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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[225] No. 15.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Als Reinhard seine Lectüre geendet, reichten sich die beiden Brüder wortlos die Hände und traten an den Sarg. In ihren Adern kreiste das Blut jenes Wunderwesens, das einst den wilden, stolzen Junker in Liebesraserei entflammte, jenes Weibes, dessen glühende Seele, nach Freiheit lechzend, jubelnd dem vergötterten Leib entfloh, der hier im engen zinnernen Schrein zu einem Häufchen Asche zusammensank… Da standen die zwei hohen Gestalten, die Abkömmlinge dessen, der, mit dem Weihekuß der sterbenden Mutter auf der Stirn, hinausgetragen wurde in den Wald, auf die niedrige Schwelle des Dieners, während sein hochgeborner Vater verzweifelnd in den Tod ging.

„Sie war unsere Stammmutter,“ sagte endlich Ferber tiefbewegt zu Reinhard. „Wir sind die Nachkommen jenes Findlings, dessen Abkunft ein Räthsel geblieben ist bis zu dieser Stunde; denn die Papiere, die das Kind in seine Rechte einsetzen sollten, sind mit dem Rathhause zu L. ungelesen verbrannt… Wir müssen die Arbeit für einige Tage unterbrechen,“ wandte er sich an den einen der Maurer, der in verzeihlicher Wißbegierde bis zur Mitte der Leiter herabgeklettert war und von diesem hohen Standpunkt aus in sprachloser Verwunderung die Aufklärung einer Geschichte mit anhörte, die noch in den Lindhofer Spinnstuben eine große Rolle spielte.

„Dafür aber sollt Ihr morgen auf dem Lindhofer Gottesacker ein Grab ausmauern,“ rief der Oberförster hinauf, „ich werde gleich nachher mit dem Pfarrer Rücksprache nehmen.“

„Er trat noch einmal an den Schrank und überblickte die Gewänder, die einst die feinen Glieder des Zigeunerkindes eingehüllt hatten und offenbar mit großer Genauigkeit in der Zusammenstellung aufgehangen waren, wie sie das entzückte Auge des Liebenden an der schönen Lila gesehen hatte. Ferber hatte unterdeß die Mandoline vom Staub gesäubert und schob sie vorsichtig unter den Arm, während Reinhard den Juwelenkasten verschloß und ihn an der im Deckel angebrachten zierlichen Handhabe vom Tisch hob. So stiegen die drei Männer die Leiter wieder hinauf. Droben wurden alle Breter, deren man habhaft werden konnte, zum einstweiligen Schutz gegen Wind und Wetter über die Oeffnung im Plafond gedeckt, und dann trat man den Rückzug an.

Die Damen, die unterdeß in großer Spannung am Fuße des Erkers gewartet hatten, waren nicht wenig erstaunt über den seltsamen Zug, der sich die Leiter herabbewegte. Sie erfuhren aber nicht eher ein Wort von dem, was sich droben ereignet hatte, als bis man unter den Linden angekommen war. Hier stellte Reinhard den Kasten auf den Tisch, beschrieb genau das verborgene Zimmer und dessen Inhalt, zog endlich das verhängnißvolle Papier hervor und wiederholte seinen Vortrag von vorhin, diesmal jedoch bei Weitem fließender.

Schweigend und athemlos lauschten die Damen den Ausbrüchen eines heißen, leidenschaftlichen Herzens. Elisabeth saß blaß und still da, aber als die Stelle kam, die so plötzlich ein grelles Licht auf das dunkle Stück Vergangenheit ihrer Familie warf, da fuhr sie jäh in die Höhe und ihr Auge richtete sich voll unsäglicher Ueberraschung auf das lächelnde Gesicht des Onkels, der sie erwartungsvoll beobachtete. Auch Frau Ferber blieb eine Weile, nachdem der Vorleser geendet hatte, wie betäubt. Für ihren klaren, gewöhnlich sehr ruhig erwägenden Geist war diese romantische Lösung einer Jahrhunderte alten Familienfrage im ersten Augenblick unfaßlich. Miß Mertens aber, der Ferber erst die ganze Tragweite der Entdeckung auseinandersetzen mußte, da sie ja um die Findlingsgeschichte nicht wußte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen über die wunderbare Fügung.

„Nun, und haben Sie auf dies Blatt hin Ansprüche auf Ihr Erbe?“ frug sie lebhaft und gespannt.

„Ohne Zweifel,“ entgegnete Ferber, „aber wie sollen wir wissen, worin jenes mütterliche Erbtheil bestanden hat? … Die Familie ist ausgestorben, der Name von Gnadewitz erloschen. Alles ist in fremde Hände übergegangen; wer kann uns sagen, was und wo wir beanspruchen sollen?“

„Nein, dahinein stören wir nicht,“ entschied der Oberförster, „solche Geschichten kosten Geld, und schließlich haben wir vielleicht das Vergnügen, auf einen Vergleich im Betrag von einigen Thalern eingehen zu müssen… Ei was, laß fahren dahin! … Wir sind bisher auch nicht verhungert.“

„Guck, Else,“ wandte er sich dann an Elisabeth, die in stillem Sinnen dagesessen hatte, „nun wissen wir auch, wo Du herkommst mit Deiner zerbrechlichen Taille und den Füßen, die über den Grashalm hinlaufen, ohne daß er sich biegt. Bist gerade solch’ ein Waldschmetterling wie Deine Urahne; würdest auch die Stirn an den Wänden zerstoßen, wenn man Dich einsperren wollte, ’s ist doch Zigeunerblut in Dir, und wenn Du zehnmal die Goldelse bist und eine Haut hast wie Schneewittchen… Da, ziehe einmal die Dinger an, Du wirst gleich sehen, daß Du drin tanzen kannst.“

Er hielt ihr ein Paar winziger Schuhe von verblichenem blauen Seidenstoff hin, die er auf dem Boden des alten Schrankes gefunden und mitgenommen hatte.

„O nein, Onkel!“ rief Elisabeth abwehrend, „das sind [226] Reliquien für mich! … Ich könnte sie nie in der Weise berühren, ohne zu fürchten, daß Jost’s schwarze, zornige Augen neben mir auftauchten.“

Frau Ferber und Miß Mertens waren derselben Ansicht, und Erstere meinte, der Schrank mit Allem, was er enthalte, müsse mit möglichster Vorsicht an einen ruhigen, trockenen Ort geschafft werden, wo er als Familienreliquie unangetastet stehen bleiben solle, bis sich auch sein Geschick, das der zeitlichen Zerstörung, erfülle.

„Nun, in dem Punkt will ich die Pietät gelten lassen,“ nahm Reinhard das Wort, „anders dagegen denke ich über diese Gegenstände.“

Er schloß den Kasten auf. Der Sonnenstrahl, der in das Innere glitt, kam in tausendfältigen Blitzen zurück und blendete Aller Augen. Reinhard nahm ein Halsband heraus, es war sehr breit und von bewundernswürdiger Arbeit.

„Das sind Brillanten vom reinsten Wasser,“ belehrte er die Umstehenden – das Collier war besäet mit den kostbaren Steinen – „und diese Rubinen hier müssen wundervoll aus den dunklen Locken der schönen Zigeunerin gestrahlt haben,“ fuhr er fort, indem er zwei Nadeln von dem Sammetpolster aufhob, deren Köpfe Blumenglocken aus rothen Steinen bildeten. Aus den Kelchen fielen zierliche Ketten, die in jedem beweglichen Glied einen kleinen Rubin hielten, wie ein buntfarbiger Regen nieder.

Elisabeth hielt lächelnd eine prächtige Agraffe über ihre Stirn.

„Sie meinen also, Herr Reinhard,“ frug sie, „hier sollten wir die Pietät bei Seite lassen und uns unbedenklich mit diesen Kostbarkeiten behängen? … Was wohl mein weißes Mullkleid dazu sagen würde, wenn ich ihm zumuthen wollte, eines Tages neben so vornehmer Gesellschaft zu erscheinen!“

„Die Steine stehen Ihnen unvergleichlich,“ erwiderte Reinhard lächelnd, „aber zum weißen Mullkleid würde mir ein Strauß frischer Blumen auch besser gefallen; deshalb rathe ich, diese Steinpracht beim Juwelier in klingende Münze umschmelzen zu lassen.“

Ferber nickte zustimmend.

„Wie, Reinhard,“ rief Miß Mertens, „Du glaubst, man solle diese Familienstücke verkaufen?“

„Ei freilich,“ erwiderte er. „Es wäre geradezu sündhaft und thöricht, ein solches Capital brach liegen zu lassen… Die Steine sind allein gegen siebentausend Thaler werth; dann sind noch die sehr schönen Perlen und das gehenkelte Gold zu berechnen, das giebt auch noch ein hübsches Sümmchen.“

„Potztausend!“ rief der Oberförster überrascht, „da wird nicht gefackelt, fort damit! … Guck, Adolph,“ fuhr er weicher fort und schlang den Arm um die Schulter seines Bruders, „nun hat’s Der da droben doch noch gut mit Dir gemacht… Ich hab’ Dir gleich gesagt, in Thüringen wird’s besser, wenn mir auch nicht eingefallen wäre, zu denken, daß Dir auf einmal so ein achttausend Thälerchen in’s Haus fallen würden.“

„Mir allein?“ rief Ferber erstaunt. „Hast Du nicht als Aeltester vor Allem Anspruch an den Fund?“

„Nichts da … was soll ich um Gotteswillen mit dem Mammon anfangen? Ich soll mich wohl in meinen alten Tagen noch damit beschäftigen, Capitalien auszuleihen? … Das könnte mir einfallen… Ich habe weder Kind noch Kegel, beziehe einen schönen Gehalt, und wenn es einmal mit den alten Knochen hapert, dann habe ich eine Pension, die ich nicht aufzehren kann, mit dem besten Willen nicht. Ich trete also mein Erstgeburtsrecht ab, und zwar an das Mädel da mit den goldnen Haaren und unseren Stammhalter, den Schelm, den Ernst; ich will nicht einmal ein Linsengericht dafür, denn dazu schmeckt das Wildpret nicht gut, sagt Sabine… Bleibt mir vom Halse!“ rief er, in komischer Weise seine Hände auf dem Rücken verbergend, als Frau Ferber mit feuchtem Auge sich erhob und ihm die Hand hinstreckte und sein Bruder bewegt ihm noch Vorstellungen machen wollte. „Sie thäten viel besser, Frau Schwägerin, wenn Sie für eine Tasse Kaffee sorgten, das ist ja himmelschreiend! … vier Uhr und noch keinen Tropfen des gewöhnten Labsals auf den Lippen, um deswillen ich doch einzig und allein den Berg herausgeklettert bin.“

Er erreichte seinen Zweck, den Danksagungen zu entgehen vollkommen; denn Frau Ferber eilte, von Elisabeth begleitet, in’s Haus, und die Anderen lachten. Bald saß die Gesellschaft auf der Terrasse, um den braunen, kräftig duftenden Trank versammelt.

„Ja, ja,“ sagte der Oberförster, sich behaglich in den Stuhl zurücklehnend, „hätte heute Morgen beim Aufstehen nicht gedacht, daß ich mich am Abend als Herr von Gnadewitz niederlegen würde. … Nun kann mir der ‚Oberforstmeister‘ nicht entgehen, hat mich auf einmal das braune Blättchen da mit seinen verzwickten Buchstaben geschickt dazu gemacht, was dreißig schwere Dienstjahre nicht zuwege gebracht haben. Werde, sobald Seine Durchlaucht in L. einrückt, meinen Kratzfuß machen und mich vorstellen mit dem neuen Namen… Potz Blitz, die werden die Augen aufreißen da drinnen!“

Ein eigenthümlicher Seitenblick huschte bei diesen Worten hinüber nach Elisabeth, zugleich aber that der Sprechende ein paar kräftige Züge aus der Pfeife und hüllte plötzlich sein Gesicht in eine dicke Rauchwolke.

„Onkel!“ rief das junge Mädchen, „stelle Dich wie Du willst, ich weiß doch, daß Dir nicht einfällt, das zerbrochene Wappen der Gnadewitze wieder zusammenzufügen.“

„Aber ich sehe nicht ein, es ist ein ganz hübsches Wappen mit Balken, Sternen –“

„Und einem Rade voller Blutflecken,“ unterbrach ihn Elisabeth. „Gott behüte uns, daß wir es machen wie Jene, welche die Sünden ihrer Vorfahren aufgraben, um das Alter ihres Geschlechts zu beweisen, und die den Adel dadurch unadelig machen; eine größere Widersinnigkeit hat die ganze Welt nicht… Mir ist, als müßten sich die Schatten aller derer, die jenes hochmüthige, erbarmungslose Geschlecht gequält und durch das Leben gehetzt hat, anklagend erheben, wenn der Name wieder aufleben sollte, unter dessen Deckmantel Jahrhunderte lang alle erdenklichen Gräuel verübt worden sind… Und wie viel Herzeleid hat jenes übermüthige Geschlecht meinem armen Mütterchen zugefügt!“

„Ja wohl, ja wohl,“ bekräftigte Frau Ferber mit einem Seufzer, „für’s Erste verdanke ich ihm eine stürmische, freudenlose Kindheit; denn meine Mutter war ein liebenswürdiges, schönes, aber bürgerliches Mädchen, das mein Vater gegen den Willen seiner Verwandten geheirathet hat. Diese sogenannte Mißheirath wurde eine Quelle endloser Kränkungen und Leiden für die arme Bürgerliche. Mein Vater war nicht willensstark genug, um mit jener stolzen Hauptlinie Derer von Gnadewitz zu brechen und nur für seine Frau zu leben. Aus dieser Schwäche entstanden zahllose Conflicte zwischen meinen Eltern, die mir nicht verborgen bleiben konnten. … Nun, und wir,“ sie reichte ihrem Mann die Hand über den Tisch hinüber, „wir werden wohl die Kämpfe nie vergessen, welche wir durchmachen mußten, ehe wir uns gehören durften… Ich möchte nie wieder in jene Kaste zurückkehren, die, um dem äußeren Glanz und der Form zu genügen, so oft das warme, menschliche Fühlen unbarmherzig zertritt.“

„Das sollst Du auch nicht, Marie,“ beruhigte lächelnd Ferber, indem er ihre Hand drückte. Er warf einen schelmischen Seitenblick auf seinen Bruder, der mächtige Dampfwolken vor sich herblies und sich vergebens bemühte, die Stirn in düstere Falten zu legen.

„Ach, meine schönen Aussichten!“ seufzte dieser endlich in komischer Wehmuth. „Else, Du bist grausam und thöricht. Du bedenkst nicht, was ich Dir für ein Herrenleben verschaffen kann, wenn ich Oberforstmeister bin … und Du ein gnädiges Fräulein – nun, lockt Dich das nicht?“

Elisabeth schüttelte lachend, aber energisch den Kopf.

„Und wer weiß,“ nahm Miß Mertens das Wort, „ehe man sich dessen versähe, klopfte irgend ein edler Ritter von tadellosem Geblüt an das alte Gnadeck und holte sich die hochgeborene Goldelse als gnädige Frau heim.“

„Und Sie glauben, ich würde mit ihm gehen?“ rief Elisabeth heftig, und ihre Wangen flammten in hoher Röthe.

„Ei, warum denn nicht? … wenn Sie ihn liebten…“

„Nie, niemals!“ entgegnete das junge Mädchen mit fast erstickter Stimme, „auch wenn ich ihn liebte… Ich würde dann nur um so unglücklicher sein in dem Gedanken, daß der Nimbus meines Namens schwerer in die Wagschale gefallen sei, als mein Herz; daß in den Augen jenes Mannes alles Streben nach geistiger Höhe und moralischer Tüchtigkeit werthlos zusammensinke vor einem Schemen, den erbärmliche Menschensatzungen mit trügerischem Goldschaum bekleiden!“

[227] Frau Ferber heftete einen erstaunten Blick auf ihre Tochter, in deren Zügen sich plötzlich alle Spuren einer tiefen Gemüthsbewegung zeigten. Der Oberförster dagegen klemmte seine Pfeife zwischen den Zähnen fest und klatschte in seine gewaltigen Hände.

„Else, Goldkind!“ rief er endlich. „Na, gieb Deine Hand her, bist ein wackerer Kämpe durch und durch! … Ja, auch ich sage, Gott behüte mich, daß ich die Zahl derer vermehre, die um ihres persönlichen Vortheils willen ihren ehrlichen Namen aufgeben… Gelt’, Adolph, wir machen das Kirchenbuch in der kleinen schlesischen Dorfkirche, wo wir getauft worden sind, nicht zu Schanden, wir schreiben unseren Namen fort und fort, wie er dort eingetragen ist?“

„Und wie er ein halbes Jahrhundert hindurch in Freud’ und Leid uns treulich begleitet hat,“ bekräftigte Ferber mit seinem ruhigen Lächeln. „Das Document werde ich für diesen hier,“ er legte seine Hand auf den Lockenkopf des kleinen Ernst, „unseren Stammhalter, aufheben, bis er selbst ein eigenes, reifes Urtheil hat. Ich kann und darf jetzt nicht für ihn entscheiden; aber ich werde ihn dahin zu lenken wissen, daß er es dereinst vorzieht, seinen Weg durch eigene Kraft zu gehen und nicht, träge auf dem Lotterbett alter Traditionen und Ungerechtigkeiten liegend, Vorrechte genießt, die allein nur das edle Streben krönen sollten … Die Gnadewitze haben auf ihrer langen Laufbahn der Welt nichts gegeben, dafür aber um so mehr genommen; sie mögen modern in ihrer Gruft, und ihr unverdient berühmter Name mit ihnen!“

„Sela!“ rief der Oberförster und klopfte seine Pfeife aus. Er stand auf. „Jetzt wollen wir gehen,“ sagte er zu seinem Bruder, „und Rücksprache mit dem Lindhofer Pfarrer nehmen. Der Platz unter den schönen Linden auf unserem Dorfkirchhof gefällt mir tausendmal besser, als die drei düstern Wände da droben, zwischen denen unsere Stammmutter lange Jahre hat ruhen müssen. Und damit die ‚schwere, kalte Erde‘ ihren Sarg nicht berühre, wollen wir das Grab ausmauern und mit einem Stein verschließen lassen.“

Er entfernte sich, von Ferber und Reinhard begleitet, und während die Mutter und Miß Mertens den Juwelenkasten in Sicherheit brachten, stieg Elisabeth die Leiter am Erker in die Höhe, schob die Breter hinweg und schlüpfte hinab in das verborgene Gemach. Ein feiner Strahl der Abendsonne fiel schräg durch einen rubinrothen Glasstreifen des Fensters und warf auf den Namen „Lila“ einen blutigen Schein. Lange stand das junge Mädchen mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen neben dem einsamen Todtenschrein, in welchem jenes heiße Herz schlief seit dem Augenblick, da sein Jammer ein Ende hatte und in Grabesstille verhallte. Jahrhunderte waren vorübergeflogen; sie hatten all den hinreißenden Zauber jenes kurzen Daseins, die stürmischen Gefühle, durch die es seinen Untergang fand, hinweggespült, als sei all’ das nie gewesen, und doch wähnte das junge Herz, das bang und unruhig inmitten der stillen Todtenkammer klopfte, sein inneres Stürmen könne nie, niemals verhallen.


14.

Das Ereigniß auf Gnadeck war schon im Lindhofer Schlosse ruchbar geworden, noch bevor Reinhard dasselbe betrat. Die Maurer hatten auf ihrem Nachhauseweg durch den Park einem Bedienten die wunderbare Geschichte erzählt, worauf diese, von Mund zu Mund laufend, mit Blitzesschnelle zu den Damen des Hauses gedrungen war und dort beinahe die Wirkung einer hereinfallenden Bombe gehabt hatte.

Es war ein Lieblingsthema der Frau Baronin, die Lehre vom blauen Blut in ihrer Untrüglichkeit zu beweisen. Sie behauptete, mittels einer sehr feinen, empfindlichen Organisation das Vorhandensein dieses bevorzugten Lebensstromes zu erkennen, herauszufühlen an Personen, deren Namen sie noch nicht einmal wußte. Es war somit ganz natürlich; daß sie auch jedes versprengte edle Tröpflein in plebejischen Adern scharfsichtig erkannte. Aus dem Grunde gab sie auch stets bereitwillig zu, daß die „kleine Ferber“ etwas Distinguirtes in ihrer Erscheinung habe, als das unleugbare Erbtheil ihrer adelig geborenen Mutter… Dem Oberförster gegenüber hatte sich jedoch jene untrügliche innere Stimme immer so mäuschenstill verhalten, daß es ihr nicht im Traume eingefallen wäre, ihm für seinen Gruß anders zu danken, als mit einem Kopfnicken nach der Schablone für Niedrigstehende. Ja, im edlen Zorn darüber, daß dieser ungeschliffene Mensch und Gottesverächter seiner Nichte Bertha die ferneren Schloß- und Bibelstundenbesuche verboten hatte, war sie zum Oefteren so weit gegangen, zu behaupten, man sähe ihm seine gemeine Abkunft auf hundert Schritt Distance an… Und nun sollte gerade er ihren hundertmal erprobten Spürblick für aristokratisches Blut zu Schanden machen! Er war der Abkömmling eines berühmten Geschlechts, war der Träger eines Namens, den der Nimbus feudalen Glanzes bis in die fernste Zeit zurück umschwebte!

Freilich lag eine große Beruhigung für sie in dem Gedanken, daß das edle Blut durch bürgerliche Heirathen während zweier Jahrhunderte unkenntlich geworden sei. Sie sprach dies in sehr lebhafter Weise gegen Fräulein von Walde aus, die, still auf ihrem Ruhebett liegend, mit einem feinen, spöttischen Lächeln die Aufregung der Baronin beobachtete. War es nun das persönliche Interesse für die Familie Ferber, oder ein vorurtheilsfreier Standpunkt der jungen Dame, von welchem aus sie ihrer Cousine die kleine Lehre gönnte, genug, sie richtete sich auf und sagte lebhaft, nicht ohne eine leichte Beimischung von Schärfe: „Verzeihe, aber das ist ein kleiner Irrthum, Amalie … Ich weiß ganz genau, daß die Frau des Forstschreibers nicht die einzige Adelige ist, die in die Familie Ferber geheirathet hat. Sie sind ein schönes, geistig hervorragendes Geschlecht immer gewesen, dessen persönliche Vorzüge mehrere Mal den Sieg über Geburtsvorurtheile davongetragen haben … Es dürfte leicht sein, daß sich nicht mehr bürgerliche Heirathen in jener Familie aufzählen lassen, als deren auf den Stammbaum des guten Lessen fallen, und Du wirst doch sicher nicht aufstellen wollen, daß kein reines Blut in Bella’s Adern fließe?“

Ein leichtes Roth flackerte über die fahlen Wangen der Baronin und der Blick war nichts weniger als liebevoll und sanftmüthig, der unter den halbgesenkten, weißbewimperten Augenlidern hervor nach dem jungen Mädchen zuckte. Aber es erschien fast ebenso schnell ein versöhnliches Lächeln um ihren Mund. Sie fühlte zu ihrem Entsetzen seit gestern öfter den Boden unter ihren Füßen wanken. Es war deshalb eine erschreckende Wahrnehmung für sie, plötzlich da auf Widerspruch zu stoßen, wo sie seit einem Jahr blinde Unterwerfung und völlige Hingebung zu sehen gewöhnt war.

Sie hatte übrigens ganz Recht, wenn sie den Grund der Veränderung in Helenens Benehmen nicht eigentlich in dem „unseligen“ Einfluß von deren Bruder suchte, sondern die Schuld bei Weitem mehr ihrem Sohn zumaß, der in den letzten Tagen eine so eigenthümliche Haltung angenommen hatte. Helene war zwar im Grunde eine durchaus edle Natur, befähigt, sich für Großes und Edles zu begeistern und, vom besten Willen beseelt, das Gute zu thun, aber sie war von Kindheit auf daran gewöhnt, sich als den Mittelpunkt allseitiger zärtlicher Fürsorge und Rücksicht zu betrachten. Sie hatte, trotz ihrer körperlichen Gebrechen, nie die Bitterkeit der Zurücksetzung empfinden müssen. Um sie die Verkürzung ihrer natürlichsten Rechte vergessen zu machen, war Jedes im Umgang mit ihr beflissen, sie doppelt auszuzeichnen. Wohl wissend, daß sie dem Beruf als Gattin entsagen müsse, hatte sie doch ihr an Zärtlichkeit so reiches Herz jubelnd der ersten Liebe geöffnet, und wenn sie auch im Stillen weinend die Natur ob der ihr widerfahrenen Vernachlässigung und somit der Zerstörung ihres Lebensglücks anklagte, so blieb ihr doch immer die beseligende Gewißheit, daß ihre Neigung erwidert werde. Die unausgesetzten Aufmerksamkeiten Hollfeld’s, sein stetes Verweilen in Lindhof, einzelne, hingeworfene zärtliche Worte waren freilich geeignet gewesen, diese Meinung zu einer unerschütterlichen zu machen … Nun war er plötzlich beleidigend zerstreut ihr gegenüber und vernachlässigte sie auf eine unerhörte Weise. Sie litt namenlos, ihr ganzes Innere empörte sich, die gekränkte weibliche Würde, ein nie gekannter heftiger Zorn und ihre unsägliche Liebe rangen miteinander, sie war noch weit entfernt von jenem Stadium, welches edle Naturen früher oder später stets erreichen müssen, das der Resignation und Verzeihung. Sie wurde bitter und heftig, und diese Empfindungen offenbarten sich weniger dem, der ihr wehe that, als daß sie sich mit einer Art von Genugthuung gegen diejenige richteten, deren Tyrannei das junge Mädchen um ihrer Liebe willen bis dahin widerstandslos ertragen hatte.

Hollfeld hatte gerade, als die alte Kammerfrau der Baronin einer unerheblichen Meldung wegen in das Zimmer trat und alsbald [228] mit geläufiger Zunge die merkwürdige Begebenheit auf Gnadeck mittheilte, den Damen die Zeitung vorgelesen. Hätten Helenens Blicke nicht überrascht an den Lippen der Erzählenden gehangen, so wäre ihr sicher die plötzliche Veränderung in den Zügen ihres Vetters nicht entgangen. Athemlos, mit dem Ausdruck höchster Befriedigung hörte er zu. Die gefundenen Kleinodien hatten sich auf dem Weg über die verschiedenen Lippen zu einem „unermeßlichen Werth“ gesteigert und der einfache Sarg der schönen Lila war zu purem Silber geworden.

Auch die Baronin hatte die auffallende Umwandlung in dem bisher so mürrischen Wesen ihres Sohnes nicht bemerkt und schleuderte ihm, infolge jener bitteren Zurechtweisung Helenens, logischer Weise einen von dem jungen Mädchen ungesehenen Zornblick zu. Sie war jedoch sehr erstaunt, ihn plötzlich Helenen näher rücken zu sehen. Er legte das gestickte Rouleau im Nacken der jungen Dame zurecht und schob das Bouquet in der Blumenvase näher zu ihr hin, damit sie den Blumenduft bequemer einathmen könne.

„Helene hat ganz Recht, Mama,“ sagte er, einen sehr freundlichen Blick auf das junge Mädchen werfend, der mit einem glückseligen Lächeln erwidert wurde. „Es kommt Dir am wenigsten zu, den guten Adel der Familie anzufechten.“

Obgleich es ihr ein entsetzlicher Gedanke war, daß die bisher so tief unter ihr Stehende jetzt neben ihr stehen und an Reichthum sie sogar bedeutend überragen sollte, war die Baronin doch klug genug, die bittere Entgegnung, die ihr auf den Lippen schwebte, zu unterdrücken und sich mit der Aeußerung zu begnügen, daß die Sache denn doch zu unglaublich und fabelhaft klinge, als daß man ihr so unbedingt Glauben schenken dürfe. Sie müsse erst einen competenteren Augenzeugen hören, als die beiden Maurer seien, bevor sie sich entschließen könne, zu glauben.

Dieser competente Augenzeuge schritt eben wie gerufen unter den Fenstern vorüber. Es war Reinhard, der von dem Berge zurückkehrte. Er lächelte, als er schleunigst zu Fräulein von Walde befohlen wurde, denn aus den neugierigen Fragen des Bedienten ersah er, daß der Fund auf Gnadeck im Schlosse bereits bekannt war und daß er nur zu den Damen gerufen werde, um berichten zu sollen.

Bei seinem Eintritt wurde er auch sofort von Helene mit Fragen bestürmt. Er erzählte in seiner ruhigen Weise und es belustigte ihn über die Maßen, hinter den scheinbar nachlässig und gleichgültig hingeworfenen Fragen und Bemerkungen der Baronin die gespannte Neugier und den tiefsten Verdruß zu bemerken.

„Und werden die Ferber auf jenen Zettel hin in der That Anspruch auf den alten Namen erheben dürfen?“ fragte sie, eine große Dahlia aus der Blumenvase ziehend und daran riechend.

„Ich möchte wissen, wer ihnen das Recht streitig machen wollte,“ erwiderte Reinhard. „Es bleibt einfach zu beweisen, daß sie die Abkömmlinge jenes ausgesetzten Hans von Gnadewitz sind, und das können sie zu jeder Stunde.“

Die Dame legte den Kopf an die hohe Rücklehne ihres Stuhles und ließ die Lider wie ermüdet oder gelangweilt halb über ihre Augen sinken.

„Nun, und jene entdeckten Schätze von Golkonda, sind sie wirklich so unermeßlich, wie Frau Fama wissen will?“ fragte sie. Ihr Ton sollte spöttisch klingen, allein Reinhard’s feines Ohr hörte mit großer Genugthuung eine unsägliche Spannung und etwas wie eine geheime Angst heraus.

Er lächelte.

„Unermeßlich?“ wiederholte er. „Nun ja, es kommt bei dergleichen Dingen sehr viel auf den Begriff dessen an, den sie berühren… Ich kann hier nicht urtheilen.“

Er hätte es sehr gut gekonnt, wie wir wissen, aber er meinte ungalanter Weise, die kleine Aufregung der Ungewißheit sei der Dame ganz gesund.

Das Examen würde höchst wahrscheinlich noch nicht so schnell sein Ende erreicht haben, wenn nicht plötzlich Bella in ihrer lebhaften, aufgeregten Weise in das Zimmer gestürzt wäre.

„Mama, die neue Gouvernante ist angekommen!“ rief sie athemlos und warf mit einer schüttelnden Bewegung ihres Kopfes ihre rothen Locken zurück, die vornüber gefallen waren. „Pfui, die ist noch häßlicher, als Miß Mertens!“ fuhr sie fort, ohne die mindeste Rücksicht auf den danebenstehenden Reinhard zu nehmen. „Auf ihrem Hut hat sie knallrothes Band und ihre Mantille ist noch altmodischer, als die von Frau von Lehr … Mit der gehe ich ganz gewiß nicht aus, darauf kannst Du Dich verlassen, Mama!“

Die Baronin fuhr mit beiden Händen nach den Ohren.

„Kind, ich bitte Dich um Gotteswillen, sei nicht so laut!“ stöhnte sie. „Deine Stimme geht mir durch Mark und Bein.“ Doch erhob sie sich und ging in Begleitung ihrer grollenden Tochter hinüber in ihre Gemächer, um die Angekommenen in Augenschein zu nehmen. Zugleich wurde Reinhard von Fräulein von Walde entlassen.

„Befiehlst Du, daß ich weiter lese, Helene?“ fragte Hollfeld, nachdem die Drei das Zimmer verlassen hatten, in sehr verbindlicher Weise, während er die Zeitung wieder aufnahm.

„Später,“ entgegnete sie zögernd und richtete forschend, aber doch mit einer Art schüchterner Beklommenheit ihre Augen auf ihn. „Ich wollte Dich eigentlich bitten, da wir für einen Augenblick allein sind, mir endlich zu sagen, was Dich in den letzten Tagen so sehr verstimmt hat … Du weißt, Emil, daß es mich unsäglich schmerzt, wenn Du mir verweigerst, an dem, was Dich freut oder bedrückt, Theil zu nehmen. Du weißt auch, daß es nicht müßige Neugier ist, die in Deine Angelegenheiten eindringen will, sondern wahres, warmes Interesse für Dein Wohl und Wehe … Du siehst, daß ich schmerzlich unter Deiner kalten Verschlossenheit leide; sage mir offen, habe ich unwissentlich etwas gethan, um deswillen Du mich Deines Vertrauens nicht mehr für würdig hältst?“

Sie streckte wie flehend die Hände nach ihm aus; ein Stein hätte sich erbarmen mögen bei dem unsäglich weichen, trauervollen Klang ihrer Stimme.

Hollfeld bog das knisternde Zeitungsblatt zwischen seinen Fingern hin und her. Er hielt den Kopf gesenkt und vermied es consequent, dem reinen, offenen Blick des jungen Mädchens zu begegnen. Ein feiner Menschenkenner würde in dieser Haltung und den unter den gesenkten Lidern rastlos hin und her irrenden Augäpfeln wohl keinen Moment den Duckmäuser verkannt haben, der zögernd überlegt, wie er wohl am schlauesten handelt. Für ein arglos liebendes Mädchenherz dagegen mochte diese hohe, ein wenig nach vorn gebeugte Gestalt mit dem schönen Gesicht unter den prächtigen, blonden Haarwellen weit eher ein sinnender Apoll sein.

„Mein Vertrauen hast Du noch, Helene,“ unterbrach endlich der Angeredete das minutenlange Schweigen, „Du bist ja die Einzige in der Welt, der ich vertraue,“ – Helenens Augen leuchteten auf bei diesen Worten, die Arme war ja so stolz auf diese Auszeichnung – „aber es giebt herbe Nothwendigkeiten, die wir uns selbst zuerst nicht einmal eingestehen mögen, geschweige denn, daß wir den Muth haben, sie auszusprechen.“

Die junge Dame richtete sich betroffen und in unaussprechlicher Spannung in die Höhe.

„Ich bin gezwungen,“ fuhr Hollfeld stockend fort, „einen Entschluß zu fassen, der mir sehr, sehr schwer wird, und das lastet seit einigen Tagen auf mir.“

Er erhob jetzt den Blick, um zu sehen, welchen Eindruck seine Worte hervorgebracht hatten.

Helene schien offenbar keine Ahnung von dem zu haben, was er sagen wollte, denn sie veränderte ihre Haltung nicht im Geringsten und schien die Worte von seinen Lippen lesen zu wollen. Er sah sich also genöthigt, weiter zu operiren, ohne daß sie ihm zu Hülfe kam.

„Du weißt, Helene,“ sprach er langsam weiter, „daß ich seit einem Jahr unsäglichen Verdruß mit meinen Wirthschafterinnen gehabt habe. Sie laufen mir auf und davon, ehe ich mich dessen versehe, und ich vermag nichts, diesem Unwesen zu steuern. … Vorgestern hat mir die letzte, die kaum vor zwei Wochen den Dienst angetreten hat, wieder gekündigt … Ich bin außer mir, denn der bitterste Schaden erwächst mir aus dem ewigen Wechsel; meine Besitzung ist mir dadurch vollständig verleidet.“

„Ah, Du willst Odenberg verkaufen?“ unterbrach ihn Helene lebhaft.

„Nein, das würde Thorheit sein, denn es ist eines der schönsten Guter in Thüringen, aber ich bin gezwungen, einen andern Ausweg zu suchen; es wird mir nichts Anderes übrig bleiben als – mich zu verheirathen.“

Wenn eine plötzliche Gewalt die junge Dame gepackt hätte, um sie in einen fürchterlichen Abgrund zu schleudern, ihr Gesicht [229] würde sicher nicht mehr schreckensvolle Ueberraschung und Entsetzen ausgedrückt haben, als in diesem Augenblick. Sie öffnete die schneebleich gewordenen, zuckenden Lippen, aber kein Laut kam hervor, und unfähig, ihren Schmerz zu bewältigen, schlug sie plötzlich beide Hände vor das Gesicht und sank mit einem leisen Weheruf in die Kissen zurück.

Hollfeld eilte sofort an ihre Seite und nahm ihre beiden Hände in die seinigen.

„Helene,“ flüsterte er leise, aber zärtlich – der Ton gelang ihm vortrefflich – „willst Du, daß ich rede und Dir eine wunde Stelle in meinem Herzen zeige? … Du weißt es nur zu gut, daß ich liebe und daß diese Liebe meine erste und einzige durch mein ganzes Leben hindurch bleiben wird.“

Die Zunge verdorrte ihm nicht bei dieser abscheulichen Lüge ja, sie vermochte sogar, mit einer ihr sonst fremden Geschmeidigkeit tiefinnige Klänge anzuschlagen, welche die ganzen Gefühle des jungen Mädchens aufstürmten und in einen unaussprechlichen Taumel versetzten. Hätte ein guter Engel der Armen zugeflüstert, sie möge nur ein einziges Mal die Augen aufschlagen, so wäre freilich der furchtbare Schmerz der Enttäuschung unausbleiblich für sie gewesen, denn der Blick, der bei jener Versicherung über ihre verkrüppelte Gestalt hinglitt, war ein überaus spöttischer; aber sie hätte doch vielleicht in ihrer Entrüstung die Kraft gefunden, sich den Schlingen des erbärmlichen Egoisten zu entziehen. Ihre Augen blieben jedoch geschlossen, als wolle sie die ganze Außenwelt von sich weisen, um einzig in dem Klang der Stimme zu schwelgen, die zum ersten Mal das Wort der Liebe aussprach.

„Wollte Gott,“ fuhr er fort, „ich dürfte meinem Herzen folgen und nur dieser Neigung leben, denn wenn auch meine höchsten Wünsche unerfüllt bleiben, müssen, so bin ich doch glücklich neben Dir, in Deinem Umgang, Helene .… Aber, Du weißt, ich bin der letzte Hollfeld, schon aus dem Grunde bin ich gezwungen, mich zu vermählen … Es bleibt nur ein Mittel, mir dieses Opfer zu erleichtern: ich muß eine Frau wählen, die Dich kennt –“

„O, sag’ es nur schnell!“ rief Helene in ausbrechendem Schmerz, während unaufhaltsame Thränenströme aus ihren Augen stürzten, „Du hast bereits gewählt, meine Ahnung hat mich nicht betrogen, es ist Cornelie!“

„Die Quittelsdorf?“ rief er lachend, „dieser Irrwisch? …

Molli im Kaffeehaus.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

[230] Nein, da will ich doch lieber mein Hab und Gut in den Händen widerspenstiger Wirthschaftsmamsellen wissen! … Wo käme ich hin bei meinem ohnehin nicht sehr bedeutenden Einkommen mit solch’ einer putzsüchtigen, leichtsinnigen Frau! … Uebrigens sage ich Dir ja, und ich wiederhole es ausdrücklich, daß ich noch nicht gewählt habe; lasse mich denn ausreden, süße Helene, und weine nicht so schrecklich, Du zerschneidest mir das Herz. Ich muß also eine Frau haben, die Dich kennt und lieb hat, die einfachen Sinnes und so verständig ist, daß ich ihr sagen kann: mein Herz gehört einer Andern, die ich nicht besitzen kann, sei mir und dieser Anderen eine Freundin.“

„Und glaubst Du, dazu würde sich irgend Eine verstehen?“

„Gewiß, wenn sie mich lieb hätte.“

„Nun, ich könnte es nicht, nie, nie!“ Sie vergrub, convulsivisch schluchzend, ihr Gesicht in die Kissen.

Auf Hollfeld’s wachsbleicher, glatter Stirn erschienen plötzlich zwei häßliche Falten. Seine Lippen preßten sich aufeinander und die Farbe trat für einen Augenblick aus seinen Wangen. Er war offenbar sehr zornig. Ein Ausdruck des Hasses glühte in seinem Auge auf, als es auf der jungen Dame haftete, die ihm das Spiel, das er sich so leicht gedacht hatte, wider alles Erwarten erschwerte. Er beherrschte sich jedoch und hob mit sanfter, liebkosender Hand ihr Gesicht in die Höhe. Das arme Wesen zuckte und zitterte unter dieser heuchlerischen Berührung und ließ willenlos sein zartes Köpfchen auf seiner Hand liegen.

„Du würdest mich also verlassen, Helene,“ frug er traurig, „wenn ich den schweren Schritt thun müßte? würdest Dich von mir abwenden und mich einsam lassen mit einer ungeliebten Frau?“

Sie hob die vom Weinen gerötheten Lider in die Höhe und ein Strahl unsäglicher Liebe brach aus ihren Augen. Er hatte seine Rolle vortrefflich gespielt und erkannte aus diesem einen Blick sofort, daß er gewonnenen Boden unter den Füßen habe.

„Du kämpfst jetzt denselben Kampf,“ fuhr er fort, „den ich in den letzten Tagen durchmachen mußte, ehe ich zu dem festen Entschluß kam … Im Augenblick mag auch Dir der Gedanke schrecklich sein, daß eine dritte Person in unser schönes Verhältniß eintreten soll; ich gebe Dir aber mein Wort, daß dies durchaus nicht auf störende Weise geschehen wird … Bedenke, Helene, daß ich dann viel mehr für Dich thun, für Dich leben kann, als jetzt … Du kannst zu mir nach Odenberg ziehen, und ich will die Hände unter jeden Deiner Schritte legen, will Dich behüten und halten wie meinen Augapfel.“

Hollfeld besaß nicht Geist, dafür aber einen hohen Grad von Schlauheit, wie wir sehen, mit der er wirksamer agirte, als vielleicht ein Anderer mit bedeutenden Gedanken. Sein armes Opfer ging mit blutendem, zerrissenem Herzen und völlig zerstörter Willenskraft in sein Netz.

„Ich will es versuchen, den Gedanken zu ertragen,“ flüsterte Helene endlich fast unhörbar. „Was aber müßte das für ein Wesen sein, das mich duldete und das ich endlich als Schwester lieben lernte … Kennst Du wohl solch’ ein opfermuthiges, hochstehendes weibliches Gemüth?“

„Ich habe eine Idee … sie kam mir vorhin ganz plötzlich … sie ist aber ganz flüchtig und unausgebildet. Ich behalte mir vor, sie Dir nach reiflicher Ueberlegung mitzutheilen… Aber Du mußt erst ruhiger werden, theure Helene. Bedenke, ich lege ja die Wahl meiner künftigen Gattin einzig und allein in Deine Hände; es hängt von Dir ab, das zu verwerfen oder anzuerkennen, was ich Dir vorschlagen werde.“

„Und fühlst Du Dich stark genug, neben einem Weib zu leben, dem Dein Herz nicht gehört?“

Er unterdrückte weislich ein spöttisches Lächeln, denn Helenens Augen hingen an seinem Munde.

„Ich kann Alles, was ich will,“ antwortete er, „und Deine Nähe wird mir Kraft geben… Um Eines aber will ich Dich bitten, sage meiner Mutter noch nichts von dieser wichtigen Angelegenheit. Sie will, wie Du weißt, ihre Hände stets in Allem haben, und ich dulde nun einmal ihre Bevormundung nicht; sie erfährt die Sache noch zeitig genug, in dem Moment, wo ich ihr meine Braut vorstelle.“

Zu jeder anderen Zeit würde dieser herzlose, unkindliche Ausspruch Helenen empört haben, aber in diesem Augenblick hörte sie ihn kaum; denn ihr ganzes Fühlen und Denken wirbelte abermals in einem wilden Aufruhr durcheinander bei dem einzigen Wort „Braut“, das nun einmal – obgleich es sehr oft namenlos unglückliche Bräute giebt – den Begriff von Liebesseligkeit und Maiwonne an sich knüpft.

„O mein Gott!“ seufzte sie und rang die fest zusammengeballten Hände, die auf ihren Knieen lagen, in namenloser Qual. „Ich habe immer gehofft, das nicht erleben zu müssen… Nicht, daß ich so selbstsüchtig gewesen wäre, zu denken, Du solltest um meinetwillen einsam durch’s Leben gehen, aber ich glaubte, die voraussichtlich kurze Dauer meines Daseins würde Dich bestimmen, diesen Schmerzenskelch an mir vorübergehen zu lassen, Du würdest warten, bis meine Augen das Schreckliche nicht mehr sehen könnten.“

„Aber, Helene, wo geräthst Du hin?“ rief Hollfeld, nur noch mühsam seine Ungeduld unterdrückend. „Wer wird in Deinen Jahren an den Tod denken! … Leben, leben wollen wir und mit der Zeit noch recht glücklich werden, das hoffe ich ganz gewiß… Ich will Dich jetzt allein lassen. Ueberlege Dir die Sache, und Du wirst zu demselben Schluß kommen wie ich.“

Er drückte ihre Hände zärtlich an seine Lippen, hauchte einen Kuß auf ihre Stirn – was er bis dahin nie gethan hatte – nahm seinen Hut und verließ leise das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




Bilder aus dem Thiergarten.
Von A. E. Brehm.
Nr. 7. Molli.
(Mit Abbildung.)


Vor geraumer Zeit sind mir unter Kreuzband mehrere Bogen aus einer nicht näher bezeichneten Zeitschrift zugegangen, welche sich die Aufgabe stellen, die Annahme einer „Thierseele“ als Irrthum zu verwerfen. Ich darf mich mit dem Herrn Verfasser insofern einverstanden erklären, als auch mir der Begriff „Seele“ unfaßlich ist, da ich eben nur zu begreifen vermag, daß das Hirn eine Thätigkeit ausübt, welche wir Geist zu nennen pflegen. So meint es der gelehrte Verfasser des betreffenden Aufsatzes nun freilich nicht. Er sieht sich in der beneidenswerthen Lage, von einer „Seele“ etwas zu wissen, spricht selbige jedoch ausschließlich dem Menschen zu, begründet damit dessen Halbgöttlichkeit und stößt die gesammte übrige Thierwelt mit einem einzigen Tritt seines ebenbildlichen Fußes in den Abgrund des leeren Nichts hinab, indem er von einer „organisirenden Kraft“ faselt, welche im Thierhirn wunderbare Wirkungen hervorrufen und sogar Gesinnungstüchtigen Täuschungen bereiten soll, die leicht zu falschen Schlüssen führen können. Da dem Reinen Alles rein ist, wühlt der Mann ungescheut in dem „Schmutze des Materialismus“ und mißbraucht materialistische Grund- und Lehrsätze nach Belieben, immer aber nur, so lange es sich um das unvernünftige Vieh handelt, und in der Absicht, dadurch den Gegensatz zwischen Mensch und Thier zu beweisen.

Leider muß ich fürchten, daß der Biedermann seinen muthmaßlichen Zweck, Materialisten zu bekehren, nicht erreicht hat; leider muß ich bekennen, daß auch an mir der sonderbare Mischtrank von Kirchenthum und Naturwissenschaft, welcher mir unmittelbar verordnet und von mir heldenmüthig auch eingenommen wurde, noch keinerlei Wirkung geäußert, meine Hartgeistigkeit vielmehr noch ganz dieselbe geblieben ist. Das kommt daher, weil ich etwa drei Jahre lang mit einem Wesen verkehrte, von dem ich viel Gegentheiliges erlernt habe; mit einem Wesen, dessen Name berühmt ist in Hamburg und auf welches zum Mindesten der geistreiche Herausgeber der „Wespen“ die Annahme von einer organisirenden Kraft noch nicht angewendet hat, da er dessen Lippen Worte unterlegt, deren Weisheit mit der des Talmud wetteifern kann.

[231] Gedachtes Wesen heißt Molli und ist unter diesem Namen so bekannt geworden, daß eine Verwechselung zwischen ihm und einer etwa gleichnamigen Jungfrau undenkbar ist, selbst in dem Falle undenkbar, daß das bezügliche Mädchen die Liebreize aller Töchter Eva’s in sich vereinigen sollte. Wenn von Molli gesprochen wird, meint man nur die Eine – es giebt derzeit in Hamburg keine zweite. Und was das Wunderbarste: diese Einzige erregt nicht einmal bei ihren Namensschwestern Mißgunst, oder gar Eifersucht, sondern hat sich auch im Kreise der Frauen viele und sehr warme Freundinnen erworben. Molli wird geliebt und verhätschelt.

Dies Alles wird erklärlich werden, wenn ich sage, daß Molli der Thierordnung „Mensch“ nicht angehört, sondern nur die nächstverwandte Familie der zweiten Ordnung und in dieser die edelste, verdientermaßen mit dem Namen „Pseudanthropos“ belehnte, Sippe vertritt; daß sie, um allgemein verständlich zu reden, ein weiblicher Schimpanse ist.

Molli verdient die Gunst, welche sie sich erworben. Sie war nie schön, aber stets anziehend, weil sie stets zu unterhalten, ja, die Aufmerksamkeit ausschließlich auf sich zu lenken verstand. Die Halbmenschlichkeit dieses Affen wurde und wird von Jedermann anerkannt, von dem Einen mit der regsten Theilnahme, von dem Anderen mit einem gewissen Entsetzen. Hunden, Katzen, Ratten, Mäusen, Rindern und anderen Säugethieren gegenüber wird es leicht, zu vergessen, daß der Mensch der ersten Ordnung des Thierreichs angehört, Angesichts des Schimpanse ist Solches unmöglich. Die Verwandtschaft des wahren und des „Schein-Menschen“ läßt sich nicht ableugnen: daher die Theilnahme, daher das Entsetzen.

Der Naturforscher, welcher für seine Menschenwürde keine Sorge hegt, freut sich, wenn er den lebenden Schimpanse vor sich sieht, Gelegenheit zum Vergleichen zu erhalten; der im Ebenbildlichkeitsglauben Befangene fühlt sich unbehaglich, wenn ihm ein Geschöpf vorgestellt wird, welches ihn, er mag wollen oder nicht, überzeugt, daß es innerhalb der ersten Classe des Thierreichs Wesen giebt, die sich wenig mehr von den tiefstehendsten Negern unterscheiden, als diese sich von dem Kaukasier; vorausgesetzt natürlich, daß er weiß, wie groß die Unterschiede sind zwischen den genannten Menschenarten, da ja gewöhnlich der edelste Vertreter der Menschenfamilie allein in Betracht gezogen, der Dinka-Neger oder Papua aber gänzlich unberücksichtigt zu bleiben pflegt, wenn man von der Ebenbildlichkeit und bezüglich von den Unterschieden zwischen „Mensch und Thier“ redet. Solch’ ein lebender Schimpanse ist ein gefährliches Geschöpf für Jeden, welcher sein Menschenbewußtsein auf die Annahme der Ebenbildlichkeit gründet. Sein Glaube kann sehr erschüttert werden. Man vergegenwärtige sich nur einen jener Menschen, wie sie Hügel uns geschildert; man erwäge nur einmal, daß viele Negerstämme nicht einmal die als alleiniges Erbtheil des Menschen angesehene Sprache in dem gewöhnlich gültigen Sinne besitzen, daß die wenigsten aller Neger jemals ordentlich sprechen lernen, sondern Laute hervorstoßen, welche an die sogenannten thierischen sehr lebhaft erinnern – und denke sich dann noch ein einziges Mittelglied zwischen solchem Neger und dem Schimpanse, einen an Kopf, Hand und Fuß nur ein klein wenig veredelten „Scheinmenschen“, und der „Mensch“ selbst ist von ihm höchstens durch die Grenzen der Familie, nicht aber der Ordnung zu trennen!

Es würde die Grenzen des mir zugemessenen Raums weit übersteigen, wollte ich versuchen, von Molli und ihrem Leben eine umfassende Schilderung zu entwerfen. Unser Schimpanse hat in den drei Jahren seines Aufenthaltes in unserem Thiergarten so Vielerlei gethan und zu beobachten gegeben, daß man mit der Aufzeichnung seiner Thaten ein kleines Buch füllen könnte. Seine Handlungen waren nicht immer anerkennenswerthe; denn er ließ sich oft genug auch Dinge zu Schulden kommen, welche nicht besprochen werden können. Er besaß mit andern Worten gesagt, ganz abscheuliche Unarten, aber menschlicher, als alle übrigen Affen, welche wir beherbergen und pflegen, benahm er sich stets. Er hat Niemand in Zweifel gelassen, daß die Wirkungen der „organisirenden Kraft“ bei ihm bis zum Täuschen menschlicher Geistesthätigkeit ähneln.

Unser Schimpanse ist ein Geschenk zweier Hamburger Kaufleute, der Herren Wörmann und Gödelt, welche Factoreien in Westafrika besitzen. Hier hatte er bereits geraume Zeit in menschlicher Gesellschaft gelebt, war also schon einigermaßen gebildet, als er hier ankam. Die Seereise schien ihn sehr angegriffen zu haben; vielleicht brachte er den Keim einer Krankheit auch schon von Afrika mit herüber: kurz, er war recht leidend, als er hier eintraf, und seine Geistesfähigkeit deshalb sehr beeinträchtigt. Demungeachtet bewies er mir von dem ersten Tage seines Hierseins an, daß die Erzählungen Brosse’s, Buffon’s, Sayer’s, Grandpret’s, Traill’s und Anderer, welche über gefangene Schimpanses berichtet haben, keine Erfindungen oder Uebertreibungen, sondern die lautere Wahrheit sind. Im Verlaufe der Zeit hatte ich Gelegenheit, an unserem Gefangenen noch weit mehr zu sehen, als Jene beobachten konnten.

Es würde abgeschmackt sein, wollte man die Handlungen und Streiche eines so hochstehenden Geschöpfes einzig und allein auf Rechnung einer urtheilslosen Nachahmungsgabe stellen, wie man es hin und wieder wohl gethan hat. Allerdings ahmt der Schimpanse nach, es geschieht aber genau in derselben Weise, in welcher ein Menschenkind Erwachsenen Etwas nachthut – mit Verständniß und Urtheil. Er läßt sich belehren und lernt. Wäre seine Hand ebenso willig, d. h. gebrauchsfähig, wie die Menschenhand, er würde noch ganz Anderes nachahmen, noch ganz Anderes lernen. Er thut eben, soviel er zu thun vermag, führt Das aus, was er ausführen kann; was er aber auch thut, geschieht mit Bewußtsein, mit entschiedener Ueberlegung. Er versteht, was gesprochen wird, und wir verstehen auch ihn, weil er zu sprechen weiß – nicht mit Worten allerdings, aber mit so ausdrucksvoll betonten Lauten und Silben, daß wir uns über sein Begehren nicht täuschen. Er erkennt sich und seine Umgebung, er ist sich seiner Stellung bewußt. Im Umgange mit Menschen ordnet er sich der höheren Begabung und Fähigkeit unter, im Umgange mit Thieren bekundet er ein ähnliches Selbstbewußtsein wie der Mensch: er hält sich für besser, für höherstehend, als andere Thiere, namentlich als andere Affen. Er unterscheidet zwischen erwachsenen Menschen und Kindern: erstere achtet er, letztere beachtet er wenig. Er hat witzige Einfälle und erlaubt sich Späße, und nicht blos mit Thieren, sondern auch mit Menschen. Er zeigt Theilnahme für Gegenstände, welche mit keinem seiner natürlichen Bedürfnisse Zusammenhang haben, für Thiere, welche ihn so zu sagen nichts angehen, mit denen er weder Freundschaft anknüpfen, noch in irgend ein anderes Verhältniß treten kann. Er ist nicht blos neugierig, sondern förmlich wißbegierig: ein Gegenstand, welcher seine Aufmerksamkeit fesselte, gewinnt an Werth für ihn, wenn er gelernt hat, ihn zu benutzen. Er versteht, Schlüsse zu ziehen, von dem Einen auf etwas Anderes zu folgern, gewisse Erfahrungen zweckentsprechend auf ihm neue Verhältnisse zu übertragen. Er ist listig, sogar verschmitzt, eigenwillig, aber nicht störrisch; er verlangt, was ihm zukommt, ohne rechthaberisch zu sein. Er hat Launen und Stimmungen, ist heute lustig und aufgeräumt, morgen traurig und mürrisch. Er unterhält sich in dieser und langweilt sich in jener Gesellschaft, geht auf passende Scherze ein und weist unpassende von sich. Seine Gefühle drückt er aus wie ein Mensch. In heiterer Stimmung lacht er freilich nicht, aber er schmunzelt doch wenigstens; trübe Stimmung dagegen bekundet er ganz in derselben Weise wie ein Mensch: man kann in seinem Gesichte lesen. Einmal habe ich ihn in Verzweiflung gesehen, weil ich seinen heißesten Wunsch, eine zu unternehmende Lustwandlung im Garten, nicht erfüllen konnte. Da warf er sich auf die Erde, legte sich auf den Rücken, kreischte, verzerrte sein Gesicht und raufte sich sein Haar. Ich erinnere mich einer an der Treue ihres Geliebten zweifelnden Spanierin, welche sich, nachdem sie Phosphor verschluckt, um sich zu vergiften, ganz genau ebenso gebehrdete!

Andere Affen und Hunde bekunden ähnliche Geistesfähigkeit, beim Schimpanse aber erscheint jede Aeußerung des Geistes klarer, verständlicher, weil sie dem, was wir beim Menschen sehen, entschieden ähnlicher ist, als die Verstandesäußerung jener Thiere.

Um wenigstens Einiges von dem Gebahren unseres Schimpanse mitzutheilen, will ich einen seiner Spaziergänge im Garten zu schildern versuchen.

Molli sitzt ruhig in ihrem Käfig, betrachtet sich klugen Auges die sie anstarrenden Beschauer oder unterhält sich mit ihren Bekannten und Bekanntinnen, als der Betreffende (meinetwegen ich selbst) eintritt, in der Absicht, sie zur Lustwandlung – denn das ist ihr jeder Spaziergang im Freien – abzuholen.

„Molli, wollen wir spazieren gehen?“

„Oh!“ antwortet sie freudig bejahend.

[232] „Wirf das Geldtäschchen weg!“

Es geschieht, jedoch nicht, ohne vorher einen Schilling, welcher bisher zwischen den Lippen aufbewahrt worden, zu Gunsten des Wärters besagtem Täschchen einzuverleiben.

„Hast Du Handschuhe, Molli?“

Sie sieht sich um, bemerkt aber, daß die, welche ihr Frau N. N., eine wohlwollende Freundin, mitgebracht, bereits zerrissen sind (Molli hat nämlich auch die Unart, an den Handschuhen zu kauen), also nicht angezogen werden können.

„Schließ die Thür auf!“

Das ist ein schweres Stück Arbeit; denn die Thür ist mit zwei drehbaren, mittels eines Dornenschlüssels zu öffnenden Schrauben gegen alle Bestrebungen eines erfinderischen Affengehirns versichert. Molli weiß aber Bescheid und dreht so lange in entsprechender Richtung, bis die Thür sich öffnet.

„Gieb mir die Hand, Molli.“

Sie thut es.

„Nein, die andere.“

Sie wechselt.

„Willst Du die Peitsche?“

„Oh, oh, oh!“ – bedeutet: „Ganz gewiß!“

„Aergern Dich die Paviane?“

„Oh, oh!“

„Prügle sie!“

Molli steigt auf das Schutzgeländer vor dem Käfig der Mantelpaviane und peitscht mit sichtlichem Vergnügen auf ihre Verwandten los. Diese werden rasend vor Wuth, klappen die Zähne bei geschlossenen Lippen zusammen, hüpfen ellenhoch vom Boden auf, haschen nach der Peitsche, nehmen sich aber doch in Acht, sich preiszugeben, denn der Pseudanthropos spaßt nicht und läßt seine Halbmenschlichkeit merken. Endlich scheint das Maß der Strafe erfüllt zu sein, und der Weg wird fortgesetzt.

Es geht sich für einen Schimpanse schlecht Hand in Hand mit einem Menschen. So behend er auf allen Vieren dahin läuft – mag es auch aussehen, als ob der nur diesen Affen eigene, schwer zu beschreibende, vertrackte Gang sehr ermüde – so schwer wird es ihm, in aufrechter Stellung zu gehen. Daher ladet Molli denn auch den ersten Vorübergehenden durch eine freundliche Darreichung der Hand ein, ihn führen zu helfen. So, gehalten von beiden Seiten, strampelt sie ziemlich rasch auf beiden Hinterbeinen weiter.

Eine Knabenschaar stellt sich in den Weg, Molli umringend.

„Mach’ Dir Platz, Molli!“

Sie greift sofort nach der Peitsche und öffnet sich im Nu eine Gasse durch die Umlagerer.

Mehrere Mädchen thun Dasselbe, wie die Knaben. Molli will die Peitsche wieder handhaben.

„Pfui, Molli, das sind ja Mädchen!“

Sie läßt augenblicklich die Peitsche fallen und reicht dem kühnsten Backfisch die Hand hin, zum Zeichen der Freundschaft.

Inzwischen ist der Teich erreicht worden.

„Sieh Dir die Enten an!“

Sie betrachtet die Enten mit der Sinnigkeit eines Naturforschers. „Die Gänse auch!“ – Die Gänse werden ebenfalls auf das Sorgfältigste gemustert. „Und den schwarzen Schwan!“ Auch er wird einer Prüfung unterzogen.

In der Nähe der Raubthierkäfige bekundet sie eine namenlose Angst und ist durch kein Zureden zu bewegen, näher, als ihr gutdünkt, heranzukommen; am Gehege der Guanacos bemüht sie sich nach Kräften, die eingepferchten, leicht reizbaren Thiere zu erzürnen, und thut es niemals ohne Erfolg; den Hund, welcher wüthend nach ihr schnappt, aber sie wegen der ihn fesselnden Kette nicht erreichen kann, foppt, minder wehrhafte Thiere erschreckt sie. Bei einem Pferch wird sie unruhig, denn die ihn bewohnenden Stachelschweine haben ihr einmal gezeigt, was die bekannten Federhalter zu bedeuten haben, so lange sie von ihren Erzeugern noch gehandhabt werden.

„Soll ich einen Stachel holen?“

Molli krümmt sich, wie der kitzlige Handwerksbursch vor dem auf seine Haut deutenden Wegweiser.

„Hast Du Zuckerwasser verdient?“

„Oh, oh, oh!“

Man geht nach der Wirthschaft. Molli schlägt auf den Tisch wie ein Stammgast; ihrem Befehl wird eilfertig Folge geleistet und – nun, das Uebrige hat ja Leutemann viel besser gezeichnet, als ich es beschreiben kann. Nur so viel muß ich noch sagen: Vor dem Genuß des Zuckerwassers geht Molli nicht wieder nach Hause! – – –

Was könnte ich noch Alles von Molli erzählen! Vieles, sehr Vieles! Ich mag aber den demokratenfarbigen Stift „einer verehrlichen Redaction“ nicht heraufbeschwören und eile zum Schluß. Er ist traurig genug!

Während ich diese Zeilen schreibe, liegt Molli im Krankenzimmer, und leider ist wenig Hoffnung, sie genesen zu sehen. Sie hat die Schwindsucht mit all’ ihren Erscheinungen, scheinbaren Hoffnungen und der sicheren Voraussicht ihres Verlaufes. Auch, oder richtiger, gerade in ihrer Krankheit zeigt sie sich menschenähnlich, menschlicher, als je. Wer sie sieht, fühlt fast ebenso, als wenn er einen Menschen unter ähnlichen Umständen vor sich sieht. Doch ich will keine Krankengeschichte schreiben?[1]

Arme Molli! Du wirst sehr bedauert und schwer vermißt werden, wenn erst Dein Balg auf dem Museum steht. Aber auch Dein thätiges Hirn wird dort aufbewahrt werden, damit Jedermann, welcher es versteht, sehe, wie ähnlich es, trotz aller „organisirenden Kraft“, dem Menschenhirn ist.




Der kranke Verfasser des Walladmor.


Wer zu Anfang der dreißiger Jahre Nachmittags seinen Kaffee bei Stehely trank, der allbekannten Conditorei Berlins, und so glücklich war, ein gewünschtes Journal aus den Armen des sogenannten Journaltigers erobert zu haben, der bekanntlich zur festgesetzten Stunde auf die Minute eintrat – er soll Schreiblehrer an mehreren Schulen gewesen sein – rechts und links alle Zeitschriften und Zeitungen ergriff, so viel er deren erreichen konnte, um sich auf einige zu setzen, andere unter dem rechten und linken Arm festzuhalten, während er eins der Blätter eifrig las und studirte, bis er sie alle gelesen, der wird sich auch eines Mannes erinnern, der schüchtern einzutreten pflegte, mit etwas gebücktem Oberkörper, während der kleine schwarze Schnurrbart, wie um Verzeihung bittend, daß er überhaupt da sei, unter der Nase hervorschaute. Es war Wilibald Alexis – Wilhelm Häring, geb. 1798 zu Breslau – der pensionirte Referendarius, wie er sich selber wohl scherzweise zu nennen beliebte, wenn er seiner juristischen Carriere gedachte, die er, um sich ganz dem Schriftstellerthum zu widmen, aus eigenem Antriebe aufgegeben und verlassen hatte. Seine Bekannten und Verehrer nannten ihn damals schon den deutschen Walter Scott, während das deutsche Element sich später mehr auf das preußische, zuletzt vorzugsweise auf das märkische reducirte. Der geniale Verfasser des Cabanis, mit seinem prächtigen längst zum Volksliede gewordenen „Fridericus Rex, unser König und Herr“ – Alexis ist auch ein zwar wenig gekannter, aber kernhafter Dichter – verengte sich selber mehr und mehr den Kreis seines Schaffens, um zuletzt fast gänzlich und einzig allein im märkischen Sande haften zu bleiben. Der Sand der Mark und die Kiefern ihrer Waldungen bilden die Staffagen seiner Landschaftsbilder. Ein überaus guter, prächtiger Kern liegt in dem Herzen des Verfassers, er liebt sein Vaterland, sein Preußen, und vorzugsweise die Mark Brandenburg, mit Berlin an der Spitze, die ihm zur Heimath geworden, mehr denn Schlesien. Das zeigt sein Roland von Berlin, sein markiger Roman: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Und wer „die Hosen des Herrn von Bredow“, seinen „falschen Waldemar“, hie und da gern anders gestaltet haben möchte, der bedenke die Zeit, die geschildert wurde, die Männer und Frauen, um die das Ganze sich künstlerisch gruppiren mußte. Wie wenig war dazumal, als jene Bücher erschienen, überhaupt für die Geschichte der Mark gethan; es gehörte ein Muth, eine Thatkraft dazu, in diesen unangebauten Schacht hinabzusteigen, der Bewunderung [233] verdiente. Es mußte Alles und Jedes gleichsam erst entdeckt und zu Tage gefördert werden. Fontane hatte seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg noch nicht geschrieben, auch Klöden die Geschichte Waldemar’s noch nicht herausgegeben, selbst die nächsten Insassen ahnten und wußten es kaum, daß auch die sandige, verrufene Mark landschaftliche Schönheiten aufzuweisen habe. Heinrich von Kleist mit seinem Michael Kohlhaas war eine Oase in dürrer Wüste, die aber mehr dichterische Schönheit, als Treue der Natur besaß. W. Alexis wollte mehr sein und werden. Er wollte und strebte danach, der Walter Scott der Mark Brandenburg zu sein. Und daß er das Zeug, die Kraft dazu besaß, weiß Jeder, der sich der Zeit erinnert, wo sein „Walladmor“ als frei nach dem Englischen des Walter Scott an das Licht des Tages trat, während der Roman, aus einer scherzhaften Wette hervorgegangen, doch rein aus der Hand und der Feder W. Alexis’ geflossen ist. Nannte ihn, diesen Roman, ein englischer Kritiker, der, wie es heißt, W. Scott selber war, doch die kühnste Mystification unsers Jahrhunderts und wurde der Pseudo-Walter-Scott’sche Roman doch in fast alle lebende Sprachen übersetzt.

W. Alexis war von dem Beruf eines Schriftstellers durch und durch durchdrungen; seine Kunst war ihm eine ernste, heilige, er wollte nicht blos durch seine Schriften unterhalten, was dieselben ja auch stets in so reichem Maße thaten, mehr, als die meisten der jetzt hochgepriesenen Werke der Heerführer einzelner literarischer Cliquen; er wollte belehren, das Gute fördern. Man vergleiche z. B. nur einen Jahrgang seines vor Jahren erschienenen Volks-Kalenders mit einzelnen der Jetztzeit, die berühmte Namen deutscher Autoren als Aushängeschild auf ihren Titeln tragen. Welche Kraft, welche Mannheit liegt in dem, was er bietet! Es ist Alles überdacht, und mit Achtung vor sich selbst und dem Leser geschrieben. Die meisten seiner kleineren Novellen sind musterhaft. In einer derselben z. B. wußte er geschickt viel Selbsterlebtes mit hinein zu verweben aus der Zeit, wo er als Freiwilliger im Regiment Kolberg den Feldzug im Jahre 1815 mitmachte und als Belagerer vor einzelnen Festungen der Ardennen lag. Es findet sich wohl so leicht kein Taschenbuch, keine Zeitschrift der dreißiger oder vierziger Jahre, in denen sich nicht Beiträge von W. Alexis finden sollten, seien es nun Novellen, Erzählungen oder kritische Aufsätze. Auch der Bühne blieb er nicht fern; der jetzt von dem jüngeren Dichter Ludwig Kuhls zu einem fünfactigen Schauspiel bearbeitete Stoff „Aennchen von Tharau“ findet sich bereits im achten Jahrgange des Holtei’schen Jahrbuchs deutscher Bühnenspiele, als Lustspiel von W. Alexis bearbeitet, vor; auch sein verwunschener Schneider und der Prinz von Pisa erhielten sich einige Zeit auf der Bühne. Seine Hauptstärke liegt und lag aber im Roman und in der Erzählung. Daß er es in damaliger Zeit selbst nicht verschmähte, jüngern, aufstrebenden Talenten durch seinen Namen und seine Beiträge emporzuhelfen, beweist die Herausgabe der „Babielen“, einer Sammlung von Novellen und polemischen Papierstreifen, die er mit E. Ferrand und Arthur Mueller (Eduard Joseph Müller), dem nachmaligen Herausgeber der ewigen Lampe, unternahm; wie er denn überhaupt als Redacteur des Freimüthigen und nachmaligen Berliner Conversationsblattes sich jüngeren Talenten gegenüber besonders freundlich und anregend, fördernd und unterstützend bewies. Wir erinnern nur an A. Bernstein und das erste Berliner Lesecabinet, welches Alexis gründete.

Ich gedenke eines Tages. Es war zu Anfang der dreißiger Jahre. W. Alexis wohnte noch in der Zimmerstraße; es wird die Nummer 91 gewesen sein, die das Haus trug. Sein Arbeitszimmer war auf dem Hofe rechter Hand, einfach, schmucklos, aber dennoch echt gemüthlich eingerichtet. Es war Vormittags, als wir, ein Freund und ich, bei dem Verfasser der verbotenen Wiener Bilder eintraten. Alexis stand an den Ofen gelehnt, er klagte, daß das Arbeiten ihm heut’ nicht von der Hand ginge. Hermann Marggraff, der angehende Kritiker, trat ein – es war das erste Mal, daß ich denselben sah – schüchtern, beladen mit Büchern, deren Beurtheilung er vollendet hatte. Er bat um neue Arbeit, die ihm auch sofort in reichlichem Maße gewährt wurde. Alexis wurde munterer, die trübe Stimmung verschwand, und als er noch die Angst beseitigt sah, die er ausgestanden, weil ich auf einem zierlichen Sessel Platz genommen, der, wie er fürchtete, durch mein Wiegen mit demselben zerbrechen könnte, wurde er die Liebenswürdigkeit selbst. Sonst sprach er eben nicht von den Arbeiten, die er unter der Feder hatte, an diesem Tage wurde es ihm ordentlich zum Bedürfniß, man sah, man fühlte es: er mußte an seinen eigenen Arbeiten zu neuem Schaffen erstarken. Er schrieb an dem „Hause Düsterweg“, einer Geschichte aus der Gegenwart; er las die tiefergreifende Stelle, den Tod der jungen, schönen Engländerin schildernd, die mit ihrem Pferde im Sande der Tiber ihren Untergang fand. Ist das Leben Wahnsinniger jemals ergreifender geschildert worden, als es in jenem Werke geschehen? Voll Hochachtung und mit Liebe zu dem Verfasser schieden wir. Sein späteres, kurz vorübergehendes Auftreten als politischer Schriftsteller in den Spalten der Berliner Vossischen Zeitung wird den älteren Lesern derselben noch im Gedächtniß sein, auch hier zeigte er sich als Mann von Gesinnung und Offenheit; auch sein Verhalten in Bezug des Briefes, den er von höchster Hand, in Rücksicht dieses seines politischen Auftretens, erhalten, wird nicht ganz vergessen sein.

Trotz diesem wurde ihm der früher so liebe Aufenthalt in Berlin mehr und mehr unbequem. Er sehnte sich von hinnen, er verlangte nach Ruhe. Die alten Freunde der Mittwochs-Gesellschaft waren zum Theil dahin; der Tod hatte den Kreis bedeutend gelichtet; er fühlte sich einsamer mehr und mehr, zumal auch der politische Himmel für ihn kein sonniger war, die düstern Nebeltage keinen lichten Morgen verhießen. Endlich hielt es ihn nicht länger, sein Herz sehnte sich nach Waldesduft und Blättergrün – die Mark hatte ihren Reiz für ihn verloren – er siedelte nach Thüringen über, nach Arnstadt, um Ruhe und Frieden zu finden; Vielleicht daß auch dazumal die Verboten der Krankheit naheten, die ihn gegenwärtig geistig und körperlich gelähmt hat und zu Allem unfähig macht.

Die Mark mit ihren Geschichten und Sagen war für ihn verloren; wie sein Herz sich nach milderen Fluren sehnte, so folgte auch die Feder diesem Zuge des Herzens, er schrieb als Bruchstück und Vorbote eines größeren Werks sein „Ja, in Neapel“ und documentirte dadurch, daß er an der Grenzscheide seines geistigen Schaffens stehe. Alexis hat seit diesem Werkchen nichts geschrieben. Es ist verfehlt. Der tückische Geist jener Krankheit, der die Reihen der deutschen Schriftsteller aus jener älteren Zeit mehr und mehr auf jahrelange Krankenbetten wirft, der einen Julius Mosen nicht genesen läßt, der einem Heine das Sterben zu einer jahrelangen Pein und Tortur machte, der einen Otto Ludwig noch so jung dahinraffte, einen Sternberg unheilbar dahinsiechen läßt – der hat auch den Walter Scott der Mark erfaßt, hat seinen Körper gelähmt und seinen Geist mehr oder weniger, den einzelnen Stunden nach, brach gelegt, so daß er zu geistigen Arbeiten nicht mehr kommen kann, daß ihm oft das Wort für den auszudrückenden Gedanken mangelt.

Ein Schlaganfall hat ihn getroffen.

So lange die Tage noch mild und sonnig waren, ließ er sich auf seinem Ruhebett hinausfahren in Gottes freie, schöne Natur. Sein Auge sollte und mußte sich laben an dem Duft der Blumen, dem Grün der Bäume; die Schwalben zogen ihm vorüber, die Kraniche folgten ihnen nach. Ob er der eigenen Worte gedacht, die er vordem gesungen:

Immer kannst Du ja nicht trinken,
Aus der Klarheit Silberbach –

und ob er ruhiger, stiller geworden?

W. Alexis bezieht von der Schillerstiftung einen Ehrensold, wie ihn auch Mosen bezieht. Wird im Hinblick hierauf der Segen einer Stiftung der Art noch geleugnet werden können? Ob preußische Krieger wohl, vom Norden kommend, sie trunken vor dem Hause des kranken Dichters und Verfassers des Cabanis gesungen haben mögen:

Denn träf’ jede Kugel apart ihren Mann,
Wo kriegten die Könige ihre Soldaten dann?
Die Kugeln sind alle von Eisen und Blei,
Und manche Kugel geht Manchem vorbei.

Wie viel der freudig Heimziehenden, wie wenige derjenigen, die das gesegnete Thüringen in dieser Zeit durchwandert sind, mögen des Kranken gedacht und sich in dankbarer Erinnerung der Schönheiten seiner Werke gefreut haben?

Möge ein gnädiges Geschick den Kranken vor langem Leiden bewahren! Genesung ihm!

F. Brunold.



[234]
Willst Du?
Von A. Traeger.


Ob alle Sterne treulos ihm gelogen,
Und tiefer stets die Nacht hernieder sinkt,
Der Schiffer fühlt sich mächtig hingezogen
Vom letzten Stern, der noch am Himmel blinkt;

5
Noch einmal soll die Hoffnung ihn umwerben,

Sie lächelt ihm aus diesem milden Schein,
Ihm nach zum Hafen oder in’s Verderben! –
Willst Du der letzte Stern des Schiffers sein?

Mit Rosen hat das Haupt er oft umwunden,

10
Wenn siegreich er vom wilden Kampf geruht,

In ihrem Duft verschwelgt die flücht’gen Stunden
Und sich berauscht an ihres Kelches Gluth;
Doch als die Augen fallend er geschlossen,
Umstrahlt ihn erst der schönsten Rose Schein,

15
Aus seines Herzens Blut ist sie entsprossen –

Willst Du des Kämpfers letzte Rose sein?

Ein irres Suchen ist des Dichters Singen
Nach jenem Wort, das ihm Erlösung bringt,
So wie der Harfe Saite im Zerspringen

20
Mit ihrem vollsten Wohllaut erst erklingt;

Hat er’s gefunden, dann fühlt er mit Beben,
Daß all’ sein Dichten wesenloser Schein,
In seinem letzten Wort erst liegt sein Leben –
Willst Du das letzte Wort des Dichters sein?




Die junge Amerikanerin.
Charakterbild von Fr. v. Wickte.


Unter dem Titel „die amerikanische Hausfrau“ ist den Lesern der Gartenlaube von berufener Seite kürzlich (Nr. 8) ein Charakterbild vorgeführt worden, das in gedrängter Kürze das Leben der Hausfrau schildert. Sei es mir verstattet, mit wenigen Worten die Lebensstufe zu beleuchten, ehe sie diese Stellung als Gattin und Mutter erreicht, und dabei einen etwas genaueren Blick in die Familie des Amerikaners zu thun.

Es ist eine auffallende Erscheinung, daß die Schönheit auf dem amerikanischen Continent demokratisch geworden ist. Das schöne Geschlecht hat dort nicht allein überall dieselben Gefühle, Bedürfnisse und Leidenschaften, dieselbe allgemeine Bildung, welche es in den im ganzen Lande nach einem Muster zugeschnittenen Instituten erwirbt, sondern auch dieselben äußern Reize und besitzt solche in einem viel höhern Grade, als irgend eine andere Nation. Die Gleichheit der Sitten, Gebräuche und gesellschaftlichen Stellung scheinen dies bewirkt zu haben, und ein mit jungen Mädchen angefüllter amerikanischer Salon gleicht in der That einem blühenden Hyacinthenbeet. Grobe, rohe Züge, charakteristische Häßlichkeit oder hervorragende körperliche Entstellung sieht man fast nirgends, und Niemand würde dort sagen können: „le laid c’est le beau“ (das Häßliche ist das Schöne). Indessen liegen diese Reize der äußern Erscheinung mehr in den Gesichtszügen, als in Figur oder Benehmen. Eine classische Figur, ein voller Arm oder wohlproportionirte Glieder sind Seltenheiten; Hunderte von jungen Mädchen kann man ansehen, ehe man eines findet, das auch nur einigermaßen eine erträgliche Taille hätte. Die verweichlichte Lebensweise dieser nichts weniger als spartanischen Republikanerinnen, ihr Abscheu vor körperlicher Bewegung und physischer Anstrengung verhindert entschieden die gehörige Entwickelung des Muskel- und Knochensystems. Bewegung in freier Luft, gymnastische Uebungen und dergleichen gehören nicht zu den Liebhabereien der Amerikanerin, und der seitherige Mangel an Promenaden hat eine Liebhaberei für das Fahren hervorgerufen, eine Art frische Luft in die Lungen zu schaffen, die wenig geeignet ist, den Zweck zu erfüllen und die Blässe, welche die junge Dame auf den reichgepolsterten Schaukelstühlen oder Sophas befällt, zu vertreiben. Die Amerikanerin geht auch nicht ihrer Gesundheit wegen in’s Freie, sondern entweder, um sich zu zerstreuen, oder ein Geschäft zu besorgen. Die Blässe ihres Gesichts ficht sie nicht an; im Gegentheil, wo die Natur sie nicht mit derselben erfreut hat, wendet sie künstliche Mittel an, um dieselbe hervorzurufen, und der Genuß von starkem Essig und dergleichen ist durchaus nichts Ungewöhnliches, um rothe Wangen, die verpönt sind, zu vertreiben. Dies gilt nicht allein von den Hauptstädterinnen, sondern kann bis fernhin in den Prairien unter den Indianern gefunden werden.

Es ist dies eine auffallende Erscheinung, und es muß unzweifelhaft in den klimatischen Verhältnissen des Landes liegen, daß sich mit der so rasch fortschreitenden Cultur eine Neigung zur Degeneration unter den Bewohnern zeigt, denn die spanischen Bewohner Südamerika’s und besonders der weibliche Theil der Bevölkerung zeigen denselben Contrast gegen die ersten Einwanderer. Es scheint in der That der blutauffrischenden Einwanderung, namentlich der germanischen Racen, vorbehalten zu sein, diese Hindernisse des Wachsthums des amerikanischen Volkes auszugleichen. Allerdings hat in Amerika die Geschichte des Landes auch Vieles mitzureden. Anfangs wanderten nur Männer dorthin aus und jedes Frauenzimmer, das in’s Land kam, ward im Triumph heimgeführt. In diesem Umstande liegt die Hochachtung, mit der heute noch selbst der roheste Mensch dort einem Weibe begegnet und sich darin sogar vor dem Engländer hervorthut. Die Nothwendigkeit weiblichen Umgangs zieht sich wie ein rother Faden durch die ganze Geschichte der amerikanischen Civilisation und geht Hand in Hand mit den ersten Indianerkämpfen. Die „Pioniere“ des Westens wollten Weiber haben und verdienten sich dieselben durch harte Arbeit. Um dieselben aber an sich zu fesseln und für das rauhe Leben in der Wildniß zu entschädigen, gaben sie dem Weibe die Stellung, welche ein vorsorglicher Hausvater einem theuren Stück Geschirr und dergleichen giebt; sie verzärtelten es, kleideten es mit dem fortschreitenden Wohlstand in Sammt und Seide, und indem sie ihren Kindern dies Beispiel gaben, ist diese Behandlungsweise förmlich in das Blut der Männer übergegangen. Der Umgang des Amerikaners mit diesen blassen, schönen, eleganten Damen – denn der Name Mädchen oder Jungfrau ist als ungebildet durchaus verpönt – ist von einer Art, über die man bei uns erstaunen würde. Die junge Amerikanerin ist so vollständig emancipirt, wie es nur möglich ist, und in den meisten Fällen ist den Eltern sogar das Recht der Ueberwachung bestritten; sie bewacht sich selbst, empfängt Besuche junger Herren, ohne ihre Eltern zu consultiren, ladet sie gelegentlich zum Thee ein, selbst wenn Papa und Mama nicht zu Hause sind. Ist eine der Töchter des Hauses eine hervorragende Schönheit, so führt sie das Regiment so vollständig, daß Alles so zu sagen nur in ihrem Namen geschieht. Selbst die Einladungen zu Bällen und Festlichkeiten, obgleich sie im Namen der Eltern geschehen, gehen von ihr aus, denn nur wer ihr gefällt, darf erscheinen, mag er nun mit Papa bekannt sein oder nicht. Beabsichtigen junge Leute irgendwo einen Besuch zu machen, so sprechen sie nicht, wie bei uns: „wir gehen zu Herrn oder Madame N.,“ sondern: „wir besuchen Fräulein N.“ Bei Besuchen sitzt dann dies junge Mädchen auf der Mitte des Sophas, erhebt sich nicht, wenn Herren eintreten, führt mit häufiger [235] Hintansetzung der Mutter die Unterhaltung und Alles muß sich nach der jungen Dame richten.

Die Freiheiten, deren man sich in der Unterhaltung mit jungen Damen bedienen kann, sind sehr groß, nicht minder aber diejenigen, welche sich diese selbst nehmen. Die jungen Mädchen sind im höchsten Grade offenherzig und selbstbewußt, und „züchtige, verschämte Wangen“ sind zu deutsch, um dort gehörig gewürdigt werden zu können. Begegnet ein Mädchen einem Herrn ihrer Bekanntschaft, so sieht es ihm gerade in’s Gesicht, grüßt ihn zuerst, und nur erst, wenn es ihn dazu auffordert, naht er sich zaghaft und spricht. Ueber die kleinen Tändeleien junger Mädchen, das Verhältniß derselben zu ihren „beaux“, mit denen sie häufig wechseln, je nach dem Wetter, welches auch durchaus nicht ein auf zukünftige Vereinigung basirtes zu sein braucht, wollen wir uns nicht weiter auslassen, weil dieser Gegenstand schon zu vielfach behandelt und hinlänglich bekannt ist. Früh hat die junge Amerikanerin gelernt, wie unwiderstehlich ihre Reize sind, und um sich genau davon zu überzeugen, stellt sie Versuche damit an, in denen häufig das Gefühl ganz und gar nicht in Betracht kommt. Dabei hat sie zu guter Zeit vom Baum der Erkenntniß genascht und kennt weder Prüderie noch Sentimentalität. Es scheint fast, als ob Alles bis auf einen gewissen Punkt erlaubt sei; diesen zu vermeiden, verläßt sie ihr Instinct nicht. Vielleicht, weil die Eltern dies wissen, beschränken sie den Verkehr nicht, sondern lassen die Mädchen thun, was ihnen beliebt. Es ist aber wahrhaft erstaunlich, wie lange die junge Amerikanerin mit dem kleinen Gott Amor, dessen spitzigen Pfeil man in andern Ländern so sehr fürchtet, spielen kann; sie saugt, wie die Biene, den letzten Tropfen Honig aus der Blume und läßt das Gift zurück. Wie bei solchem Vorspiel noch später eine ernsthafte Neigung zur Ehe hervorgerufen werden kann, ist in der That erstaunlich, dennoch aber wollen sie Alle heirathen und es giebt weit weniger unglückliche Ehen, als bei uns. Dies hat seinen Grund in der Erziehung, welche es dem Weibe einprägt, in jeder Lage des Lebens ohne Murren mit dem Manne auszuharren; ich könnte trotz des Leichtsinns, den ich auf die amerikanischen Mädchen zu werfen scheine, Hunderte von Beispielen der größten Opferfreudigkeit der Frauen erzählen. Zu den größten Untugenden aber, zu welchen die junge Damenwelt schon von früher Jugend an heranerzogen wird, gehört der Luxus und die Sucht, Alles „elegant, fein und niedlich“ zu haben. Diese Schwäche liegt aber nicht ausschließlich in ihnen, sondern es ist eine Krankheit, welche die ganze Nation befallen hat. Ebenso, wie man von Mädchen und Frauen nur als von Ladies (Damen) reden darf, beanspruchen zehnjährige Knaben die Bezeichnung „ junge Herren“ und treten mitsprechend auf.

Amerikaner brüsten sich oft damit, daß ihre Damen eine solche hervorragende Stellung einnehmen, allein sie sagen uns nicht, daß dieser Ruhm auf Kosten der Gemüthlichkeit des ganzen Landes errungen wird. Die Frauen üben eine Herrschaft aus, der sich Niemand entziehen kann, und mischen sich in Alles; ein Entrinnen ist da ganz unmöglich und wer Protection will, kann solche nur durch ihre Vermittlung erringen. Daß sie in gesellschaftlichen Kreisen die Männer in Schatten stellen und wie Paradiesvögel vor denselben herum paradiren, kann uns nicht mehr wundern, doch der Einfluß, den sie außerhalb ihres natürlichen Kreises ausüben, setzt uns in Erstaunen. Zum großen Unglück sind sie sehr neugierig und drängen sich zu den Sitzungen von allen wissenschaftlichen Gesellschaften, in denen sie nur dafür Sorge tragen, die Verhandlungen abzuflachen, und die Gründlichkeit der Arbeiten verhindern. Bei den mannigfachen populären öffentlichen Vorlesungen geben sie den Ton an, und der Redner, welcher den Damen nicht gefällt, wird nie sein Glück im Lande machen, wohl aber im gegentheiligen Falle die Basis zu einer Zukunft legen, die ihm Ruhm, Ehre und Geld genug einträgt. Alle öffentlichen Museen, Bibliotheken, Observatorien und andere wissenschaftliche Institute, Plätze, in denen man bei uns nur die Gelehrten sucht, schwärmen voller Damen, die sehen und gesehen sein wollen; sie sind der Schrecken aller Literaturfreunde und Gelehrten und dennoch werden sie nicht verdrängt, ja ihnen zu Gefallen müssen alle solche öffentlichen Locale ein elegantes Kleid tragen und für Curiosa und Sehenswürdigkeiten muß in ihrem Interesse jährlich eine große Summe Geldes verschwendet werden. Natürlich bringen die jungen Damen ihre beaux mit an diese Orte und tändeln mit ihnen, als ob sie im Parlour ihres Hauses oder in Gesellschaft wären. Die Observatorien nehmen sie mit Sturm ein, und der höfliche Astronom, der durch sie an Beobachtungen verhindert wird, muß ihnen, er mag wollen oder nicht, Jupiters Satelliten und Saturns Ringe zeigen. Selbst in der Gegenwart so erhabener Weltkörper jedoch, die sie mit heiliger Scheu erfüllen sollten, vergessen sie keinen Augenblicks ihre Albernheiten.

Zu bedauern ist es, daß diese lieblichen Geschöpfe sich der Literatur so sehr als schaffende Kräfte befreunden; schaarenweise belagern sie auch hier die Bureaus der Verleger und Redacteure, und diese amerikanische Crinolinliteraturcohorte, welche stets wieder frisches Wasser auf die alten Theeblätter gießt, überschwemmt den Büchermarkt mit einem fabelhaften Quantum des ungenießbarsten Gebräus. Auch als Straßenprediger sehen wir einzelne in Thätigkeit; jedenfalls ist es nicht Mangel an Theilnahme an den Intriguen der religiösen Secten, wenn dies nicht häufiger der Fall ist. Ebenso wie Bibliothekare, Astronomen und Redacteure werden die Senatoren und Congreßmitglieder, ja selbst der Präsident von den Schönen bedrängt. Zu allen Zeiten kann man das Sitzungsgebäude in Washington von ihnen belagert sehen und die Galerien beider Häuser ächzen unter der theuren Last, wenn irgend ein Gegenstand von Interesse auf der Tagesordnung steht. Ich glaube nun zwar nicht, daß unter den Damen viele sind, deren Stellung oder geistige Ueberlegenheit sie in den Stand setzen würde, eine Coterie zu bilden und einen Einfluß auf den Gang der politischen Verhältnisse auszuüben, wie es in europäischen Residenzen der Fall ist. Indessen sind die Besucher nicht umsonst in die Hauptstadt gekommen, und manche schöne junge Wittwe oder Mutter mit schönen Töchtern wählt den Zeitpunkt, wo der Congreß seine Sitzungen hält, um Ansprüche an Onkel Sam’s Geldkiste durch dessen Mitglieder zum Austrag zu bringen. Wie oft mag es namentlich jetzt vorkommen, daß die Volksrepräsentanten in ihren Mußestunden von den schönen Wittwen und Töchtern gefallener oder verwundeter Krieger heimgesucht sind, um ihre Pensionsansprüche zu ordnen, oder von schönen Rebellenkindern um Erlangung eines Pardons für Vater, Bruder oder Gatten angegangen werden! Welche Intriguen werden dabei gespielt, welche Combinationen gemacht, um den Zweck zu erreichen! Und da giebt es keinen andern Ausweg für den armen Mann, als sich der Unterstützung seiner Freunde zu versichern und zuzusagen. Ebenso wenig müßig sind die jungen Damen, wenn in der diplomatischen Laufbahn Vacanzen eintreten; sie wagen Alles, um an der Seite ihrer Gatten und Väter an einem europäischen Hofe zu glänzen.

So begegnet man den jungen Damen – denn von alten kann nie die Rede sein, wenn es sich um Einfluß handelt – in Amerika auf Weg und Steg. Selbst in den Hotels und an der Tafel ist ihr Einfluß derselbe wie überall. Der Reisende, der in Gesellschaft einer Dame ein Hotel betritt, namentlich einer hübschen jungen Dame, darf stets versichert sein, selbst wenn das Haus überfüllt ist, daß es ihm an nichts mangelt.

Auf den Dampfschiffen und Eisenbahnen haben die Damen nicht minder Anspruch auf Berücksichtigung und üben hier das Recht der Expropriation mit ebenso unerbittlicher Strenge wie in Theater und Concertsälen. Der „Herr der Schöpfung“ ist nirgends vor ihnen sicher; vertieft er sich etwa bei einer musikalischen oder theatralischen Vorstellung so sehr, daß er seine Umgebung vergißt, und hat er nur einigermaßen einen guten Platz errungen, so darf er sich darauf gefaßt machen, binnen Kurzem eine fremde Hand auf seiner Schulter zu spüren und sich mit der ominösen Flüsterei „eine Dame!“ zur Wirklichkeit zurückgerufen zu sehen. Wehe ihm, wenn er alsdann nicht eilends aufspringt und sich wie Staub von der Crinoline bei Seite fegen läßt!

Dies Alles und vielleicht noch mehr würde aber zu ertragen sein, wenn die junge Damenwelt mit der Autorität, die sie ausübt, die Anmuth und Grazie unserer deutschen verbände und die Dienstleistungen ihrer Sclaven nicht als bloße Pflichterfüllung aufnehmen wollte. Man mag sich die Knochen ausrenken, um den einer Dame entfallenen Gegenstand aufzunehmen, oder ihr seinen Rock zu Füßen legen, um ihr das Ueberschreiten einer Pfütze zu ermöglichen, nur in seltenen Fällen wird man auch nur mit einem Lächeln belohnt. Dies raubt dem zarten Geschlechte den natürlichen Reiz und die sanfte, unwiderstehliche Gewalt, durch welche es die Herzen der Männer fesselt. Bei uns beugt sich der starke Mann vor dem schwächern Weibe, und dieses, da es weiß, wie nöthig ihm sein Schutz ist, versteht den Mann durch Liebreiz und Erkenntlichkeit

[236]

Vor der Hausthür.
Nach seinem eigenen Oelgemälde auf Holz gezeichnet von C. Lasch.

zu belohnen. Anders aber in Amerika: Fridolin muß sich schinden wie ein Negersclave. Allein er wird dessen doch auch hin und wieder müde, es gehört nicht zu den Seltenheiten mehr, den chevaleresken Yankee gegen den Usurpator rebelliren zu hören, jedoch nur wenn kein Frauenzimmer in der Nähe ist.

Trotz alledem und alledem aber wird die Amerikanerin eine gute Frau und Mutter, doch müssen wir ihr selbst nicht zu viel Lob deshalb spenden, denn trotz der moralischen Corruption der gesellschaftlichen Zustände, namentlich in den großen Städten, ist es der Charakter des Mannes, der sie dazu macht. Brother Jonathan ist ein Hausthier und thut Alles für seinen Comfort, selbst seiner Frau erlaubt er, um diesen zu genießen, extravagant zu sein und zu faulenzen. Ich habe in Washington Senatoren zu Markte geben sehen, um sich ihre Fleisch- und Gemüseration in’s Haus zu holen, während Frau Senator die zarten Glieder auf weichem Flaum streckte. Und die Frau des Farmers und Arbeiters macht es in ihrer Art ebenso. Eine hervorragende Tugend, die ich in den Amerikanerinnen kennen und schätzen gelernt habe, ist ihre Pflichttreue; diese bringt die Familie, trotz der häufig darin herrschenden vollständigen Herzlosigkeit, über so manche Klippe.



[237]
Bismarck an Uhden.
Kleine Skizze aus großer Zeit.
Von E. Dohm.
II.


Ueber den weiteren Verlauf der Sache berichten zwei französisch geschriebene Depeschen, die einander ergänzen. Die eine ist an den schon erwähnten Minister von Podewils, die andere direct an den König gerichtet. Jene soll hauptsächlich dazu dienen, Lord Stuart bei dem Minister Zutritt zu verschaffen, da der erstere von Gefühlen der Hochachtung gegen den letztern und der Verehrung gegen den König erfüllt sei und, wenn er sein Ziel, „seine Flamme zu krönen“, erreicht habe, gewiß mit Freuden einen Ersatz für die Tänzerin schaffen und die Kosten tragen werde. Außerdem wird darin Mayer behufs einer ihm für die vielen Mühen und Schwierigkeiten zu gebenden angemessenen Belohnung angelegentlichst empfohlen.

Diese Depesche wird durch folgenden, vom 29. April datirten Bericht des Grafen Dohna an den König ergänzt: „Obgleich der Mann, welchen ich zum Empfang der Barbarina abgesandt, sich in Goritz mit aller erforderlichen Klugheit und Festigkeit benommen und sowohl bei Gelegenheit den Beistand des Commandanten erbeten und auf Grund der Geleitsschreiben vom hiesigen Hofe erhalten, als auch das beträchtliche Geschenk zurückgewiesen hat, welches der verliebte Englische Lord ihm für die Erlaubniß einer Viertelstunde des Beisammenseins mit seiner Geliebten anbot: so habe ich es doch jedenfalls für gerathener gehalten, sie nicht durch Wien, sondern bei Preßburg über die Donau gehen, und von dort über Ratibor und Neustadt weiter reisen zu lassen; und da Herr von Hammerstein sich gerade nach Berlin begeben wollte, so glaubte ich für die Ausführung aller dieser Maßregeln keinen besseren Weg finden zu können, als ihn zu ersuchen, bis Gratz vorauszugehen und sich von da ab meinem Bevollmächtigten anzuschließen, um sie nach Berlin zu bringen. Der Engländer ist zweimal bei mir gewesen; er scheint mir ein Mensch von höchst eigenthümlichem Charakter zu sein. Er ist sehr sanft und sehr höflich, ein Mann von Welt, er besitzt Kenntnisse, gute Sitten, spricht gut Französisch, hat abgesehen von seiner unsinnigen Leidenschaft ein ganz gutes und gesundes Urtheil, und so weit man überhaupt sagen kann, daß Jemand über etwas Unsinniges vernünftig spricht, muß man ihm das Zeugniß geben, daß er es über seine Liebe thut. Er hat den leidenschaftlichen Wunsch, sich Ew. Majestät zu Füßen zu werfen und von Ew. Majestät Gnade für seine Verlobte zu erflehen, für deren Tugend er einstehe; er sagt, er wolle 100,000 Thaler Bürgschaft stellen, wenn es ihm gestattet wird, sie selbst nach Berlin zu führen und hier von der Gnade Ew. Majestät die Entscheidung über Leben und Tod zu erwarten. Er hat Herrn von Cataneo so für sich einzunehmen und zu rühren gewußt, daß dieser sich sehr angelegentlich für ihn verwandt hat. Er behauptet, sein ältester Bruder sei sehr zufrieden mit der von ihm beabsichtigten Vermählung; er sei unumschränkter Herr seiner Handlungen und seines Vermögens; Heirathen dieser Art seien bei ihm zu Lande etwas ganz Gewöhnliches, und Lord Hyndfort, der ihm entfernt verwandt, habe Ew. Majestät mildes Urtheil durch Nachrichten getäuscht, die so schlecht erfunden seien, daß sie höchstens als Einleitung zu einem Roman zu benutzen wären.“

Gleichzeitig mit diesen Depeschen und Berichten näherten sich auch die beiden Liebenden, freilich auf verschiedenen Wegen, dem Ziel ihrer Reise, der Haupt- und Residenzstadt Berlin, in welcher sie am 8. Mai des Jahres 1744 anlangten.

Der in dem Bericht des Grafen Dohna erwähnte Lord Hyndfort war der Gesandte Englands am preußischen Hofe und, wie bereits bemerkt, dem jungen Lord Stuart de Mackenzie ziemlich nahe verwandt. Sie waren politische Gegner, der Letztere Whig, der Erstere ein Hochtory, auch waren ihre Familienbeziehungen keineswegs die allerfreundlichsten. Dazu vielleicht noch auf Seiten des prüden Aristokraten die Furcht vor dem Scandal, den die Vermischung reinen englischen Vollblutes mit dem einer italienischen Roturière für die Familie herbeizuführen im Stande wäre; genug, der Vertreter Englands am Berliner Hofe setzte Alles daran, die Verbindung seines Vetters mit der Barbarina zu hintertreiben. So geschickt und erfolgreich hatte der Diplomat das Terrain zu bearbeiten gewußt, daß der junge Lord sogleich bei seiner Ankunft sich von der Fruchtlosigkeit jedes weitern Schrittes überzeugte und sich einzig auf einen Appell an die Gnade des Königs angewiesen sah. Am 8. Mai in Berlin angelangt, wandte er sich schon am folgenden Tage in einem (französisch geschriebenen) Briefe an den König, dessen Inhalt von dem Ernst und dem Feuer seiner Empfindungen Zeugniß geben mag. Derselbe lautet:

          „Sire!

Ich weiß wohl, in einer wie nachtheiligen Stellung ich mich befinde, indem ich mir die Freiheit nehme, mich heut an Ew. Majestät zu wenden. Die Angelegenheit, um welche es sich handelt, gehört zu denen, welche die Welt als Schwäche zu verurtheilen gewöhnt, ja, verpflichtet ist. Vielleicht ist dieselbe auch, wie oft bei entfernten Gegenständen geschieht, Ew. Majestät in einem falschen Lichte dargestellt worden;[WS 1] weiß ich doch, daß einige meiner Verwandten (obgleich sie weder das geringste Recht, noch den geringsten Einfluß auf mich besitzen) alle Minen haben springen lassen, um Ew. Majestät einem Plane ungünstig zu stimmen, von dessen Durchführung die Ruhe meines Lebens abhängt.

Ich gestehe, es wäre das mehr als genügend, mir allen Muth zu rauben, besonders in Erwägung der unendlichen Kluft, welche einen so erhabenen Thron wie den Ew. Majestät von der bescheidenen Stellung eines einfachen Privatmannes trennt, bedächte ich nicht zugleich, daß ich die Ehre habe, zu einem Könige zu reden, dessen ebenso seltene wie bewundernswerthe Wahrheitsliebe selbst dem geringsten seiner Unterthanen den Weg zu seinem Ohre geöffnet hat – zu einem König, der durch die Größe seines Geistes und durch seine über die gemeinen Vorurtheile der übrigen Menschen weit erhabene Weisheit sich zu einer Höhe emporgeschwungen, die wo möglich noch ruhmreicher ist als die ausgezeichnete Stellung, welche seine Geburt ihm angewiesen hat.

Auf ebenso gerechte wie unantastbare Gründe gestützt, erkühne ich mich der Freiheit, Sire, Ihnen zu sagen, daß es mir niemals in den Sinn gekommen ist, mich (wie man, soviel ich seit meiner Ankunft hierselbst gehört, mich beschuldigt hat) dem Willen Ew. Majestät widersetzen zu wollen. Ich sollte meinen, daß mein an Lord Hyndfort gerichtetes Schreiben meine Empfindungen über diesen Punkt klar genug darlegt; denn ich erklärte ihm in diesem Schreiben, daß, falls Ew. Majestät (nachdem Sie von dem zwischen Fräulein Barbarina und mir abgeschlossenen Ehevertrage Kenntniß erhalten) dennoch auf dem Beschluß, sie nach Berlin kommen zu lassen, bestehen sollten, ich selbst bereit wäre, Sie zu Ew. Majestät Füßen zu führen. Rücksichtlich Derer, die sich in so auffallender Weise meiner Verbindung widersetzen, kann ich Ew. Majestät auf mein Ehrenwort versichern, daß die Gesetze meines Vaterlandes ihnen nicht das entfernteste Recht geben, sie mir zu verbieten oder mir irgend welche Hindernisse in den Weg zu legen, da ich bereits seit fünf Jahren vollständig über mich verfüge und meine gänzliche Unabhängigkeit sowohl von meinen Verwandten als auch vom Hof vor aller Welt dargethan, indem ich Beiden im Parlament fortwährend opponire. Hätte ich dies nicht gethan, so würden sie sich vielleicht weniger Mühe geben, in dieser Angelegenheit, in welcher ich, wie sie wissen, am leichtesten und tiefsten zu verletzen bin, mir Kummer zu bereiten. Uebrigens ist in England nichts gewöhnlicher als eine Ehe zwischen einem Manne aus einer der ersten Familien und einer Frau von geringerem Herkommen, da jede Frau vom ersten Augenblick an den Rang ihres Gatten einnimmt und so den Kindern aus dergleichen Ehen kein Abbruch geschieht. Ich darf mit voller Wahrheit sagen: ich habe erst nach sehr langem Nachdenken und reiflichem Ueberlegen meinen Entschluß in dieser Angelegenheit gefaßt, in welcher ich mich so gebunden und verpflichtet fühle, daß ich, selbst wenn ich es wollte, nicht mehr im Stande wäre, mich mit Ehren loszumachen.

Ich bitte Ew. Majestät ganz unterthänigst um Vergebung, wenn, um den ungünstigen Eindruck, welchen meine Absichten und mein Verhalten in dieser Sache auf Ew. Majestät vielleicht gemacht, zu zerstreuen, ich mich verpflichtet glaubte, Sie mit all’ diesen Einzelheiten zu belästigen und die Wahrheit in Ihrem richtigen [238] Gesichtspunkt Ew. Majestät zu Füßen zu legen, damit Sie, Sire, beurtheilen können, ob ich nicht vollen Grund habe zu wünschen, daß jene Dame, nachdem die zwischen uns bestehende Verbindung an die Oeffentlichkeit gelangt, ihrer Verpflichtung, noch auf der Bühne zu erscheinen, entlassen werde. Es bedarf keines Wortes mehr, um Ew. Majestät zu sagen, wie weit und wie tief eine solche Gnade meine Dankbarkeit verpflichten würde. Dasjenige, was mir mehr als Alles auf der Welt am Herzen liegt, hängt von der Milde und dem Erbarmen Ew. Majestät ab. Ihre Entscheidung erwarte ich mit der pflichtschuldigen Unterwerfung, mit welcher ich in allertiefster Ehrfurcht immer bleiben werde etc. etc.

Stuart de Machinzie.“

Die einzige schriftliche Antwort, welche der König auf diesen rührenden Appell an die Allerhöchste Gnade erließ, lautete: „Reponatur“. (Werde zu den Acten gelegt.) Thatsächlich aber beantwortete der König das inständige Gesuch des Lords um die Befreiung seiner Verlobten von ihrer Verpflichtung, die Bühne zu betreten, mit dem Befehl: die Tänzerin habe am 13. Mai, also kaum fünf Tage nach Beendigung einer so aufregenden und angreifenden Reise, vor ihm zu erscheinen. –

Am 13. Mai wurde auf der Bühne des Schloßtheaters eine französische Komödie aufgeführt und Barbara Campanini erhielt den Befehl, in den Zwischenacten zu tanzen. Der Ruhm ihrer Künstlerschaft, der Ruf ihrer Schönheit und die abenteuerlichen Umstände, von denen ihr Engagement begleitet war, hatten das Interesse und die Erwartungen des Publicums auf das Höchste gespannt. Es war ein heißer Boden, den sie betrat, und heftig genug mag er ihr unter den zarten Sohlen der kleinen Füße gebrannt haben. Sie bedurfte alles Muthes, aller ihrer Energie; es galt, den mächtigsten der Feinde, den Zorn des gefürchteten Monarchen, zu besiegen.

Allein je furchtbarer der Feind, desto ruhmreicher ihr Sieg. Mit ihrem ersten Auftreten war er entschieden. Wie der große Cäsar bei seinem pontischen Triumph, konnte auch sie sagen: „Veni, vidi, vici.“ Ihre hinreißende Schönheit, von welcher das noch heut im Stadtschloß zu Potsdam aufbewahrte Portrait Zeugniß giebt, bezauberte den jungen König dermaßen, daß er gleich nach dem ersten Tanz ein längeres Gespräch mit ihr anknüpfte, und in diesem wußte sie ihn durch ihren sprudelnden Geist und ihre entzückende Anmuth so zu fesseln, daß alles Vorhergegangene im Augenblick vergeben und vergessen war.

Wie der Hirte, so die Heerde. Wie der König, so lag bald der ganze Hof und Alles, was mit ihm zusammen- und von ihm abhing, huldigend zu den Füßen ihres Talents und ihrer Schönheit. Wenige Tage darauf erschienen in der Spener’schen Zeitung deutsche und französische Gedichte, in welchen ihre Schönheit und ihre Meisterschaft gefeiert wurde, ja sogar ein zu ihrem Preise in lateinischen Distichen verfaßtes Carmen.

Man sah in ihr den erklärten Liebling, vielleicht bald die Geliebte des Königs. Wer ihren Reizen widerstand, wurde durch Liebedienerei und Eigennutz zu ihr gezogen. Je offener, ich möchte fast sagen, je absichtlicher der Monarch ihr seine Gunst bezeigte, desto eifriger umdrängte sie der Schwarm der Höflinge. Nur kurze Zeit und das mit Gewalt hergeschleppte „betrübte Frauentzimmer“ war der Brennpunkt und ihre in der Behrenstraße gelegene Wohnung der Sammelplatz der vornehmen Gesellschaft von Berlin.

Was in dieser ersten Zeit ihres aufgehenden Gestirns der arme Lord Stuart de Mackenzie gethan und gelitten haben mag, darüber fehlen uns nähere Nachrichten. Nur Zweierlei geht aus den uns aufbewahrten Documenten, die wir theilweise hier folgen lassen, hervor: erstens, daß die der Barbarina von dem König erwiesene Gunst der dauerhaft gearbeiteten Liebe des jungen Gentleman keinen Eintrag gethan, und zweitens, daß gegen Ende des Monats Juni eine Trennung der beiden Liebenden, wahrscheinlich durch eine allerhöchst befohlene Ausweisung des Engländers aus Berlin und dem zeitweiligen Umkreis der preußischen Staaten, erfolgte.

Das erste der erwähnten Documente ist ein vom 4. Juli 1744 datirter Bericht des Polizei-Präsidenten von Kircheysen an den König, in welchem es heißt: „Es ist der Lohn Laquay, welchen der Mackinzie mit sich von hier genommen, gestern Abend aus Hamburg zurückgekommen. Ich habe ihm sofort die ihm an die Barbarina anvertrauten Briefe, unter welchen er den ohne Aufschrift in derselben eigene Hände zu geben befehligt gewesen, abgefordert und Ew. K. Maj. solche sämmtlich unterthänigst einsenden sollen. Der Mackensie hat sich in Hamburg auf einem Schiffe nach London embarquirt.“

Diese Briefe – es sind ihrer drei – welche niemals an ihre Adresse gelangten, sind geeignet, eigenthümliche Lichter auf die Sitten jener Zeit überhaupt, sowie auf die hier in Rede stehenden Verhältnisse insbesondere zu werfen. Der erste derselben ist in französischer Sprache geschrieben und lautet folgendermaßen:

Hamburg. Montag, den 29. Juni 1744.

          „Meine Liebe!

Hier angelangt und gezwungen, mich morgen nach England einzuschiffen, konnte ich nicht umhin, Dir eine Zeile durch meinen nach Berlin zurückkehrenden Diener zu schreiben. Ich war von der Botschaft, welche Se. Majestät mir zukommen ließ, so bestürzt, daß ich nicht genau weiß, ob er meinte, es sei mir, so lang ich in den Staaten des Königs weilte, oder so lange Du in denselben wärest, jeder briefliche Verkehr mit Dir untersagt. Ich glaube, es hieß, so lange ich daselbst wäre; so daß ich jetzt, da ich nicht mehr dort bin, diese Zeilen an Dich zu richten wage. Was habe ich bei der Trennung von Dir gelitten! Aber Du ahnst es, deshalb will ich Dich nicht mit der Schilderung meiner Leiden betrüben; bin ich doch überzeugt, daß der Abschied von mir Dir ohnedies schwer genug geworden ist. O mein Gott! wie traurig ist unser Schicksal, mein süßes Babbyli! Hätte ich nur eine Gelegenheit gehabt, Se. Majestät zu sehen, so bin ich überzeugt, es wäre mir dies erspart worden. Aber gewisse Leute haben sich wohl gehütet, mich dem Throne nahe kommen zu lassen, aus Furcht, ich könnte Wahrheiten sagen, von denen sie um keinen Preis möchten, daß sie zur Kenntniß Sr. Majestät gelangten. Ich lasse meinen Wagen hier für Dich zurück. Es wird nicht viel kosten, ihn zu Wasser nach Berlin kommen zulassen; Du wirst aber für einen Geleitschein sorgen müssen, um die Eingangssteuern zu sparen, sonst dürfte es doch theuer zu stehen kommen. Mein Diener wird Dir sagen, wo der Wagen ist, und dann kannst Du ihn sofort kommen lassen; ich denke, Du wirst ihn gebrauchen können. Obgleich wir getrennt und sehr weit von einander entfernt sind, kannst Du doch so sicher auf mich zählen, als wäre ich bei Dir; ich bin zu fest entschlossen, und wir sind zu eng mit einander verbunden, als daß wir einander jemals vergessen könnten. Eine Leidenschaft schwindet oft mit der Zeit; aber heilige, durch die Ehre geweihte Bande vermag keine Zeit zu zerreißen, und ich glaube für mich bürgen zu können, daß, wenn wir uns, und wäre es nach noch so langer Zeit, wiedersehen, meine Empfindungen ganz dieselben wie in dieser Stunde sein werden.

Ich baue auf Dich, meine Seele, wie auf mich selbst; und überzeugt, Du werdest, wenn Du irgend kannst, nicht ermangeln mir zu schreiben, hoffe ich recht oft Nachrichten von Dir zu erhalten. Zähle auf mich in allen Dingen. Leb’ wohl, meine Liebe.

Anima mia carissima, adio!

Ich bin ganz Dein.          
Der Unglückliche (L’infortuné).“

Der zweite Brief ist in englischer Sprache verfaßt, von demselben Tage datirt und „an den Abbé Colman“ gerichtet. Darin giebt Lord Stuart Bericht von seiner „peinvollen Reise“ und meldet, daß er, in Hamburg angelangt, sich in künftiger Nacht nach London einschiffen werde. Zugleich bittet er in etwaigen Briefen an ihn von seinem „kleinen Weibchen“ nur als von dem „Doctor“ oder „Capitän“ zu sprechen, und ersucht, den Bruder des Grafen um seine Vermittelung beim König anzugehen.

Der dritte Brief trägt in englischer Sprache die Ueberschrift: „Mein ewig theuerstes Weib, meine liebenswürdige, süße Molly“, und fährt dann Französisch fort: „Mit welchen Ausdrücken soll ich Dir die Qualen schildern, die ich ausstand, als ich so, wie es geschah, von Dir getrennt wurde! Ich zweifle nicht, daß Du, mein Herz, als Du bei der Rückkehr aus der Komödie die Nachricht erhieltest, auch schwer gelitten hast; aber wenn Du gelitten hast, so denke, was ich, allein und ohne jeden tröstenden Beistand, gelitten haben muß. O Gott! Der Gedanke daran macht mein Blut erstarren! Ich habe Dir einen kurzen Brief geschrieben (ob Du ihn erhalten hast, weiß ich nicht), in welchem ich Dir mein Mißgeschick schilderte. Da ich nicht wußte, ob man Dir denselben zustellen würde, wagte ich nicht, Dir Alles zu sagen. Jetzt aber kann ich offen zu Dir sprechen; denn mein Diener, der nach Berlin [239] zurückkehrt, wird Dir dieses Schreiben eigenhändig überreichen. Bin ich denn wirklich von Der; die mir so theuer ist, auf lange Zeit getrennt? Oder ist es ein Traum? Ach! es ist nur zu wahr, und Du, meine Seele, magst denken, was Dein unglücklicher Gatte empfinden muß. Mein Herz wird brechen – kaum habe ich noch eins! Was gäbe ich jetzt darum, Dich eine Viertelstunde sehen zu können! O Babby, ich fürchte, man hat uns für immer getrennt! Mein einziger Trost ist, Dein liebes Bild zu küssen und an Die zu denken, die mehr als meine Seligkeit ist. Als ich Dich nach Tisch verließ, dachten wir noch nicht daran, daß wir uns, wenigstens für lange Zeit, nicht mehr wiedersehen sollten. O Gott! Wo bin ich? Mußte zu allen unsern übrigen Qualen auch noch diese kommen? Hatten wir nicht vorher schon genug gelitten? O my dear Babby, erinnere Dich wohl aller Rathschläge, die ich Dir gegeben, denke an Alles, was ich Dir gesagt habe. Ich bin hier in Hamburg angekommen, um mich nach England einzuschiffen, da ich zu Lande nicht weiter reisen kann. Es ist ein Weg von mehr als fünfhundert (englischen) Meilen, und Gott weiß, wann wir ihn hinter uns haben werden; denn wir haben entsetzlich widrigen Wind. Diesen Abend noch muß ich das Boot besteigen, das mich nach dem hundert (englische) Meilen von hier ankernden Schiff bringen soll. Denke also an mich, wenn Du den Wind pfeifen hörst, und denke, daß er Dir vielleicht meinen letzten Segen zuträgt. Wäre es nicht für Dich, mein Abgott, so könnte mir der Tod niemals erwünschter kommen. Es liegen hier herum viel französische Rheder, die oft bis in die Mündung des Flusses hineinfahren; allein ich hoffe, weiter seewärts ein Kriegsschiff zu finden, dessen Capitän mein Freund ist. Ich habe Dir, meine Liebe, versprochen, Dir vor meiner Abreise noch brieflich meinen Rath zu ertheilen; ich will Dir deßhalb jetzt Einiges sagen, obgleich es mir bei der großen Aufregung und Bekümmerniß, in der ich mich befinde, kaum ordentlich gelingen wird. Ich halte es für überflüssig Dich aufmerksam zu machen, daß Du bei allen Liebenswürdigkeiten, die man Dir erweist, bei allen Vortheilen, die man Dir verspricht, auf Deiner Hut sein mögest. Haben sie Dich doch die Heuchelei von all’ dergleichen kennen gelehrt, indem sie mich aus Deiner Nähe vertrieben! Traue keinen schönen Worten; sei überzeugt, sie werden versuchen, Dich für immer dort festzuhalten, wenn Du nicht fest in Deinen Entschlüssen bist. Was Dein Benehmen angeht, so hoffe ich, Du werdest vorsichtiger als je sein – Du weißt schon, warum; habe ich Dir doch zur Genüge gezeigt, wo für Dich die Gefahr zu straucheln liegt. Ich bitte Dich also inständigst: sei auf Deiner Hut. Mache es Dir zur festen Regel, mit Niemandem, er sei wer er wolle, außer dem Hause zu speisen und nie auch nur einen Augenblick mit einem Mann allein zu bleiben. Sieh nicht einen und denselben Mann zu häufig, damit Du nicht mit ihm in’s Gerede kommst; denn wenn auch falsch, wird solch’ ein Gerede Dir immer schaden, und namentlich jetzt, wo man bemüht ist, alle Deine Handlungen zu vergrößern und zu übertreiben. Wenn Du an der Gesellschaft irgend eines Mannes, sei er wer er wolle, zu viel Gefallen zu finden meinst, so suche ihn gleich anfangs zu meiden, sonst läufst Du Gefahr, Denjenigen, der Dir so viel Liebe bewiesen und der sich Dir in allen Dingen als ein wahrer und treuer Freund bewährt, mit Undank zu lohnen. Komme Niemandem jemals zu nahe, dulde auch nicht, daß Dir Jemand zu nahe komme; Du weißt ja, was ich Dir über diesen Punkt gesagt habe. Gieb bei jeder Gelegenheit Zeugniß von dem Schmerz, den man Dir bereitet, indem man mich aus Deinen lieben Armen riß. Traue dort keinem Menschen, außer meinem Freunde, falls Du ihn kennen lernen solltest. Was Deine Gesundheit betrifft, so empfange im Fall einer Krankheit Niemanden, während Du zu Bette liegst; Du hast es früher nie gethan, und wirst es jetzt, ich bitte Dich darum, aus Liebe zu mir sicherlich nicht thun. Ich gebe Dir keinen Rath, den ich nicht selbst zu befolgen bereit bin – selbstverständlich, soweit es der Unterschied zwischen Mann und Weib zuläßt – und selbst wenn Du nach dereinstiger Wiedererlangung Deiner Freiheit mich nicht mehr begehren solltest, so bitte ich Dich, meinen Rath immer zu befolgen; denn ich gebe ihn Dir nur zu Deinem eigenen Besten und würde Dir stets dasselbe rathen, wenn ich auch (was Gott verhüte) Dich nimmer wiedersehen dürfte.

Aber ich fürchte nicht, daß wir uns jemals vergessen; trotz unserer Trennung und unseres Unglücks sind wir durch zu feste Bande aneinander gekettet. Die Bande, die uns einen, sind stärker als die der Ehe: es sind die der Liebe, der Freundschaft und der Ehre. Unsere gegenseitigen Verpflichtungen sind zu tief, als daß die Zeit sie brechen könnte; ich wenigstens, mein geliebtestes, süßes Weib (my dearest sweet wife), denke immer, daß Du meine Gattin bist und daß wir uns nur gezwungen für einige Zeit trennen. Hältst Du Dich gut, wie ich nicht einen Augenblick bezweifle, so bleibst Du für mich immer, was Du mir gewesen bist, und ich werde Dich, sobald es die Umstände nur erlauben, mit offenen Armen aufnehmen. Indem sie uns trennten, glaubten sie, sie könnten unsere Liebe erkalten machen; halten wir deßhalb um so fester zusammen, das ist das einzige Mittel, alle Schwierigkeiten, die sich unserem Glück in den Weg stellen, schließlich zu besiegen.

Sollte ich etwa anfangen, Dir weniger theuer zu sein, so bedenke, mein Herz, daß bei unserem Wiedersehen Deine Liebe zu mir sich wieder von Neuem entzünden kann, und betrachte unser Verhältniß nicht wie eine gewöhnliche Leidenschaft, sondern wie ein für uns Beide für das ganze Leben fest begründetes Glück. So wenigstens sehe ich es an, und so werde ich es immer ansehen. Bleibe immer mein, mein Engel; ich werde Dir stets angehören.

Noch auf Eins habe ich vergessen Dich aufmerksam zu machen: sollte Dir Jemand einen Liebesbrief schicken, so siegle denselben wieder zu und schicke ihn unbeantwortet zurück. Glaube mir: wenn Du meine Vorschriften immer befolgst, so wird man Dich nie mit irgend Jemandem in’s Gerede bringen, wie man es – Du weißt es ja – obgleich mit großem Unrecht, schon gethan hat. Du wirst, glaube ich, am besten thun, diesen Brief zu verbrennen; ‚Bun‘ könnte ihn sonst leicht finden, und was dann geschähe, weißt Du. Ich bitte Dich um Gotteswillen, nimm Dich in Acht, daß Niemand etwas von diesem Schreiben erfahre; denn unser ganzes Glück hängt davon ab, da man sonst glauben würde, Alles, was Du thust, geschähe auf meinen Rath. Bedenke auch, was ich Dir betreffs aller meiner Briefe gesagt habe – Du verstehst mich! – und sieh ja zu, daß Du, wenn Du mir schreibst, immer allein bist; denn einmal entdeckt, wären wir für immer verloren. Vielleicht kannst Du es erlangen, daß man es uns gestattet, uns jetzt, da ich so weit von Dir entfernt bin, offen zu schreiben. Findest Du keine Gelegenheit, Deine Bitte mündlich anzubringen, so versuche es schriftlich; aber sei vorsichtig und sage, Du hättest nur gehört, es wäre uns verboten, mit einander zu verkehren, jetzt aber, da ich Dir so fern sei, wünschest Du lebhaft die Erlaubniß zu einem Briefwechsel zwischen uns zu erhalten. Sage aber ja nicht, daß ich Dir etwas von dem Verbot unseres Briefwechsels mitgetheilt, da Du Dich doch so stellen mußt, als wüßtest Du seit meiner Abreise gar nichts mehr von mir und als sehntest Du Dich heftig, eine Nachricht von mir zu erhalten.

Du wirst das Alles sehr unklar und verworren finden; allein ich bin überhaupt kaum im Stande zu schreiben, denn ich befinde mich in einer wahrhaft bemitleidenswerthen Stimmung. Ich glaube, Du bist von meiner Treue gegen Dich, meine Theure, überzeugt; wenigstens solltest Du, meine Liebe, es sein. Du kannst mit Zuversicht auf meine Beständigkeit, meine Freundschaft und meine Liebe bauen; sollte ich Dich je auch im Geringsten nur im Stiche lassen, dann hoffe ich, wirst Du mich hassen, und das wäre der schrecklichste Fluch, der mein unglückseliges Haupt treffen könnte. O, wann werde ich meine liebe kleine Pitti wiedersehen? Daß sie immer die Meine bleibe, ist mein Gebet zu Gott. O meine süße Babby (my sweet Babby), wie niedergeschmettert bin ich jetzt bei dem Gedanken an unser vergangenes Glück! O, vergiß mich nur nicht, mein reizendes Weib (my lovely woman); denn Du bist mein und wirst es, wie ich hoffe, auch ferner sein. O denke an Alles, was wir so oft mit einander besprechen haben; dann halte ich es für unmöglich, daß Du mir jemals in irgend einer Weise untreu würdest. Erinnere Dich an Alles, was zwischen uns vorgegangen. Denke regelmäßig jeden Vormittag von elf bis zwölf Uhr an mich, dann werden unsere Seelen sich begegnen; denn ich vermag nichts zu thun, als an Dich, Du geliebtes Wesen, zu denken. Finden wir uns dann einst wieder, dann werden wir, nach so viel gemeinsam erduldetem Unglück, einander wohl lieben müssen. O, befolge alle meine Vorschriften und frage Dich jeden Abend, ob Du nicht während des Tages gegen eine derselben gefehlt habest. Lasse Dich nicht zu häufig mit Männern öffentlich sehen; man

[240] würde sonst sagen, Du habest mich vergessen. Halte Dich in Allem so vorsichtig, ja noch vorsichtiger, als Du gethan, während ich bei Dir war; denn sie glaubten immer, wenn ich erst fort bin, würdest Du ihnen in allen Dingen willfährig sein und nur meine Gegenwart habe Dich daran gehindert. Nun, mein Herz, denke an Alles und sei überzeugt, daß Du auf mich zählen kannst, als wäre ich bei Dir. Heut vor acht Tagen waren wir beisammen und ahnten nicht, daß wir so bald getrennt werden sollten! Sollten wir uns nimmer wiedersehen können? O Gott! Welch’ ein Gedanke! Bin ich jetzt schon meiner liebenswürdigen Gattin fern: bald werden weite Meere uns von einander trennen! O Gott! Muß ich denn alles das ertragen? Ja, ich muß, um sie, die mir so theuer ist, nicht ganz zu verlieren! Ich will thun, was in meinen Kräften steht, um mich aufrecht zu erhalten; aber verlasse Du mich nur nicht, nachdem ich Alles, was ich gethan, nur für Dich gethan! O mein Herz, denke oft an mich und an Alles, was ich Dir gesagt habe. Nochmals erinnere ich Dich: nimm Dich in Acht, daß ‚Bun‘ diesen Brief nicht sieht! Verbrenne ihn; vorher aber schreibe Dir gewisse Rathschläge ab, die ich Dir gegeben, und siehe jeden Tag zu, ob Du sie auch befolgst. Sei vorsichtig, damit ‚Bun‘ nicht das Mindeste davon erfahre! Nun, mein theuerstes, theuerstes Weib (my dearest, dearest wife), sage ich Dir Lebewohl – großer Gott! welch’ ein Lebewohl! Baue auf mich, mein liebes Kind, wie ich auf Dich baue. Von Dir getrennt oder mit Dir vereint, bin ich immer Dein. Wenn er Dir den Brief richtig abliefert, so gieb ihm einen Ducaten zum Lohn für seine Treue. Lebe wohl, theures, theures und nochmals theuerstes Weib; denke Deines Gatten, auch wenn er Dir fern weilt. Lebe wohl, Du Seele meiner Seele, Leben meines Lebens, my dearest Babby, farewell. Denke in dieser Stunde an – was? Du wirst mich verstehen!
Der Unglückliche (L’infortuné).“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Graphotypie. Unter den vielen Arten des Bilddrucks und der Illustration macht in England eine neue Erfindung, die Graphotypie, viel Aufsehen. Durch sie würde man das mühsame Schneiden in Holz oder Eingraviren in Kupfer oder Stahl ganz sparen. Der Proceß ist unstreitig merkwürdig und genial. Man erstaunt, wenn man zuerst sieht, wie durch einen kleinen harten Pinsel alle die delicaten Werkzeuge des Holzschneiders oder Kupferstechers ersetzt werden und ohne alle Kunstfertigkeit eine Platte zum Drucken gleichsam hervorgebürstet wird. Die Erfindung ist von Clinton Hitchcock, einem Holzschneider, und hat eine ziemlich langsame und mühselige Entwickelung durchgemacht.

Als er einmal eine Zeichnung zum Holzschnitt auf dem üblichen Buxbaumblocke entwarf, fand er es nothwendig, einen Theil der Zeichnung wegzuradiren, um die betreffende Stelle des Holzes wieder weiß zu machen. Die weiße Farbe dazu kratzte er sich von dem emailirten Theile einer Visitenkarte mit einem nassen Pinsel ab; der auf die Karte vermittels einer Kupferplatte gedruckte Name blieb dabei unversehrt und stand reliefartig hervor, nachdem das Weiße ringsum weggebürstet war. Dies führte ihn auf die Idee, auf eine neue Art Relief-Druckplatten zu machen und zwar einfach durch Wegbürstung der Theile der Oberfläche, welche beim Drucken das Papier nicht berühren sollen. Zu diesem Zweck experimentirte er zunächst auf die verschiedenste, zum Theil unglückliche Weise vermittels Kreideflächen, auf welche er das Bild mit indigofarbigem, flüssigem Glase, d. h. aufgelöstem kieselsauren Kali, auftrug. Die von diesem flüssigen Glase getroffenen Stellen der Kreide erhärteten zu einer Art von Marmor, so daß die Stellen dazwischen mit einer gewöhnlichen Zahnbürste entfernt werden konnten. Die Zeichnung selbst litt nicht darunter, so daß wirklich ein hartes Reliefbild hervorgebürstet ward. Aber die Kreide war natürlich viel zu weich, als daß sich der Block mit dem Bilde hätte zum Drucken gebrauchen lassen; deshalb sättigte er die ganze Masse mit flüssigem Glase und sie erhärtete sich binnen einer Stunde bis zu dem Grade, daß davon mit einer gewöhnlichen Handpresse Abdrücke genommen werden konnten. Dies war das erste Experiment. Die sieben Processe desselben: Aussägung eines Kreidestücks, Glättung der Oberfläche, Zubereitung der Zeichentinte, Aufzeichnung des Bildes, Ausbürstung desselben zum Relief, Versteinerung des Blocks und erster Abdruck davon erforderten nicht mehr als vier Stunden. Deshalb galt die Sache für gelungen; nun kam es noch darauf an, eine feinere, geeignetere Substanz, als gemeine Kreide zu ermitteln. Er wählte dazu das sogenannte französische Weiß (woraus die weiße Schminke gemacht wird), pulverisirte es und ließ davon vermittels mächtigen hydraulischen Druckes viereckige Blöcke von der Dicke eines Zolles pressen. Diese erwiesen sich ungemein regelmäßig und gleichförmig; sie wurden nun einem sehr hohen Hitzegrad ausgesetzt, gehärtet, verdichtet und von aller Feuchtigkeit befreit. Auf die oben angedeutete Weise in Druckplatten verwandelt, zeigten sich die Blöcke stark genug für eine gewöhnliche Handpresse, aber nur für wenige Abdrücke. Nun kam es noch darauf an, Blöcke zu gewinnen, stark genug für die Maschinenpresse und zu Tausenden von Abdrücken. Dies war blos durch Verwandlung der betreffenden Druckplatte in ein Stereotyp möglich, wie sich aus monatelang fortgesetzten Versuchen und Täuschungen ergab.

Dies ist mit kurzen Worten die Geburt und Entwickelung der neuen Kunst der Graphotypie oder des Druckens von einer Zeichnung. Zuletzt haben Mehrere zur Vervollkommnung der patentirten Erfindung beigetragen. Die Art der Herstellung ist jetzt folgende: das sogenannte französische Weiß wird fein pulverisirt, auf eine Zinkplatte gesiebt, bis man eine gehörige Stärke des daraus zu pressenden Blocks erwarten darf, dann mit einer vollkommen polirten Stahlplatte bedeckt und durch einen ungeheuren hydraulischen Druck von zweitausend vierhundert Centnern zu einem entsprechenden Block zusammengepreßt.

Die Oberfläche unter der Stahlplatte ist vollkommen glatt und glänzend; auf diese wird nun die Zeichnung mit einem Lack aus Leim und Lampenschwarz mittels eines feinen Kameelhaarpinsels aufgetragen. Der Lack trocknet sofort, so daß das Ausbürsten mit entsprechendem Pinsel und kleinem Griffel mit Sammetkissen beginnen kann. Dasselbe flüssige Glas dient noch jetzt zur Verhärtung des Blocks in eine Art von Marmor, welcher dann beliebig zur Herstellung von Stereotypen und so zu vieltausendfältigem Abdruck benutzt werden kann. Es war ein interessanter Abend in der Versammlung der Society of Arts, als zum ersten Male vor Aller Augen auf diese Weise ein Bild für den Druck gemacht und dasselbe auch vielfach gedruckt ward.

Es läßt sich leicht denken, daß die Zeit- und Kostenersparniß für Herstellung solcher Druckblöcke von ungeheurem Werth ist. Auch ist es wichtig, daß alle Arbeiten dabei, mit Ausnahme des Auftragens der Zeichnung, von gewöhnlichen Händen, besonders auch von weiblichen verrichtet werden können. Aus diesen Gründen hat die Graphotypie in England viel Aufsehen erregt. – Noch bleibt zu beweisen, ob sie an Genauigkeit und Feinheit mit künstlerisch ausgeführten Holzschnitten wetteifern kann; andere Fragen über den praktischen Werth derselben hängen ebenfalls noch von der Zukunft ab, aber Niemand, der die Sache kennen gelernt hat, zweifelt, daß die Erfindung zu einer der genialsten und glücklichsten für illustrirte Typographie gerechnet werden muß.




Vor der Hausthür. (Zu der Abbildung auf Seite 236.) Die Darstellung von Scenen aus dem Leben des Hauses und am häuslichen Heerde ist so recht eine Domaine der Düsseldorfer geworden und erregt immer von Neuem unser Interesse, wie ähnlich auch die gezeichneten kleinen Vorgänge in ihren Motiven sich sein mögen, weil alles rein Menschliche den Menschen und seine Theilnahme zunächst in Anspruch nimmt. Unter den Künstlern nun, welche sich auf diesem Gebiete in neuester Zeit mit besonderem Glück versucht haben, ist vor Allem ein geborener Sachse zu nennen, C. Lasch aus Leipzig, dessen Scenen aus dem westdeutschen Dorfleben nach ihrer poetischen Conception sowohl wie nach Composition und Ausführung zu den reizendsten kleinen Kunstwerken gehören, welche neuerdings in den Düsseldorfer Ateliers bewundert worden sind. Die Zeichnung, die wir heute unsern Lesern vorführen, ist einem dieser lieblichen Lasch’schen Gemälde nachgebildet, eine Scene so voller Mutter- und Kinderglücks und in ihrer Ausführung so einfach und zum Herzen sprechend, daß jeder weitere Commentar überflüssig wird. Ueber den Künstler selbst, seinen Bildungsgang und sein Leben werden wir bei Nachbildung einer seiner andern Dorfidyllens in der Kürze das Nähere nachtragen.




Schulze-Delitzsch-Fond. Es dürfte unsern Lesern bereits bekannt sein, daß vor etwa zwei Jahren durch Gesinnungsgenossen und Mitstrebende auf politischem und socialem Gebiet, besonders aber durch die deutschen Genossenschaften ein Capital von circa fünfzigtausend Thaler für den Schöpfer der Vorschußbanken, Schulze-Delitzsch, gesammelt und diesem bei passender Gelegenheit überreicht wurde. Zweck dieser Sammlung war hauptsächlich, dem wackern Manne, der weder Amt noch Vermögen besitzt, für seine Arbeit und Mühen im öffentlichen Interesse eine angemessene Entschädigung zu gewähren und ihn in den Stand zu setzen, seine fruchtbringende Thätigkeit auch fernerhin und ausschließlich der guten Sache zu erhalten. Schulze-Delitzsch nahm zwar das Ehrengeschenk an, aber nur unter der ausdrücklichen Bedingung, darüber nach eigenem Ermessen zu verfügen. Das ist nun vor Kurzem geschehen. Schulze hat eine Stiftungsurkunde niedergelegt, nach welcher er die durch die deutschen Genossenschaften gesammelten Gelder zum Ankauf eines Haus- und Gartengrundstücks für sich verwendet, den Rest von siebenundzwanzigtausend Thaler aber zu einem „Schulze-Delitzsch-Fond“ bestimmt hat, der den Zweck hat, solchen Männern, deren Wirken auf irgend einem Gebiete des öffentlichen Lebens, namentlich auf dem volkswirthschaftlichen, im Interesse des Vaterlandes in Anspruch genommen wird, eine angemessene Belohnung und Existenz zu gewähren. Die Stiftung hat ihren Sitz in Gotha, genießt dort die Rechte einer juristischen Person und wird von einem Stiftungsrathe (Schulze-Delitzsch, von Bennigsen, Rechtsanwalt Henneberg, Buchhändler Ernst Keil, Hofgerichtsprocurator Schenk, Bureauchef Bensemann, Commerzienrath Reichenheim und Buchhändler Fr. Duncker) verwaltet.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Hamburger Blätter haben vor wenig Tagen Molli’s Tod gemeldet.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: werden