dir wieder zu befehlen!“

Der junge Mann, welcher bereits die Hand auf die Thürklinke gelegt hatte, wandte sich um und blieb stehen. Sein Gesicht war von der Röthe des Unwillens gefärbt, der auch aus seinen großen, blauen Augen leuchtete.

„Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, Onkel,“ sagte er. „Meine Ansichten werde ich nie verleugnen.“

„Deine Ansichten? Landgräflich-hessische Ansichten sind es!“ rief der Onkel. „Eingebläut, andressirt! Ihr hättet schon davon curirt werden können, als euer Blut verschachert wurde zum Kriege in Amerika und ihr ein freies Volk mit all’ eurer gerühmten Tapferkeit nicht wieder in die alte Knechtschaft werfen konntet – und jetzt werdet ihr noch mehr Schimpf und Schande davon tragen! Deine Ansichten! Tritt her, sag’s mir noch einmal, daß ich ein Bastard Deutschlands bin!“

„Onkel!“ entgegnete der junge Mann, indem er die Hand wie zur Abwehr dieser Beschuldigung erhob.

„Ja, ja!“ rief der Onkel heftig, „wenn Du mich auch nicht ausdrücklich genannt hast! Jeder Deutsche, der mit den Ideen der Franzosen übereinstimmt, ist ein Bastard seines Vaterlandes, war’s nicht so?“

„Auch das habe ich nicht gesagt, Onkel,“ versetzte der Neffe, mit einem raschen Schritte näher tretend. „Nicht von den Ideen habe ich gesprochen, welche schön und erhaben in Worten klingen, die Thaten sind es, die ein deutsches Gefühl empören müssen: Mord und Gräuel im Innern, Auflösung aller Zucht und Ordnung, und gegen Deutschland freche Gewalt, Einbruch in deutsches Reichsgebiet, wo das Reich doch Frieden mit der neuen Republik hat. Damit können Sie nicht einverstanden sein, Onkel, und darum trifft Sie mein Wort nicht!“

Der Onkel richtete seine starke und stattliche Gestalt, welche er gewöhnlich etwas gebückt trug, zu ihrer vollen Länge auf und maß den Neffen mit einem zürnenden Blick. „Ich kann mit einem landgräflich-hessischen Lieutenant nicht um Dinge streiten, die über seinen Horizont hinausliegen,“ sagte er. „Sturm und Gewitter richten Verwüstungen an, aber sie bringen Segen. Die Gräuel in Frankreich sind ein furchtbarer Rückschlag für andere, welche das Volk erlitten hat, der Einbruch in deutsches Reichsgebiet ist herausgefordert worden durch Feindseligkeiten der Kurfürsten und Bischöfe am Rhein mitten im Frieden. Wo Gerechtigkeit und Freiheit herrscht, wie bei uns in Frankfurt, hat Niemand etwas zu fürchten. Weshalb bist Du denn eigentlich verkleidet nach Frankfurt gekommen? Spioniren? Die reiche Stadt als revolutionär verdächtig machen, damit Seine Majestät von Preußen und Dein Durchlauchtigster Seelenverkäufer ihr eine kleine Brandschatzung auferlegen können?“

„Einen Spion suchen Sie drüben bei der Tante!“ rief Hermann entrüstet. „Meinen Herrn aber bitte ich nicht zu verunglimpfen, sonst vergißt der Soldat seine Herkunft.“

„Bursche, das sagst Du mir!“ schrie der Alte, die Hand erhebend. Hermann wich nicht zurück, aber sein Auge sprühte Flammen und sein Gesicht wurde todtenblaß – welche Veränderung plötzlich in allen seinen Zügen! Er glich sich selbst nicht mehr, es war plötzlich ein ganz anderes Antlitz geworden, bleich wie der Tod, furchtbar, aber schön – die blauen Augen schwarze Nacht.

Auf den Oheim machte diese Verwandlung einen entnervenden Eindruck, sein gehobener Arm sank herab, der alte Mann starrte auf den Jüngling, als sehe er eine Geistererscheinung vor sich, er wandte sich ab und griff nach der nächsten Stuhllehne, denn ihm wankten die Kniee.

„Ich habe Sie nicht beleidigen wollen, Onkel,“ sprach Hermann, der sich gewaltsam faßte, mit bebender Stimme. „Verzeihen Sie mir und lassen Sie uns in Frieden scheiden. Sie haben meinen Wünschen nachgegeben, als ich den Kaufmannsstand, für den Sie mich bestimmt hatten, mit dem hessischen Kriegsdienst vertauschte; daß ich als ehrlicher Soldat die Proclamation, mit welcher uns die Franzosen zum Treubruch verleiten wollten, daß ich, was sie an deutschem Land gethan, nicht gut heißen kann, werden Sie einsehen. Ich kam nach Frankfurt, um von Ihnen und der Tante Abschied zu nehmen, ehe ich mit den Depottruppen zum Corps abmarschire; in bürgerlicher Kleidung kam ich, um hier kein Aufsehen durch meine Uniform zu erregen und den französischen Agenten, deren es auch hier giebt, keinen Grund zu neuen gehässigen Anklagen zu liefern, als leiste meine Vaterstadt den gegen Frankreich alliirten Armeen Vorschub. Geben Sie mir Ihre Hand, Onkel, zum Zeichen, daß Sie mir nicht mehr böse sind.“

Der Oheim aber verweigerte ihm dies Zeichen. Er wandte sich noch mehr ab, um ihn gar nicht anzusehen, und sagte in einem Tone, der nicht die gewohnte Festigkeit hatte: „Böse bin ich nicht. Es kann nicht anders sein, wie einmal Alles gekommen ist. Geh’ Deinen Weg, Hermann, Ihr werdet den Weltlauf mit allen euren Bajonneten nicht ändern. Sage der Tante Lebewohl und wenn Du Menschen bei ihr findest, die Dich nicht kennen, [322] so demaskire Dich ihnen nicht. In jetzigen Zeiten muß man vorsichtig sein. Lebe wohl.“

Er winkte gebieterisch und Hermann verließ mit einem letzten Scheideworte das Zimmer. Ein langer Gang führte in dem alterthümlichen Hause nach der Visitenstube der Tante; sie hatte, wie er kurz vorher im Heraufsteigen von der Treppe bemerkt hatte, den Gast wieder empfangen, der ihm von der ersten Bekanntschaft an verhaßt gewesen war, vielleicht traf er ihn noch dort und in der Stimmung, welche ihn eben beherrschte, wäre ihm das ganz recht gewesen. Wenn der aalglatte Elsasser auch kein Spion war, wie Hermann gegen den Onkel geäußert hatte, so blieb er doch ein Feind der Sache, für welche der hessische Officier jetzt in den Kampf ging. Er hatte bisher immer vermieden, ihm darüber Rede zu stehen, diesmal beim Abschiede wollte er den Herrn Stamm dazu zwingen. An der Treppe wurde Hermann dieser grimmigen Laune aber durch den Anblick seiner lieblichen Cousine entrissen, welche eben einem armen Handwerksburschen eine Gabe verabreichte. Sie bemerkte den Vetter erst nicht, denn sie fragte den Wandergesellen, der ein offenes, ehrliches Gesicht hatte, nach seinen Umständen, dieser jedoch blickte erstaunt auf und rief: „Ei, Herr Lieutenant, wie kommen Sie da her? Haben Sie den bunten Rock an den Nagel gehängt?“

Hermann erkannte den breitschultrigen starken Burschen auf den ersten Blick, er hatte in der frühern Garnisonstadt Hermann’s bei seinem Wirth als Schlossergesell gearbeitet. „Auf der Wanderschaft, Sperber?“ entgegnete er und zu seiner Cousine sich wendend, erklärte er ihr seine Bekanntschaft mit dem Gesellen, während er seinen Geldbeutel hervorzog, um ihm gleichfalls eine Gabe zu verabreichen.

„Ich suche hier Arbeit, Herr Lieutenant, habe aber noch keinen Meister und muß mir schon unterdessen ein Stück Brod auf Gotteslohn erbitten,“ sagte Sperber. „Sind Sie auch außer Brod, gerade jetzt, wo der Betteltanz erst recht losgehen wird?“

„Nein, braver Kerl, ich habe nur einstweilen die Uniform zu Hause gelassen, stehe noch immer beim Regiment Erbprinz und habe nur vor’m Ausmarsch zu unserm Corps im Felde Urlaub genommen.“

Er sah sich um, durch eine Bewegung seiner Cousine aufmerksam gemacht, und blickte gerade in das lächelnde Gesicht mit den scharfen, schwarzen Augen, das ihm stets Widerwillen eingeflößt hatte. Der Elsasser, der, auf das Recht einer frühern Bekanntschaft mit dem Hausherrn fußend, jetzt fast ein täglicher Gast hier war, hatte sich mit seinem unhörbaren Katerschritt der Gruppe an der obersten Treppenstufe genaht und mußte Hermann’s Erklärung gehört haben. Die Warnung des Onkels, sich gegen fremde Leute nicht zu demaskiren, war also eitel gewesen; Hermann hätte sie vielleicht auch ohnedem nicht befolgt, da er viel zu offen und thatkräftig war, zu verleugnen, was er sich zur Ehre rechnete. Die bürgerliche Kleidung hatte er für seinen Besuch in Frankfurt und auf den ausdrücklichen Wunsch des Generals von Cochenhausen angelegt, der ihm Urlaub gegeben hatte.

Der Elsasser zog den Hut von dem wohlfrisirten und gepuderten Haar, und grüßte Hermann freundlich lächelnd mit einer kurzen, energischen Kopfneigung, daß ihm der altmodige Haarbeutel, den er noch trug, vom Nacken aufbäumte, und schoß dem Handwerksburschen, der die Treppe hinabging, einen scharfen Blick nach. Dann fragte er das junge Mädchen süß und verbindlich, ob er wohl den Herrn Papa noch zu Hause finde, und ging, als ihm das bejaht wurde, mit einer neuen graciösen Hutschwenkung gegen die beiden jungen Leute den Corridor entlang. Auf dem ersten Absatz der Treppe hatte sich der Schlossergesell nochmals umgedreht. „Herr Lieutenant!“ rief er mit unterdrückter Stimme herauf, indem er mit dem Daumen ein Zeichen machte, das auf den abgehenden Elsasser zu deuten schien.

Hermann eilte sogleich zu dem Burschen hinunter.

„Mit dem nehmen Sie sich in Acht,“ raunte ihm Sperber zu, „den hab’ ich kürzlich vor Mainz beim Custinus gesehen.“

„Custinus? Was meinen Sie?“

„Nun, Sie werden doch wissen, wer der Custinus ist, der französische General?“

„Custine!“ rief Hermann. „Bei dem haben Sie diesen Herrn gesehen? Wie kamen Sie dorthin?“

„Nicht aus freien Stücken, Herr Lieutenant. Die Schwolschehs hatten mich aufgegriffen auf der Landstraße, in Mainz war keine Arbeit mehr, ich wollte weiter wandern. Bei einem Haar wär’ ich gehängt worden, einen Futterstrick hatten sie schon losgewickelt, aber da kam der General dazu mit einer ganzen Schmiere von Reitern, und der da“ – er ließ wieder den Daumen nach Oben steigen – „der war auch dabei, sah aber nicht so polirt aus, wie heut’, der nahm mich vor, weil er Deutsch konnte, und fragte mich aus, wie’s in Mainz stände. Ich hab’ ihm aber die Hucke vollgelogen. Der General ließ mich dann laufen.“

Hermann wechselte mit seiner Cousine, welche ebenfalls ein paar Stufen herabgekommen war, einen Blick. Dann fragte er: „Und woher wissen Sie den Namen des Generals?“

„Den hat er mir selber sagen lassen, der spitznasige Herr da mußte mir sein Kauderwälsch in ehrliches Deutsch verdolmetschen. Nehmen Sie sich in Acht mit ihm, der verkauft Sie. Nun Adjes! Viel Dank!“

„Was sagst Du dazu, Dorothee?“ fragte Hermann, als er mit seiner Cousine in entgegengesetzter Richtung, als der Elsasser, den langen Gang verfolgte.

Dorothea hob die schönen braunen Augen zu ihm auf und zögerte mit der Antwort. „Es kann ein Mißverständniß sein,“ erwiderte sie. „Der Mensch kann sich geirrt haben, und wenn das nicht, so hat es für uns wohl nichts zu bedeuten. Herr Stamm ist bekannt mit Papa, was sollte er für gefährliche Absichten haben?“

„Liebe Dorothee, das ist Deine ehrliche Meinung nicht, sagte Hermann, „willst Du Dich gegen mich verstellen?“ Er reichte ihr die Hand, in welche sie die ihrige legte; Beide gingen eine Weile stumm neben einander her. Ein schönes Paar, das auch eine gewisse Familienähnlichkeit zeigte, obschon Hermann hoch und männlich gewachsen, Dorothea aber zart und sehr viel kleiner war. Sein Haar, glatt zurückgekämmt und am Nacken straff zusammengebunden unter einer breiten schwarzen Schleife, die den weitern Verbleib des untergeknöpften Soldatenzopfes verbarg, zeigte unter dem leichten Puder ein schönes Blond; das ihrige, in vielen kleinen Locken um den Kopf aufgebauscht und von einem himmelblauen Bande gehalten, schimmerte in lichtem Braun; seine Augen waren blau und strahlten in diesem Moment von inniger Liebe, Dorothea’s Augen hätte man der Farbe nach mit denen des Rehs vergleichen können, wenn sie nicht gar so lebhaft und leuchtend gewesen wären. Ein Schöngeist von der Zeil, der sich Goethe’scher Beachtung rühmte, hatte vor Kurzem den geistreichen Ausspruch gethan: „Wenn Dorothea Hartinger zu einem Frauenkaffee gebeten sei, ersparten ihre Augen der Wirthin ein halbes Pfund Lichte.“ Größe, Haar und Augen ausgenommen, hatte Dorothea mit ihrem Vetter, obwohl die Verwandtschaft eine ziemlich entfernte war, eine überraschende Aehnlichkeit, dieselbe hohe Stirn über den fein und regelmäßig gezeichneten Augenbrauen, dasselbe griechische Profil, den gleichen Schnitt des Mundes und Kinnes. Wer sie zum ersten Mal sah, konnte sie wohl für Geschwister halten. „Meine Dorothea,“ brach Hermann kurz vor der Thür der Mutter das Schweigen, „ich gehe nun hinweg und wer weiß, wann wir uns wiedersehen …“

„Gott wird Dich schützen!“ antwortete sie muthig.

„Wirst Du auch zuweilen an mich denken?“ Ein rascher Blick voll sanften Vorwurfs war ihre Antwort. „Wirst Du mich immer lieb haben?“ fuhr er fort, indem er den Arm um sie schlang und sie an seine Brust zog. „Wirst Du mir treu bleiben, es mag geschehen, was da wolle?“

Sie machte sich los und sagte: „Ich bleibe Deine treue Cousine.“

Ein fester Schritt nahte sich. Es war die alte Dienerin des Hauses, welche schon bei Dorothea’s Großmutter gedient hatte und ihres Vaters Amme gewesen war. Noch jetzt, nahe den Achtzigern, trat sie so fest auf, daß es sich kaum mit ihrem Stande vertrug. Der Vater hatte sie aber sehr verwöhnt.

„Nun, junger Herr, noch nicht im Sattel?“ rief sie. „Die Mama wird sich wundern, Mamsell Dorchen!“ Es war eine der vielen Wunderlichkeiten der alten Frau, daß sie schon, so lange das junge Paar denken konnte, schon als Beide noch Kinder waren, ihre natürliche Zuneigung nicht gern gesehen, sondern möglichst gestört und verhetzt hatte.

„Ich muß mich noch der Frau Tante empfehlen, Amalie,“ sagte Hermann. „Mein Pferd steht gesattelt.“

„Machen Sie, daß Sie fortkommen! Sonst werden Sie noch [323] von den Franzosen erwischt. Nehmen Sie der Madam hier die Mainzer Zeitung mit, ich habe sie eben geholt. Und nennen Sie mich nicht so vornehm Amalie – Male heiß’ ich und dabei bleibt’s. Sind Sie beim Papa gewesen, Mamsell Dorchen?“

„Der Papa hat Besuch,“ erwiderte Dorothea, reichte dem Vetter noch einmal mit einem Lebewohl, das allerdings von der Gegenwart der alten Frau kälter klang, als selbst diese erwarten konnte, die Hand und ging an der Thür der Mutter vorüber nach ihrem eigenen kleinen Zimmer, das weiter zurück lag.

„Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Lieutenant Ortenburg, Sie werden’s der alten Male, die es gut mit Ihnen meint, schon nicht übel nehmen.“ Der gewöhnlich harte Ton der alten Frau klang in diesem Augenblicke wirklich wohlwollend, man hätte ihn in seiner Art zärtlich nennen können. „Lassen Sie sich die Liebesgedanken auf Dorchen vergehen. Ja, ja! Sie denken wohl, ich bin blind? Wenn die Mama mit ihrer Brille nichts sieht, ich sehe Alles! Aus Ihnen und der Dorche kann nichts werden und wenn Ihre Altvordern seit Erschaffung der Welt zum alten Limburg oder zum Frauenstein gehört hätten, wie Sie vielleicht glauben. Das ändert nichts. Und selbst wenn die Mama ‚Ja‘ sagte, der Papa würde beim ‚Nein‘ bleiben und obendrein seinen Fluch drauf setzen, wenn Sie etwa nach seinem Tode noch Lust zu der Heirath verspürten. Reiten Sie also in Gottes Namen fort und am Besten, wenn Sie gar nicht wiederkommen!“

Die letzten Worte sprach sie wieder mit der vollen Härte, die man an ihr gewohnt war, und wenn sich Hermann, der sein Geheimniß mit Zorn und Scham von ihr errathen und in dieser Weise behandelt sah, noch Mühe geben wollte, den Grund der trostlosen Aussicht, welche sie ihm so bestimmt eröffnete, von ihr zu erfahren, so stand sie ihm nicht einen Moment Rede, sondern ließ ihn mit der Mainzer Zeitung, die sie ihm für die Tante gegeben hatte, stehen.


2.

Als der Elsasser, wie Hermann Ortenburg den eifrigen Besucher des Hauses statt mit seinem Namen beharrlich nannte, in das Zimmer des Hausherrn trat, fand er denselben auf seinem krummbeinigen Lehnstuhl vor dem Schreibschranke so in Geschäften vertieft, daß er ihm bis auf wenige Schritte unbemerkt nahen konnte. Er hatte natürlich, wie es sich schickte, angeklopft und auf das Herein! gewartet, da es aber ausgeblieben war, hatte er vermeint, es überhört zu haben, und war bescheidentlich eingetreten. Gern wäre er bis an den Schrank gekommen und hätte dem Senator und Handelsherrn über die Schulter geblickt, um zu entdecken, ob es gemeine Stadtangelegenheiten, oder eigene waren, die ihn so ganz in Anspruch nahmen, aber er hielt es doch für passend, sich durch ein decretes Räuspern anzukündigen. Das that ihm aber gleich wieder leid, denn der alte Herr fuhr bei dem ersten Laute zusammen, wie ein auf unrechten Wegen ertappter Mensch, warf schnell Einiges an Papieren und was es sonst sein mochte, in ein Fach und schloß dasselbe erst hastig zu, ehe er sich überzeugte, wer da sei.

„Ah, Herr Stamm!“ sagte er aufstehend.

Der Elsasser verrieth durch keine Miene, daß ihm das Betragen des Senators aufgefallen war. „Ich bitte um Verzeihung, Herr Hartinger,“ sprach er, indem er sich würdevoll verneigte, „ich habe angeklopft und glaube auch Ihre Erlaubniß zum Eintritt gehört zu haben.“

„Zu jeder Zeit, auch ohne Anklopfen, willkommen!“ versicherte Hartinger. „Setzen Sie sich. Kommen Sie auf das Kanapee. Haben Sie mit meiner Frau gesprochen?“

„Noch nicht, Verehrungswürdigster,“ erwiderte Stamm. „Ich will denn doch erst versichert sein, daß die Hauptperson kein Veto einlegt. Auch werde ich durch dringende Geschäfte auf einige Zeit von Frankfurt abgerufen, denke aber in kurzer Zeit wieder hier zu sein und dann meiner Werbung einigen Nachdruck geben zu können. Ich bitte Sie, bis dahin, wie Sie mir versprochen haben, Ihrer Mademoiselle Tochter nichts davon zu sagen. Darf ich darauf rechnen?“

„Was Johann Jakob Hartinger versprochen hat, das hält er auch! Ich bin vom alten deutschen Schlage, Herr Stamm.“ Er sagte das mit einer Betonung, die wohl ihren Grund in dem Vorwurfe hatte, den er in dem Gespräche mit seinem Neffen gefunden zu haben glaubte.

„Auch ich, werther Herr Senator!“ versetzte Stamm. „Wir Elsasser sind Deutsche und werden es bleiben, wenn wir auch nicht mehr zum Reiche gehören, sondern einem mächtigern Staate seit hundert Jahren einverleibt sind. Mächtiger, lieber Herr, sehen Sie nicht unwirsch dazu! Wenn auch kleiner, als Deutschland, und nicht so volkreich, aber doch mächtiger, weil eins und untheilbar. Ich nehme keinen Anstand, es für uns ein Glück zu nennen, daß wir Frankreich einverleibt sind, besonders jetzt, wo wir der vollen Freiheit genießen, welche unsern deutschen Brüdern diesseits des Rheines fehlt.“

„Uns nicht!“ entgegnete der Senator ruhig und stolz. „Mag es in den Ländern der Reichsfürsten und in andern reichsunmittelbaren Gebieten beschaffen sein, wie es will, hier in Frankfurt haben wir Freiheit, nicht Pöbelfreiheit, aber eine vernünftige gesetzliche Freiheit, bei der sich Hoch und Niedrig wohl befinden kann.“

Stamm lächelte fein. „Ich habe mich davon überzeugt,“ sagte er. „Man weiß das auch in Paris, wo man die Völker, auf welche Frankreichs welthistorische Mission hinweist, scharf im Auge behält. Frankfurt, die Reichsstadt, die nicht blos frei heißt, sondern frei ist vom Fürstendruck, wie im Innern vom Druck bevorzugter Kasten, steht hochgeachtet in den Augen der großen Nation, und wie sich die Verhältnisse auch gestalten mögen, Frankfurt hat nur Freundschaft von Frankreich zu erwarten.“

Hartinger sah ihn befriedigt an. „Haben Sie Nachrichten aus Mainz?“ fragte er.

„Die besten!“ antwortete Stamm. „Mainz wird capituliren.“

„Die starke Reichsfestung?“ lachte Hartinger. „Damit hat’s gute Wege! Das nennen Sie aber die besten Nachrichten? Freilich, Sie als französischer Unterthan!“

Pardon! Französischer Bürger, wenn ich bitten darf! Unterthanen giebt es in Frankreich nicht mehr. Selbst der siegreiche Feldherr, welcher bald seinen Einzug in die starke Reichsfestung Mainz halten wird, nennt sich erst Bürger und dann General. – Sie, verehrtester Herr Hartinger, als Bürger einer freien Stadt, die keines Fürsten Unterthanin ist, begreifen das stolze Gefühl, welches uns aus gleichem Grunde die Brust schwellt. Ich sollte meinen, daß auch Ihnen die Nachricht, daß dem langen und schmachvollen Unwesen der Priesterherrschaft am Rhein ein Ende gemacht werden soll, keine unerfreuliche sein könnte. Bedenken Sie doch! Von Basel bis da, wo unsere siegreichen dreifarbigen Fahnen am Niederrhein wehen, längs des ganzen Stroms, welche jammervolle Zerstückelung in zahllose kleine Gebiete! Haben Sie vielleicht eine Homann’sche Karte zur Hand? Wär’s nicht ein Segen, wenn dieser erbärmliche Zustand aufhörte und Alles zu einem großen, starken Ganzen vereinigt würde?“

„Gewiß!“ sagte der Reichsstädter. „Aber für Deutschland das Ganze, nicht für Frankreich.“

„Ah! Wer verdächtigt Ihnen die große Nation, daß sie Eroberungen machen will?“ entgegnete Stamm. „Die Zeiten Ludwig’s des Vierzehnten sind auf ewig vorüber. Wie das französische Volk seine Freiheit errungen und siegreich gegen die Tyrannen des Auslandes vertheidigt hat, so will sie auch den freien Völkern die Freiheit bringen, nicht sie unterjochen. Eine Nation, welche zuerst allen Völkern das Beispiel gegeben hat, ihre Rechte zurückzufordern, bietet allen andern, welche unglücklich genug sind, ihre Häupter unter das entehrende Joch des Despotismus zu beugen, Verbrüderung an!“

Wer Herrn Stamm vor einer Viertelstunde gesehen hatte, wie süß und galant er gegen das junge Mädchen seiner geheimen Huldigung war und wie er sich auch gegen den Vetter geschmeidig benahm, der würde ihn im Gespräch mit dem Senator Hartinger für einen ganz andern Menschen gehalten haben, so ernst und würdig von Anfang hatte er sich geäußert, so begeistert flammte er jetzt auf. Seine Worte blieben nicht ohne Eindruck.

„Ich bin von der Reinheit der Absichten überzeugt, welche die Repräsentanten des französischen Volks beseelen,“ sagte Hartinger, indem er Stamm die Hand drückte. „Wenn der große Gedanke, den Sie andeuteten, sich verwirklichen ließe, das vielgetheilte Westdeutschland zu einem starken Ganzen zu vereinigen, ich würde es einen Segen für das Reich nennen. Aber die praktische Ausführung! Mit Waffengewalt ließe sich wohl, wenn Kaiser und Reich, wie leider schon oft, keinen Schutz gewähren, das Land besetzen, aber wird dann ein Vertrag, ein Friede zu Stande kommen, [324] in welchem alle die geistlichen und weltlichen Fürsten, die Prälaten, Aebte und Aebtissinnen, die Grafen und Herren und die Reichsritterschaft der beiden rheinischen Kreise sich ihrer Selbstständigkeit und ihrer Rechte begäben? Und unter welcher Firma soll denn dies neue Ganze gebucht werden, im deutschen Reichscomptoir?“

„Lieber Herr Hartinger,“ erwiderte Stamm fein lächelnd wie zuvor, „die praktische Ausführung können Sie getrost der französischen Nation überlassen, diese wird schon eine passende Firma für das neue Großhaus finden. Sie haben übrigens unter den Sociis desselben einen vergessen, ich meine die Reichsstädte.“ Sein lauernder Blick ruhte bei diesem ausgestreckten Fühlhorn prüfend auf dem Frankfurter Rathsherrn, mochte aber keine günstige Entdeckung gemacht haben, denn das Fühlhorn wurde wie vor einem harten Gegenstande gleich wieder eingezogen. „Die Städte nämlich,“ fuhr der Elsasser schnell fort, „würden in der neuen Ordnung der Dinge natürlich die erste Stelle haben, da sie schon die Freiheit besitzen, welche den Fürstengebieten erst gebracht werden soll. Sie würden ungehemmt durch diese kleinen Herren einen nie geahnten Aufschwung nehmen, und wenn alle jene Despoten sammt den Reichsgrafen und der Reichsritterschaft von ihren Rechten sprächen, die Menschenrechte sind älter; Frankreich, das sie zuerst wieder proclamirt hat, wird sie in ganz Europa durchzusetzen wissen und besonders seinen deutschen Nachbarn, die sich in einen Bund, oder noch besser, zu einer freien Republik geeinigt, ihm anschlössen, ein mächtiger Protector sein. Ich gebe zu,“ sprach er nach einer kleinen Pause, welche dem deutschen Reichsstädter Zeit lassen sollte, das Wort ‚Protector‘ zu verdauen, feurig weiter, „ich gebe zu, daß sich dem erhabenen Werke der Einigung Hindernisse entgegen setzen werden, selbst im Schooße freier Gemeinwesen, wie hier bei Ihnen. Wir wissen sehr gut, daß der Rath von Frankfurt, wie loyal er auch gegen seine Mitbürger verfährt, doch den großen Ideen, welche Sie, mein edler, väterlicher Freund, so schön verstanden haben, nicht recht zugänglich ist, aber wir kennen auch diejenigen Männer, auf denen alle Hoffnungen der Zukunft ruhen, und daß diese in der neuen Ordnung der Dinge zur Leitung derselben in die höchsten Stellen berufen werden, davon können Sie überzeugt sein!“ Eine tiefe, fast ehrfurchtsvolle Verbeugung, welche er dem Senator machte, ließ keinen Zweifel über den Sinn seiner Worte zu.

Hartinger zog unwillkürlich seine Westenschöße und Manschetten zurecht. „In unserm Rathe,“ sprach er, die Verbeugung mit einem Lächeln geschmeichelten Selbstbewußtseins erwidernd, „herrschen allerdings noch viele veraltete Ansichten, doch ist er vom redlichsten Willen beseelt. Demokratisch im edlen Sinne ist unsere Verfassung, und ich wünschte der ganzen Gotteswelt eine Freiheit, wie die unserige, gemildert und gesichert durch weise Gesetze. Wir bedürfen nur der Handhabung derselben im Geiste der neuen Zeit und ihrer Principien.“

„Und was geschehen kann,“ erwiderte Stamm rasch, „diesen Principien hier und über die Ringmauern dieser Stadt hinaus im deutschen Volke Eingang zu verschaffen, das thut Johann Jakob Hartinger, der nicht umsonst die Vornamen des großen Apostels Rousseau führt. Alle hohen Seelen in Deutschland begreifen jene Ideen, und das Beispiel, das ein Mann von solcher Berühmtheit, wie Georg Forster in Mainz, giebt, wird Tausende dafür gewinnen! Auf Wiedersehen denn binnen Kurzem!“

„Auf Wiedersehen!“ sagte Hartinger, indem er seinem Gaste die gebotene Hand schüttelte. „Nur noch eine Frage: meine Frau ahnt also gar nicht …?“

„Das kann ich nicht behaupten,“ entgegnete Stamm, „Frauen sehen scharf, am schärfsten Mütter. Aber entdeckt habe ich mich noch nicht.“

„Ihr Besuch hatte also den Schein einer bloßen Artigkeit. Denn über Politik werden Sie nicht mit einer Frau gesprochen haben. War Doris zugegen?“

„Leider nein,“ erwiderte der Elsasser, und nach einem kurzen Stocken, als kämpfe er mit sich selbst, sprach er mit einem besorgten Blick auf den Rathsherrn: „Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen eine Bemerkung mitzutheilen, welche ich gemacht habe. Auf dem Corridor an der Treppe, als ich von Ihrer Frau Liebsten zu Ihnen mich begab, fand ich Mademoiselle Doris nebst ihrem Herrn Cousin im Gespräch mit einem Menschen, den ich zu kennen glaube – wenn mich mein Gedächtniß nicht täuscht, so treibt er das ehrlose Handwerk eines Spions im Solde der wider uns verschworenen Despoten.“

„Was sollte ein Spion in meinem Hause suchen?“ fragte Hartinger sichtlich beunruhigt.

Stamm sah ihn scharf an. „Seien wir ganz aufrichtig gegen einander,“ sagte er ernst. „An Ihrer guten Gesinnung kann ich nicht zweifeln, Sie sind den Ideen, welche die Bewegung in Frankreich zur Klarheit gebracht hat, völlig ergeben, um so mehr beklage ich es, daß Ihnen in Ihrer Familie deshalb Verlegenheiten bereitet werden.“

„Wie meinen Sie das?“ fragte Hartinger mit steigender Unbehaglichkeit.

„Es sollte mir wahrhaft leid thun, wenn die allgemeinen Beschwerden, welche auch gegen die Stadt Frankfurt nicht ganz ohne Grund im Nationalconvent zu Paris erhoben worden sind, sich speciell gegen einige Bürger richten sollten, ja gegen Männer von tadelloser Gesinnung. Sie wissen, daß auch Frankfurt beschuldigt wird, den Emigranten Vorschub geleistet zu haben, den Preußen und Oesterreichern alle möglichen Vortheile zukommen zu lassen – nun, verehrtester Herr, ich will mich ohne Umschweife aussprechen. Ihr Cousin ist hessischer Officier und jetzt in Verkleidung bei Ihnen. Ziehen Sie sich die Consequenzen dieser Thatsachen selbst, wenn das verlautet.“

(Fortsetzung folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 21. Ein Abendbild aus dem Friedewalde.[1]


Ein linder Spätfrühlingstag neigt seinem Ende zu. Schon glänzt der Aether golden über dem duftverschleierten Forst und dem vor uns liegenden schilfgesäumten Weiher, dessen Blänke Wald und Himmel in milder Schönheit zurückstrahlt. Scheinbar in bodenloser Tiefe ziehen die Wolken des Spiegelgebildes dahin, und wie der erdgefesselte Mensch so oft, läßt er die Blicke nach der unendlichen Höhe schweifen, von einem geheimnißvollen Trachten erfüllt wird, emporsteigen und auf luftigen Schwingen ungekannten Zielen zusteuern zu mögen, so ergreift es auch zuweilen den in das verlockende, schmeichelnde Naß Schauenden mit zauberischem, fast dämonischem Drange hinabzutauchen in die stille Fluth, tief, tief unten sein unnennbares Sehnen zu stillen. Doch solche Stimmungen werden bald durch andere Bilder verdrängt, die sich dem offenen Auge entrollen, und frohgemuth giebt sich dann das Menschenherz um so lieber den neuen, immer wechselnden Eindrücken der herrlichen Gottesnatur hin.

Da tönt aus frischgrünem Walde des Kukuks lustige Weise, die, wie von einem fernen Echo, durch das „Hup, hup!“ seines Herolds, des Wiedehopfes, erwidert wird, während die so entzückend melodische Strophe des Pirols den Chor der kleinen Vogelwelt, der mit hundertfältiger Zunge dazwischen jubelt, weithin überschallt. Ueber den Spiegel des Wassers aber schießen die leichtbeschwingten hellleuchtenden Möven dahin, deren Bahnen wiederum der ernste Reiher in weiten Spiralkreisen überzieht, bis er aus lichter Höhe herniederschwebt, auf seiner Warte, dem dürren Wipfel einer uralten Föhre, die ihre Nachkommenschaft hoch überragt, Posto zu fassen und Auslug zu halten. Und nun! Aus dunklem Waldesrande, der das stille Gewässer dicht umgrenzt, tritt elastischen Schrittes, den gestählten Lauf tief in’s Beer- und Haidekraut versenkend, ein Stück Hochwild mit seinem Kälbchen heraus, welchen Beiden ein Spießhirsch, jedenfalls ein Familiensprosse vom vorigen Jahre, trollend nachfolgt. Nach Erfrischung lechzend, sucht dieser nun sofort das kühlende Element, darin sich zu netzen und die saftigen aufschwimmenden Blätter der graciösen Stachelnußpflanze zu naschen. In weiten Kreiswellen, den Abglanz des Abendhimmels durchfurchend, bewegt sich das klare Naß vom Tritte [325] des schmucken, jugendlichen Waldfreiherrn, und leise klingend schlagen die kosenden Ringe an Binsen und Geröhricht an, wie gegen das unterwaschene Wurzelnetz des Uferrandes. Das vorsichtige Altthier aber prüft von hier aus, durch das Auffliegen eines Entenpaares rege gemacht, mit hocherhobenem Kopfe aufmerksam den Wind, ehe es sich mit dem inzwischen sorglos in das Weite äugenden Kälbchen dem Genusse des Aeßens hingiebt. Hierbei wirft aber dann und wann die besorgliche Mutter immer wieder einmal den Kopf in die Höhe, von Neuem zu erspähen,

Hochwild am Wasser.
Nach der Natur gezeichnet von Guido Hammer.

ob Alles geheuer, während der kecke Spießer weit hinein bis an den Hals, in die kühlende Fluth gezogen, sich so vor den lästigen Mückenschwärmen zu schützen.

Das strahlende Gold der nun bereits geschiedenen Sonne hat sich in sanftglühende Purpurpracht verwandelt, während Wald und See schon milde Dämmerung umfängt. Mit unhörbarem Fluge überschwebt jetzt die raubgierige Eule das reglose Wasser, die im Zickzack darüber hinflatternden harmlosen Fledermäuse zu erbeuten. Mit dem Kommen der ersten Gestirne am Firmament aber, die nun den geflügelten Nachtboten folgen, erhebt sich vom jenseitigen Gestade der leise Abendwind und trägt, dabei die stille Wasserfläche mit Tausenden von Wellchen kräuselnd, noch manche Stimme von allerhand Wassergeflügel herüber, während aus dem Riedgrase des diesseitigen Ufers ein traumgescheuchter Kiebitz mit ängstlichem Ruf noch einmal seinen gewählten Stand verläßt und auffliegend dem nahen Bruch zueilt, dort eine andere Ruhestätte zu finden.

Immer nächtiger wird nun das Blau des Himmels, ein ganzes Heer goldiger Sternlein flimmert bereits daran und ihre getreuen Abbilder tanzen glitzernd im Wellenspiel des Sees. Dann aber legt sich plötzlich der eben noch Kühlung fächelnde Wind, das Flüstern, Schwirren und Klingen im Geröhricht verhallt in ersterbenden Tönen und endlich liegt düsterglänzend das schweigsame Wasser wieder vollkommen geglättet vor uns. Kein Luftzug, kein Plätschern, noch Baumesrauschen dringt mehr an das lauschende Ohr, nur die unermüdlichen Chöre der Grashüpfer und Frösche durchfluthen die nächtliche Stille mit ihrem monotonen Concert, das in seiner Einförmigkeit gleichsam das Schlummerlied für die schlafengehende Natur zu sein scheint. Ruhig durchstreift indessen im Schutze tiefsten Friedens und erquickt durch nächtliche Kühlung das edle Wild die thaufrischen Wiesen, bis der anbrechende, Alles wieder erweckende Morgen es die bergenden Dickungen aufsuchen läßt, dort still und in Ruhe bis zum wiederkehrenden Abend zu verweilen.



[326]
Der Schmuck des Meeres.[2]
Von Carl Vogt.
II.


Die Perlen und Cameen, welche unsere Schönen tragen, sind nur das verarbeitete Skelet eines Meerthieres, welches in seiner ursprünglichen Gestalt von demjenigen, der nur das verarbeitete Korall gesehen hat, kaum zu erkennen ist. Die abenteuerlichsten Meinungen waren früher darüber verbreitet und haben sich, wie aus der Sage von dem Zauberbaume bei Nizza hervorgeht, unter den Fischern erhalten.

Das Edelkorall war früher in Aller Augen eine Pflanze oder eine Art Stein und erst im Anfange des vorigen Jahrhunderts entdeckte ein junger Arzt aus Marseille, Peyssonnel, der von der französischen Akademie zum Studium der Meerespflanzen an die Küsten der Berberei geschickt worden war, daß die vermeintlichen Blüthen des Koralls Thiere seien, die sich ausdehnten, zurückzögen und ihre Arme bewegten. Es ging ihm Anfangs schlecht mit seiner Entdeckung. Réaumur, der berühmte Beobachter der Insecten und des Thermometers, Jussieu, der Vater des natürlichen Pflanzensystems und Nebenbuhler Linné’s, wollten nicht daran glauben, bis sie sich endlich durch eigene Beobachtungen überzeugten. Für den Entdecker freilich zu spät. Nachdem die Akademie von Marseille einen Preis zurückgewiesen hatte, den er für ewige Zeiten für Denjenigen stiften wollte, der die beste Abhandlung oder die bedeutendste Entdeckung über einen Gegenstand, welcher die Naturgeschichte des Meeres beträfe, gemacht habe, ging er aus dem Lande und man kennt heut zu Tage weder Ort noch Zeit seines Todes.

Aber es hält nicht leicht, lebende Korallenstücke zu erhalten. Die Fischer wollen nicht, daß man ihnen folge. Gieb man ihnen Gefäße, um die Korallen gleich beim Fange frisch in Seewasser zu thun, so erfüllen sie den Wunsch meist gar nicht, oder nur unvollkommen. Geht man ihnen zu Schiffe nach, so segeln sie in’s Weite. Auf das eigene Schiff nehmen sie den Forscher nur mit Widerstreben, weil sie fürchten, er verrathe Anderen die guten Bänke. Wer einmal am Meere sich mit naturwissenschaftlichen Studien beschäftigt hat, kennt alle diese Schwierigkeiten. Man muß Jahre lang mit den Fischern umgegangen sein, sie täglich in Verdienst gesetzt haben, bis sie begreifen, daß es ihnen vortheilhafter sei, für fünf oder zehn Francs Quallen und ähnliches, sonst von ihnen verachtetes Zeug zu fangen, als Fische, die ihnen kaum zwei Francs im Tag abwerfen. Aber mit Geduld, Belehrung und Geld überwindet man endlich alle Schwierigkeiten. Sobald die Korallenfischer einmal eingesehen haben, daß es dem Naturforscher nicht um schöne Stücke, sondern weit mehr um lebende, kleine Aestchen zu thun ist, welche für sie keinen Werth haben; sobald sie einmal gesehen, daß der Mann, der ihnen nachgeht, weder die Geheimnisse ihres Handwerks ausbeuten, noch die Bank verrathen will, auf der sie vielleicht reichen Fang machen: so nehmen sie selbst Interesse an den Untersuchungen und machen häufig auf Dinge aufmerksam, die man leicht übersehen könnte.

Endlich hat man es dazu gebracht, einige lebende Endspitzchen, einige kleine, an Steine oder Muscheln befestigte Stämmchen in dem Augenblicke zu erhalten, wo das Netz sie heraufbringt. Man hat ein mit Seewasser gefülltes Gefäß bereit; man taucht die Stückchen hinein, womöglich ohne sie nur mit der Luft in Berührung zu bringen; man schlingt einen Faden oder einen Draht um das gebrochene Ende, das Steinchen oder die Muschel und hängt so das Stämmchen mitten im Glase auf, das man an einen kühlen Ort bringt, denn Hitze und helle Sonnenstrahlen scheut das Gewächs der Tiefe. Und nun heißt es: Warten! Ruhe ist jetzt die erste Bürgerpflicht. Wie man die Schnecke ruhig lassen muß, damit sie endlich ihre Hörner herausstrecke, so auch die meisten jener wunderbaren thierischen Organismen des Meeres, die sich in unglaublichem Grade zusammenziehen und ausdehnen können. Oft dauert es stundenlang, oft wird die Neugierde nach kurzen Minuten befriedigt. Athemlos starrt man auf das keulenförmige, schmutzig-rothe Endchen des Zweiges. Schwillt es nicht an, wird es nicht zusehends dicker? Wahrhaftig! Hier und dort scheint sich auch ein Punkt der Oberfläche warzenartig zu erheben. Die Warze wird auf ihrer Spitze weiß. Die acht feinen, sternförmig gestellten Ritzchen, die man mit der Lupe auf der Warze sehen konnte, dehnen sich aus, stechen durch ihre helle Farbe gegen das Roth der Umgebung ab. Die Sternläppchen der Warze weichen auseinander; ein helles Ding drängt sich dazwischen hervor, wie ein durchsichtiges, mit Wasser gefülltes Bläschen, das zusehends wächst und anschwillt, bis es sich an der Spitze entfaltet, und acht helle, am Grunde breitere, gegen das Ende zugespitzte, blätterartige Arme ausstreckt, die an ihren Rändern mit feinen Fransen umgeben sind. Nun gleicht das ganze Gebilde einer achtblätterigen Glockenblume oder Gentiane und man begreift, daß Marsigli, der diese Wesen zum ersten Male sah, sie für wirkliche Blumen hielt, obgleich er ihre Zusammenziehungen und Ausdehnungen sehr wohl beobachtete.

Es giebt nichts Zarteres in den Farben, nichts Feineres in den Formen, als die mannigfachen, zur Classe der Polypen gehörigen Meerthiere im höchsten Grade der Ausdehnung. So auch das Edelkorall. Es kann kein prachtvolleres, leuchtenderes Roth geben, als die feinen Zacken, welche die Basis des glockenförmigen Polypenleibes umgeben; kein durchsichtigeres Krystallmilchglas als den Leib und die Arme selbst. Ist aber einmal einer der Polypen entfaltet, so folgen alle übrigen rasch nach und bald erscheint ein solches Stämmchen über und über mit Blüthen bedeckt (Fig. 1), so dicht, daß sie sich wechselseitig in ihrer Entfaltung zu hindern scheinen. Blumen sind starr, bewegungslos – hier aber herrscht überall Leben und Bewegung, wenn auch langsam und maßvoll. Ich kann nichts Besseres thun, als die Worte von Lacaze-Duthiers wiedergeben: „Bald scheinen die Arme schmächtig und in die Länge gezogen, sie heben und senken sich, indem sie sich krümmen; bald scheinen sie gerade, ungebogen, kurz und dick. Nicht minder wechselt die Gestalt der kleinen Blumenkrone, denn dieser Name gebührt ihr der Aehnlichkeit wegen; bald gleicht sie einer halbgeöffneten Glocke, deren weiße, zierlich geformte Blumenblättchen einem prachtvoll rothen Kelche entsteigen, bald einer eleganten, verschwimmend gezeichneten Urne, bald einem Rade, dessen acht Speichen mit der größten Regelmäßigkeit ausgestreckt sind. Häufig krümmen sich auch, bei größter Ausdehnung, die Enden der Arme nach außen zurück, so daß der Polyp der Blumenkrone jener Lilie gleicht, die man den Türkenbund nennt.“

Du beobachtest dies Alles, die vielfachen Stellungen, Kürzungen und Biegungen der Arme, mit der höchsten Aufmerksamkeit mit der Lupe, mit dem wagerecht gestellten Mikroskope. Da stößt dein Knie an das Tischlein, die Erschütterung läßt das Glas erzittern – im Nu ziehen sich die feinen Fransen der Arme zusammen, diese krümmen sich gegen die Mitte, neben den dort angebrachten, offenstehenden Mund hinein, die Glocke zieht sich zurück, die rothen Randlappen klappen sich zu und in kürzester Frist hast du nur noch das keulenförmige Aestchen mit den unebenen Warzen vor Augen, welche vor dem Beginn der Ausdehnung sich zeigten. Die Ausdehnung mußt du erwarten, das Zusammenziehen kannst du jeden Augenblick hervorrufen – ja, mit einem feinen Nädelchen oder einer Borste brauchst du diesen oder jenen Polypen nur leise zu berühren, um ihn augenblicklich in seine Zelle zurücktreten zu sehen, während sein Nachbar ungestört bleibt. Offenbar sind es feinfühlende Wesen, und zwar nicht nur gegen Berührung, sondern auch gegen grelles Sonnenlicht und einigermaßen gesteigerte Wärme. Und doch hat unser Scalpell und Mikroskop noch keine Nervenfaser in dem Gewebe ihres Körpers nachweisen können!

So lehrt schon die einfachste Beobachtung die kleinen, blumenähnlichen Thierchen kennen, welche aus dem scheinbar unbelebten Gewebe des Koralls sich entwickeln. Zugleich aber sieht man schon bei diesen kleinen Wesen einestheils das Individuum, anderntheils die Gesammtheit in Thätigkeit. Bei Erschütterung ziehen sich sämtliche Polypen, wie auf ein Commando, in ihre Zellen zurück; wird nur der einzelne Polyp berührt, so crepirt auch nur der einzelne, indem er sich der Unbill zu entziehen sucht.

Trotz der mannigfaltigen Lebensäußerungen, welche diese Polypen kundgeben, ist dennoch ihr Bau höchst einfach. In der [327] Mitte zwischen den Armen steht der kreisförmige, von einer rundlichen Umwallung umgebene Mund, der in einen Sack führt, welcher Alles in Allem, Speiseröhre, Schlund, Magen und Darm ist. Dieser Verdauungssack öffnet sich nach unten in eine weite Höhle, die allgemeine Leibeshöhle, hat aber hier einen Wulst, durch dessen Zusammenziehung die Oeffnung geschlossen werden kann. Er würde frei in dieser Höhle hängen, wenn er nicht durch acht häutige, strahlenförmig gestellte Scheidewände gehalten würde, die einerseits sich an die äußere Haut der Glocke, andererseits an den Verdauungssack festsetzen und erst unter diesen hinab in den Grund der Höhle sich erstrecken. Schneidet man einen Polypen unterhalb des Verdauungssackes quer durch, wie dies in der beistehenden Figur (Fig. 2) dem Polypen 1 geschehen ist, so sieht man die acht strahlenförmig gestellten Scheidewände wie die Speichen eines Rades um eine mittlere Nabe, welche hier dem Platze entspricht, den der Verdauungssack in dem weggeschnittenen Theile einnimmt. Mittels dieser Scheidewände, die man bei den andern längsdurchschnittenen Polypen derselben Figur am Grunde des Verdauungssackes angeheftet sieht, sind in der Höhlung des glockenförmigen Körpers acht Kammern von einander getrennt, in deren vorderen Theil sich die Arme zurückziehen können, die also, wenn der Polyp zurückgeschlupft ist, acht rundliche, im Umkreise des Magensackes in eigenen Behältern liegende Pakete darstellen. So sieht man in dem Längsschnitte des Polypen 2 zu beiden Seiten die zurückgezogenen, durch den Schnitt getroffenen Arme und zwischen denselben die Knopflöchern ähnlichen Oeffnungen, durch welche sie bei der Entwickelung hervortreten.

Stämmchen vom Edelkorall mit entwickelten Polypen.

Die Scheidewände, herbergen die Fortpflanzungsorgane. In ihrem untern Theile entwickeln sich die Eier und die männlichen Organe, die anfangs nicht zu unterscheiden sind. Ihre obere, mehr häutige Hälfte dient zur Befestigung des Verdauungssackes, ihre untere erscheint mehr drüsig, und hier bilden sich die Fortpflanzungsproducte aus. Aber es giebt keine vollkommen strenge Scheidung – meist trägt zwar ein Bäumchen nur männliche, ein anderes nur weibliche Polypen – aber die Fälle kommen auch nicht selten vor, wo ein Ast desselben Bäumchens männliche, ein anderer weibliche Polypen trägt, oder wo auf demselben Aestchen männliche und weibliche Thiere bunt durcheinander stehen, oder endlich, wo derselbe Polyp männliche und weibliche Organe zugleich trägt, also ein vollkommener Zwitter ist. Die Trennung der Geschlechter auf verschiedene Bäumchen ist die Regel, die Zwitterbildung desselben Thieres die seltenste Ausnahme. Die Geschlechtsverschiedenheit ist aber bei diesen niederen Thieren überhaupt nur eine sehr geringe; sie drückt dem Organismus keinen besonderen Stempel auf; der männliche Polyp gleicht dem weiblichen bis in die kleinsten Einzelheiten; nur das Mikroskop kann entscheiden, welchem Geschlechte das Thier zugehört. Wo die Fortpflanzung auch noch auf andere Weise vor sich gehen kann, wird in dem Thierreiche wenigstens die Ausbildung der Fortpflanzungsorgane wohl niemals einen bestimmenden Einfluß auf die Bildung des Gesammt-Organismus ausüben.

Somit hätten wir den einzelnen Polypen in seiner ganzen Einfachheit construirt. Er sitzt fest in der rothen fleischigen Masse, in welcher seine Zelle ausgehöhlt ist; seine Bewegungsorgane, die zurückziehbaren Arme, dienen zugleich zum Erfassen der Nahrung, die in den Mund geführt, im Magen verdaut wird; Fortpflanzungsorgane sind vorhanden, mittelst deren die Art weiter erhalten werden kann, wenn das Individuum dem Gesetze alles organischen Lebens entsprechend abstirbt. Auf diese Weise, mit Empfindung und Bewegung, Ernährung und Fortpflanzung begabt, könnte das Einzelwesen für sich fortbestehen und in der That besteht es, wie wir zeigen werden, im Anfange seiner Entwicklung als Solches, in ähnlicher Art, wie die See-Anemonen oder Actinien, welche jetzt Jedermann kennt, seit sie in den Aquarien der zoologischen Gärten mit so schönem Erfolge gezüchtet werden.

Aber der Korallen-Polyp ist nicht nur ein geselliges Thier, sondern auch Socialist und Communist in der verwegensten Bedeutung des Wortes; nur durch gemeinsame Arbeit vieler, engverbundener Thiere kann der werthvolle Korallenstock aufgebaut werden, den der Mensch aus der Tiefe des Meeres fischt, und diese gemeinsame Arbeit ist nur unter der Bedingung möglich, daß jedes Einzelwesen allen Gewinnst seiner ernährenden Thätigkeit an die Allgemeinheit abgiebt. Jeder Polyp sucht so viele kleine Thierchen als nur möglich zu fangen und zu verdauen, auf den Nahrungssaft, den er aus denselben zieht, hat er das erste unbestreitbare Recht, allein dieser Nahrungssaft gehört nicht ihm allein. Während die unverdaulichen Reste durch den Mund ausgeworfen werden (es existirt hierfür keine besondere Oeffnung), tritt der Nahrungssaft aus der allgemeinen Höhlung des Polypenleibes in mannigfache Canäle über, mittelst deren er sich in der lebendigen Rindensubstanz des Korallenstockes vertheilt und zu allen übrigen Theilen gelangt. Aber – und das bemerke man wohl bei diesem thierischen Communismus – auch hier gilt das Gesetz, daß, wer zuerst kömmt, auch zuerst mahlt – daß, wer Etwas fängt, erst selbst verdaut und zu seinem Nutzen verwendet und nur den Ueberschuß den Anderen zukommen läßt. Ich weiß nicht, ob Schneider Weitling selig dieses Gesetz der Thierwelt auch bei seinen weltverbessernden Plänen hinlänglich berücksichtigte, möchte aber fast daran zweifeln.

Anatomie des Edelkoralls.
Die lebende Rinde ist der Länge nach gespalten und von dem Kerne zurückgeschlagen worden.

1. Tief am Grunde quer durchschnittener Polyp, der die radartig gestellten Scheidewände zeigt. – 2. Längsdurchschnittener Polyp mit eingezogenen Armen. – 3. Ebensolcher mit entwickelten Armen. – 4. Die tiefen Längscanäle der Rinde. – 5. Aststück des innern Kalkkerns, der zum Schmuck verwendet wird. – 6. Die beiden Lippen des Längsschnittes der Rinde mit den durchschnittenen Netzgefäßen. – 7. Querschnitt der Rinde, ebenso.

Die Gemeinsamkeit liegt in der rothen, dicken, fleischigen Rinde, in welcher die Zellen für die Polypen ausgehöhlt sind. Diese Rinde ist keineswegs nur eine verbindende Haut, welche die Glockenthiere decken und schirmen soll, sie ist ihre wahre Ernährerin und Erzeugerin, das Band, welches das Ganze zusammenhält, und die Geburtsstätte des inneren festen Kernes, der dem ganzen Baume als Stütze dient. Diese Rinde, die um so dicker im Verhältniß zu dem Kerne ist, je intensiver das Leben in dem ganzen Baume waltet, die deshalb an den wachsenden Spitzen der Zweige keulenförmige Anschwellungen bildet, in welchen nur ein feines, festes Zweiglein das innere Skelet darstellt, diese Rinde knirscht unter dem Messer, wenn man sie einschneidet, denn sie enthält eine Menge in verschiedenster Weise zusammengruppirter rother Kalknadeln, die nach und nach zusammenwachsen, um die innere Achse zu bilden. Ihre Substanz selbst scheint aus Fasern zu bestehen, die sich lebhaft zusammenziehen können, und aus einem schleimigen Urgewebe, das dem Rinde- oder Zellgewebe der höheren Thiere entspricht und sich bei allen niederen Seethieren in großer Menge findet. In diesem Gewebe sind nun eine Menge von Höhlen und Canälen ausgegraben, die sich in allen Richtungen kreuzen und mit einander zusammenhängen, so daß jeder Schnitt durch die Rinde, in welcher Richtung er auch geführt werden mag, eine [328] Menge von Hohlräumen sehen läßt, die seltsame Gestalten zeigen. So sehen wir es auf der Figur, wo ein Stückchen lebenden Koralls zuerst durch einen Querschnitt abgetrennt und dann die Rinde durch einen Längsschnitt bis auf den festen Kern gespalten und die beiden Lippen zurückgeschlagen wurden, so daß das Verhältniß der Rinde zum Kern deutlich wird. Diese Netzgefäße der Rinde, welche ihre ganze Dicke durchziehen, und durch Abspülen der faulenden Rinde leicht als selbstständiges Gefäßnetz dargestellt werden können, hängen einerseits überall mit den Höhlungen der Polypen zusammen (siehe in der Figur die Polypen 2 und 3), andrerseits aber mit einer Lage dicker Längsgefäße, welche unmittelbar auf dem rothen Kalkkerne aufliegen, durch Zwischengefäße mit einander verbunden sind und den Kalkkern von allen Seiten umgeben, wie ein Bündel von Drainröhren, die man um einen Baumstamm gelegt hätte. Die Zwischenräume zwischen diesen dicken, tiefen Längsgefäßen sind sehr eng, sie liegen auf dem Kalkkerne auf und drücken sich sogar in denselben ab, so daß alles unpolirte Korall der Länge nach geriefelt erscheint. Alle diese Gefäße sind inwendig mit einer feinen Zellenhaut ausgekleidet, auf welcher mikroskopische Wimpern stehen, welche die in den Gefäßen enthaltene milchige Ernährungsflüssigkeit in stetem Strome umtreiben. Verwundet man die Rinde an irgend einer Stelle, so fließt diese milchige Flüssigkeit aus, der die Fischer unter dem Namen „Korallenmilch“ die merkwürdigsten Beziehungen, namentlich auch zur Fortpflanzung des Koralls, zuschreiben.

So sind denn durch diese von Gefäßen durchzogene Rinde die allgemeinen Beziehungen der Gesammtheit zu den Einzelwesen und zu dem inneren Kerne, dem Korallenstocke, hergestellt. Die Polypen bringen, durch ihre Verdauungsthätigkeit, die Ernährungsflüssigkeit hervor; diese circulirt, durch die Wimpern umgetrieben, in dem complicirten Maschennetze der Gefäße und gelangt zuletzt in die Längsgefäße, welche dem Korallenstocke unmittelbar sich anschmiegen.




Der erste Kampf.
Aus dem Tagebuche eines deutsch-amerikanischen Officiers.
Von Rudolph Doehn.


In der Mitte August des Jahres 1862 befand sich Nashville, die Hauptstadt des Staates Tennessee, in einer eigenthümlich bedrohten Lage. Schon seit dem 25. Februar desselben Jahres war die Stadt durch die Eroberung von Fort Donelson in den Besitz der Union gekommen, aber man hatte nur eine schwache Besatzung darin zurückgelassen und zu ihrer etwa nöthig werdenden Vertheidigung genügende Anstalten nicht treffen können. Die Stimmung der Bevölkerung war eine getheilte. Es waren reiche Secessionisten von der fanatischen Sorte zurückgeblieben, die über manche gerechte, aber strenge Maßregel des Militärgouverneurs Johnson (jetzigen Präsidenten der Vereinigten Staaten), heimlich mit den Zähnen knirschten. Auf der anderen Seite wurden aber auch die Anhänger der Union ihres Triumphes nicht froh. Je lauter und begeisterter sie im Anfange dem Einzuge der Unionstruppen zugejauchzt hatten, umsomehr hatten sie bei einer etwaigen Wiedereroberung der schutzlosen Stadt von der bekannten Rachsucht ihrer heißblütigen Gegner zu fürchten.

Dennoch vereinigten sich für den Augenblick beide durch Blut und Gesinnung so scharf getrennte Parteien in der gemeinsamen Furcht vor einem der einen wie der anderen gleich unwillkommenen Feinde: den zahlreichen Guerillabanden, die seit einiger Zeit schon im Gebiete von Tennessee haarsträubende Gräuel verübt und bei verschiedenen Gelegenheiten gezeigt hatten, daß sie, wo es zu rauben und zu morden galt, einen Unterschied zwischen den Anhängern des Nordens und des Südens nicht zu machen verstanden. Ueber ein allmähliches Näherrücken dieser verthierten Buschklepper liefen täglich die beunruhigendsten Nachrichten ein, aber der herrschende Zwiespalt machte doch Vertheidigungsmaßregeln unmöglich, bis man am 19. August endlich die Gewißheit erlangte, daß die Stadt bereits in nächster Nähe umschwärmt, und ihr von den Führern des mit Recht so gefürchteten Raubgesindels ein Besuch zugedacht war.

Jetzt fing man in Nashville an, sich mit aller Macht zu rüsten. In den Straßen wurden Barrikaden aufgeführt, wobei namentlich einige Deutsche, die im Jahre 1848 in Berlin auf den Barrikaden gekämpft hatten und sich auf den Bau derselben wohl verstanden, mit Rath und That halfen; an alle Kampffähigen – Bürger oder Nichtbürger – wurden Waffen ausgetheilt, und mehr als tausend Neger, welche conföderirten Sclavenhaltern angehört hatten, mußten an den Fortificationen der Stadt arbeiten helfen. Außerdem aber wurde an General Thomas eine Botschaft gesandt, in welcher man die bedrohte Lage der Stadt schilderte und um schleunige Hülfe bat.

So geschah es denn, daß auch unser Regiment, welches bis dahin das „wilde eiserne Würfelspiel“ auf dem Felde der Schlacht noch nicht in seinem vollen Ernste kennen gelernt hatte, den Befehlt erhielt, sofort aufzubrechen und in den schnellsten Eilmärschen der bedrohten Stadt zur Hülfe zu kommen. Außer unserem Regimente sollten noch ein anderes, ein Missouri-Regiment, eine halbe Batterie reitender Artillerie und eine kleine Abtheilung Cavallerie von einer andern Seite Nashville zueilen, doch war bestimmt, daß beide Regimenter, sowie die Artillerie und Cavallerie, sich in der Nähe von Nashville vereinigen und, von den in der Stadt stehenden Truppen unterstützt, die Guerillabanden unter Forrest und Morgan angreifen und zersprengen sollten.

Nach einem sechstägigen, äußerst anstrengenden Marsche gelangten wir endlich in die Nähe des Ortes, an welchem wir mit dem Missouri-Regiment und der Cavallerie- und Artillerieabtheilung zusammentreffen sollten. Es war ein heißer Tag gewesen, unser letzter Marschtag; die Augustsonne hatte glühend auf unsern Schädel herniedergebrannt und wir waren froh, als gegen Abend der Befehl erging, das Lager für die Nacht abzustecken und die Zelte aufzuschlagen. Der Major unseres Regiments war nämlich mit einigen Leuten vorausgesandt worden, um die Gegend zu untersuchen und – so er nichts Auffälliges vorfände – einen passenden Platz für das Nachtlager auszuwählen. Major Peckham hatte denn nun auch, da ihm gerade etwas sehr Verdächtiges nicht aufgestoßen war, bald einen prächtigen Lagerplatz gefunden. Kaum daselbst angekommen, wurden die nöthigen Vorposten ausgestellt, denn wenn wir auch nach den angestellten Untersuchungen keinen feindlichen Ueberfall, vielmehr die Annäherung unserer Freunde erwarteten, so konnte man doch vor einem plötzlichen Besuche berittener Guerrillabanden, denen jeder Weg und Steg wohl bekannt war und die überall in jener Gegend ihre wohlunterhaltenen Verbindungen hatten, niemals ganz sicher sein.

Mit einem wahren Wonnegefühl streckten wir unsere müden Glieder unter dem kühlenden Schatten uralter Riesenbäume aus. Und hohe, herrliche Bäume waren es, die ihre belaubten Wipfel bis in die Wolken zu erheben schienen und sicherlich manches Jahrhundert an sich vorüberziehen gesehen hatten. Eine blüthenreiche Flora hatte einen vollen und üppigen Rasenteppich über das stille Waldthal ausgebreitet, in welchem durch unsere Ankunft ein regsames Leben hervorgerufen ward. Das Schreien der Maulesel, die ebenfalls hungrig waren und sich nach Ruhe sehnten, das Rufen der Treiber, das Knarren der Räder und das Rasseln der Gepäckwagen tönte weithin durch den Wald.

Unser Lager – Camp Sherman hatten wir es getauft – gewährte kein unschönes Bild. Nach Osten bin senkte sich der Boden, und ein gelber Sandweg wand sich wie eine tiefe Furche in wiederholten Krümmungen etwa eine englische Meile durch den Waldabhang hin, bis er sich in eine dicht mit Kiefern und Fichten besetzte Thalschlucht verlor; auf der gegen Norden zugekehrten Seite erhoben sich mit Steinen und größeren Felsblöcken besäete Hügel und Bergabhänge, die im Ganzen nur wenig mit Buschwerk und einzelnen Bäumen bedeckt waren; nach Süden und Westen hin aber zog sich ein prachtvoller Waldessaum, aus welchem ein tiefer, aber silberheller Bach, der flinke Sohn des naheliegenden Waldgebirges, über bunte Kiesel sein klares, frisches Wasser sandte. Ein einzelnes Gebäude – ein altes, aber geräumiges Blockhaus – stand nahe an dem Bache, kurz bevor derselbe den Waldrand verließ. In geringer Entfernung von diesem verlassenen Farmersitze [329] war ein schönes Zelt aufgeschlagen, dessen im Abendwinde flatterndes Banner anzeigte, daß dort das Hauptquartier zu finden sei. Das alte Blockhaus aber war zum größten Theil angefüllt mit Ammunition und Proviant, und Oberst Fanning, unser braver Führer, hatte dasselbe dem Schutze eines verdoppelten Wachtpostens anvertraut.

Als wir so dalagen unter den hohen Bäumen, deren volle Kronen, von dem Abendnebel eingehüllt, sich wie düstre Wolkenmassen abrundeten und unser Blick über die verschiedenen Feuer hinstreifte, welche unsere Jungen zur Zubereitung des Abendessens angezündet hatten, während im nahen Dickicht die zarten Stimmen der kleinen, buntgefiederten Sänger ihr einfach Nachtlied anstimmten, da bot die ganze Lagerscene, wie gesagt, ein schönes und ausdrucksvolles Bild, und unauslöschlich wird mir die Erinnerung an jenen Augustabend sein.

Ich war an Rang der jüngste Officier im ganzen Regimente und hatte meine Stelle nur vor wenigen Wochen durch die Gunst und den Einfluß des Oberst Fanning erhalten. Sämmtliche Officiere waren an jenem Abende von unserem commandirenden Officier und dessen Frau, die wenige Tage vor unserem Marsche zu ihrem Gatten gekommen war, zum Abendessen eingeladen. Eine frische Brise regte sich nach Sonnenuntergang in dem Laub der Bäume, wir machten unsere Toilette so gut, wie die Umstände es erlaubten, und näherten uns zu Zweien oder Dreien dem Zelte des Obersten. Wenige Schritte hinter den Reihen der übrigen Zelte standen etwa ein halbes Dutzend herrlicher Eichen, die einen schönen, prächtigen Tempel bildeten, welcher des darin präsidirenden Genius, Grace Fanning, wohl werth war.

Es ist nicht meine Absicht, eine Rhapsodie auf diese Dame zu schreiben, aber schön war sie, bescheiden und jung, und die feinen Wangen der holden Frau schmückte noch der Schimmer jungfräulicher Frische. Ich hatte sie von ihrer Kindheit her gekannt; nahezu in demselben Alter und Nachbarskinder, hatten wir fast wie die Inseparables gelebt. Als ich die medicinische Hochschule bezog, da trennten wir uns unter bitteren Thränen, und nur die Hoffnung des Wiedersehens tröstete uns. Nach Verlauf eines Jahres besuchte ich in den Ferien das väterliche Haus; ich sah Grace wieder, aber sie war schlank und groß geworden, und ein Schimmer erblühender Jungfräulichkeit überstrahlte ihr ganzes Wesen. Ich hegte für sie eine jugendlich-heiße Leidenschaft, aber in einer schönen Juninacht war ich von ihr geschieden, zurückgewiesen und – wie ich damals glaubte – rettungslos einer wilden Verzweiflung anheimgefallen.

Die Alles lindernde Zeit heilte auch meinen Schmerz. Grace und ich waren wieder gute Freunde geworden und waren es auch geblieben. Sie besaß mein ganzes Vertrauen, ich beichtete ihr die verschiedenen Neigungen, welche auf der Hochschule mein liebebedürftiges Herz erfüllt hatten, mit ängstlicher Aufrichtigkeit, und sie lauschte meinen gewissenhaften Bekenntnissen mit zarter, wohlwollender Theilnahme. Ich hatte keine Schwester, ich hatte nie eine gehabt, aber Grace Jones war mir so lieb, wie eine Schwester, sie füllte ganz die Stelle derselben aus. Zwei Jahre war ich von meinem Heimathsstädtchen entfernt gewesen und hatte mich während dieser Zeit mit Eifer dem Studium der Medicin gewidmet; dann und wann versicherten mich die Briefe meiner Mutter „eines freundlichen Andenkens“ oder „einer achtungsvollen Freundschaft“ von Seiten Grace’s. Grace selbst aber nahm, wo sich die Gelegenheit dazu bot, gegen mich stets den rathgebenden Ton einer älteren Schwester an. Dies Benehmen gewährte mir, der ich meine einundzwanzig Jahre zählte, also volljährig war und dabei einen leidlich starken Schnurrbart aufweisen konnte, ein eigenes, fast seltsames Vergnügen, und ich beschloß, ihr bei der nächsten Zusammenkunft, die ich mit ihr haben würde, mit voller Würde gegenüberzutreten und sie meines männlichen Schutzes und Beistandes zu versichern. Allein der Ruf, welcher mich wider Erwarten früh meine Heimath wiedersehen ließ, war zu ernst, als daß er jugendlichen Zierereien und Liebeleien Raum gelassen hätte. Das Vaterland rief mich in seiner Noth, ich ward ein Mann und legte alles kindische Wesen bei Seite. Ich kam nach Hause, um Abschied zu, nehmen. Ich schloß mich einem Regiment, welches in meiner Vaterstadt gebildet wurde, an, und wenige Tage, bevor wir als Kämpfer für des Vaterlandes Recht und Freiheit die Heimath verließen, stand ich in der kleinen, moosbedeckten Stadtkirche und sah und hörte, wie Grace Jones dem Obersten Harry Fanning vor dem Altare ewige Treue gelobte. Ich kannte bis dahin Fanning nicht. Er war, während ich auf der Hochschule war, nach Danville gekommen, hatte sich in kurzer Zeit die allgemeine Achtung erworben und von Grace das kostbarste aller Geschenke, das liebende Herz einer Frau, erhalten.

Ich hatte nur Zeit, ihr ein kurzes Lebewohl zu sagen; über unser altes Verhältniß vermochte ich nicht mit ihr zu reden. Ich glaube aber, daß sie zu dem Obersten, ihrem Gemahle, von mir sprach; denn derselbe suchte mich bald auf, behandelte mich mit liebevoller Freundschaft und verschaffte mir, wie gesagt, die einzige noch übrige Officiersstelle im Regimente.

Seit Grace auf den Wunsch ihres Gemahls zu unserem Regimente gekommen war, hatte ich sie nur einmal vor unserem Marsche zum Entsatze von Nashville gesehen; auf dem Marsche selbst sah ich sie öfter, doch stets nur sehr flüchtig; als ich aber nun, ihrer und des Obersten Einladung folgend, in das Zelt trat, begrüßte sie mich mit warmer Herzlichkeit. Ich war etwas spät gekommen, weil unvorhergesehene Geschäfte mich zurückgehalten hatten. Ueber dem Stuhle, auf welchem Grace saß, war die Landesfahne in geschmackvoller Weise aufgehangen; ihr Mann, der Oberst, stand neben ihr, und aus seinen Augen strahlte sichtbarlich die tiefste Liebe für seine Frau, verbunden mit der herzlichsten Freundschaft für uns, seine Cameraden. Mir ward, meiner „Juniorität“, wie Frau Fanning sagte, zu Ehren, ein Platz in ihrer Nähe angewiesen; die Uebrigen hatten zwischen Feldstühlen und wollenen Decken, die auf dem Rasen ausgebreitet lagen, zu wählen. Ein äußerst häßlicher, sonst aber sehr respectabler Neger oder „Contraband“, wie der Kunstausdruck war, servirte uns das Abendbrod, welches uns so an die Heimath erinnerte, daß wir Alle den Verdacht hegten und laut aussprachen, daß die schönen Hände der „Frau Obristin“ dasselbe zubereitet hätten.

Es war ein wunderbar schöner Abend. Mit munterem, herzlichem Lachen, das silbern von ihren schönen Lippen erklang, belohnte Grace Fanning unsere Lager- und Soldatengeschichten, oder wir schenkten ihr ein eifriges Gehör, wenn sie uns von daheim erzählte und der hübschen Mädchen gedachte, die seit dem Tage, an welchem wir in’s Feld gezogen waren, so weit es ihre sonstigen Beschäftigungen erlaubten, sich patriotischen Arbeiten hingaben. Zuweilen nannte sie – bald in einer scherzhaften, bald in einer ernsten Weise – Namen, wie „Fanny“, „Carry“ oder „Maggie“, und eine glühende Röthe färbte manches von der Sonne gebräunte Gesicht oder es füllten, für einen kurzen Augenblick, selbst die muthigsten Augen sich mit stillen Thränen.

Plötzlich begann – uns Allen eine höchst angenehme Ueberraschung bereitend – die Musikbande unseres Regiments schöne, wohlbekannte Weisen zu spielen. Bei den Klängen unserer Nationallieder erhob sich Alles und im prächtigen Chorgesang ertönte das uns Allen bekannte und in unserer damaligen Lage doppelt theure „Sweet Home“. Als der Gesang dieses Liedes geendet war, erhob sich Grace von ihrem Stuhle und sang mit der schönsten und reinsten Sopranstimme eine alte Ballade, die von Liebe, Scheiden und Wiedersehen sprach.

Wir hatten auch einen Dichter in unserem Regimente. Zwar dem Alter nach der jüngste von allen Officieren, stand Charlie Marsh an Muth und Tapferkeit doch Keinem im ganzen Regimente nach. Dazu kam, daß ihm der Gott der Dichtkunst hold war und wir manche kleine Lieder, die er gedichtet, in fröhlichem Kreise sangen. Und so kam es, daß wir auch an jenem Abende eins seiner Lieblingslieder, welches von der Heimath und des Vaterlandes Noth, von Kampf, Tod und Sieg handelte, anstimmten. Wir sangen es, während der langsam aufsteigende Mond sein zitterndes Silberlicht durch die dichtbelaubten Riesenzweige uralter Eichen zu uns herniedersandte. Der jedesmalige Schlußchor seines wirklich herzbewegenden Liedes war:

„Des Landes Feind sei vor uns,
Des Landes Banner über uns,
Das Vaterland bewein’ uns –
     Dies ist Soldatenwunsch.“

Als wir das Lied zu Ende gesungen hatten, wiederholte Grace noch einmal den Schlußchor und sang mit sanfter, glockenreiner Stimme also:

„Des Landes Fahne über euch,
Des Landes Herzen lieben euch,
Das Vaterland, es ruft euch
     Zu ernstem, heil’gem Kampf.“

Der süße Wohllaut von Grace’s Stimme und die treffende [330] Aenderung der Textworte hatte eine wunderbare Wirkung auf uns Alle ausgeübt, wir ersuchten deshalb den Capitän Alexander Cosmar, der wie ich ein Deutscher von Geburt und der beliebte Führer der Compagnie E[3] war, uns auch eins seiner das Herz tief ergreifenden deutschen Lieder vorzusingen. Cosmar folgte dem allgemeinen Wunsche und sang mit seiner klangreichen und ausdrucksvollen Stimme Heinrich Hoffmann’s schönes Lied von den „drei Liebchen“, das von Wilhelm Speier componirt und von F. Malone Raymond in’s Englische übersetzt ist.

Cosmar’s Lied hatte eine etwas melancholische Stimmung unter uns hervorgerufen. Man sang deshalb noch verschiedene muntere Kriegslieder und mancher herzstärkende Toast wurde beim Klange der Gläser, in denen ein köstlicher Catawba funkelte, auf künftigen Sieg, auf Oberst Fanning’s und seiner Gattin Wohl, auf Emancipation der Sclaven etc. ausgebracht. Allein Oberst Fanning war ungewöhnlich still geworden. Er war gerade nicht traurig, denn er sprach manch heiteres Wort und entzog sich durchaus nicht der allgemeinen Unterhaltung; aber ein gewisser stiller Ernst war über Alles, was er sagte oder that, ausgebreitet und sein dunkles Auge folgte mit einem eigenthümlichen Ausdrucke fast jeder Bewegung seiner liebenswürdigen jungen Frau.

Endlich drangen wir in Capitän Francis Carter, unseren „ältesten Mann“, einen ernsten Junggesellen von fünfundvierzig Jahren, daß er auch ein Lied singen oder einen Toast ausbringen möchte. Capitän Carter war von Geburt ein Engländer, er hatte ein vielbewegtes Leben geführt und war, obschon er das Herz und den Kopf auf dem rechten Flecke hatte, dem Anscheine nach oft unfreundlich und abstoßend, selbst gegen seine besten Bekannten. Wider unser Erwarten ging er nach einigem Zögern auf unsern Wunsch ein und sang mit einer zwar etwas rauhen Stimme, aber doch mit einem aus dem Herzen kommenden und zum Herzen dringenden Gefühle ein Lied von Thomas R. Hervey, dessen Schlußverse also lauteten:

„Rings Rundgesänge und glühende Lust, –
Nur mir ist allimmer verödet die Brust!
Rings heitre Gesichter und Busen voll Freude,
Nur mein Herz dünkt mir des Kummers Beute!
Ich bin wie ein Mehlthau in blühendem Land,
Und eng ist der düstere Kreis, der mich bannt.

Ich gehe herum, wie ein Schatten der Noth,
Im Hirne den Zauber, im Herzen den Tod;
Ich zitt’re, wenn Lust und Jubel frohlocken,
Und die Pulse des trauernden Herzens stocken;
Ich sollt’ in der Welt ein Fremdling sein,
Und ich sitze im Gram – und ganz allein!“

Dem Gesange Francis Carter’s folgte tiefes Schweigen. Das Mondlicht fiel voll und hell auf die Antlitze der Krieger, auf die jungen wie auf die älteren, aber auf allen lag der Ausdruck treuer, fester Entschlossenheit, möge kommen, was da wolle. Grace Fanning versuchte vergebens wiederum eine lebhaftere Unterhaltung hervorzurufen; auch war es bereits spät geworden, und so schieden wir denn unter freundlichen Gutenachtwünschen und verschiedenen Plänen für den kommenden Tag von unserem Gastgeber, dem Oberst Fanning und seiner von uns Allen gefeierten Frau.

Ich ging zuletzt. Da rief mich der Oberst noch einmal zurück und sagte mit fester, doch tief bewegter Stimme: „Ich freue mich von Herzen, daß Du hier bist, Robert; Grace würde doch nicht so ‚ganz allein‘ sein, wenn ich –“

Hier legte sich ihre kleine, weiße Hand auf seine Lippen, die sie mit Küssen bedeckten, und wir trennten uns in froher Zufriedenheit. Nachdem ich eine kurze Strecke gegangen war, stand ich still und blickte zurück. Da standen sie unter dem Sternenbanner. Ihr schöner Kopf ruhte vertrauensvoll an seiner Brust, seine starken Arme hielten sie liebend und schützend umfangen und Beide umfloß mit wunderbarem Reize das Licht der „mondbeglänzten Zaubernacht“. Nie sah ich ein schöneres Bild männlicher Kraft und beglückender, hingebender Frauenliebe. –

Ich eilte – es war bereits 11 Uhr – mit raschen Schritten meinem Zelte zu. Tiefe Stille herrschte schon im ganzen Lager, der Zapfenstreich war längst verhallt; die Nachtfeuer waren heruntergebrannt und die braven Jungen unseres Regimentes in einen wohlverdienten, tiefen Schlaf gesunken. Nur aus dem hastig hergerichteten Feldhospitale tönte dann und wann ein leises Stöhnen von drei oder vier kranken Soldaten, deren schwache Constitutionen den Beschwerden des anstrengenden Marsches erlegen waren und die nun unter heftigen Fieberphantasien große Schmerzen erduldeten. Obschon ich volle Sympathie für das Leiden jener Unglücklichen hatte, so kehrten meine Gedanken doch stets zum Oberst Fanning und zu seiner ebenso tugendhaften, wie schönen Gattin zurück, bis ich endlich gegen zwölf Uhr fest und ruhig einschlief.

Kaum mochte ich eine Stunde geschlafen haben, da ertönte mit einem Male hell und laut das Alarmsignal. Nur Derjenige, welcher dies Zeichen vernommen hat, unter Umständen, wo es augenblickliche Gefahr und möglichen Tod bedeutet, vermag sich eine richtige Vorstellung von dem gleichsam in’s Herz einschneidenden Gefühle zu machen, mit welchem ich, einem festen Schlafe plötzlich entrissen, von meinem Lager aufsprang und mich in der größten Hast zum Kampfe rüstete. Ich war schnell gewesen, und doch waren Andere mir bereits zuvorgekommen; ich fand unsere Leute, halbangezogen, vor dem Lager in Schlachtreihe aufgestellt und nahm sogleich meinen Platz ein.

Hinter uns lag das Lager, wie eine breite, mit einer doppelten Reihe von Zelten besetzte Straße, an deren unterem Ende das alte Blockhaus stand; nahe bei diesem, doch ein wenig mehr in der Fronte, befand sich das Hauptquartier mit der darüber wehenden Fahne. Vor uns war der Oberst, der Wald und die blinkenden Säbel einer starken feindlichen Cavalerieabtheilung. In wildem Galopp kamen sie herangebraust, die feindlichen Reiter, unbekümmert, wie viel Sättel durch unsere Kugeln leer wurden; aus dem Dickicht des Waldes stürmten sie in dunklen Massen heran und hieben mit rasender Wuth auf uns ein. Der Mond stand hoch am Himmel und es war fast so hell wie am Tage.

So wüthend der Angriff, so fest und tapfer war der Empfang. Oberst Fanning’s Stimme ertönte laut durch die Nachtluft, den Kampf ordnend und die Leute ermuthigend. Der Feind machte eine Schwenkung zur Linken, um uns im Rücken anzugreifen; doch ruhig traf der Oberst seine Gegenmaßregeln, und wir blieben unflankirt. Wiederum stürmten sie heran in vollem Rosseslaufe; wiederum warfen wir sie mit unerschrockenem Muthe zurück. Jetzt schien unserem tapferen Obersten der Augenblick gekommen, von der Vertheidigung zum Angriffe überzugehen. Mit gefälltem Bajonnete drangen wir vorwärts; unser Angriff war unwiderstehlich, der Feind wich – und ein lautes, siegverkündendes „Hurrah“ schallte donnernd durch unsere Reihen. Allein unser Siegesgeschrei war verfrüht, und statt Freude und Triumphgefühl zog Kummer und Sorge in unsere Herzen ein. Denn Oberst Fanning, unser geliebter Führer, war gefallen. Ein tückischer, aber wohlgezielter Carabinerschuß hatte ihn mitten in der Brust getroffen. Treue, brave Soldatenhände hoben ihn auf; sein jugendlich-schönes Antlitz war blaß und seine starke, breite Brust in Blut gebadet. Man trug ihn hin, wo seine Frau war. Plötzlich, durch die schüttelnde Bewegung wieder zu sich gekommen, öffnete er die Augen und rief: „Muth! Sieg! Cameraden! Vorwärts und nimmer verzweifelt!“ Als er mich erblickte, rief er mich zu sich und sagte: „Geh’, Robert, und bereite sie vor!“

Ich überließ einem erfahrenen Unterofficiere meinen Platz, und bevor man den auf den Tod verwundeten Führer nach seinem Zelte durch unsere Reihen hindurch zurückgebracht hatte, war ich demselben bis auf wenige Schritte nahe gekommen. Da stand sie, mit hochklopfendem Busen der kommenden Dinge wartend, einen kleinen Revolver in der Hand; ein leichter Mantel umhüllte die feine Gestalt, und über ihre Schultern herab floß in goldenen Wellen ihr prachtvolles Haar. Ich sah sie still und ernst an; sie begriff, daß etwas Schreckliches an sie herantrat, und während ich nach Worten suchte, blieb ihr wild und ängstlich umherirrendes Auge auf einer vom Monde hellerleuchteten, lichten Stelle des Waldes haften, da erblickte sie ihn und seine Träger. In wenigen Secunden war sie an seiner Seite; thränenlos und blaß, die Hand auf seinem Herzen, ging sie mit den Trägern dahin. Die Soldaten, selbst tief erschüttert, legten ihren Führer sanft auf die Erde, nachdem man die Fahne, welche den Abend vorher Grace’s Stuhl geziert hatte, über dieselbe ausgebreitet. Mit einer ernsten, befehlenden Handbewegung, die aber durchaus nicht verletzend wirkte, sandte sie die Krieger, welche ihr ihren Gatten gebracht hatten, in den Kampf zurück. Dann aber sank sie neben diesen mit dem schmerzlichen Ausrufe nieder: „O Robert, wird er niemals wieder mit mir sprechen? So hilf ihm, hilf ihm doch!“

[331] Ich war nicht umsonst zwei Jahre auf der medicinischen Hochschule gewesen und Chirurgie hatte ich vornehmlich gerne getrieben. Ich kniete bei ihm nieder, bemüht ihm zu helfen. Er war schwer, sehr schwer verwundet. Ich fragte nach Bandagen. Sie zerriß ihre Kleider, und gab mir, was ich brauchte. Vor allen Dingen suchte ich den starken Blutverlust zu stillen; nachdem mir dies bis zu einem gewissen Grade gelungen war, ging ich in das Zelt, um irgend eine stärkende Flüssigkeit zu holen. Ich fand etwas Wein und eilte, ihm denselben einzuflößen. Kaum war dies geschehen, so öffnete er die Augen und flüsterte mit leiser, liebevoller Stimme: „Grace, meine liebe, liebe Grace!“

Um in keiner Weise zu stören, zog ich mich etwas zurück; doch blieb ich so nahe, daß, sobald man meiner bedurfte, ich schnell zur Hand sein konnte. Als ich aber nach den Kämpfenden zurückblickte, gewahrte ich zu meinem größten Schmerze, daß die Rebellen die Unsrigen hart bedrängten. Der Fall des Führers hatte eine augenblickliche Verwirrung in unseren Reihen hervorgerufen, die von den Feinden sogleich benutzt wurde. Mit verdoppelter Kraft, bald das Schwert, bald den Carabiner gebrauchend, stürzten die südlichen Reiter auf die Kämpfer des Nordens. Es war ein wüthendes Handgemenge. Endlich aber schienen die Reihen der Unsrigen zu wanken; immer mehr und mehr wurden sie auf einen dichten, dunklen Haufen zusammengedrängt, aus dem nur die blinkenden Spitzen der Bajonnete hervorragten, und immer näher und näher wälzte sich diese wilde, wirre Masse dem Platze zu, wo wir uns befanden. Bei diesem Anblicke durchzuckte wilder Schmerz mir Sinn und Herz. Schon glaubte ich unseren Obersten verstümmelt und bluttriefend unter den stampfenden Hufen der feindlichen Rosse zu sehen und Grace, ihres heldenmüthigen Beschützers beraubt, in tiefer Trauer, doch darum nicht minder schön, der rohen Gewalt entmenschter Guerrillas preisgegeben. Ich eilte ihr sogleich zur Seite, fest entschlossen mit meinem Leben auch das ihrige zu schützen.

Auch dem Obersten war die unselige Wendung des Kampfes nicht entgangen. So schwach er auch war, hatte er sich doch, von seiner Frau unterstützt, etwas in die Höhe gerichtet und sorgenvollen Blickes die Kämpfenden beobachtet. Angriff auf Angriff, wild und ungestüm, drängte die Unsrigen immer weiter zurück. Vergebens hörte ich Carter’s rauhe Stimme die Seinigen anfeuern, vergebens commandirte Cosmar seine deutschen Landsleute zu einem verzweifelten Bajonnetangriffe, vergebens stürzte sich Charlie Marsh, seinen Leuten weit voran, mit hochgeschwungenem Degen in das dichteste Gedränge, unsere Soldaten konnten dem rasenden Andringen des Feindes, der mit wahrhaft dämonischem Geschrei seine Angriffe von allen Seiten wiederholte, nicht mehr widerstehen, sie wichen Schritt für Schritt zurück.

„Grace, Grace! Das ertrage ich nicht; ich muß sie wieder sammeln! Laß mich hin zu ihnen!“ so rief Oberst Fanning, und suchte sich den ihn umschlingenden Armen seiner Frau zu entreißen. Ich eilte, ihr ihn festhalten zu helfen, und flüsterte ihr zu, daß es sicherer Tod für ihn sei, wenn er wieder in den Kampf zurückkehre. Doch der Oberst hatte meine Worte gehört und rief mit harter, fast grausamer Stimme; „Weichen, geschlagen werden ist schlimmer, als der Tod! Kann ich nicht siegen, so will ich lieber sterben, besser ist’s, ihr tödtet mich sogleich!“

Da, schnell wie der Gedanke, verließ uns Grace, und ich hielt den sterbenden Helden allein in meinen Armen. Des Gatten Schwert in der Hand eilte die junge Frau mit Blitzesschnelle den Streitenden zu. Die blanke Klinge mit dem nackten, schlanken Arme schwingend, die leichten Nachtkleider wie weiße Schwingen durch die Luft fliegend, so traf sie auf dem Kampfplatze ein, und, wie der Engel des Todes, rief sie den von Erstaunen und Schrecken erfüllten Männern die drohenden Worte zu: „Der erste Mann, der zurückweicht, ist des Todes! Schande und Schmach über euch, so ihr euren Führer ungerächt und nicht als Sieger sterben lasset!“ Und wiederum schwang sie hoch das blitzende Schwert, und mit wunderbar seltsamen Worten – sie sind aber meinem Gedächtniß entschwunden – feuerte sie von Neuem den gesunkenen Muth unserer Leute an; mit dem Ausrufe: „Sieg oder Tod!“ stürzten sich dieselben dem Feinde entgegen, und wilder, denn je vorher, wüthete der Kampf mit Schwert und Dolch, Kugel und Kolbe.

Dann aber, nach Verlauf weniger Minuten, kehrte Grace matt und schwach zu uns zurück: Der Oberst streckte ihr – mit einem eigenthümlichen, fast überirdischen Leuchten seiner Augen – seine Rechte entgegen und sagte mit der tiefsten Rührung: „Grace, mein Weib! Mein theures, liebes Weib!“

Unaussprechliche Liebe, tiefe Seelenerkenntniß lag auf Beider Antlitz ausgesprochen, bis die Züge des Obersten einen immer starreren, marmorkalten Ausdruck annahmen.

Grace’s Erscheinung auf dem Kampfplatze hatte das Gleichgewicht des Kampfes wieder hergestellt. Gar mancher Sattel wurde wieder leer und Rosse und Reiter stürzten haufenweise blutend zur Erde. Allein die Uebermacht des Feindes war doch zu stark; zehnmal zurückgeworfen, kehrte er zehnmal und doppelt so stark, als früher, zurück. Gab es gar keine Hoffnung mehr für uns? Sollten und mußten wir unterliegen? War alle Tapferkeit und aller Heldenmuth umsonst gewesen? Grace saß still und schweigend an der Seite ihres Mannes, den starren Blick fest zum Himmel emporgerichtet. Verzweiflung in der Brust stürzte auch ich mich wieder in den Kampf. Die Hoffnung auf Sieg war fast ganz verschwunden; schon hörte man hier und da in unseren Reihen das verhängnißvolle Wort: “Retreat!“ (zum Rückzug). “Just once more!“ (nur noch ein Mal drauf) rief Charlie Marsh, und fiel dicht neben mir schwer verwundet zur Erde.

Da horch! Durch das Kampfgetöse hindurch schallt von Osten her und immer näher und näher kommend ein neues, aufmunterndes Kriegsgeschrei. Den gelben Sandweg daher stürmt wie die Windsbraut ein Cavallerietrupp heran, hinter ihm rasseln in fliegender Eile über den Waldabhang dahindonnernd die Kanonen reitender Artillerie, und hoch in der Luft flattert, sausend bei der schnellen Bewegung der schaumbedeckten Rosse, das Banner der Freiheit. „Hülfe ist nahe, wir sind gerettet!“ so schallt es durch unsere gelichteten Reihen, und ein wilder, mächtiger Jubelruf begrüßt die heraneilenden Helfer und Freunde.

Der Feind stutzt, eine rasche Berathung folgt, und kaum fallen ein- oder zweimal prasselnd die Kartätschen, Roß und Mann zerreißend, in seine dichten Reihen, so lösen sich dieselben, und selbst der wuthschnaubende Forrest vermag sie nicht wieder zu ordnen. Der Sieg, den er fest in der Hand zu halten glaubte, ist ihm entrissen und er sieht sich in der bald allgemeinen Flucht der Seinen mit fortgezogen.

Eine kurze, aber nachdrückliche Verfolgung endete den Kampf. Der Sieg war unser. Rasche Fragen und Antworten sagten uns, daß unsere Freunde, die nicht weit von uns ihr Nachtlager aufgeschlagen, den Schlachtenlärm bei der Stille der Nacht gehört hatten und uns zur Hülfe geeilt waren. Das Uebrige sahen wir vor uns.

Dann rief man den Arzt zu Oberst Fanning. Der Mann mit der grünen Schärpe hatte in seinem harten Berufe sein Gefühl nicht verloren. Thränen erfüllten seine Augen, als er sich von seinen vergeblichen Bemühungen erhob und leise sagte: „Ich kann hier nichts mehr thun, meine Hülfe ist anderswo vonnöthen.“

Unser Freund und Führer war todt!

Wir hüllten seinen entseelten Körper in weiche Decken und legten ihn sanft am Fuße einer Eiche nieder. Grace saß neben ihm, still und ohne Thränen, aber blaß wie die Hand, die auf dem Herzen des todten Helden ruhte. „Robert, sende sie weg,“ sagte sie zu mir, als mitfühlende Fremde näher treten wollten, und wir waren allein mit dem todten Gatten und Freunde. Nach einer kleinen Weile redete ich sie an und versuchte sie zu trösten, so gut ich es vermochte.

„Ja, Robert,“ antwortete sie mir, „ich habe ihn dem Vaterlande zum Opfer gebracht. Der Himmel mag mich trösten und – die Zeit, Menschenworte vermögen es nicht. Sprich jetzt nicht mehr zu mir und laß Niemanden zu uns kommen.“

Endlich kamen die Thränen und sie weinte still und bitterlich unter dem Sternenbanner und an der Seite des Todten. Ich hörte das dumpfe Geräusch vieler Stimmen, und dann und wann einen lauten Schmerzensschrei; ich wußte, man suchte die Leiden der Verwundeten zu lindern. Ich richtete meinen Blick wieder auf Grace. Ihr volles Haar fiel aufgelöst zur Erde nieder, sie neigte ihr Haupt über das kalte Antlitz des todten Helden und der Mond goß sein bleiches Licht über Beide aus. Ich wagte nicht mehr mit ihr zu reden und sie in ihrem gerechten Schmerze zu stören. – – –

Seit jener schrecklichen Nacht sind Jahre vergangen. Grace ist noch Wittwe und denkt oft und mit stolzem Schmerze an den im heldenmüthigen Kampfe für’s Vaterland gefallenen Gatten.



[332]
Die Werkstätte eines großen Mannes.


Wer nach Amsterdam kommt und den Anblick der See den Genüssen der Verfeinerung vorzieht, der wähle zum Quartier die „Nieuwe Stadsherberg“. So hab’ ich’s gemacht und mich mit Freunden wohl dabei befunden. Zwar hat dies eigenthümliche Hotel im Bädecker blos das Prädicat „nicht übel“ und es fehlt ihm der Stern der Auszeichnung; es behagte uns aber nichtsdestoweniger sehr gut darin, und es waren recht verwöhnte Leute unter uns, besonders der Prager Wirthschaftsrath und seine liebenswürdige Gattin. Alles war gut, am besten aber die Lage und die Aussicht. Die Pfahlbauten sind gegenwärtig Mode; nun, einen schöneren und besseren Pfahlbau wird man im ganzen antediluvianischen Moder nicht finden, als da die neue Stadtherberge mit ihren vielen hellen Fenstern, den weißen Gardinen dahinter und den blitzenden Messingdrückern. Weit hinausgerückt, auf drei Seiten von der Fluth umspült, steht das Haus auf einem Rost mitten im Y (spr. Ei), und ein langer Pfahlsteg führt vom Buitenkant des Hafens hinaus auf die gastliche Insel. Und was giebt es Anziehenderes für den Binnenländer, als wenn er Morgens aus seinem Bett hinausblicken kann auf den von Segeln überflogenen Spiegel des Meeres oder Abends in traulicher Gesellschaft bei der Flasche die Sonne versinken sieht in den gekräuselten Wellen? Dazu der stete Verkehr; hier ist der Landungsplatz der Südersee-Dampfboote, gleich daneben ein Werft der Fischerschaluppen; zur Linken liegen Pinken, zierliche Jachten, Jollen und Hafenboote jeder Art; da ist ewiges Gewühl, Kommen und Gehen; die Luft ist durchduftet mit jenem eigenthümlichen Theergeruch, der die Reisesehnsucht weckt; Seefahrer, Capitäne, Matrosen aller Nationen bewegen sich untereinander; und wenn der Blick auf der einen Seite den Frieden oder Aufruhr der ewigen See erfaßt, so fällt er auf der andern in das Getümmel einer Weltstadt.

Wir waren aus der „holländischen Schweiz“ (Cleve) gekommen, hatten den „holländischen Garten“ (von Arnheim über Zütphen nach Amersfort) durchwandert – eine Landschaft, deren Reize viel zu wenig bekannt sind – und verschoben nunmehr hier, festgehalten von den eigenthümlichen Schönheiten Amsterdams, die Abreise von Tag zu Tag. Gestern waren wir in dem Dorfe Broek gewesen, dessen sprüchwörtliche Reinlichkeit uns aber geradezu lächerlich erschien, da sie ganz augenscheinlich zum größten Theil auf den Geldbeutel der Besucher berechnet war, und sich in dem armseligen Häuslein eines Schiffers, in welches wir eingebrochen waren, keineswegs auffallend zeigte, obgleich auch dessen Inneres – der Wahrheit die Ehre – immer noch unendlich sauberer war, als in mancher deutschen Stadt die Kinderstube wohlhabender Leute. Heute wollten wir als letzte, unerläßliche Merkwürdigkeit die Stadt Saardam besuchen, welche aber eigentlich Zaandam heißt und nordwestlich von Amsterdam, jenseits des Y, an der Mündung des Zaaneflüßchens liegt.

Um drei Uhr Nachmittags betraten wir das übervolle Dampfboot, auf dessen Verdeck es allerdings stark nach Genever und Käse roch; aber wer hätte bei dem herrlichen Wetter es in der Kajüte auszuhalten vermocht! Es war eine wundervolle Fahrt. Das oft tückische Y war glatt, von keinem Lüftchen erregt, daher begegneten uns auch keine Segelschiffe, sie lagen alle regungslos mit um die Masten gefalteter Leinwand. Mühsam ruderten schwere Milchewer[WS 1] vorüber, in der östlichen Ferne qualmte unter schwarzen Wolken ein Steamer heran; südlich zeigte weißquellender Dampf die Linie der Haarlemer Eisenbahn. Hier aber richtete sich der Blick zunächst auf den Mastenwald der Küstenfahrzeuge, welche da vor Anker liegen, dann auf die zierlichen Sommerhäuser, deren Schwellen sich in der See baden, während ein dunkelgrüner Baumkranz sie umwölbt; aber immer weiter fliehen sie zurück; die Stadt verschwimmt in der Zitterluft des Sommernachmittags; rothe Baken, mit großen Nummern bezeichnet, weisen uns den Weg und kreischende Möven bilden unser Geleit. Auf dem Deck herrscht so wenig Leben, als über dem Wasser; die Männer rauchen – aber nicht mehr Thonpfeifen, sondern Cigarren – die Meisjes verhüllen die Goldbleche ihres Kopfschmucks zum Schutz gegen die Sonne und schlafen. Nach und nach senkt sich eine ganz holländische Schläfrigkeitsatmosphäre herab auf die gesammte Gesellschaft.

Land! Dort hebt es sich, wir sind kaum eine Stunde gefahren. Von einem wahrheitsliebenden Reiseschriftsteller und Jäger ist erzählt worden, daß er einmal auf der Insel Java einen meilenweiten Wald von sonderbar abgestorbenen Hölzern erblickt habe; beim Lichte besehen, waren es die Geweihe hier ruhig lagernder Hirsche. So, wenn man jetzt nach Terrafirma schaut, erscheint die ganze Küste wie ein ungeheurer Riesenzaun von gekreuzten Telegraphenarmen; es ist aber ein Wald von Windmühlenflügeln, der sich hier über den rothen Dächern niedriger Häuser erhebt, und fürwahr „ein Wald“ darf man sagen, denn die Zahl dieser nützlichen Wahrzeichen Hollands ist hier eine so außerordentlich große, daß das schärfste Auge sich vergeblich abmüht, sie zu beziffern. Wohin man blickt, rechts, links, Windmühlen und Windmühlen bis in die aschgraue Ferne. Ihnen und ihrer billigen Betriebskraft auf diesem „zugigen“ Terrain gegenüber, ist der mächtigste Factor der Neuzeit, der Dampf, bisher nur ein Ritter von der traurigsten Gestalt gewesen, der ihnen keinen Fußbreit abzugewinnen vermochte. Glückliches Holland! Und was Alles in diesen Mühlen durch den lieben Wind gemahlen wird, man darf es gar nicht sagen, sonst wird man ausgelacht. Oder fragt doch einmal einen Blasius im Binnenland, ob er glaube, daß man auf seinem Windbock Ziegelstücke zu feinstem Pulver herstellen und damit Handel nach England treiben könne? (– wo, wie ich sehr fürchte das Ziegelmehl zur Chocoladenfabrikation verwendet werden wird.)

Aber da sind wir am Land und der Strom reißt uns mit sich fort. Doch nein, er staut sich, oder vielmehr, wir werden gestaut. Wir sind umringt, gestellt von einem Gürtel sehr lebhafter Holländer in allen Altersclassen, welche mit aufgehaltenen Händen sich zu Führern anbieten. Als ob man diese in Zaandam brauchte! Hier ist nur ein Wallfahrtsziel und dies kann man nicht fehlen, wenn man den Andern folgt. Es ist die Werkstätte Peter Michaelow’s. Verwundert fragt Mancher: „Wer, was war dieser Peter Michaelow?“ Je nun, er war Zar und Zimmermann, Lortzing hat ihn hübsch in Musik gesetzt und sein Testament macht der Welt zu schaffen. Unter dem Namen Peter Michaelow lebte und arbeitete hier – Peter der Große, der Selbstherrscher aller Reußen, der Umgestalter, wie seine Völker ihn ehrend oder tadelnd benannt haben. Die Stätte, wo ein großer Mensch geweilt, ist heilig, aber nicht immer ist ein großer Fürst ein großer Mensch gewesen.

Einerlei, da sind wir in einem mäßig großen Hofraum, welcher durch verschiedene Molkereigeräthschaften nicht gerade sachgemäß illustrirt wird. Vor uns steht ein sonderbares Bauwerk: eine offene Halle mit einem geschlossenen Kern; der letztere ist ein windschiefes Blockhaus, schon halb in den weichen Boden gesunken, vielfach gestützt und ausgebessert, mit zwei Fenstern und einer Thür; das ist die Hütte, die dem Zaren-Zimmermann als Atelier und Wohnung gedient hat. Sie ist vollkommen erhalten geblieben, wie sie war, dank der Pietät der russischen Kaiserfamilie; eine ihrer Prinzessinnen hat sie mit einem säulengetragenen Dach überstülpen lassen, um sie vor dem nagenden Zahn der Witterung zu schützen; aber trotzdem ist Alles morsch und baufällig; zahllose Spähne hat das reliquiensüchtige Messer der Söhne Albions aus den Wänden entführt; jetzt wird streng auf jede Schnitzelei gefahndet. Treten wir ein. Wie eng, wie ärmlich! Es schleicht sich doch etwas wie Bewunderung in unsere Seele, wenn wir an die Selbstverleugnung des mächtigsten Mannes seiner Zeit gedenken, der um einer großen Idee willen sich hier einzusperren nicht scheute. Zwei enge, schmale Gelasse und ein Wandalkoven, wie sie am Niederrhein üblich sind, das ist der ganze Raum. Zwölf Personen bringen schon Verkehrsstockung hervor, man wartet, bis die Erstgekommenen sich satt gesehen haben, was glücklicherweise nicht lange dauert. Die Möbel, Tisch und Stühle, auf ersterem das Fremdenbuch, sind nicht mehr diejenigen, welche der merkwürdige Gast benutzt hat, trotzdem die Führer bereit sind, dies zu beschwören; auch von seinem Handwerksgeräth, seinen Schiffsmodellen ist nichts mehr vorhanden, das Alles ist wohlgeborgen im Museum der Admiralität in St. Petersburg. Aber er selber ist noch da, dort aus dem Rahmen tritt er hervor in der Arbeitsjacke der Schiffzimmerleute, mit der festen, eisernen Stirn, den sinnlichen Lippen, den stechenden Augen; sein Oelbild ist, in Lebensgröße, hieher gestiftet von seinem Urenkel, dem Zaren Nikolaj. Ringsum noch andere Bilder, Kupferstiche, gute und schlechte, lauter Portraits von Peter und Katharina, dann zwei Marmortafeln: Petro magno Alexander 1814, und dem Ahnen, der seinen Russen die

[333]

Die Werkstätte Peter’s des Großen in Saardam.
Nach der Natur aufgenommen von H. Leutemann.

[334] Civilisation einbläute, der Nachkomme, der ihnen die letzte Sclavenfessel abstreifte, Großfürst Alexander im Jahre 1839. Das ist Alles, was hier zu sehen ist. Außerdem aber giebt es zu lesen; im Fremdenbuche blätternd, sah ich den Namen „Freiligrath“, unter den zahllosen russischen Inschriften der Wände fanden sich vielbekannte, wie: Dolgoruki, Orlow, Miloradowitsch, Pahlen, Mentschikow, Kutusow, Winzingerode, Schulenburg, Langeron etc.

Peter Michaelow, der bei dem ehrlichen Meister van Kalf im Jahre 1697 die Axt und den Hobel führt, und Zar Peter der Erste, der die Strelitzen selber niedersäbelt! Der geschickte, sinnreiche Arbeiter und der große Tyrann, der begnügsame Hüttenbewohner und der unersättliche Geist, der seinen Nachfolgern auf Jahrhunderte hinaus die Wege vorgezeichnet, auf welchen sie den Besitz der Welt erobern sollen! Welche Contraste! Anderthalb Jahrhunderte schauen von der Decke dieses morschen Häusleins herab, die lehrreichsten, welche die Geschichte kennt. Von hier aus erstand die russische Flotte, die bei Tschesme ihren höchsten Triumph feierte, dann aber immer weiter zurückging, bis der Krimkrieg ihren besten Theil in den Pontus Euxinus versenkte und der Pariser Frieden ihr die fernere Entwickelung abschnitt. Wenn Peter Michaelow in die Zukunft hätte blicken können! Er würde sich doch vielleicht gewundert haben darüber, daß der Fortschritt im Osten so viel kürzere Schritte macht, als im Westen. Und wie lebhaft hatte er schon vom Einholen geträumt!

Die Zaandamer erzählen natürlich wahre Zaubermärchen von dem Aufenthalt des Zaren in ihrer Stadt, und es giebt Leute genug, welche steif und fest behaupten, die Kaiserin Katharina sei ein Holländer Kind gewesen, das der kaiserliche Zimmermann sich mitgenommen. Für sie ist Michaelow’s Werkstätte eine Art Kaaba, jeder Zweifel an ihrer Heiligkeit kränkt sie tief; kein Wunder, scheint doch eine ganze Anzahl von Lungerern davon zu leben. Daran muß die gute Stadt Zaandam niemals arm gewesen sein, denn es ist Thatsache, daß sich Peter Michaelow dermaßen von ihnen bedrängt und gehindert sah, daß er es blos acht Tage lang in der Hütte Mynheer van Kalf’s aushielt, dann aber aufpackte und seine Studien auf den Werften der ostindischen Maatschappij in Amsterdam selbst fortsetzte. Sein Aufenthalt in Zaandam war demnach auf eine ganz kurze Zeit beschränkt gewesen, und im Grunde genommen hatte der kluge und weise Bürgermeister van Bett nicht viel Ursache, sich damit zu brüsten. Aber wer in Amsterdam gewesen ist, der muß auch Zaandam und darin Peter’s des Großen Hütte besucht haben. Weiter giebt’s aber daselbst nichts zu sehen, als – Windmühlen. Und so konnten wir denn nach einer Stunde Aufenthalt beruhigt und mit dem Zeugniß gewissenhaften Touristenthums zurückkehren.

Wie wundervoll war diese Heimfahrt! Diesmal blieb das Deck fast leer, die Sonne neigte sich im Westen, eine leichte Brise war aufgefrischt und die Segel schwammen aus dem Hafen wie Schwäne, die der Haft entlassen worden sind. Ein mächtiges Dampfboot lief an unserem Zwerg vorüber und eine begreifliche Ideenassociation führte mich hinaus auf das schwarze Meer, in dem ich ein Jahr vorher das riesige Linienschiff „Peter der Große“ vor der Bugmündung liegen gesehen hatte, abgetakelt, eine Ruine, die Beute der Bohrwürmer. Hier der Anfang, dort das Ende! Wer weiß, es ist noch nicht aller Tage Abend. Aber ein Peter Michaelow wird nicht wieder nach Zaandam kommen!
W. H.




Faust, Gretchen und Mephisto.
Erinnerung eines deutschen Seemanns.


Die große Handelsmetropole Ostasiens, Schanghai, das Paradies der Dollarsmänner, dagegen der schlimmste Verbannungsort für alle andern civilisirten Leute, liegt nicht direct an der See, sondern mehrere deutsche Meilen landeinwärts an dem nördlichen Ufer des Wusung, eines breiten, tiefen Flusses mit schlammigen, trüben Wogen und ohne andere Gestade als flache Lehmränder. Tausende von Schiffen aller Bauarten liegen hier vor Anker, der Chinesenstadt gegenüber die chinesischen Dschunken, am Quai der Fremdenstadt und von da in langer Linie seewärts der europäisch-amerikanische Dreimaster. Zahlreiche Dampfer laufen aus und ein mit Passagieren, Gütern und Schiffen im Schlepptau, die in dem immerhin engen Fahrwasser des Flusses nicht mit Sicherheit auf- oder abwärts segeln können.

Unter diesen Dampfern figurirten längere Zeit auch drei Exemplare einer ganz kleinen Species, nicht größer, als die Barkasse eines Linienschiffes, aber schnell und handlich. Sie nannten sich: Faust, Gretchen und Mephisto, bedeutsame Namen, an denen man wieder einmal sieht, daß der Name nichts Gleichgültiges, im Gegentheil entschieden ein Präjudiz für die zukünftigen Lebensschicksale des Trägers ist. Welche Lebensschicksale dies für Menschen sein müßten, errathet ein Jeder sogleich aus den drei populären Dichtergestalten, die jene Namen tragen; wie aber sollen dieselben Anwendung finden können auf eine Gruppe von drei zwerghaften Flußdampfern in einem ganz unromantischen Lande? Das wird schwerlich Jemand ahnen.

Der Zweck dieser drei Gnomen war ein sehr materieller; sie dienten ihren, natürlich deutschen, Besitzern dazu, aus den Seidendistricten des himmlischen Reichs, zu denen man zu Lande nicht gelangen kann und welche damals von den bösen Geistern, den Taiping-Rebellen, beherrscht wurden, Seide zu holen, und wurden dadurch ihren Herren und Meistern eine Fundgrube unerschöpflichen Reichthums. Wegen ihrer Kleinheit und ihres flachen Tiefganges vermochten sie in alle Flußverzweigungen, Canäle und Creeks jener Gebiete einzudringen, mit Hülfe ihrer Schnelligkeit ebenso leicht wieder zu entwischen und, wenn die Gelegenheit günstig, sich Bauch und Rücken voll des kostbaren Gutes der Seide zu laden. War dies geschehen, so machten sie Kehrt, luden am Quai zu Schanghai die Waare ab und dampften wieder landeinwärts.

Wenn die glücklichen Inhaber unsere Gnomen lediglich diese Rolle spielen ließen, so hatten sie, vermuthlich belehrt durch das tragische Geschick ihrer Vorgänger, von vornherein das Leben jedenfalls richtig erfaßt. Indeß im Namen liegt das Fatum, und es konnte nicht ausbleiben, daß alsbald ein störendes Element sich geltend machte und seine unvermeidlichen Consequenzen zog, die beinahe eine allgemeine Katastrophe zur Folge gehabt hätten.

Dieses Element zeigte sich im Zwerge Mephisto, mit rothgemalter Bordswand und dito Schornstein. In allzu großem Uebermuthe war er so unvorsichtig, sein Schicksal früher herauszufordern, als es sein Ahne bei Goethe that. Zerstörungssüchtig, wie immer, gedachte er eine rechte Verwüstung auf dem mit Silberbarren und Seidenballen bedeckten Flusse anzurichten, und stieß unter vollem Dampf mit wirbelnder Schraube gegen einen andern Dampfer, der jedoch viel größer als er selbst war und deshalb nicht sank. Geschieht aber solch’ ein Zusammenstoß zwischen zwei ungleichen Gegnern, so muß einer von Beiden immer Wasser schlucken; und da dies in unserm Falle nicht der größere Dampfer that, so mußte es folgerichtig Mephisto, zur gerechten Strafe für seine Vermessenheit.

Mephisto lag also im kühlen Schlamme des Wusung beerdigt, und Faust und Gretchen hatten das Geschäft, hinter den Bergen im Gebiete der Rebellen Reichthümer zu heben, allein fortgesetzt.

Letzteren, den Rebellen, war dies Treiben natürlich nicht unbekannt geblieben, auch calculirten sie ganz richtig, daß der Besitz solcher kleiner Dampfer ihnen selbst in diesem von tausend Wasserstraßen durchschnittenen Lande von ungemeinem Nutzen sein müsse. Neben den Rebellen und den Kaiserlichen hausten in diesen Provinzen des himmlischen Reiches aber noch zahlreiche Piratenbanden, welche ebenfalls Appetit nach dergleichen reizenden Besitzthümern hegten. Bereits war ein französischer Dampfer gleicher Größe mit theilweiser Bemannung eines schönen Morgens vom Quai zu Schanghai spurlos entschwunden, und man vermuthete, daß er von Rebellen oder Piraten, vielleicht selbst im Einverständniß mit der Besatzung, weggeführt worden sei; darauf tauchte in den Localblättern das Gerücht auf, daß die Rebellen durch ihre Agenten, die sie in Schanghai immer hatten, auch Faust und Gretchen kaufen zu lassen beabsichtigten. Zu gleicher Zeit erschien ein Kaufmann, portugiesischer Abstammung, bei den Besitzern der beiden Dampfer mit der Bitte, ihm Gretchen zu leihen zu dem Zwecke, aus den Seidendistricten, aus welchen er herkomme, sein Geld zu holen, welches dort oben vergraben sei. Unendliche [335] Massen Geldes lägen außerdem noch daselbst in sicherem Gewahrsam und könnten gelegentlich mit gehoben werden. Dem Portugiesen wurde sein Anliegen genehmigt und Gretchen dampfte wieder nach den ihr bekannten Regionen mit der Bestimmung, nach spätestens sieben Tagen zurück zu sein. Nach Ablauf dieses Termins sah man jedoch noch nichts von ihr und auch nach acht Tagen war sie noch nicht wieder gekommen. War der Portugiese ein Agent der Rebellen, oder war der Dampfer von diesen, von den Kaiserlichen, von Flußräubern genommen, oder war er auf den Grund gelaufen? Alles dies konnte die Ursache seines Ausbleibens sein; genug, er blieb verschwunden sammt Capitän und Maschinist.

Nun sollte Faust Gretchen wiederholen! Hätte Mephisto noch existirt, so würde dieser ihm durch seine Verschlagenheit vielleicht wesentliche Dienste haben leisten können. Da derselbe jedoch ein vorzeitiges Ende gefunden, so mußte Faust das Wagstück allein unternehmen. Er wurde hierzu kriegerisch ausgerüstet! Unser „man-of-war“, die preußische Corvette „Gazelle“, gab ihm dazu alles Nothwendige. So klein er war, so erhielt er doch fünfzig Mann Besatzung nebst Officieren, einem Arzte, Maschinenpersonal, einem chinesischen Lootsen, zwei Geschützen und Bajonneten und Revolvern in Menge; dazu endlich auf acht Tage Proviant, mehrere Batterien von Bouteillen Weins und einen großen Sack voll Geld. So unscheinbar also Faust aussah, so war er doch mächtig genug, weit überlegenen feindlichen Massen die Spitze bieten zu können. Freilich konnte eine einzige feindliche Kanonenkugel, die ihn in den Rumpf traf, ihn zum Sinken bringen; in diesem schlimmsten aller Fälle jedoch hätte Faust vermuthlich sein Leben geopfert, um Gretchen zu retten.

Die Expedition begann an einem Vormittage; strömender Regen segnete sie ein. Faust dampfte trotz des auslaufenden Stromes, der mit Heftigkeit die gelben Wogen des Wusung zur See wälzte, muthig landeinwärts, so daß ungeachtet der Windstille die mächtige Kriegsflagge, die ihm für die Dauer der Expedition verliehen war, über seinem Heck breit und verständlich ausflatterte.

Dicht oberhalb Schanghai mußte der erste Cordon der kaiserlichen Truppen passirt werden. Ein Boot mit kaukasischen Ruderern, vermuthlich aus allen seefahrenden Nationen zusammengewürfelt, legte sich vor den Bug des Faust, um seinen Paß zu untersuchen. Trotz seiner kriegerischen Zurüstung wurde der Paß in Ordnung befunden, und weiter ging’s in monotoner Fahrt, immer unter Platzregen zwischen flachen Lehmufern entlang, die durchaus nichts Interessantes darboten als ein mattes Grün auf den Feldern und zwischen noch nicht belaubten Sträuchern und Bäumen zahlreiche Dörfer und Hütten. Hin und wieder flog eine Dschunke an uns vorüber.

Der erste interessante Punkt war eine vielstöckige Pagode, die unmittelbar an einem in den Wusung mündenden Creek inmitten eines Dorfes gelegen ist. Obwohl sie einige tausend Schritte seitwärts lag, so wurde sie dennoch angelaufen, um sie zu ersteigen und um zu erforschen, ob etwa in der Ferne bereits irgendwo Dampf zu entdecken, d. h. Gretchen in Sicht sei. Vergeblich.

Also Fortsetzung der Wallfahrt. Welch ein trostloser Anblick zu beiden Seiten! Nichts, als absolut flaches Land, keine noch so geringfügige wellenförmige Profilirung desselben, keine Vegetation, Schlamm am Ufer, Schlamm im Flusse, Regen von oben! Glücklicher Weise brachte der chinesische Lootse einige Abwechselung in das Einerlei. Lootse wenigstens wurde er genannt und als solcher war er mitgenommen worden. Möglich, daß er auch in der That einer war und selbst von den Tiefenverhältnissen des Wusung eine Ahnung hatte; wer aber kann einem solchen Individuum trauen? So lange die Fluth breit genug war, stand er am Ruder, vermuthlich, um den Faust immer von beiden Ufern gleich weit ab zu halten; als jene jedoch enger wurde, begann die biedere Gewohnheit ihn zu drücken, welcher er um diese Tageszeit im Opiumladen zu fröhnen pflegt. John verließ also das Steuer; schweigsam wie er von Haus aus war, lagerte er sich Angesichts der ihn neugierig umringenden Faustgäste malerisch bequem zwischen den auf Deck liegenden Kisten und Kohlensäcken, um sich eine Opiumpfeife zu präpariren. Dies erforderte einige Minuten Zeit, alsdann aber entschlief er sanft.

Einige zwanzig englische Meilen hatte der Faust bereits zurückgelegt. Die Wolken brachen sich, in der Ferne wurde eine Hügelreihe und eine zweite Pagode sichtbar. Da rief es: „Dampf voraus.“ Wirklich wurde eine Rauchsäule sichtbar, scheinbar mitten im Lande drin, jedoch deutlich in stromabwärts kommender Bewegung; der Wusung machte dicht vor uns einen scharfen Winkel, so daß es schien, als ob er hier mit einer Bucht endigte. Wir waren jedoch kaum um die Ecke herum, als in der Ferne deutlich ein kleiner Dampfer in Sicht kam; ein allgemeines Halloh brachte auch den Lootsen aus dem Opiumtraume, die Contouren Gretchen’s wurden immer deutlicher. Signale und Freudenschüsse verkündeten ihr im Voraus, daß Faust, der Getreue, nahe sei. Gretchen kam heran, anstatt aber beizudrehen, that sie spröde, wie weiland am Osterfeste, offenbar in der Absicht, ungeleitet ihres Weges weiter zu ziehen. Wahrscheinlich war es ihrem Capitän unangenehm, der Gegenstand einer kriegerischen Expedition geworden zu sein, als deren Beute er nun bon gré mal gré figuriren mußte. Faust richtete jedoch die bekannten Worte an Gretchen:

„Mein schönes Fräulein, darf ich’s wagen,
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“

„Wollen Sie nicht bald gefälligst beidrehen? Faust giebt Gretchen nicht sobald wieder frei, dafür die Kriegsschiffsflagge und die beiden Zwölfpfünder. Capitän der Gretchen an Bord des Faust!“

Er kam und berichtete über die Schicksale Gretchen’s im Gebiete der Rebellen, daß diese bösen Geister dort oben gar entsetzlich hausten, plünderten, Alles, was sich nicht den Stempel der Taipings freiwillig auf die Stirn drücken ließe, kaltblütig ermordeten und ihre Spur überall mit Brand und Verwüstung zeichneten; nur mit äußerster Vorsicht sei, um ihnen nicht in die Hände zu fallen, in dem Labyrinthe von Canälen vorzudringen gewesen; mehrere Male habe er, um zu den gewünschten Plätzen zu gelangen, zurückkehren und andere Wege oder Umwege einschlagen müssen; bis er endlich doch einen Punkt erreicht habe, von wo aus der Portugiese des Nachts, während der Himmel von Feuerwolken erleuchtet gewesen sei, sich in den Besitz von dreißigtausend Dollars seines eigenen Vermögens setzen konnte. Nach Aussage zuverlässiger Chinesen jedoch seien dort oben „mindestens noch zwölf Millionen“ zu heben, Schätze, welche reiche chinesische Kaufleute beim Herannahen der Rebellen daselbst vergraben hätten in Ermangelung eines Mittels, sie wegzutransportiren, ohne sie zu verlieren. Von Rebellen jedoch umringt und im Bereich der unaufhörlich donnernden Kanonen beider feindlichen Theile, der Kaiserlichen wie der Taipings, hätten sie diesmal nicht wagen dürfen, die Orte, welche ihnen von den Chinesen näher bezeichnet worden wären, auf jene fabelhaften Schätze zu untersuchen. Genug, der Portugiese befinde sich nebst seinem Gelde wohlbehalten an Bord seines glücklich davongekommenen Dampfers; er selbst aber werde mit Beiden sofort nach Schanghai weiter gehen.

„Das werden Sie nicht,“ antwortete der Commandant des Faust. „Gretchen ist die Beute Faust’s; ohne ihn wäre sie nie wieder aus jenem zauberhaften Lande der Dollars, Seidenraupen und Rebellen gerettet worden. Gretchen wird von jetzt ab nicht mehr ungeleitet gehen. Da der Abend heiterer zu werden verspricht als der Tag, so setzen wir unsere Reise fort bis zur nächsten chinesischen Station, gleichviel ob dort die Tataren- oder Mandschurendynastie herrscht, und Gretchen wird Faust begleiten.“

Gretchen befand sich in sehr unbehaglicher Stimmung, mußte aber in die Siegesfreude Faust’s nolens volens mit einstimmen. Gegen Abend gelangte das Geschwader vor einer Stadt am nördlichen Ufer des Wusung an. Wieder legte sich ein Boot, diesmal mit chinesischen Soldaten bemannt, vor den Weg und brachte einen Engländer an Bord, der den Paß revidirte und fest, aber höflich erklärte, daß er, wenn wir ohne anzulegen weiter zu fahren versucht hätten, ohne Weiteres auf uns mehrere Geschütze abgefeuert haben würde.

Die Stadt hieß Miensong. Außer dem Engländer residirte hier noch ein Mandarin; ein Tempel wird auch wohl zu sehen sein, es wurde also beschlossen, hier vor Anker zu gehen, die Nacht hier zu bleiben, mit dem Engländer Freundschaft zu schließen, eine bewaffnete Promenade durch die Stadt auszuführen und dem Mandarin einen Besuch abzustatten. Alles dies gelang vollständig. Zwanzig Bajonnete begleiteten die harmlosen Spaziergänger durch das Straßenlabyrinth dieser jammervollsten, widerlichsten aller Städte nach dem Tempel, der mehr einem ungedielten, schmutzigen, baufälligen Schuppen glich, in welchem zahlreiche Götzen aufgestellt waren, defect, aus simplem [336] Lehm nach Art der Kuchenmännchen geformt und bemalt. Von, da ging’s zur Dschunke, in welcher der Mandarin thronte. Das Officiercorps ließ sich bei ihm anmelden, natürlich mit Erfolg; denn es würde von Seiten Seiner Durchlaucht Angesichts der bewaffneten Macht am Strande jedenfalls einen ungewöhnlichen Grad von Muth vorausgesetzt haben, wenn er das Gesuch hätte abschlagen wollen. Er that dies mit Nichten, gab aber, als der Besuch sich in der Cajüte um ihn gruppirt und er durch einen dolmetschenden chinesischen Knaben erfahren hatte, daß es nur die Verehrung für ihn sei, die uns bewege, ihm unsere Aufwartung zu machen, den Wunsch zu erkennen, daß wir, nachdem wir unsere Absicht erreicht, sein Gebiet möglichst bald wieder verlassen und nach Schanghai zurückkehren möchten. So ein Mandarin ist ein mächtiger Herr, ungefähr dasselbe, was man in Japan Daimio und in Deutschland Fürst nennt, und es mochte ihm wenig bescheiden vorkommen, als unsererseits sogar der Wunsch geäußert wurde, seinen Filzhut mit dem herrlichen Knopfe von Lapislazuli, mit der goldenen Scheibe darunter und dem Bündel Pfauenfedern im Gehäuse von Serpentinstein einmal cursiren zu lassen. Angesichts der bewaffneten Macht am Strande aber würde die Nichtgewährung einer solchen Bitte unhöflich erschienen sein. Nach Genuß einer Tasse Thee empfahlen wir uns mit freundlichem Händedrucke und gegenseitigem Ueberreichen der Visitenkarten. Unsererseits war der erhaltene Eindruck mehr komisch als imponirend; der Chinese aber hat hinterher zweifellos mehr als einmal die rothhaarigen Barbaren verwünscht.

Abend und Nacht wurde auf dem Kutter des Engländers, einem sehr geräumigen, comfortabel eingerichteten Fahrzeuge, in sehr aufgeräumter Stimmung zugebracht; auch an Bord von Faust und Gretchen wurde der Tag des Wiedersehens festlich begangen.

Am andern Morgen eilten Beide nach Schanghai hinab, wo sie bereits Mittags anlangten, Faust etwas voraus, mit schallender Pfeife und wehender Kriegsflagge, Gretchen, der Anordnung gemäß, etwas hinterher. Gretchen schämte sich jedoch und benützte die erste Gelegenheit, seitwärts in dem Labyrinthe von Booten und Schiffen zu verschwinden.




Blätter und Blüthen.


Franz Wallner, der aus Gesundheitsrücksichten auf einige Monate nach Italien gereist ist, schildert in einem Privatbriefe an den Redacteur der Gartenlaube seinen Aufenthalt in Rom folgendermaßen:

In Italien sieht es sehr kriegerisch aus, überall auf allen Wegen und Eisenbahnen massenhafte Zuzüge von Soldaten aller Waffengattungen, und ich fürchte, Italien ist zu arm, um blos zum Schein zu rüsten, es wird zuschlagen müssen. Was soll ich Ihnen von den Merkwürdigkeiten dieses Wunderlandes, besonders denen Roms, erzählen, was Sie nicht schon tausend Mal gelesen hätten? Und doch reicht keine Phantasie, keine auch noch so gewandte Phantasie an die Wirklichkeit hinan. Wie sich eine Reise nach London uns bezahlt hat, wenn man nichts gesehen, als den Krystallpalast, so reicht es vollkommen aus, die Peterskirche und den Vatican gesehen zu haben, um Mühe und Kosten einer Reise nach Rom mit Wucherzinsen herein zu bringen. Man muß diese zwei Gebäude gesehen haben, welche mehr Werth und Schätze enthalten, als alle Kaiser-, Königs- und Fürstenpaläste von Europa zusammen, um den Weltruf Roms zu begreifen.

Eine Schilderung des Vaticans, die ein klares Bild desselben geben soll, ist eben so unmöglich, als die der Peterskirche. Eine solche Sammlung von Kunstwerken in Marmor und Farben existirt in der Welt nicht wieder. Alle die elenden Abgüsse in Gyps, die wir in den verschiedenen deutschen Museen anstaunen, sind hier in den unsterblichen marmornen Originalen ausgestellt, z. B. Apoll von Belvedere, die Gladiatoren, die verschiedensten „Venüsser“, die wunderbarste aller Gruppen, die des Laokoon, und Hundert und Hundert von anderen großartigen Meisterwerken. So kalt mich in der Regel alte Bilder lassen – selbst die hochgerühmten Loggien Raphael’s konnten mich nicht so entzücken, daß ich mir nicht einbilde, jetzige große Meister, z. B. Kaulbach, würden es ebenso, ja vielleicht besser machen – so sehr begeistert mich ein geniales Bildnerwerk. Und in welcher Umgebung, in welchen Prunkhallen, mit welch’ sinnig geläutertem Geschmack sind diese Schätze aufgestellt! Die prachtvollsten Marmorarbeiten, riesige Säulengänge, verschwenderische Vergoldung, unnachahmliche Mosaiken, meisterhafte Malereien, wohin das trunkene Auge blickt! Tritt hinaus auf den Altan des Palastes, und Du hast ein Bild vor Dir, wie es schöner kein Gedanke, keine Phantasie ersinnen kann. Die reichste Landschaft breitet sich im südlichsten Schmuck der üppigsten Vegetation vor Dir aus, eingeschlossen von der siebenhügligen unabsehbaren Weltstadt Roma mit ihren tausend Kuppeln, Thürmen und Palästen! Endlos, bewältigend! Zu Deinen Füßen der Petersplatz mit seinen kolossalen Fontainen, Figuren, Treppen, Säulengängen, ein Tempel, den zu bewohnen Gott selbst sich nicht zu schämen brauchte. Wie soll ich Ihnen den Dom selbst, dieses Wunder der Welt, schildern? Ich kann es nicht! Niemand kann es. Es ist, als ob alle Künstler der civilisirten Erde ihre besten Apostel ausgesandt hätten, um, sich erschöpfend, zur Ehre des Höchsten hier zusammen zu wirken. In der Regel läßt mich der katholische Kirchenprunk kalt, aber hier muß jeder Mensch, habe er eine Religion, welche er wolle, anbetend und anstaunend in die Kniee sinken. Was daran mehr zu bewundern ist, die unnennbar schönen Marmordenkmale der Päpste, die Glasmalereien, die Bilder, die Gold-und Silberschätze, die Bronzen, die Mosaikarbeiten, oder der überaus herrliche, säulengetragene, unnennbar schöne und großartige Kuppelbau, ich weiß es nicht! Eines nur weiß ich, daß es auf Erden nichts Schöneres giebt, nichts geben kann!

Und neben all dieser Pracht und Herrlichkeit das tiefste Elend, der grauenvollste Schmutz, die brutalste Bettelei. Die Bettler sind in Italien für den Fremden eine Plage, wie jedes andere Ungeziefer. Was nicht in der Carosse fährt, bettelt. Das Betteln ist in Italien nicht eine Nothwehr gegen den Hunger, die Dürftigkeit, gegen den Mangel, das Betteln ist hier ein Handwerk, und zwar das am meisten ausgebildete in Italien. Alle Kirchen, alle Kunstsammlungen, alle Zugänge zu den Merkwürdigkeiten den Wunderlandes sind mit zahllosen Schwärmen frecher und zudringlicher Bettler, vom Kindes- bis zum Greisenalter, umlagert. Du willst in Dein Zimmer flüchten, da kommt ein Priester im vollen Ornat und bettelt; Du verstehst seine Sprache nicht, er zieht ein Papier aus der Toga, worin Dir in gutem Deutsch mitgetheilt wird, daß die fromme Bruderschaft, zu welcher Dein Besuch gehört, nur von den Spenden guter Christen lebt. Warum? Können die Tagediebe nicht arbeiten? Das Alles wiederholt sich täglich, stündlich! Neben den monumentalen Prachtplätzen liegen Seitengäßchen, die in Inowraclaw wegen ihrer Unsauberkeit gemieden würden, wo die gewaschene, aber deshalb nicht saubere Wasche aus den niedrigen Fenstern den Vorübergehenden in’s Maul hängt; gleich nebenan fliegt der stolze Prachtwagen eines Kirchenfürsten durch die Straßen, welche Tausende von faullenzenden Mönchen aller Waffengattungen beleben.

Um meinen Brief mit einem heitern Bilde zu schließen, will ich Ihnen ein Volkstheater zu schildern suchen, dessen Bekanntschaft ich gestern machte. Als ich den deutschen Malern, unter welchen ich bummle, sagte, daß ich das Buonaventuratheater besuchen wolle, lachten sie mich aus und meinten, das sei eines der schlechtesten Theater Roms und nur von den untersten Volksclassen besucht. Das aber war es ja, was ich suchte, und so ging ich denn auf den Zwiebelmarkt, wo dieser Kunsttempel liegt, durchduftet von Millionen Exemplaren dieser nützlichen, aber nicht sehr wohlriechenden Frucht, die vor dem Hause in ungeheuren Haufen aufgestapelt liegt. Der Begehr nach einem Logenplatz zum Preise von acht Silbergroschen erregte ein solches Aufsehen, daß der Cassirer sich tief verbeugte und dem Billeteur zurief, den „Principe“ auf den Platz zu führen. Billets zu diesen zwei Logen des Hauses existiren nicht, natürlich, wann kommt wieder ein „Principe“, der einen Frank an diesen Kunstgenuß wendet! Das erste Parquet kostet einen, der erste Rang anderthalben Silbergroschen, und auf die Galerie bekommt man, wie ich vermuthe, noch ein paar Zwiebeln zu. Das Haus ist zwar winzig klein, aber mit Kunstschätzen nicht überladen. Statt auf Säulen, steht die Galerie auf einigen abgehobelten Holzstämmen, in primitivster Einfachheit von der Hand irgend eines Anstreicherlehrlings colorirt, der auch die Vordergardine gemalt zu haben scheint, die ein antikes Wettrennen vorstellt. Anfangs glaubte ich, die sich sträubenden Mähnen der Pferde wären Hörner von Ziegenböcken, bis ich entdeckte, daß es Schildereien edler Rosse vorstellen solle, welche unseren hölzernen Groschenpferdchen für Kinder täuschend ähnlich sahen. Eines der Pferde war gestürzt, sein Lenker ebenfalls, der Schimmel schlug verzweiflungsvoll die Vorderfüße über den Kopf zusammen; auch für den gefallenen Römerjüngling hatte der geniale Künstler eine unmögliche Stellung und Farbe erfunden. Die gemalten Römer, Kinder und Greise, hockten in Attitüden im Zuschauerraum, die einen ganz anderen Zweck verriethen, als die Absicht, das Schauspiel zu bewundern. Die volle Beleuchtung des Hauses bestand, wohlgezählt, im Zuschauerraum aus sechs, auf der Bühne aus vier Gasflammen. Das Orchester bildete ein Bombardon, eine Posaune, zwei Trompeten und zwei Clarinetten, welche abwechselnd, je nach Laune und Gefallen, pausirten und ein höllisches Concert vollführten.

Und dies Publicum! Es war, als ob alle Bettler von Europa ihre ausrangirten Kleider ein Jahr lang im Straßenkoth hätten liegen lassen, um sie dann an ihre Collegen in Rom zu verschenken. Ein Kerl, der sich mit ganz besonderem Gekreisch hervorthat, erregte mein maßloses Erstaunen, wie er es anfange, daß die Lumpen an seinem Leibe überhaupt zusammenhielten. Es war die zerfetzteste Gesellschaft, die ich seit meinem Uebergang über die Alpen gesehen, und der Italiener leistet in der Beziehung etwas. Ich übertriebe enorm, wenn ich behauptete, daß ein Lumpenhändler für alle Anzüge in dem überfüllten Hause sammt den Costümen der Künstler hundert Francs bieten würde. Und dieses Gejohle, dieses Geschrei, Gebrüll, dieses Kopfgekratze! Man fühlte ordentlich, wie die Bewohner dieser Köpfe termitenartig die Garnison wechselten. Ein Schauspieler, wie ich später sah, der erste Komiker, öffnete vor Beginn der Vorstellung die Seite der Gardine und streckte, mit einer grünlichen Fratze, dem verehrten Publicum die Zunge endlos lang entgegen. Hurrah! Wie brüllend wurde dieser köstliche Witz belacht! Helmerding, Reusche und Kalisch haben nie eine solche Wirkung hervorgebracht! Nun ging der Vorhang in die Höhe! Ich sah ein Zimmer, welches ein Stück Meer als Rückwand an der Thür lehnen hatte, ich sah ein altes. zahnloses Weib als jugendliche Liebhaberin, einen schmierigen Bengel als Liebhaber mit handschuhlosen, zwei Schuh breiten Branken, einen schmutzigen Pierrot als Komiker agiren, ich sah, wie der Souffleur zu seiner Bequemlichkeit den Kasten bei Seite stellte, sich auf’s Loch des Souffleurkastens setzte, den Künstlern das Stück ganz laut vorlas, die es wieder nachbrüllten, – da hatte ich genug. Ich ging nach Hause und mein Tagewerk war vollendet!





Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Friedewald heißen – einschließlich eines umfangreichen Wildparkes – die Forsten, welche das k. sächs. Jagdschloß Moritzburg ringsum umgeben.
  2. S. Nr. 3, 1866.
  3. Die verschiedenen Compagnien eines Regiments waren in der amerikanischen Armee nicht mit Zahlen, sondern mit Buchstaben benannt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: M l hewer