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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[177] No. 12.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


12.

Am andern Morgen um fünf Uhr wurden die Bewohner von Gnadeck durch Böllerschüsse geweckt. „Aha,“ sagte Ferber zu seiner Frau, „die Verherrlichung nimmt ihren Anfang.“ Elisabeth aber fuhr jäh aus einem schrecklichen Traum auf. Das Unglück, welches sie gestern abgewendet, hatte der Traum wahr gemacht; sie sah in dem Augenblick Herrn von Walde sterbend zusammenbrechen, als der Schuß im Thal sie aufschreckte. Es bedurfte langer Zeit, ehe sie sich zu sammeln vermochte. In einen einzigen Moment hatten sich unnennbare Schmerzen zusammengedrängt. Sie hatte gewähnt, Himmel und Erde müßten mit jener hohen Gestalt zusammenstürzen und auch sie unter ihren Trümmern zerschmettern, und noch jetzt, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß das goldene Morgenlicht in ihr Stübchen und nicht auf die blutgetränkte Waldwiese falle, vibrirten die aufgestürmten Gefühle nach … nicht einmal gestern, als sie ihr Leben für das seine wagte, war sie sich so klar bewußt gewesen, daß sie in einem solchen Augenblick mit ihm sterben müsse.

Wieder und wieder donnerte es drunten durch das Thal. Die Fensterscheiben im Zwischenbau klirrten leise, und Hänschen flatterte entsetzt auf und klammerte sich an die Stäbe seines Käfigs. Elisabeth schauderte jedes Mal zusammen, und als die besorgte Mutter, die sich noch immer nicht über den Vorfall des gestrigen Tages beruhigen konnte, obgleich sie ihr Kind wohlbehalten und unverletzt ihr zurückgegeben sah, an der Tochter Bett trat, um zu fragen, wie sie geschlafen habe, da schlang diese heftig die Arme um ihren Hals und brach in einen unaufhaltsamen Thränenstrom aus.

„Um Gotteswillen, Kind!“ rief Frau Ferber erschrocken, „Du bist krank! … Ich wußte wohl, daß die gestrige Nervenaufregung nicht ohne Folgen bleiben würde … und nun schießen sie auch noch so unvernünftig da unten.“

Es kostete Elisabeth viel Mühe, die Mutter zu überreden, daß sie sich ganz gesund fühle und um keinen Preis im Bette bleiben, sondern mit den Andern zusammen Kaffee trinken wolle. Um jede Einwendung sofort abzuschneiden, schlüpfte sie in ihre Kleider, wusch das verweinte Gesicht mit frischem Wasser und stand bald draußen am Heerde, um die letzte Hand an das von der Mutter vorbereitete Frühstück zu legen.

Die Schüsse waren plötzlich verstummt, und es währte nicht lange, da waren auch die Thränenspuren aus Elisabeth’s Augen verwischt. Sie blickte wieder heller in die Welt, denn wenn sie auch ein Leben voll Entsagung vor sich sah, so lebte er ja doch, dieser Gedanke hatte infolge des fürchterlichen Traumgesichts eine beschwichtigende Kraft für ihr unruhiges Herz … und wenn er auch ging – weit fort – und sie mußte Jahre lang leben, ohne ihn zu sehen, einmal kam doch eine Zeit, da er wiederkehrte… Und ihn lieben und an ihn denken durfte sie ja auch, denn er gehörte ja keiner Andern.

Später ging sie mit den Ihrigen und Miß Mertens nach dem Forsthause, wohin die Gesellschaft, wie alle Sonntage, für den Mittag eingeladen war. Auf der Stirn des Oberförsters, der ihnen entgegenkam, lagen schwere Wolken. Wie Elisabeth bald bemerkte machte ihm Bertha schwer zu schaffen.

„Ich kann und werde diese Wirthschaft nicht länger mehr mit ansehen!“ rief er heftig. „Soll ich in meinen alten Tagen noch Zuchtmeister werden und in meinem eigenen Hause Tag und Nacht auf der Lauer stehen, um ein junges, eigensinniges Ding, das mich eigentlich auf der Gotteswelt nichts angeht, von verrückten Streichen abzuhalten?“

„Onkel, bedenke, daß sie unglücklich ist!“ rief Elisabeth erschrocken.

„Unglücklich? … Eine Komödiantin ist sie… Ich bin auch kein Menschenfresser, und als ich sie für wirklich unglücklich hielt, d. h. wie sie beide Eltern auf einmal verlor, da bin ich ihr Stab und Stütze gewesen, so viel nur in meinen Kräften stand… Aber da steckt das Unglück auch gar nicht; denn dazumal, kaum zwei Monate nach dem Trauerfall, trillerte sie den ganzen Tag wie eine Haidelerche, so daß mir das Herz weh gethan hat bei so viel Leichtsinn und Herzlosigkeit… Worüber ist sie unglücklich, he? … Ich will es übrigens auch gar nicht wissen, das Staatsgeheimniß, und wenn sie kein Vertrauen zu mir hat, so mag sie’s bleiben lassen… Meinetwegen könnte sie auch das ganze Jahr ein Thränenweiden-Gesicht machen, wenn sie sich nun einmal darin gefällt; aber sich stumm stellen, des Nachts wie eine Verrückte im Walde herumlaufen und mir eines schönen Tages das Haus über dem Kopf anbrennen, das sind Dinge, in die ich denn endlich doch ein Wörtchen reden werde.“

„Hast Du denn meine Warnung neulich nicht beachtet?“ fragte Ferber.

„Ei freilich… Ich habe ihr sofort eine andere Stube angewiesen, sie schläft jetzt über mir, so daß ich jeden Tritt droben hören kann. Nachts werden beide Hausthüren nicht blos verriegelt, wie früher immer geschehen ist, sondern auch zugeschlossen, und ich nehme die Schlüssel mit in meine Kammer… Aber Weiberlist – nun, das ist eine alte Geschichte… Wir haben durch die Vorsichtsmaßregeln wenigstens eine kurze Zeit Ruhe gehabt. [178] Diese Nacht aber konnte ich nicht einschlafen – die Geschichte mit dem Linke ging, mir noch durch den Kopf – da hörte ich droben Schritte, so leise, als ob eine Katze über die Dielen schliche. Aha, dachte ich, da geht das Nachtwandeln wieder los, und machte mich auf; aber als ich hinauf kam, da war das Nest schon leer; auf dem Tisch am offenen Fenster brannte ein Licht, und als ich die Thür aufmachte, da flog der Vorhang über die Flamme – Herr Gott, wäre ich nicht sofort zugesprungen, es hätte ein Feuerwerk geben können, bei dem die alten Balken im Forsthaus sicher gern mit geholfen hätten… Und wie war sie hinausgekommen? … Durch’s Küchenfenster… Ei, da will ich doch lieber einen Ameisenschwarm hüten, als solch’ eine geriebene Person…“

„Ich bin fest überzeugt, das Mädchen hat ein Liebesverhältniß,“ meinte Frau Ferber.

„Ja, das haben Sie mir schon einmal gesagt, Frau Schwägerin,“ entgegnete der Oberförster ärgerlich, „wenn Sie mir aber auch dabei bemerkten wollten, mit wem, dann würde ich Ihnen sehr dankbar sein… Sehen Sie sich doch um, ob nur ein Einziger da ist, der einem Mädchen so den Kopf verdrehen könnte… Meine Gehülfen? … Die sind ihr lange nicht gut genug, die hat sie gleich zu Anfang ablaufen lassen, daß es eine Art hatte … und der Schurke, der Linke, der wird’s wohl auch nicht sein mit seinen krummen Beinen und der semmelfarbnen Perrücke, und damit wäre denn das Register voll.“

„Einen haben Sie vergessen,“ fügte Frau Ferber bedeutsam und sah sich um nach Elisabeth, die einige Schritte zurückgeblieben war, um für Ernst eine Gerte abzuschneiden.

„Nun“ fragte der Oberförster.

„Herrn von Hollfeld.“

Der Oberförster blieb betroffen stehen. „Hm,“ brummte er endlich, „das wäre mir auch in meinem ganzen Leben nicht eingefallen.… Nein, nein,“ fuhr er lebhaft fort, „das glaube ich nicht; denn erstens wird das Mädel nicht so stockdumm sein, sich einzubilden, der werde sie zur gnädigen Frau auf Odenberg machen –“

„Vielleicht hat sie das doch gehofft und sieht sich nun enttäuscht,“ warf Frau Ferber ein.

„Hochmüthig und eitel genug wäre sie am Ende,“ meinte der Onkel nachdenklich, „aber er – er soll sich ja ganz und gar nichts aus den Weibern machen.“

„Er ist ein kalter Egoist,“ sagte Miß Mertens.

„Das Letztere glaube ich – das Erstere aber nicht,“ „erwiderte Frau Ferber, „und eben diese Anschauung erklärt mir Bertha’s ganzes Thun und Treiben.“

„I, das wäre ja eine gräuliche Geschichte!“ rief der Oberförster zornig. „Und ich hätte mir in meiner Arglosigkeit und Nachsicht eine Nase drehen lassen, wie nur irgend ein alter, bornirter Komödienvater! … Ich werde der Sache jetzt unerbittlich auf den Hals rücken, und wehe der ehrvergessenen Person, wenn sie es wirklich gewagt hat, unter meinem ehrlichen Dach eine Liebelei anzuzetteln, die ihr und mir nur Schande bringen kann!“

Das Mittagessen verlief sehr still. Der Oberförster war und blieb verstimmt und hätte am liebsten Bertha sogleich in die Beichte genommen, wenn nicht Frau Ferber gebeten hätte, er möge des Sonntags gedenken. Nach dem Kaffee verließen die Gäste das Forsthaus. Der Onkel warf die Büchse über die Schulter, ging mit hinauf bis vor das Mauerpförtchen und verlor sich dann in den Wald, der, wie er sagte, ihn stets beruhigte und wieder zu sich selbst brachte.

Elisabeth schmückte sich zum Concert, d. h. sie zog ein einfaches, weißes Mullkleid an und steckte als außergewöhnlichen Schmuck ein frisches Waldblumenbouquet an die Brust. Die Mutter brachte ein kleines Medaillon am schwarzen, schmalen Sammetbändchen und legte ihr dasselbe um den Hals – das war die Concerttoilette, die gewiß jedes andere junge Mädchen, im Hinblick auf sein Erscheinen in einer glänzenden Gesellschaft, mit einem bedrückten Gefühl angelegt haben würde. Die Mutter hatte heute das goldene Lockengekräusel selbst geordnet, das auf Elisabeth’s Stirn fiel und durch seinen lichten Glanz die feinen, aber festen Bogen der schwarzen Augenbrauen, als einen eigenthümlichen Reiz, wunderbar hervortreten ließ … Sie konnte Miß Mertens nicht widersprechen, die, nachdem Elisabeth den Weg in’s Schloß angetreten hatte, begeistert meinte, der Anblick des jungen Mädchens habe etwas Ueberirdisches, denn sie selbst hatte heute überrascht die Bemerkung gemacht, daß ihr Kind in auffallender Schönheit erblüht sei.

Als Elisabeth das Vestibül im Lindhofer Schloß betrat, bemerkte sie den Doctor Feld, der, seine Frau am Arm führend, eben in einen Corridor einbiegen wollte. Sie eilte auf ihn zu und begrüßte ihn freudig, denn ihr Herz hatte auf dem ganzen Weg ängstlich geklopft bei dem Gedanken, daß sie allein in den weiten Saal werde eintreten müssen, wo voraussichtlich schon der größte Theil der Geladenen versammelt war. Der Doctor reichte ihr sogleich erfreut die Hand und stellte sie seiner Frau mit halblauter Stimme als das „Heldenmädchen von gestern“ vor. Beide nahmen das junge Mädchen herzlich gern in’s Schlepptau … Die hohe Flügelthür des Saales rauschte auf. Elisabeth dankte in diesem Augenblick ihrem guten Stern, der sie hinter der imposanten Gestalt der Doctorin völlig verschwinden ließ, denn der Eindruck des großen, festlich geschmückten Raumes, über dessen spiegelglattes Parquet prachtvolle Damenroben rauschten und die feinen Lackstiefeln der vornehmen, befrackten Herren hinglitten, hatte etwas Ueberwältigendes für sie … Inmitten des Saales stand die Baronin Lessen, von einem prächtigen, dunkelblauen Moiré, antique umbauscht, und machte die Honneurs. Sie erwiderte den Gruß des eintretenden Ehepaares sehr höflich, aber auch sehr kühl und deutete auf des Doctors Frage nach Herrn von Walde an einen Menschenknäuel, nahe am Fenster, von welchem ein Gesumm, unverständlich wie die babylonische Sprachverwirrung, herüberscholl.

Während Fels mit seiner Frau dorthin schritt, folgte Elisabeth froh und dankbar einem Wink Helenens, die, in einem andern Fenster sitzend, ihr hastig und aufgeregt mittheilte, daß sie plötzlich vom sogenannten Lampenfieber überfallen werden sei: sie habe entsetzliche Angst, vor all’ diesen Leuten zu spielen, und möchte am liebsten in ein Mäuseloch kriechen. Schließlich bat sie das junge Mädchen, statt der vierhändigen Pièce, mit der das Concert eröffnet werden sollte, eine Sonate von Beethoven zu spielen, ein Wunsch, auf den Elisabeth sofort einging. Ihre Befangenheit war verflogen. Sie trat an den Tisch, auf welchem die Musikalien lagen, und schlug die Sonate auf, die sie vortragen wollte. Während dem fuhren draußen Wagen auf Wagen donnernd in die Einfahrt. Die Thüren öffneten sich unermüdlich und beförderten nach und nach einen solchen Ueberfluß von Tüll und Spitzen und Sammet und Seide in den Saal, daß Elisabeth bedauerlich lächelnd auf ihr schöngebügeltes Mullkleid hinabsah, denn einmal zwischen jenes Crinolinengedränge gerathen, mußte es auf der Stelle seine tadellose Glätte einbüßen.

Aus der Begrüßung der Baronin konnte sie sehr leicht erkennen, auf welcher Rangstufe die Eintretenden standen. Mittels einer einzigen Wendung des federgeschmückten Hauptes schwebte die Dame sofort über dem Fahrwasser freundschaftlichen Verkehrs, wenn bürgerliches Element in ihre Nähe kam, und dieses bürgerliche Element that auch Alles, jenen hohen, unnahbaren Standpunkt streng zu respectiren und anzuerkennen. Zuerst strömten gewöhnlich alle Ankommenden auf den Wink der Baronin nach dem Fenster, wo Herr von Walde stehen sollte – von ihm selbst sah Elisabeth keine Spur, denn der Ring, den die Glückwünschenden bildeten, war stets undurchdringlich – dann vertheilten sie sich in einzelne Gruppen, die entweder ruhig der Dinge harrten, die da kommen sollten, oder eine Unterhaltung auf eigene Faust anknüpften.

In diesem Augenblick rauschte abermals die Thür auf und eine alte, corpulente Dame hinkte am Arm eines ebenso bejahrten, vielfach decorirten Herrn und von Fräulein von Quittelsdorf begleitet, in den Saal. Die Baronin eilte den Eintretenden entgegen, auch Fräulein von Walde erhob sich mühsam und trat, von Hollfeld geführt, auf das alte Paar zu, während die um sie versammelten Damen ihr folgten, wie ein Kometenschweif. Der Menschenknäuel am Fenster löste sich ebenfalls wie durch einen Zauberschlag und Herrn von Walde’s hohe Gestalt wurde sichtbar.

„Man muß zu Ihnen kommen, wenn man Sie sehen will, Sie Unartiger!“ rief die alte Dame, indem sie mit dem Finger drohend auf ihn zuwackelte. „Hat denn das schöne Spanien jede Erinnerung an ihre alten Freunde verwischt? … Sie sehen, trotz meiner kranken Füße, und obgleich ich mich von Ihnen schmerzlich vernachlässigt fühle, komme ich heute doch, um unter Denen nicht zu fehlen, die Ihnen ihre Glückwünsche aussprechen.“

Er verbeugte sich und sagte ihr einige Worte, worauf sie ihm lachend einen leichten Schlag auf die Schulter versetzte; dann [179] führte er sie zu einem Fauteuil, auf welchen sie sich mit großer Grandezza niederließ.

„Die Frau Baronin von Falkenberg, Oberhofmeisterin am Hofe zu L.,“ antwortete die Doctorin auf Elisabeth’s Frage, wer die alte Dame sei. Fräulein von Quittelsdorf sah heute wunderschön aus in ihrem weißen Kreppkleid und einen brennend rothen Malvenkranz auf ihr dunkles Haar gedrückt, als sie sich in ehrerbietigster Weise um ihre Vorgesetzte bemühte, wobei sie jedoch nicht unterließ dann und wann einen schalkhaften Blick auf Fräulein von Walde zu werfen.

Das Erscheinen der Gäste vom Hof war das Signal zum Beginn des Concertes. Elisabeth hörte fast ihr Herz klopfen. Noch stand sie hinter der Doctorin; noch konnte sie ihr Gesicht verbergen vor all’ den Augen, die im nächsten Moment auf ihr haften, jeder ihrer Bewegungen folgen würden. Eine unsägliche Scheu überkam sie plötzlich, und sie bereute bitter, daß sie darauf eingegangen war, zuerst allein zu spielen… Sie bebte, als Fräulein von Walde ihr winkte, zu beginnen; aber nun half kein Sträuben mehr … sie schöpfte tief Athem, nahm das Notenheft und schritt langsam, mit gesenkten Augen zum Clavier, wo sie sich schüchtern verbeugte.

Zuerst entstand athemlose Stille, dann lief ein Geflüster von Mund zu Mund, das aber sofort erlosch, als das junge Mädchen die Tasten berührte. Auch Elisabeth’s Angst und Beklemmung entwichen bei dem ersten Accord. Sie war ja nicht mehr allein, er war ja bei ihr, an dessen Hand sie unzählige Mal über sonnige Halden, an dunklen Abgründen vorüber, durch Sturm und Wetter geschritten war, der süße Ahnungen in ihr geweckt und alle heiligen und erhabenen Empfindungen ihres Herzens in unendlichem Wohlklang zusammenfaßte … er, der ihr so lieb und vertraut war, wie das Gesicht der Mutter, wenn sie auch scheu den Blick senken mußte vor der feurigen Glorie, die sein gewaltiges Haupt umzuckte … Die geschmückten Damenköpfe, die sich drüben an den Wänden hinreihten, die Lorgnetten- und Brillengläser, welche, in der Sonne funkelnd, beharrlich ihre Blitze auf die einsame Spielerin mitten im Saale schleuderten, Alles verschwand: sie war allein mit dem großen Beherrscher der Töne und folgte entzückt jeder Wendung seines schöpferischen Geistes.

Ein wahrer Beifallssturm schreckte sie auf, als sie geendet hatte. Sie verbeugte sich und floh dann förmlich zu ihrer Beschützerin, der Frau Fels, die ihr, sprachlos vor innerer Bewegung, beide Hände entgegenstreckte.

Das Concert dauerte nicht lange. Vier junge Herren aus L. sangen ein hübsches Quartett, dann folgte der Vortrag eines tüchtigen Geigenspielers. Fräulein von Quittelsdorf sang auch zwei Lieder mit schöner Stimme, aber ohne Gehör, so daß bei jedem hohen Ton die Gesellschaft entweder unwillkürlich und angstvoll auf den Stühlen hin- und herrückte oder verlegen den Blick auf den Boden richtete. Auch eines der so lange einstudirten vierhändigen Musikstücke kam an die Reihe. Fräulein von Walde hatte ihre Fassung wiedergewonnen und spielte im Verein mit Elisabeth vortrefflich.

Als das Concert zu Ende war, trat Elisabeth in die Thür eines Nebenzimmers, um ihre Mantille zu holen. Fast auf dem Fuße folgte ihr ein ältlicher Herr, der ihr gegenüber gesessen und sie fortwährend mit großer Aufmerksamkeit betrachtet hatte. Die Doctorin, die mit Elisabeth gegangen war, stellte ihn auf sein Verlangen dem jungen Mädchen vor als den Herrn Kreisgerichtsdirector Busch. Er sagte ihr viel Schönes über ihr Clavierspiel und fügte hinzu, es sei für ihn von großem Interesse, die kühne Lebensretterin des Schloßherrn kennen zu lernen; er habe um so eiliger die heutige Gelegenheit ergriffen, als ihm seit einigen Stunden die Hoffnung genommen sei, in der Untersuchung der Attentatsgeschichte mit ihr verkehren zu dürfen.

Elisabeth fuhr erschrocken zurück. Er lachte laut und herzlich.

„Nun, nun, entsetzen Sie sich nicht nachträglich, mein Fräulein!“ rief er endlich. „Wir haben ja, wie ich Ihnen eben sagte, leider keine Veranlassung mehr, Sie vor unsere Schranken zu laden … Linke hat die ganze Angelegenheit mittels eines einzigen Sprunges niedergeschlagen – seine Leiche wurde heute Nachmittags aus dem Teich bei Dorf Lindhof gezogen,“ fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu. „Man machte mir die Meldung im Gasthof, wo ich abgestiegen war. Ich begab mich in Begleitung des Wahlheimer Arztes, der sich zufälligerweise im Gastzimmer befand, nach dem Schauplatz des Verbrechens und habe mich überzeugt, daß sich jene Hand nie wieder gegen das Leben eines Andern erheben wird … Der Zustand der Leiche beweist, daß Linke sofort nach dem Mißlingen seiner verbrecherischen Absicht den Tod gesucht hat.“

Elisabeth schauderte. „Weiß Herr von Walde dies schreckliche Ende?“ fragte sie mit bebender Stimme.

„Nein, ich fand noch keine Gelegenheit, ihn allein zu sprechen.“

„Von allen Anwesenden scheint Niemand eine Ahnung zu haben von dem, was gestern geschehen ist,“ sagte Frau Fels.

„Glücklicherweise nicht, und Dank unserer Umsicht und Verschwiegenheit,“ entgegnete der Kreisgerichtsdirector ironisch. „Der arme Herr von Walde hat sich ohnehin kaum retten können vor der Gratulanten-Ueberschwemmung; wehe, wenn die Veranlassung eine doppelte gewesen wäre, ihn seines Daseins wegen zu beglückwünschen!“

Der Hausverwalter Lorenz näherte sich in diesem Augenblick Elisabeth und präsentirte ihr einen kleinen, silbernen Teller, auf welchem mehrere Papierröllchen lagen. Als ihn das junge Mädchen erstaunt ansah, sagte er respectvoll: „Bitte, haben Sie die Güte, eines der Papiere an sich zu nehmen.“

Elisabeth zögerte.

„Es wird sich um irgend einen Scherz handeln,“ meinte die Doctorin. „Nehmen Sie schnell, damit der Hausverwalter nicht länger aufgehalten wird.“

Fast mechanisch ergriff das junge Mädchen ein Röllchen, fuhr aber erschrocken zurück, als die Baronin Lessen plötzlich in der Thür erschien und einen forschenden Blick in das Zimmer warf.

„Nun,“ sagte die Eingetretene rasch, indem sie auf den alten Diener zuschritt, „was thun Sie hier, Lorenz? … Sie können sich doch denken, daß Frau Fels sich nicht entschließen wird, mit einem Andern, als ihrem Herrn Gemahl zu gehen!“

„Ich habe Fräulein Ferber den Teller präsentirt, gnädige Frau,“ entgegnete der alte Mann.

Die Baronin schleuderte ihm einen wüthenden Blick zu, dann maß sie das junge Mädchen von Kopf bis zu Füßen. „Wie, Fräulein Ferber,“ sagte sie schneidend, „Sie sind noch hier? … Ich glaubte Sie längst zu Hause auf Ihren Lorbeeren ruhend.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie wieder über die Schwelle, wandte aber nochmals den Kopf schüttelnd zurück nach dem verblüfft dastehenden Hausverwalter und zuckte mit den Achseln.

„Sie waren wieder einmal recht zerstreut, Lorenz, eine Schwäche, die sich leider in der letzten Zeit oft sehr unangenehm fühlbar macht.“

Mit diesen Worten rauschte sie hinaus, während ihr der Alte geräuschlos folgte. Er erwiderte auf ihre maliciöse Zurechtweisung nicht eine Silbe, aber in sein blasses Gesicht trat eine leichte Röthe und die weißen, buschigen Brauen zogen sich dergestalt zusammen, daß die gutmüthigen Augen fast verschwanden.

Noch standen die drei Zurückbleibenden und sahen sich erstaunt an, als der Doctor hereintrat. Er machte eine tiefe, komische Verbeugung vor seiner Frau und sagte feierlich:

„Sintemalen Fräulein von Quittelsdorf soeben die Gnade gehabt hat, uns abermals zusammenzuthun, wie bereits vor fünfzehn Jahren durch Priesterhand geschehen, so bin ich gewillt, das sanfte Joch der Ehe geduldig weiterzuschleppen und heute ausschließlich an Deiner Seite, vielgetreues Ehegespons, genährt und gepflegt von Deiner zartwaltenden Hand, die Freuden des Tages zu genießen!“

„Was fällt denn Dir ein, lieber Mann?“ rief erstaunt und lachend die Doctorin.

„Bitte,“ das ist nicht mein Einfall … Ach, ich merke, Du hast Fräulein von Quittelsdorfs schwungvolle Rede nicht mit angehört … wie schade! … Ich sehe mich also genöthigt, Dir hiermit zu sagen, daß jegliches Ehepaar, gleichviel, ob auf dem Kriegsfuß stehend, oder nicht, binnen jetzt und einer Viertelstunde sich hübsch einträchtig nach dem Nonnenthurm im Walde zu verfügen hat, allwo ein ländliches Fest gefeiert werden soll. Dort hast Du die Verpflichtung, mich zu bedienen, respective mir so viel Essen und Trinken herbeizuschaffen, wie mein Herz begehrt, und überhaupt für mein Wohlbefinden zu sorgen, wie es nur je die vielgefeierte Penelope gethan … Damit aber die unbeweibten Männer, die in der Mehrzahl hier vertreten sind, nicht zu kurz kommen, d. h. wenn sie es für einen Vorzug halten wollen, daß ihnen [180] der Mund gestopft wird, so hat man höchst sinnreich eine Art Lotterie veranstaltet. Jede unverehelichte Dame zieht ein mit dem Namen eines unverheiratheten Herrn versehenes Papierröllchen, und es bleibt nun Fortuna und Amor überlassen, ob sie begünstigen oder hämischerweise zwei zärtliche Herzen trennen wollen.“

Elisabeth gerieth bei diesem Bericht in eine unbeschreibliche Aufregung. Sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht, ob sich an das Concert noch eine andere Festlichkeit reihen werde. Jetzt wurde ihr klar, weshalb die Baronin gestern den Schluß des Concertes und ihr Nachhausegehen so eigenthümlich betont hatte … Ihre Wangen glühten vor Beschämung, denn sie hatte sich mit der Annahme des Papierstreifens, den der Hausverwalter aus Versehen ihr präsentirt hatte und der in diesem Augenblick wie Feuer in ihrer Hand brannte, den Anschein einer grenzenlosen Aufdringlichkeit gegeben. Rasch entschlossen trat sie in den Saal, wo eben das Oeffnen der verhängnißvollen Rollen unter Lachen und gegenseitigen Verbeugungen der Herren und Damen vor sich ging.

„Welche abgeschmackte Idee von der Quittelsdorf!“ sagte eben, als Elisabeth vorüberging, ein junger, adeliger Actuar verdrießlich zu seinem Nachbar. „Jetzt habe ich die dicke, fromme Lehr auf dem Halse – Fi donc!“

Das junge Mädchen brauchte die Baronin nicht lange zu suchen; sie stand ziemlich abgesondert in der Nähe des einen Fensters. Fräulein von Quittelsdorf, die Oberhofmeisterin und Helene standen bei ihr in lebhaftem, aber wie es schien, nicht sehr angenehmem Wortwechsel. Die Oberhofmeisterin sprach heftig auf Fräulein von Quittelsdorf hinein, die ein um das andere Mal rathlos mit den Achseln zuckte. Auf dem Gesicht der Baronin Lessen spiegelte sich der tiefste Verdruß, es hätte diesmal der zwei rothen Flecken nicht bedurft, um zu erkennen, daß sie sich schwer ärgere. Nicht weit von der Gruppe, an einem Pfeiler, lehnte Herr von Walde mit verschränkten Armen; er schien nur mit halbem Ohr auf die Mittheilungen des alten, neben ihm stehenden, decorirten Begleiters der Oberhofmeisterin zu hören, während seine Augen unablässig auf den gesticulirenden Damen ruhten.

Elisabeth schritt eilig auf die Baronin zu. Sie konnte nicht umhin, zu bemerken, wie Fräulein von Quittelsdorf bei ihrem Erblicken die Oberhofmeisterin leicht anstieß und wie diese sich darauf hin umdrehte und einen feindseligen Blick auf sie richtete. Sie erkannte, daß sie der Gegenstand der Debatte gewesen war, und beeilte ihre Schritte, um so schnell wie möglich den unwürdigen Verdacht zurückzuweisen.

„Gnädige Frau,“ sagte sie, sich leicht verbeugend, zu der Baronin, „ich habe, ohne zu wissen, um was es sich handle, infolge eines Mißverständnisses dies Papier an mich genommen und erfahre erst in diesem Augenblick, daß mit demselben eine Verpflichtung verknüpft ist, die ich nicht auf mich nehmen kann, denn meine Eltern erwarten mich.“

Sie reichte die kleine Rolle der Baronin, die, urplötzlich einen wahren Sonnenschein in ihren Zügen entwickelnd, hastig danach griff.

„Ich glaube, Sie sind im Irrthum, Fräulein Ferber!“ rief plötzlich Herr von Walde mit seiner ruhigen, klangvollen Stimme herüber. „Vor Allem haben Sie sich wohl bei dem Herrn zu entschuldigen, dessen Namen das Papier enthält; von ihm hängt es ab, ob er Sie freigeben will, oder nicht.“ Sein Auge flog, während er eigenthümlich lächelte, über die Anwesenden, die sich bereits paarweise gruppirt und zum Fortgehen gerüstet hatten, selbst der alte Cavalier schritt eben auf die Oberhofmeisterin zu und reichte ihr galant den gekrümmten Arm. Herr von Walde fuhr fort, indem er langsam näher trat: „Als Hausherr, der keine Beeinträchtigung eines Gastes dulden darf, muß ich Sie bitten, mein Fräulein, das Papier zu öffnen.“

Elisabeth gehorchte schweigend und reichte ihm tief erglühend den entfalteten Papierstreifen hin. Er warf einen Blick auf den Zettel.

„Ah!“ rief er. „Ich habe, wie ich sehe, meine eigenen Rechte gewahrt! … Sie werden mir zugeben, Fräulein, daß es völlig in meiner Hand liegt, ob ich Ihre Entschuldigung beachten will, oder nicht, ich ziehe das Letztere vor und bitte Sie, streng der Verpflichtung nachzukommen, die Ihnen dies kleine Stückchen Papier auferlegt.“

Die Baronin näherte sich ihm und legte die Hand auf seinen Arm. Es sah fast aus, als ob sie mit dem Weinen kämpfe.

„Verzeihe, lieber Rudolph,“ sagte sie, „es ist wirklich nicht meine Schuld!“

„Ich weiß nicht, welche Schuld Du meinst, Amalie,“ erwiderte er eiskalt, „aber Du hast den richtigen Moment gewählt, wenn Du Verzeihung suchst, ich könnte in diesem Augenblick viel Böses vergessen, was mir widerfahren ist.“

Er griff nach dem Hut, den ihm ein Bedienter brachte, reichte Elisabeth den Arm und gab das Signal zum Aufbruch.

„Aber meine Eltern!“ stammelte Elisabeth.

„Sind sie krank, oder wollen sie in diesem Augenblick verreisen?“ fragte er stehen bleibend.

„Beides nicht.“

„Nun, dann lassen Sie mich dafür sorgen, daß sie den Grund Ihres Ausbleibens erfahren.“

Er rief einen Bedienten und schickte ihn sofort hinauf nach Gnadeck.

Während der Saal sich allmählich leerte, blieb die Gruppe, zu der sich außer dem alten Cavalier auch noch Hollfeld mit einem sehr verdrießlichen Gesicht gesellt hatte, am Fenster stehen.

„Es geschieht Ihnen ganz recht, Cornelie,“ zürnte die Oberhofmeisterin. „Sie haben sich heute blamirt für alle Zeiten… Welch ein hirnloser Gedanke, diese Lotterie! … Wie oft schon habe ich gegen Ihre Farcen geeifert, denen leider unsere gnädigste Fürstin auch manchmal ein williges Ohr leiht!.. Nun soll der Hausverwalter schuld sein, warum haben Sie ihn nicht gehörig instruirt? … Sie halten sich für eine Hofdame par excellence und wissen nicht einmal, daß diese Art Leute nie ihre eigenen Gedanken haben dürfen? … Ihnen gönne ich diese Lehre von Herzen, wenn nur nicht gerade der unglückliche Walde das Opfer Ihres Leichtsinns sein müßte! … Da hat er nun das blonde Gänschen am Arm, er, der sich in seinem stolzen, aristokratischen Bewußtsein unzähligemal des Fehlers schuldig gemacht hat, es nicht zu bemerken, wenn sehr hochgestellte Damen von ihm geführt zu sein wünschten.… Wie mag ihm nur zu Muthe sein gegenüber dieser kleinen Clavierlehrerin, der Tochter eines – Forstschreibers?“

„Warum opfert er sich so bereitwillig?“ entgegnete Fräulein von Quittelsdorf; „es war ganz unnöthig, daß er sich in den Handel mischte. Die Kleine war ja im Begriff zu gehen; nein, da tritt er vor wie der Ritter ohne Furcht und Tadel und nimmt die Last freiwillig auf sich.“

„Nun, diese Last ist wenigstens blendend schön!“ hüstelte der alte Cavalier mit einem frivolem Lächeln.

„Was fällt Ihnen ein, Graf!“ rief die Oberhofmeisterin. „Das ist wieder einmal eine Bemerkung, ganz Ihrer würdig, der Sie sich für jedes runde Bauerngesicht enthusiasmiren… Uebrigens leugne ich nicht, daß die Kleine hübsch ist … Weshalb Walde sich heute großmüthig opfert, das hat er ja eben deutlich genug ausgesprochen. Er ist innerlich befriedigt und beglückt durch die große Theilnahme und Aufmerksamkeit, die wir Alle ihm heute an den Tag gelegt haben, und will Alles, selbst das kleine Ding, das übrigens ganz nett gespielt hat, froh und heiter sehen… Schade, daß solch ein Flecken auf das Fest fallen mußte… Ich rathe Ihnen, liebste Lessen, künftig bei dergleichen Arrangements dem Tact und Talent unserer Quittelsdorf nicht allzu unbedingt zu vertrauen.“

Die Hofdame biß sich auf die Lippen und warf heftig ihren Spitzenshawl über die Schultern. Draußen rollte der Wagen vor, der die Oberhofmeisterin und Helene in Begleitung der Baronin und des Grafen nach dem Festplatz bringen sollte.

„Die alte Katze!“ rief Fräulein von Quittelsdorf, nachdem sie der Oberhofmeisterin in den Wagen geholfen und darin für die Bequemlichkeit der Dame gesorgt hatte. „Sie ist wüthend, daß man bei dem Arrangement nicht erst ihren hochweisen Rath eingeholt hat… Haben Sie nicht gesehen, Hollfeld, beinahe wäre Ihrer Excellenz der falsche Scheitel auf die Nase gefallen, als sie so zornig mit dem Kopfe wackelte? Ich hätte mich vierzehn Tage lang nicht beruhigen können vor Lachen, wenn plötzlich unter dem Blumengarten ihrer Haube der kahle Kopf zum Vorschein gekommen wäre!“

Sie wollte sich auch jetzt ausschütten vor Lachen bei dem Gedanken. Ihr Begleiter aber schritt wortlos, als habe er von ihrem ganzen, langen Geschwätz nicht eine Silbe gehört, immer rascher vorwärts. In seinem ganzen Wesen lag eine auffallende

[181]

C. Blind.     Ravenstein. Winter.     Kinkel.          Cyriax.          Luntz.
Ein Kneipabend in der deutschen Turnhalle in London. Originalzeichnung von Dammann.

[182] Hast und Unruhe. Es schien ihm offenbar daran zu liegen, die vorangegangene Gesellschaft so schnell wie möglich zu erreichen. Sein Blick eilte stets weit voraus und drang nach allen Richtungen hin in das Gebüsch; nur wenn der Schimmer eines weißen Kleides in der Ferne auftauchte, dann blieb er einen Augenblick stehen, als wolle er beobachten.

„Nein, Sie sind doch zu langweilig, Hollfeld! Langweilig bis zum Sterben!“ rief die Hofdame ärgerlich. „Sie haben zwar das Privilegium, stumm zu sein wie ein Fisch, um dabei doch für einen geistreichen Mann zu gelten … wo ich aber in diesem Moment Ihren Geist suchen soll, weiß ich wahrhaftig nicht … Weshalb, um Gotteswillen, rennen Sie denn so? … Und denken Sie, wenn ich bitten darf, doch an mein nagelneues Kreppkleid, das aller Augenblicke an den Büschen hängen bleibt, an denen Sie mich vorbeizerren wie ein armes Schlachtopfer!“

Der sogenannte Nonnenthurm, das einzige standhafte Ueberbleibsel eines ehemaligen Frauenklosters, lag tief versteckt in einem Eichen- und Buchenforst, auf dem Waldgebiet, das, zu dem Gut Lindhof gehörig, sich meilenweit nach Osten hin erstreckte. Er stieg viereckig, plump und schmucklos in die Höhe. Droben auf dem platten Dach, das eine steinerne Galerie umgab, endete die Treppe in einem engen, viereckigen Raum, den eine schwere Eichenthür verschloß. Von dem Plateau aus genoß man eine reizende Fernsicht nach L. Diesem Vorzug hatte wohl hauptsächlich der Thurm sein durch aufbessernde Menschenhände gefristetes Dasein zu verdanken. Mächtige Eisenklammern umschnürten die Ecken, und zahllose Adern frischen Mörtels ringelten sich durch das geschwärzte Gemäuer, so daß der alte Bau von Weitem aussah, wie ein riesiger Malachit.

Heute aber hatte sich der alte Bursche ausstaffirt, wie ein junges Blut, das auf die Wanderschaft gehen will. Frische Reiser, d. h. vier kräftige Tannenbäume, steckten auf seinem alten Hut, und darüber her wehten ungeheure Fahnen und schwammen wie helle Schwäne über den grünen Wogen der Baumwipfel. Er, der zwar bisher Tag und Nacht ein trautnachbarliches Gespräch mit seinen alten Cameraden, den Eichen, geführt hatte, nie aber auch nur fingerbreit von seinem würdevollen Standpunkt aus ihnen entgegengerückt war, er griff heute mit grünen Armen keck an ihr ehrwürdiges Haupt, es waren lange Guirlanden an den Mauern befestigt, deren anderes Ende unter den Zweigen der Bäume verschwand. Sogar ein langes, weißes Taschentuch hing dem jung gewordenen Springinsfeld aus der Tasche. Die beiden freien Zipfel des Tuches waren stramm an zwei mit Laubwerk bekleideten Tannenstämmen befestigt; es beschützte einige Fäßchen, eine ganze Batterie bestaubter, rothgesiegelter Bouteillen, zahllose Flaschen mit silbernen Köpfen in Eiskübeln und ein neben all’ diesen Herrlichkeiten stehendes hübsches Mädchen in Marketender-Costüm vor den Sonnenstrahlen…

Elisabeth hatte willenlos und schweigend an Herrn von Walde’s Arm den Saal verlassen. Sie hatte, trotz der Ueberzeugung, daß sie gehen müsse, nicht den Muth gefunden, ihm zu widersprechen, zu sagen, daß sie bei ihrem Entschluß beharre. Er hatte in einem so gebietenden Ton gesprochen, und – was ihr zumeist den Mund verschloß – er war für sie in die Schranken getreten und hatte ihr offenbar aus der Verlegenheit helfen wollen; jeder Widerspruch hätte in jenem Moment wie Trotz aussehen müssen, auch wäre durch eine Entgegnung ihrerseits das peinliche Aufsehen erhöht worden, dessen Gegenstand sie ohnehin schon geworden war.

Hinter ihr streiften knisternd die seidenen Gewänder der Damen an die Wand des Corridors. Lachend und plaudernd folgte der Menschenschwarm in langem Zuge Herrn von Walde bis vor das Hauptthor, dann aber stob Alles auseinander und begab sich auf die verschiedenen Waldwege, die nach dem Nonnenthurm führten. Viele, die besondere Toilettenrücksichten zu nehmen hatten, blieben auf dem breiten, gut gehaltenen Fahrweg. Herr von Walde hatte sicher keine Ahnung, daß seine Begleiterin ihr selbstgewaschenes und gebügeltes Mullkleid mit ebenso ängstlichem Auge behütete, wie die anderen Damen ihre theuren Toiletten, sonst würde er sie sicher nicht auf den schmalen, wenig betretenen Weg geführt haben, in den er plötzlich einbog.

„Hier ist es gewöhnlich sehr feucht,“ brach Elisabeth mit schüchterner Stimme das Stillschweigen, denn es war bisher kein Wort zwischen ihnen gefallen. Ihr Fuß zuckte, als habe er die größte Lust, zurück statt vorwärts zu gehen. Vielleicht dachte sie aber auch in diesem Augenblick gar nicht an ihr Kleid und ihre dünnen Schuhe und sah nur den engen, grünen Laubgang vor sich, durch den sie mutterseelenallein mit ihm gehen sollte, hörte bebend schon im Geiste seine Stimme, die plötzlich rauh, ungeduldig und herrisch wurde, denn das war ja stets der Fall, wenn er sich mit ihr allein sah.

„Es hat lange nicht geregnet; sehen Sie die Risse und Sprünge in dem trockenen Boden?“ entgegnete er ruhig weiterschreitend und einen Zweig abknickend, der Elisabeth’s Wange bedrohte. „Wir kommen auf diesem Weg schneller vorwärts und haben den Vortheil, auf eine Viertelstunde dem Geschnatter zu entgehen, das meine Verwandten zur Verherrlichung meiner siebenunddreißig Jahre heraufbeschworen haben… Oder fürchten Sie in dieser engen Gasse Linke’s Begegnung?“

Ein Schauder flog durch die Glieder des jungen Mädchens. Sie dachte an das verzweiflungsvolle Ende des Verbrechers, aber sie konnte es nicht über sich gewinnen, Herrn von Walde diese Mittheilung zu machen.

„Ich fürchte ihn nicht mehr!“ sagte sie ernst.

„Er hat auf alle Fälle die Gegend verlassen, und wenn nicht, nun, so wird er doch nicht so unhöflich sein, den Leuten die Freude zu verderben, die sich nun auch für die gehabte Anstrengung des Glückwünschens amüsiren wollen… Apropos, es wird Ihnen nicht entgangen sein daß ein Jedes aus der Gesellschaft mir heute einen Augenblick besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, selbst das jüngste Gänschen im florenen Flügelkleide hat nicht versäumt, mir seinen huldigenden Knix zu machen und einen einstudirten Glückwunsch herzusagen… Sie halten mich wohl noch nicht für alt genug, um mir ein noch längeres Leben zu wünsche?“

„Ich meine, diesen Wunsch kann man der Jugend und dem kräftigen Lebensalter so gut aussprechen, wie den greisen Menschen; denn jene haben eben so wenig ein Monopol für die Lebensdauer wie diese.“

„Nun, warum kamen Sie dann nicht auch zu mir? … Gestern retten Sie mir das Leben, und heute ist es Ihnen so gleichgültig, daß Sie nicht einmal die Lippen öffnen und sagen mögen: ‚Gott beschütze es auch ferner.‘“

„Sie sagten vorhin selbst: ‚Jedes aus der Gesellschaft,‘ ich gehörte aber nicht zu der Gesellschaft und durfte mich deshalb auch nicht in die Reihen der Glückwünschenden drängen.“ Sie sprach hastig, denn schon grollte es in seiner Stimme, und er machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Arm, auf welchem ihre Hand lag.

„Sie waren doch eingeladen –“

„Um die Eingeladenen zu amüsiren.“

„War diese bescheidene Ansicht einzig und allein der Grund, weshalb Sie vorhin nicht mir gehen wollten?“

„Ja, meine Weigerung galt durchaus nicht dem Herrn, dessen Name mir ja völlig unbekannt war.“

„Das machen Sie mir nicht weis, Sie mußten ja auf den ersten Blick sehen, daß bereits sämmtliche Herren – mich ausgenommen – versagt waren. Sie wußten sogar, daß meine Schwester, ohne ein Papier zu ziehen, sich schon vorher Hollfeld’s Begleitung ausgebeten hatte, weil sie an seinem Arm am sichersten geht. – Gestehen Sie!“

„Ich sah und wußte gar nichts… Ich war viel zu aufgeregt, als ich in den Saal trat, um das Papier zurückzugeben; denn man hatte mir gestern ganz bestimmt die Stunde genannt, zu welcher mir gestattet sein würde, nach Hause zu gehen. Daß nach dem Concert irgend welche Festlichkeit folgen könne, darüber hatte ich gar nicht nachgedacht; mit der Annahme der kleinen Papierrolle habe ich mir eine Gedankenlosigkeit zu Schulden kommen lassen, die ich mir nie verzeihen werde.“

Er blieb plötzlich stehen.

„Sehen Sie mich einmal an!“ sagte er gebieterisch.

Sie hob das Auge, und obgleich sie fühlte, daß eine hohe Röthe in ihr Gesicht stieg, hielt sie seinen Blick doch aus, der zuerst flammend auf ihren Zügen ruhte, dann aber in einem unbeschreiblichen Ausdruck schmolz.

„Nein, nein,“ flüsterte er mehr wie für sich mit weicher Stimme, „es wäre Sünde, hier an das abscheuliche Laster, die Lüge, zu denken… Ja, doppelte,“ fuhr er in gänzlich verändertem, sarkastischem Ton fort – es klang fast, als wolle er seine momentane Weichheit persifliren – „habe ich nicht selbst als unfreiwilliger [183] Zeuge den Ausspruch von Ihnen gehört: ‚Man brauche mehr Muth dazu, eine offenbare Lüge dreist zu sagen, als einen Fehler zu bekennen‘?“

„Das ist meine Ueberzeugung, ich wiederhole sie.“

„Ah, es ist etwas Hohes um die Charakterfestigkeit! … aber ich meine, wenn man zu wahrhaftig ist, um seine Lippen mit einer Unwahrheit zu beflecken, so darf man auch seinem Auge nicht gestatten, zu lügen … ich kenne jedoch einen Moment in Ihrem Leben, wo Sie sich anders zeigten, als Sie dachten.“

Das junge Mädchen zog verletzt die Hand aus seinem Arm.

„O nein, so wohlfeil entkommen Sie mir nicht!“ rief er, sie festhaltend. „Jetzt heißt es bestätigen oder widerlegen. … Sie schienen neulich gleichgültig, als ich das zärtliche Andenken meines Vetters, die Rose, wegwarf.“

„Hätte ich ihr nachspringen sollen?“

„Allerdings, wenn Sie wahrhaftig waren.“

Elisabeth wußte jetzt, weshalb er den einsamen Waldweg mit ihr betreten hatte, sie sollte beichten, wie sie über Hollfeld denke. Es war richtig, wie sie damals vermuthet hatte, Herr von Walde war offenbar in großer Besorgniß, daß sie jene Huldigung seines Vetters zu hoch anschlagen und sich wohl gar einbilden könne, er habe ihren bürgerlichen Standpunkt vergessen. Jetzt war der Moment gekommen, wo sie ihre Ansicht aussprechen durfte. Mit einer raschen Bewegung befreite sie ihre Hand von der seinigen und trat einen Schritt seitwärts.

„Ich muß Ihnen zugeben,“ sagte sie, „daß mein Aeußeres, wenn es in jenem Augenblick gleichgültig war, durchaus nicht im Einklang mit meinem Innern gewesen ist.“

„Sehen Sie!“ rief er, aber es lag nichts weniger als ein Triumph in diesem Ausruf.

„Ich war vielmehr entrüstet.“

„Ueber mich?“

„Zunächst über den unpassenden Scherz des Herrn von Hollfeld.“

„Er hatte Sie sehr erschreckt – freilich –“

„Nein, beleidigt. Wie konnte er es wagen, sich mir in der Weise aufzudrängen! … Ich verabscheue ihn!“

Sie hatte Recht gehabt in ihrer Voraussetzung, aber daß er einen solchen außerordentlichen Werth auf ihren Ausspruch legen würde, hatte sie nicht geahnt. Es schien ihm eine Centnerlast vom Herzen zu fallen … Brach es nicht wie heller Jubel aus den Augen, die eben noch in einem Gemisch von Mißtrauen, Hohn und Bitterkeit auf sie gerichtet gewesen waren? Er schöpfte tief Athem und breitete plötzlich die Arme aus … Elisabeth sah sich um nach dem unbekannten Etwas, das seine leuchtenden Blicke in der Luft suchten, um es ohne Zweifel an sein Herz zu ziehen. Sie entdeckte nichts, wohl aber fühlte sie ein heftiges Zittern seiner Hand, als er die ihrige nahm und sie wieder auf seinen Arm legte. Sie gingen einige Schritte weiter, er sprach kein Wort.

Plötzlich blieb er wieder stehen.

„Wir sind in diesem Augenblick ganz allein,“ sagte er mit unbeschreiblich milder Stimme. „Sehen Sie, nur ein Stückchen blaues Himmelsauge sieht auf uns herab, keines jener Gesellschaftsgesichter drängt sich zwischen uns … ich kann und will Ihren Glückwunsch nicht entbehren … Sagen Sie ihn jetzt, wo ihn Niemand hört, als ich, ich ganz allein!“

Sie schwieg verlegen.

„Nun, wissen Sie nicht, wie man das macht?“ drängte er.

„O ja,“ entgegnete sie, und ein schelmisches Lächeln flog um ihren Mund, „ich habe Uebung darin; die Eltern der Onkel Ernst –“

„Jedes hat seinen Geburtstag,“ fiel er lächelnd ein, „aber Sie können es mir nicht verdenken, wenn ich meinen Glückwunsch für mich ganz allein haben will, daß ich verlange, er soll ganz anders klingen, als alle, die Sie bisher ausgesprochen haben, denn ich bin weder Ihr Vater, noch der barsche Försteronkel, am allerwenigsten aber beanspruche ich die Rechte des Bruders, mit dem Sie spielen … Nun sprechen Sie!“

Sie schwieg abermals. Was sollte sie sagen? … Sie hatte schon längst die Augen gesenkt, denn sie konnte den Blick nicht ertragen, der so peinlich forschend, mit einem eigenthümlichen Ausdruck von ängstlicher Unruhe und Erwartung tief, tief in ihre Seele drang.

„Kommen Sie!“ rief er rauh, nachdem er einen Augenblick vergeblich auf einen Laut von ihren Lippen gewartet hatte, und zog sie fort. „Es war ein thörichtes Verlangen von mir … Ich weiß ja, Ihr Mund, der allzeit bereit ist, Anderen Freundliches und Liebes zu sagen, schweigt entweder für mich, oder ergeht sich in strenger Zurechtweisung.“

Sie erblaßte bei diesen Worten und blieb unwillkürlich stehen.

„Sie wollen?“ frug er milder. „Geht es durchaus nicht?“ fuhr er kopfschüttelnd fort, als sie noch immer nicht sprach, ihn aber bittend ansah. „Nun, dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen … Ich werde Ihnen den Glückwunsch sagen, wie ich ihn ungefähr von Ihren Lippen zu hören gewünscht hätte, aber ich mache die Bedingung, daß Sie ihn Wort für Wort nachsprechen.“

Jetzt erschien wieder ein Lächeln auf Elisabeth’s Gesicht und sie nickte zustimmend.

„Zuerst reicht man dem – dem Freunde die Hand,“ begann er und nahm ihre Hand in die seine – sie bebte, zog aber die Hand nicht zurück – „und spricht: ‚Sie sind bisher ein armer, unbeglückter Wanderer gewesen; es war hohe Zeit, daß die Wolken sich theilten und daß endlich der holde Lichtstrahl erschien, der Ihr ganzes Dasein umgewandelt hat. Es ist mein eigener, unumstößlicher Wunsch und Wille, daß er Sie nie wieder verlasse, hier ist meine Hand als Bürge eines unaussprechlichen Glückes.‘“

Bis dahin hatte sie den höchst seltsam lautenden Glückwunsch pünktlich nachgesprochen, bei dem letzten Satz trat sie erstaunt zurück und zögerte. Er aber faßte heftig auch ihre andere Hand und drängte: „Weiter, weiter!“

„Hier ist meine .…„begann sie endlich.

„Das ist zu hübsch, Herr von Walde,“ rief plötzlich Corneliens Stimme durch das Gebüsch, „daß wir uns hier treffen! So habe ich doch den Triumph, an Ihrer Seite mit Musik empfangen zu werden!“

(Fortsetzung folgt.)




Ein neues Stück Deutschland in London.


Den 27. August des Jahres 1862 haben viele Deutsche Londons rosenroth in ihrem Kalender angestrichen. An jenem Tage feierten sie in den hohen, lichten Räumen des Krystallpalastes von Sydenham ein Fest, desgleichen Altengland noch nie gesehen hatte: ein vollständiges Turnfest mit heiterem Singen und Fahnenschwingen und malerischem Fackelzug am Schlusse. Groß war das Erstaunen und redlich die Anerkennung der eingeborenen Zuschauer. Am nächsten Morgen um sieben Uhr gingen die Pauken und Trompeten der öffentlichen Meinung von Charing Croß und Ludgate Hill aus durch’s ganze Land mit der Kunde, daß die Teutonen nicht blos Ideen hätten und Träume; sintemalen an dem neudeutschen Geschlechte der Turner auch Muskeln entdeckt worden seien, verhältnißmäßig ganz respectable Muskeln, dito Sehnen und Gliedmaßen, beinahe so fest und brauchbar, als wären sie durch Cricket und Boxen entstanden. Schiller und Goethe, Humboldt und Beethoven und der düngerkundige Liebig haben dem deutschen Namen bei denkenden Engländern einen guten Credit eröffnet; aber in breiteren Kreisen, tiefer und plötzlicher wirkten am Tage von Sydenham die hohen Sprünge der Turner. Der Eindruck dieser „wahrhaft moralischen und feierlichen Demonstration von physischer Kraft“, wie ein bekannter Friedensfreund das Fest zu beloben pflegte, machte sich in vielfacher und wohlthuender Weise bemerkbar.

Allmählich erregte die teutonische Turnkunst die Aufmerksamkeit praktischer Volksfreunde und es wurde ernstlich daran gedacht, die deutsche Gymnastik auf britischen Boden zu verpflanzen, namentlich zu Nutz und Frommen der ärmeren Jugend in den riesengroßen, stickluftigen Fabrikstädten. „Aber,“ meinte eine englische Freundin nicht ohne Grund, „glauben Sie mir, es ist nur ein augenblicklicher Einfall. Das Turnen wird bei uns niemals fashionable, nie eine noble Passion werden; es ist gar keine Passion [184] darin. Es mag recht gut sein für die Deutschen, die zum Sport nicht genug Unternehmungsgeist und – ohne Sie beleidigen zu wollen – nicht genug Geld besitzen; aber daß es je unser Wettrudern und Wettrennen ersetzen könnte, ist eine lächerliche Einbildung. Das Ding müßte jedenfalls erst recht englisirt und nicht so methodisch betrieben werden; es ist nicht ‚genteel‘ und dann zu – deutschthümlerisch.“

Aus der Dame sprach ein feiner Instinct. Bei englischen Sport mischt sich das Cavaliermäßige mit dem Commerciellen. Hunderttausende von Londoner Lehrjungen und Krämern, die vielleicht nie in einem Sattel sitzen werden, wetten Jahr aus und ein auf den Renner Babylon oder Alexandra, den sie nie gesehen haben; aber sie wissen, daß es aristokratische Thiere sind. Um wie viel tiefer ist die Passion der wirklichen ‚Pferdefleischkenner‘, der Kirchthurmrenner, der Boxer und ihrer Mäcenaten! Der Geldeinsatz bezeugt und erzeugt die Sympathie für die Sache. Einer wagt seine Glieder, ein Anderer sein Geld, ein Dritter Beides zugleich und seinen gesunden Verstand obendrein. Der Sportgeist liegt im Blute des Engländers und durchdringt all’ sein Thun und Denken; waghalsig ist seine Speculation und auch seine Logik. „Was gilt die Wette,“ ruft Brown, „daß Deutschland noch in dreihundert Jahren nicht einig ist!“ – „Tausend Pfund Sterling gegen eines,“ sagt Jones, „daß Amerika bis dahin einen unumschränkten Kaiser hat“ , während Robinson und Consorten verschiedene hohe Summen darauf setzen, daß die Welt anno 1960 zu Grunde gehen und der Papst einen Tag später auf London Bridge sitzen und betteln wird. Dem zahmeren Deutschen fehlt dieser Sporn, er hat dafür einen andern, den der Engländer sich nicht anschnallen kann. Seine Turnhalle umschweben schwarz-roth-goldene Bilder, die dem Fremden entschwinden, wie der Duft und die Kraft eines schwach übersetzten Volksliedes. Es ist bekanntlich ein eigen Ding um die Uebertragung nationaler Sitten und Bräuche. Im Schlosse zu Windsor pflegte einst das Christkind zu bescheeren und diese Feier wurde daher eine Zeit lang fashionable. Da sah man bald in den Kaufläden Tannenzweige, und nachher eine Verbesserung: elegant gearbeitete, zur Füllung mit Gas ausgehöhlte, gußeiserne Weihnachtsbäume!

Aber England ist reich genug an Sports und braucht sie nicht aus der Fremde zu importiren. Genug, daß der Tag von Sydenham den hiesigen Deutschen gute Früchte getragen hat. Ein schon anno 1861 von Inch, Ravenstein, Heintzmann, Trübner u. A. angeregter Gedanke erhielt dadurch frische Flügel und eilte seiner Verwirklichung entgegen. Die Actien der zur Beobdachung des Turnvereins gegründeten „Gymnasium Company“ fanden bald patriotische Abnehmer, und im Laufe von ein paar kurzen Jahren erhob sich in der City Road ein stattliches Haus, die deutsche Londoner Turnhalle, deren freundlichen Gesellschaftssaal der treue Griffel C. Dammann’s hier dem Leser vor Augen führt. Es hieße der Bescheidenheit vieler Mitgründer dieses Hauses zu nahe treten, wenn man sie alle namentlich anführen wollte. Aber einige Beispiele des schönen Gemeinsinns, in welchem unsere hiesigen Landsleute den Engländern nacheifern, müssen hier doch einen Platz finden. Der Baumeister Grüning, der das Gebäude von der Schwelle bis zum First aufgeführt hat, opferte dem Verein sein ganzes Honorar von dreihundert Pfund Sterling, eine selbst im reichen England ansehnliche Summe. Viele Herren, darunter auch wohlwollende Engländer, verzichteten auf den Ertrag ihrer Actien. Und wer eine Ahnung von der athemlosen Hast des Londoner Lebens hat, wird ein gebührendes Gewicht auf die Opfer an Zeit und Kraft zu legen wissen, die dem Turnverein fortwährend von den talentvollsten unserer hiesigen Landsleute, von Aerzten, Musikern, Lehrern, Schriftstellern und gebildeten Kaufleuten, die zugleich künstlerische Anlagen besitzen, freudig und anspruchslos gebracht werden. Zwei Classen nur haben jede Aufmunterung der Turnerei vermieden; zwei arme Classen, von denen ein richtiger Turner sagen würde, daß sie zwar fromm nach ihrer Art und zuweilen in der Stille recht fröhlich, aber nicht frisch und frei von Herzen sind: die hiesigen deutschen Diplomaten und Pastoren. Es fehlt dem Hause trotzdem nicht an hohem amtlichen Schutz. Vor der Thür pflegt an Festabenden der friedfertige und bescheidene englische Policeman zu stehen, der den Gästen und ihren Damen beim Aussteigen aus dem Wagen behülflich ist, Fremden Auskunft ertheilt und den Eingang vor Taschendieben, Gassenjungen oder betrunkenen Eindringlingen behütet. Die gesetzliche Freiheit Englands ist gar nicht zu verachten.

Steigen wir die Treppe hinauf, um in die sogenannte „Kneipe“ zu treten. Der Raum ist ziemlich voll; der Zeiger an der Uhr sagt, daß es Zehn geschlagen hat und daß die Burschen, die sich brav in der Halle unten getummelt haben, nach ihrem Bier und Abendbrod verlangen. Es scheint kein ganz gewöhnlicher Abend zu sein, denn im Vordergrunde sehen wir ein paar der seltneren, aber stets mit Vorliebe empfangenen Besucher. Das Gesicht mit dem scharfen und schönen Profil an der Tafel links gehört einem Manne, dessen kunstsinnige und schwungvolle Rede die Londoner Deutschen oft begeistert und viel dazu beigetragen hat, in die Unterhaltungen dieser Versammlung einen edlen Ton zu bringen; es ist Gottfried Kinkel. Ein passendes Gegenstück bildet der kräftige, etwas trotzig republikanische Kopf von Carl Blind, der für Schleswig-Holstein so manche gute Lanze gegen den englischen Eigensinn gebrochen hat. Die Fama erzählt von seiner Thätigkeit merkwürdige Dinge; er soll, wenn er sich an den Schreibtisch setzt, zehn Finger an der rechten Hand besitzen und in fünf verschiedenen Sprachen für seine Principien streiten. Ravenstein – man erkennt ihn an den sanften und festen Gesichtszügen – der als Sprecher und Turnwart durch seine aufopfernde Liebe zur Sache zu den Hauptstützen des Vereins gehört, fehlt natürlich selten. Cyriax lehnt am Piano und wird uns vielleicht eine Phantasie vorspielen; es ist jammerschade, sagen die Kenner, daß er nicht ganz seinem entschiedenen Beruf für die Tondichtung folgt. Aber warum lächelt der junge Mann unter der Büste des alten Jahn so schalkhaft? Kann der humoristische Winter, unser Kneipwart, anders als lächeln, wenn er eine so fidele Gesellschaft beisammen sieht? Jagen sich nicht schon in seinem Gehirn die lustigsten Einfälle und Improvisationen? Und würde sich Jemand wundern, wenn ein Geschichtsforscher den Beweis führte, daß unser Winter von Till Eulenspiegel abstammt?[1]

Es sind in diesem Verein fast alle europäischen Nationen vertreten, und außer den Deutschen bilden Engländer die Mehrzahl, Engländer, die im Umgang mit den Teutonen sich immer mehr der alten Stammverwandtschaft bewußt werden, die sich dafür verbürgen, daß der oft brummige, aber im Grunde sehr ehrenwerthe und redliche britische Löwe der Germania nie was zu Leide thun werde, die als Zeichen ihrer ernsten Freundschaft das ch aussprechen lernen und wie einen Talisman das schwarz-roth-goldene Band um den Nacken schlingen. Den geistigen Ton geben die Deutschen an, aber man glaube nicht, daß unter diesem Dache fortwährend politisirt werde. Die Deutschen legen in der Fremde auch viele ihrer Erbfehler ab und lernen von den Engländern einige Duldsamkeit gegen einander üben. So wie der Nord- und der Süddeutsche hier die Entdeckung machen, daß sie trotz kleiner, mundartlicher Verschiedenheiten sich sehr gut verstehen und verständigen können, so verträgt sich auch der Republikaner mit dem Constitutionellen, und die rein nationale Gesinnung, das allein wird zur allgemeinen Parteifarbe. Das Gefühl in der Fremde zu sein – etwas Salzwasser rundum – wirkt Wunder.

Es ist eine gemüthliche Stube, diese deutsche Kneipe auf englischem Boden, sie ist nicht nur ein behaglicher Rastort, sondern zugleich Schauspielhaus, Concertsaal und Parlament. Wenn dort die Becher klingen, wenn man die traulichen Mienen der cameradschaftlichen Turner sieht, wenn die Lieder von den „Burgen hoch und hehr an des Rheines kühlem Strande“ ihm in’s Ohr fallen, dann wird wohl manchem Deutschen schwach zu Muthe. Ein goldener Sonnenstrahl fährt durch die dicke Nebelwand, hinter der er auf dieser Insel sitzt; durch ein himmelblaues Fensterchen blickt er tief und weit hinein in das lustige Altdeutschland und denkt: Die Gemüthlichkeit ist doch kein leerer Wahn und „trotzdem und alledem“ ist das deutsche Leben doch das schönste auf Erden. Er hört auf keine Warnung mehr, sondern geht hinab zur Themse, nimmt ein Schiff und fährt über die grüne Nordsee und die trübe Elbe hinauf bis Magdeburg, vielleicht bis Dresden, fängt laut zu reden an, und wird am Ende wieder aus Deutschland hinausgeworfen.



[185]
Noch ein Geisterschwindel.


Als die Manie des Tischrückens, Geisterklopfens und Geisterschreibens (Psychographirens) von Amerika aus über unser Deutschland zog, waren plötzlich selbst ruhig denkende Menschen in ihren bisher so festen Ueberzeugungen, daß etwas Uebernatürliches nicht existire, wankend geworden. Man setzte sich um den Tisch und bildete durch Berühren der Hände die magische Kette, welche nach und nach durch „magnetische Strömungen“ das bisher für todt gehaltene Möbel in schwankende, drehende, toll wirbelnde Bewegung versetzte. Man vernahm im vordem friedlichen Hausrathe auf Befragen der hierzu Berechtigten und Inspirirten ein unheimliches Klopfen, das der Geübte in gutes Deutsch übersetzte. Man ließ die zur Geisterschrift nöthigen Apparate durch Auflegen der Hände magische Schriften auf das Papier werfen, die mit Domenich’s „Buch der Wilden“ oder den ersten Schreibversuchen eines Schulbuben einige Aehnlichkeit hatten.

Jetzt lächelt man über derartigen Hokuspokus, begreift nicht, wie man selbst nur einen Augenblick daran glauben konnte, und nennt ihn ganz einfach – Schwindel, oder gegenüber „zartbesaiteten“ Damen eine „angenehme Täuschung“. Trotzdem aber taucht immer von Zeit zu Zeit noch Einer oder der Andere auf, der es nicht lassen kann, Geister zu citiren oder sich als zum Verkehr mit denselben befähigt darzustellen. Nicht daß solche Leute immer Betrüger wären, obgleich wohl die meisten nur darauf speculiren, der leichtgläubigen Menge den Beutel zu leeren. Nein, es sind auch Menschen darunter, die eigentlich an einer fixen Idee leiden und sich so lange in phantastische und mystische Träumereien hineingedacht haben, daß sie zuletzt selbst an die Gebilde ihrer Phantasie glauben. Zu bedauern sind solche Leute, denn der erfahrene Seelenarzt erkennt in ihrem bisher nur lächerlichen und unschädlichen Treiben bereits die Keime bedenklicher Geistesstörung.

Als die Gebrüder Davenport sich in ihrem Zauberschranke festbinden ließen, nach Verschluß des Schrankes die ärgste Höllenmusik anstimmten, ab und zu einen Arm herausstreckten und doch beim Wiederöffnen wie vorher fest angebunden dasaßen, konnte man dies ein amüsantes Kunststück nennen, bei dem die Geister ganz unbetheiligt waren. Dennoch erhob sich bei ihren Vorstellungen und bei ihren Geisterbeschwörungen ein solcher Sturm des Unwillens, daß sie kaum persönlich sicher waren. Nichtsdestoweniger hatte das Ganze den Reiz der Neuheit und den Charakter einer Vorstellung, deren Geschicklichkeit unbedingt Beifall verdiente. Anders steht es mit dem neuesten Cagliostro, den unser Vaterland den Seinigen nennt, mit Dr. F. Epp in Heidelberg, welcher jetzt in einem Schriftchen: „Seelen-Kunde“ (Mannheim 1866) das Resultat zwölfjähriger Forschungen und Beobachtungen veröffentlicht, nachdem er die Geister-Epidemie von 1853 und die „Indischen Geisterbeschwörer“ seinem Studium unterworfen hat. Nach der Vorrede glaubt man, es mit einem sehr gelehrten Manne zu thun zu haben, denn man erhält, die Versicherung, daß die Beobachtungen „mit Umsicht und ohne Vorurtheil“ angestellt sind. Arm in Arm mit Hornung und Berthelen, deren Werke dem Verfasser Einsicht in den Standpunkt des Spiritualismus in Deutschland gewährten, fordert Epp sein Jahrhundert in die Schranken, wo die Geister fechten. „Der Geist,“ sagt Epp, „ist anders, als die Kraft des Leibes; er ist seelischer Natur und nicht das Ergebniß des Stoffs. Auch verbreitet er sich nicht auf dessen Art. Der Geist ist auch nicht die magnetische Kraft, welche den Weltraum erfüllt, wohl aber ist diese das Mittel, wodurch der Geist in die Erscheinung tritt. Der Geist war vor dem Magnetismus da. Das ganze Weltall ist erfüllt, sowohl von der geistigen, wie von der magnetischen Kraft. Tritt erstere zur letzteren, so arbeitet sie vermittelst derselben und giebt sich dem sterblichen Menschen kund.“

Diese Probe aus den geistreichen Speculationen unseres „Geistersehers“ zeigt schon, daß uns in ihm kein normaler Mensch gegenübersteht, sondern ein Vertrauter der Geisterwelt, denn die eben citirte Weisheit hat ihm „am 27. Juli 1865 der Geist der Liebe durch den Psychographen dictirt“. Jedenfalls dankt Epp diesem Geiste auch die Mittheilungen, daß „die geistige Thätigkeit der Seelen abgestorbener Menschen im Jenseits keineswegs an die Sinnesorgane gebunden ist, wie ein irdischer Körper, daß sich aber die Seele, wenn sie mit dem Menschen in Wechselverkehr tritt, des Nervensystems der Person bedient, welche das Medium bildet“. „Dennoch,“ so erfahren wir, „sehen, hören und denken die Geister ohne Apparate, wiewohl sie sich zur Orientirung gewisser Dinge auch gern gewisser ihnen vorgelegter Apparate bedienen.“

Der Hume unserer Nation bezeichnet es nach diesen gewichtigen Präliminarien als einen Fortschritt, daß man in Deutschland endlich anfängt, wieder zu dem Magnetismus zurückzukehren und vermittelst der magnetischen Kraft die Geistermanifestationen zu erklären. Uns war bis heute von einer solchen Rückkehr noch nichts bekannt, doch weiß das wohl nur ein richtiger Hellseher zu beurtheilen und wir müssen es dem Verfasser daher glauben, der nebenbei einen sehnsüchtigen Rückblick auf die schöne Zeit des Tischrückens wirft, von welcher Kunst er versichert: „Würde sich der Tisch blos bewegen, so möchten die Erklärer dieses nur mechanischen Phänomens mit ihrer Erklärung ausreichen; aber der Tisch bewegt sich von der Stelle, kreist, hüpft, tanzt, schlägt den Tact nach der Musik; er antwortet auf Fragen, ist ein guter Rechenmeister, ABC-Schütz und Silbenstecher; er läßt sich in Combinationen abstracter Dinge, ja in die Lösung philosophischer Aufgaben ein – Alles, was sonst nur einem fühlenden, denkenden Wesen zukommt.“ O, ihr glücklichen Tischler, die ihr die Fähigkeit besitzt, solche Geister ersten Ranges anzufertigen, ihr seid ja demzufolge mehr als die gelehrtesten Professoren!

Doch ich will nicht spotten; sonst dürfte mein Arbeitstisch, an welchem ich diese Zeilen niederschreibe, rebellisch werden und mir eine gehörige Züchtigung ertheilen. Denn hier steht es groß gedruckt: „Wer meint, daß der Spuk der Klopfgeister auf Einbildung oder Betrug beruht, dem kann es geschehen, daß er selbst gegen seinen Willen auf eine unliebsame Weise von ihnen heimgesucht wird.“ Also Respect!

Daß sich die Existenz solcher Geister nicht beweisen läßt, was liegt daran? „Ob die Franzosen den lieben Gott einmal abgesetzt haben oder wieder anstellten, in der Welt ist er, war er und wird er sein, trotz alledem! Wenn die Geister aus Caprice gegen die Materialisten nicht in die Erscheinung treten, sind sie etwa deshalb nicht vorhanden?“ Alfred Douai meint, um diese Geister wahrzunehmen, müsse man wahrscheinlich in die dunklen Hinterstübchen der Spiritualisten. Herr Dr. Epp versichert, daß man sie auch in seinem Vorzimmer und zu jeder Tageszeit wahrnehmen, daß man sie aber nicht zwingen könne, sich vor einer Jury wissenschaftlich gebildeter Deutscher durchaus zu legitimiren. Uebrigens können die Zweifler lange warten! Ihnen offenbart sich kein Geist. Wer nicht „reinen Herzens“ ist, erhält keine schätzbare, geistige Mittheilung; auf keinen Fall die bösen Gelehrten, die Alles bekritteln und leugnen, was spiritualistisch ist! Einer der Bösesten ist nach Epp’s Ansicht Schleiden; von diesem ruft er aus: „Wenn die Gelehrten einen Geisterseher nicht für einen Dummkopf erklären können, so erklären sie ihn für einen Narren oder Betrüger, wie Schleiden den Schwedenborg (soll wohl heißen Swedenborg), obgleich Letzterer mehr Geist in der kleinen Zehe gehabt hat, als der moderne Professor im ganzen Hirnkasten.“ Das ist eine recht entschiedene Sprache, wie sie nur das stolze Bewußtsein geistiger Ueberlegenheit dictiren kann, welches mit der Bekanntschaft mit äußerst vornehmen Geistern – und Epp verkehrt meist nur mit den nobelsten der abgeschiedenen Seelen – entspringt.

Nicht alle jene Geister sind nämlich gleich gebildet, sondern es giebt, je nach ihrer vormaligen irdischen Bildung, unvollkommenere und vollkommenere Geister; zugleich äußert sich jede Seele in der Eigenthümlichkeit, welche ihr in dem irdischen Leibe je nach ihrer Individualität entsprach: die Seele eines schüchternen, jungen Mädchens äußert sich durch leises Klopfen des Tischfußes, die einer geschwätzigen Alten durch häufig wiederholtes Klopfen, die eines Grobian durch ungestümen, flegelhaften Lärm, die eines Greises durch Zittern. Ein böser, dämonischer Geist, den Epp am 29. December 1864 in Philadelphia citirte, war ungeheuer grob, er schimpfte z. B.: „Himmelheiligkreuzdonnerwetter“, äußerte sich frech, zudringlich, koboldartig, zuweilen auch humoristisch. Er hatte eine merkwürdige Hieroglyphenschrift und zeichnete mit großer Fertigkeit, was uns durch Holzschnitte veranschaulicht wird.

Die Gesetze, nach denen man Geister citirt, sind, wie erwähnt [186] demjenigen, der diesen überirdischen Verkehr nur zur Belustigung und Unterhaltung treibt, ein verschlossenes Buch. Wer aber mit Ernst und ganzer Seele jener Wissenschaft sich widmet, kann die Geister durch Nerveneinwirkung auf oder in den Gegenstand oder Menschen bannen, den er berührt oder auf den er seinen Willen richtet. Auf diese Weise war Epp, der jedenfalls „viel reines Gemüth und magnetische Kraft“ hat, im Stande, eine Legion von Schatten Dahingeschiedener heraufzubeschwören, und zwar mittelst des Psychographen, der „besonders dazu disponirte“ Personen in den Stand setzt, auch „ohne Medium“ Geister zu citiren, wenn sie sich durch fortgesetztes Experimentiren üben. „Alles unter der Sonne will gelernt sein!“ ruft er aus. „Man beobachte daher beim Psychographiren Ruhe und gefaßte Stimmung. Das Oeffnen von Thüren und Fenstern, das Ein- und Zutreten fremder Personen in das Zimmer oder zu dem Tische, aus welchem geschrieben wird, Unruhe, Schreien, Fluchen, Toben ist den Geistern ebenso zuwider, wie Lachen, Scherzen, Spotten oder Verhöhnen. Auf den Ruf erscheinen sie zu jeder Tageszeit, am liebsten in der Nacht und zur Zeit von Epidemien. Wenn sich der citirte Geist anfängt heimisch zu fühlen, dann setzt er den Citirenden durch die Schönheit und Correctheit der Schrift, durch die Consequenz und das Treffende der Antworten, durch die wunderbaren Enthüllungen etc. in wahres Erstaunen. Zugleich bemerkt man, daß die Schrift der verstorbenen Person, welche sie repräsentirt, ähnlich, ja oft vollkommen gleich ist, besonders wenn das Medium, durch welches der Geist schreibt, jung ist.“

Alle diese Erscheinungen beruhen nach Epp’s Meinung auf Naturgesetzen, die aber von den Gelehrten voreilig beleuchtet und „sufficant“ (der Verfasser steht offenbar mit der Orthographie auf gespanntem Fuße) erklärt wurden. „Faraday machte mit seiner hölzernen Definition Fiasco und Humboldt hüllte sich in vornehmes Schweigen.“ Und dennoch ist die Wissenschaft so alt, daß sie in die frühesten Zeiten zurückweicht und schon vor Epp durch die ägyptischen Priester, durch Moses, die Propheten, Christus und die Apostel ausgeübt wurde. Die redenden Steine (Betylen), das Mene tekel upharsin, die Eucharistie, Alles waren psychographische Experimente. Wenn der Materialist dies nicht glauben will, so ist dies für ihn nur ein Unglück; er wird alsdann vollkommen bemitleidet und verdammt, wenigstens von Epp, welcher zugleich erklärt, daß ihm diese Märtyreraufgabe, die Frage nach der Existenz der Geister zu beantworten, durchaus nicht sehr angenehm ist, „weil dieser Gegenstand von der Kirche verpönt, von der Wissenschaft verachtet, von der profanen Welt verschrieen, von den Nationalisten ignorirt wird“. Nur die katholische Kirche – und da scheinen die Katzenpfoten des Verfassers zu stecken – nur sie mit ihrer Lehre vom Fegefeuer, ihrem Exorcismus etc. steht dem Herrn Doctor hoch; für sie macht er eifrigst Propaganda. Der Protestantismus hingegen ist, seiner Meinung nach, bereits an die Grenze gelangt, wohin ihn seine Consequenzen führen mußten, nämlich zum Materialismus, Atheismus, Nihilismus. Diese sichtbare Auflösung konnte, sagt er, Niemandem angenehmer sein, als den Juden, die aus christlicher Zerfahrenheit Vortheil ziehen. Man sieht, Herr Epp nimmt einen Standpunkt ein, der seinen sonstigen Weisheiten entspricht.

Die ersten Versuche, Geister zu citiren und schreiben zu lassen, machte er im Winter 1864 bei Dr. Tiedemann in Philadelphia. Nicht lange währte es, so erhielten zwei seiner Kinder dadurch, daß Epp seine Hand auf die einen Bleistift über Papier haltende Kindeshand legte, die Fähigkeit zu psychographiren. Auch den beiden älteren Töchtern theilte er die Kunst mit, wobei sich in deren Armen oft die stärksten Zuckungen einstellten. So machten nicht nur die beiden Söhne Tiedemann’s, die im amerikanischen Kriege gefallen waren, Mittheilungen, sondern auch der alte berühmte Anatom Geheimrath Tiedemann, der treu in seiner einstigen Schreib- und Denkart sich äußerte. Es theilte ihm derselbe am 24. Februar 1865 unter Anderem mit: „Die wahre Religion ist die des reinen Herzens; ihr Muster ist die apostolische.“ Die biblische Schöpfungsgeschichte erklärte er für Fabel. „Adam sei ein Naturkind mit guter Anlage zum Fortschritt gewesen.“ Uebrigens erklärte sich Tiedemann als „gläubig-conservativ“. Länger sind die Unterhaltungen, die Epp mit Jesus, Maria und Johannes hatte.

Epp frug Johannes wie folgt:

„Wie kommt es, daß Ihr Jesus als Sohn Gottes erklärt habt?“

Johannes: „Weil wir ihn verherrlichen wollten.“

„Und wie konntet Ihr die Maria als Mutter Gottes erklären?“

Johannes: „Das haben wir nicht gethan. Wir verehrten sie nur als die Mutter Jesu.“

„Wer war der leibliche Vater von Jesus Christus?“

Johannes: „Vobiscus, der römische Dominus. Er war Tempelvorsteher zu Jerusalem. (Hier folgt eine Stelle, die wir nicht abdrucken mögen.) Er gab der Maria dreitausend griechische Drachmen Aussteuer und dem Joseph, der ein armer Zimmermann war, noch dreihundert Drachmen. Vobiscus gehörte zur Gesellschaft der Essäer. Die Wunder Jesu waren nothwendig, um die Welt an ihn glauben zu machen. Die Welt wird einmal vergehen und dann wird Christus kommen und richten die Lebendigen und die Todten.“

„Ist denn Jesus der Sohn Gottes?“

Johannes: „Ja, er ist’s, aber nicht auf die Weise, wie auf Erden geglaubt wird, sondern auf andre Art. Der Sohn Gottes ist nur ein göttlicher Geist. Die Geister der Menschen sind zwar alle göttlichen Ursprungs, aber nicht so ausgebildet, wie der Geist von Jesus Christus. Jesus kam nach der Kreuzigung wieder in das Leben und lebte noch zwanzig Jahre zu Jerusalem, in dem Hause des Nikodemus und ist auch da begraben. Wir Apostel wußten dieses. Als Jesus den Jüngern in dem Hause erschien, ging er durch eine geheime Thür. Als er gekreuzigt und im Grabe beigesetzt war, lag er vierundzwanzig Stunden in Ohnmacht. Wir, Johannes, Nikodemus, Joseph von Arimathia und einige zuverlässige Männer, kamen vor das Grab, kauften die Wache und wälzten den Stein von dem Eingang. Der Leichnam lag noch in den Tüchern und wir entfernten diese. Hierauf nahm Joseph von Arimathia eine Phiole mit Riechgeist und hielt diese geöffnet unter die Nase. Jesus gab Lebenszeichen von sich und zog seine Glieder zusammen. Wir legten ihn in eine Tragbahre und trugen ihn in das Haus von Joseph von Arimathia, wo er vollends zu sich kam. Das Geheimniß blieb unter uns. Der Jüngling, der den Frauen am Grabe erschienen, war der junge Joseph von Arimathia. Die Mutter erfuhr es durch mich. Jesus hatte seine Kenntniß der Geisteskraft von dem Stiefvater Joseph; dieser von Johannes dem Aeltern, dem Vater Joseph’s des Zimmermannes. Moses, Elias, die Propheten Micha, Jeremias, Jesaias, Ezechiel, Daniel und Andere hatten diese Kenntniß der Geisteskraft gehabt und sie erbte über von Geschlecht zu Geschlecht durch Mittheilung.“

Der Geist des Alexander von Humboldt, hierüber befragt, theilte Folgendes mit:

„Vobiscus (also der Vater des Christus) war ein Germane aus der Gegend von Paderborn, von fürstlichen Eltern geboren. In seinem sechszehnten Jahre trat er in eine deutsche Legion und kam mit dieser nach Rom und von hier unter Cnejus Pompejus mit einem gewissen Lentulus nach Palästina. Hier wurde er praefectus cohortis mediae und hospes Judaeorum und zu Jerusalem Praetor templi Judaei. Er war schon zwanzig Jahre in Palästina, als er Maria kennen lernte. Er war Essäer und sah sie zuerst in Nazareth bei Gelegenheit einer Rundreise.“

Einmal erzählt ihm Jesus: „Ich bin abgespannt. Ich erfuhr, daß in Berlin psychographirt wurde; es waren viel Professoren und hochstehende Personen da, die aber Atheisten waren.“ Ein ander Mal ist Jesus ermüdet: „weil er in Heidelberg eine Controverse über Religion hatte, bei der er sich sehr ereiferte“. Ferner lehrt er den Herrn Epp, „man solle, wenn man die Geister befragen will, mit einem ‚Vater Unser‘ anfangen und endigen,“ und erklärt selbst bei dieser Gelegenheit: „die katholische Religion sei die wahre.“

Von sonstigen Geistern, die Epp citirt hat, nennt er Schiller, der einmal die Worte niederschrieb:

Ich höre rauschende Musik,
Des Schlosses Fenster sind erleuchtet.
Wer sind die Fröhlichen?

Worte, die, wie Epp später erfuhr, im Wallenstein vorkommen. Schiller war übrigens sehr schreibselig und philosophisch; er hatte einen Hang zum Versemachen behalten, ohne daß diese Producte jedesmal den bekannten classischen Werken des Dichters entsprechend gewesen wären. Wenn Epp’s elfjähriger Sohn psychographirte, waren angeblich sowohl die Verse besser, als die sonstigen Aeußerungen freier. Einmal erklärte er freilich, „die katholische Religion sei die beste“; ein anderes Mal schrieb er die geflügelten Worte nieder:

[187]

„Heute müßt Ihr Euch besinnen,
Was das Schicksal mag Euch spinnen.
Und das Unglück bricht herein.
Doch da ist das Glück nicht fern.
Wo die Noth am größten ist,
Denket an den Herrn.“

O, Du armer Schiller! Wie sehr ist nach dieser Probe Deine poetische Ader im Elysium versiecht! Oder solltest Du diese Zeilen nur in einer üblen Stimmung dictirt haben? Vielleicht aus Aerger über Heine, der dort drüben, Herrn Epp zufolge, immer noch „lascive Gedichte schreibt und sich unanständiger Ausdrücke bedient“, zugleich aber, wie alle Anderen, den katholischen Glauben als einzig wahren anerkennt. Oder verdrießt es Dich, was Maria Stuart dem Herrn Epp mittheilt: „Ich kam,“ erzählt die hohe Frau, „sechs Minuten nach der Enthauptung zum Bewußtsein. Ich sah lange Gestalten, wie Menschen in langen Gewändern über einen Abgrund, der in der Tiefe dunkel war, auf- und abschweben und sich an mich herandrängen. Darüber war es helle. Ich sah mich selbst gottähnlich, gottgeweiht, gottgebenedeit, gottgerecht, gottgeboren, gottgesalbt, gottgebildet. Viele Anschuldigungen, die man mir zur Last legte, sind unwahr. Elisabeth ist die Urheberin meines Todes. Ich habe sie gesehen nach ihrem leiblichen Tode. Sie kam zu mir flehend. Ich sagte: ‚Elisabeth, warum hast Du mich getödtet?‘ – Sie bat: ‚O vergieb mir!‘ – Ich vergab ihr.“

Marie Antoinette beklagt sich sehr, daß sie so jung sterben mußte, und legt ein besonderes Sündenbekenntniß ab, das Epp aus Discretion nicht mittheilt. Dagegen erzählt er uns, daß Ludwig der Sechszehnte ihm prophezeite, nach Napoleon’s des Dritten Tode werde in Frankreich Revolution ausbrechen, und daß Katharina die Zweite, die ihm am 9. Juni 1865 psychographirt, ihren Zustand nach dem Tode folgendermaßen schildert:

Katharina: „Ich war kaum verschieden, so nahm ich auch meine Seele wahr, wie sie gottgeweiht zu werden wünschte, aber nicht konnte wegen der vielen Sünden, welche ich im Leben begangen habe. Ich sah mich dort angehalten durch Menschen, welche von mir im Leben gestraft worden waren, und die sich zuvor von einander Nachricht gaben; – ich sah Menschen, welche ich gezüchtigt hatte, mich anklagen – und wohlgebildete Männer, welche ich mißbraucht hatte, mich verurtheilen. Ich war zwanzig Jahre im Raum der Bösen und anbetete Gott, daß er mich erlösen möge aus dem schrecklichen Ort der Trübsal und des Schreckens, und ich war zwanzig Jahre am Orte der Mörder und bat Gott, er möge mich erlösen aus diesem Orte des Jammers, und ich war zwanzig Jahre zu Zarskojeselo und konnte Alles sehen, was da vorging – und sah mich verachtet und vergessen da, wo ich früher so mächtig und so angebetet war. Das größte Verbrechen, welches ich begangen habe, war der Mord an meinem Gemahle, und ich habe schwer gebüßt. O, Du guter Mensch! – sage meinem Kaiser, er möge mich zu sich rufen; ich will ihm Mittheilungen machen, daß ich gewiß weiß, wer ihm bald das Leben nehmen will.“

Sand erzählt auch ganz ergötzliche Dinge. „Als ich wieder zum Bewußtsein kam, sah ich lange Gestalten lobsingend über weite Flächen schweben. Ich wurde gottähnlich, gottbegeistert, gottgeweiht, gottgebenedeit. – Ich sah auch Kotzebue, den ich ermordet hatte: ich bat ihn um Vergebung. Er vergab mir. Wir verständigen uns durch geistige Mittheilung. Der Mord ist in keiner Weise erlaubt. Ich habe meine Missethat eingesehen und bereut. Ich bin jetzt selig.“

Aus Johannes Müller’s Mittheilungen geht hervor, daß es eine vom Gehirn unabhängige Seele gäbe, während Schönlein seiner Verehrung für Jesus Ausdruck verleiht, dem Dr. Epp in Krankheitsfällen trefflichen (unentgeltlichen!) Rath ertheilt und ihm anvertraut, daß die Geister lieber runde, dreibeinige Tische rücken, als eckige, vierbeinige. Der jüngst gefallene amerikanische General Jackson hatte sogar die Gefälligkeit, sich selbst mit Uniform, Armirung und Pferd, sowie die Scene seines Todes zu zeichnen, wobei er erzählte, daß er durch das Feuer der eigenen Soldaten gefallen sei. Die Seele Napoleon’s des Ersten äußerte sich, indem der Tisch mit heftigen Sprüngen sich bewegte und förmlich ausschlug. Die schriftlichen Antworten waren präcis und consequent, bald in deutscher, bald in französischer oder italienischer Sprache. Der Kaiser sagt, daß es ihm Anfangs nach dem Tode wegen der öden Stille „schrecklich“ gewesen wäre; erst nach zwanzig Jahren sei der Zustand etwas erträglich geworden. Er sprach sich, besonders gern mit Militärs, als fachkundiger Politiker aus, konnte aber geborene Preußen nicht leiden. Alexander von Humboldt findet das Leben dort oben „langweilig“, erklärt sich für das apostolische Glaubensbekenntniß, bereut, daß er bei Lebzeiten das Tischrücken für Täuschung gehalten habe, und giebt eine genaue Anweisung zum Psychographiren, ein Dictat der psychographischen Gesetze und eine Abhandlung über den Bastard des Menschen und Affen. Und inmitten der heraufbeschworenen Schatten, die eine zauberhafte Formel aus den düsteren Gründen des Tartarus emporzog, steht, das Herz voll Reinheit und die Hand voll Magnetismus, Herr Dr. Epp aus Heidelberg, der Geisterseher und Geisterfreund par excellence, dessen Ruf die Geister Folge leisten und mit dessen zwar geisterreichen, aber nichts weniger als geistreichen Erzählungen wir dem Leser ein Viertelstündchen geraubt haben, das er vielleicht mit „Nichtsthun“ noch besser verbracht hätte.




Beim Hagelsturm in den Alpen.
Von H. A. Berlepsch.


Ganz hinten im letzten Winkel des Veltlins, an der Grenze von Graubünden und Italien, wo das Thal mit himmelhohen Felsen vermauert ist und es außer der Stelvio-Straße nur ungebahnte Auswege durch’s Val di Dentro, Val Fraele und Val Furva giebt, liegen die von Schweizern und Italienern ehedem noch mehr als jetzt besuchten Bäder von Bormio. Von diesen will ich in einem nächsten Artikel erzählen. Für heute ist es mir darum zu thun, den Gartenlaube-Freunden einen Gebirgs-Uebergang kennen zu lehren, den man noch auf wenig Karten finden wird. Es ist der Passo di Gavia.

Beim Städtchen Bormio öffnet sich südöstlich das vom gletscherentsprossenen Fredolfo durchströmte Val Furva. Der Eingang ist nicht vielversprechend: ein schmales Sträßchen, das halb trocken liegende, breite, von großen Rollblöcken und Gesteinstrümmern erfüllte Flußbett zur Seite, armselige Dörfer mit ruinenhaften Steinhäusern und freskenbemalten Capellen, Alles von Bergen begrenzt, die das Interesse nicht besonders erwärmen können; das ist der General-Eindruck.

Aber hinter Contrada di San Nicolo steigert sich’s mit einem Mal; die blendend-weiße, scharfkantig-geschnittene Firn-Pyramide des Pizzo Tresero (11869 Fuß) tritt plötzlich in des Thales Tiefe hervor, ein Ueberraschungsmoment von drastischer Wirkung. Nun wird’s waldig, tannendunkel. Die Straße steigt und zur Rechten, tief drunten, schäumt in jugendlich wildem Humor der Fredolfo-Bach seine eintönige und doch harmonische Oberstimme in das Natur-Concert, welches der Wind durch die Gipfel rauscht. Diese Landschafts-Symphonie wächst; der Decorativ-Ausputz wird immer prächtiger, wild-erhabener, und wem das Hirn noch nicht über allem Suchen nach dem arithmetischen X selbst zu einer unbekannten Größe vertrocknet ist, der muß, wenn anders die wettermachenden Atmosphärilien ihm einen kornblumenblauen Himmel schenken, hell aufjauchzen vor Freude. Mir wenigstens ging’s damals so, als ich mit meinem getreuen Conrad, dem stalliere aus den Wormser Bädern, doppelt beritten da hineintrabte. Er kauderwelschte ganz vortrefflich das bergamaskische Patois, war ein unerschrockener, derbknochiger, großer Bursch, der viele der verborgensten Felsengassen dieser Gegend kannte und eine Orientirungs-Spürnase hatte wie ein Prairiehund – aber über den Gavia war er noch nicht gegangen.

Eben läutete es zum Mittagessen, als wir bei den kohlensaueren Stahlquellen von Santa Catarina einzogen. Die Hälfte der dortigen Luftschnapper, Magenausspüler und Nervenstärker sind Geistliche, Weltpriester, Leute des Schlages, von denen auch in Italien zwölf auf ein Dutzend gehen und man gern noch einen drein gäbe, wenn die Sorte nur abginge. Wie es mit der Bildung des niederen Klerus in Italien steht, ist genugsam bekannt. [188] Gleich Wunderthieren wurden wir begafft, etwa wie eine europäische Expedition, die zu äquatorialen Neger-Völkern kommt. – Ich hatte einen Empfehlungsbrief an den dortigen Arzt, Dr. Cataneo; er war augenblicklich nicht zugegen. Erkundigungen, ob man mit Pferden über den Gavia könne, wurden vom Badewirth erst unbedenklich bejaht, dann achselzuckend verneint und schließlich ergab sich’s, daß eigentlich kein Mensch so recht wußte, wie man daran sei. Da redete mich ein militärisch aussehender junger Mann deutsch an.

„Ueber Passo di Gavia wollen Sie? Ihr Führer kennt den Weg nicht? Sie wollen wissen, ob man mit Pferden hinüber kann? Ich bin fremd hier, wie Sie, und kenne die Passage nicht. Auf das, was die Menschen da durcheinander schwatzen, können Sie nicht gehen; die wissen alle nicht mehr als wir Beide. Ich werde Ihnen behülflich sein, das Rechte heraus zu finden!“

Nachdem ich dem freundlichen Officier meinen Namen und den Zweck meiner Reise (Studien zu einem Reisehandbuche für die östlichen Alpen zu machen) mitgetheilt hatte, erschöpfte er sich in Aufmerksamkeiten, war bei der Auswahl des ortskundigsten Führers entscheidend, indem er einem gewissen Bertolini Santo den Vorrang gab, diesen nochmals einläßlich wegen der Pferde examinirte und mir schließlich rieth, das Pferd des stalliere nach Bormio mit einem eben dorthin abgehenden zuverlässigen Boten zurückzuschicken, dagegen das meinige, das ihm kletterfester schien, mitzunehmen. Wir tauschten unsere Karten. Er war Ungar von Geburt, jetzt Lieutenant bei den königlich italienischen Carabiniers, sein Name Edmondo di Pauliny.

Von ihm und der halben Curbevölkerung begleitet, schieden wir, da, wo der rüde, stolperige Pfad zu steigen begann. Es war etwa halb zwei Uhr Mittags im August. Anfangs, die ersten paar Stunden, ging das Ding vortrefflich, allerdings schweißerpressend. Mein Pferd, das blos den Plaid und eine Tasche zu tragen hatte, stieg, daß wir ihm kaum zu folgen vermochten. Allmählich trübte sich der Horizont, dickfette weiße Wolken mit unheimlich grauen Kernen tauchten über den Felsenkämmen, welche die Aussicht versperrten, auf, und als wir einen Punkt erstiegen hatten, von dem aus sich ein voller Rückblick über das Val Furva bis hinaus in die Gegend von Bormio thun ließ, da erkannten wir die schwer gewitterhafte Tendenz der Atmosphäre. Hierzu kam ein Umstand, der mich ein wenig besorgt machte. Der Weg in dem Felsen fing nämlich an treppenartig zu werden und mitunter sich durch so enges Geklüft zu winden, daß mein Rößlein, geschickt wie ein Renz’sches Schulpferd, ziegenartig zu klettern hatte. Das ging wohl bergauf, bei trockenem, trittfestem Boden, wie aber, wenn’s drüben ebenso bergab gehen sollte? Dann kamen wieder Stellen, wo der Weg ganz aufhörte und schräge Rutschflächen weichenden, zerbröckelten Gesteins (s. g. Schutthalden), die rechts in eine Tiefe von achthundert bis eintausend Fuß absanken, vor uns lagen. Indessen, sie wurden mit dem Pferde passirt; wir kamen immer höher.

So waren drei Stunden zurückgelegt; noch anderthalb Stunden war’s bis zur Paß-Scheidegg. Am Mittagessen hatten wir uns nicht besonders laben können: Omelettes in schmergeliger Butter gebacken, Kalbs-Ragout, zäh wie Katzenfleisch, und gedörrte Pflaumen, die einst bei ihrem Dörrungsproceß verbrannt worden waren; jetzt kam der Hunger. Aber o Himmel! da zeigte sich’s, daß wir über dem Sein und Nichtsein der Pferde-Möglichkeit in Sta. Catarina total vergessen hatten etwas Proviant einzupacken. Eine von Bormio mitgenommene Flasche Sassello war noch da; sie wurde entkorkt und ein Rindchen steinharten Gerstenbrodes dazu zermalmt, das Bertolini bei sich hatte, aber das konnte ja den Hunger nicht stillen. Dazu knurrte es ganz fern im sonorsten Donner-Baß und das Gebirge im Rückblicke gegen Trepallo zu ging so unvermerkt in das Indigo-Violettblaue des dunstgesättigten Horizontes über, daß man nicht mehr unterscheiden konnte, wo das irdische Diesseits aushörte und das universelle Jenseits anfing. Dort hinten mußte es ganz barbarisch wettern.

Rasch ging es vorwärts. Es war aber, als ob mit unserer Beeiligung auch die Gewitter-Vorboten sich beeilten, nicht nur gleichen Schritt mit uns zu halten, sondern uns zu überholen. Mehrere gewaltige Gletschermulden, die uns zur Linken blieben, lagen zwischen gigantische, völlig beschneite Hochgebirgsspitzen eingebettet; letztere mochten, nach meiner Karte, der Pizzo della Mare (11855 Fuß) und der Corno de tre Signori (10912 Fuß überm Meere) sein, waren aber nur noch theilweise sichtbar, weil schon Wolkenhauben über dieselben herabhingen. Allein diese Nebel blieben nicht lange da droben, sondern senkten sich immer tiefer und tiefer und huschten gespensterhaft über die nunmehr vor uns in Sicht befindliche Sattelhöhe des Passes.

Sennhütten oder auch nur jene troglodytischen, uranfänglich aus unbehauenen Steinen construirten Höhlen, wie sie die Ziegenhirten bewohnen, giebt es an dem ganzen nördlichen Abhange des Gavia nicht, weil er zu rauh, zu steinig und vegetations-entblößt ist. Dagegen rufen mehrere, in Zwischenräumen am Wege errichtete, kunstlose Holzkreuze, deren eingekerbte Zuschriften mitunter, weil verwittert, kaum noch zu entziffern sind, ihr unkenhaftes „Memento mori“ zu. Sie wurden errichtet für Verunglückte (darunter drei Capuziner), die den hier oben entfesselt wüthenden Schneestürmen erlagen, und geben somit einen Maßstab für die Gefährlichkeit des Passes bei wildem Wetter. Nun, wir sollten uns bald selbst persönlich davon überzeugen.

Auch dieser Paß hat, wie so viele in den italienischen Alpen, fast auf der Uebergangshöhe zwei Seen, einen Lago Bianco diesseits und einen Lago Nero am südlichen Abhange. Diese Bezeichnungen des „weißen“ und „schwarzen Sees“ haben sie von ihrer Farbe, je nachdem torfiger Boden dem See einen dunklen, oder milchiges Gletscherwasser ihm einen hellen, opalisirenden Schein giebt. Am flach verlaufenden Gestade des ersteren eilten wir hin, über die nackte, von tausend zerrinnenden Adern verlaufenden Schneewassers durchfurchte, nur noch schwach ansteigende Gesteinswüste, auf welcher hie und da höchstens die Eisranunkel und einige Moose ihr kümmerliches Dasein fristen.

Auf dieser noch nicht gemessenen Paßhöhe (man taxirt sie auf 8500 Fuß), wo kein Signal den Uebergangspunkt bezeichnet, keine sogenannten „Steinmandli“ (d. h. aus zusammengelesenen Steinen errichtete, mannshohe Haufen) dem ortsunkundigen Wanderer Direction geben, wo die ganze Fläche Weg oder vielmehr Nichtweg ist, hüllte uns plötzlich, noch bevor wir hatten übersehen können, wo es auf der andern Seite hinabgehe, solch’ ein dicker, schwarzer Nebel ein, daß Armslänge vor uns Alles unerkennbar wurde. Der Wind biß wie Gift und Säure und fegte die feuchten Dünste jagend an uns vorüber. Das war gut, da mußte das graue Ungeheuer bald vorbeiziehen. Also „Halt!“ Ich hatte mich nicht getäuscht, nach einigen Minuten konnten wir wieder wurfweit sehen, jedoch im nächsten Augenblick saßen wir wieder in den olympischen Wolken fest. Es war sechs Uhr vorbei. Noch einigemal wiederholten sich diese Nebelneckereien. Da Blitz, Krach und Schlag! Prosit! Wir standen mitten in einer Gewitterwolke drin. Das Pferd machte ein Männchen. Jetzt ging aber die Geschichte so fort und zur Begleitung kam ein Hagelwetter so groben Kalibers, daß wir die Hände in die Aermel stecken und diese vor’s Gesicht halten mußten, um nicht blatternarbig getrommelt zu werden. Mein Italiener fing an zu beten. Unser Rößlein, das seinem Unwillen über dieses meteorische Zwischenspiel durch verschiedene Tänzer-Pas Ausdruck zu geben versuchte, konnten wir nur dadurch ein wenig beruhigen, daß ihm der Plaid als Decke übergelegt wurde.

Gestrenge Herren regieren nicht lange! Das bewahrheitete sich auch hier, aber fünf Minuten hatten hingereicht; uns allergründlichst durchzuweichen. Sowie der Nebel etwas dünner wurde, hielt auch mein Bertolini nicht mehr Stand und wollte weitermarschiren. Einmal noch respectirte er mein Commando, stehen zu bleiben, bis völlig freier Ausblick sei; dann aber ließ er sich nicht mehr halten, lief im Nebel rechts und links, vor und zurück, immer murmelnd, ob Gebete oder Verwünschungen, weiß ich nicht, so daß wir die Richtung verloren und in dem knirschenden Hagelkörnerbrei ziellos umherirrten. Diese Unvorsichtigkeit sollte theuer gebüßt werden. Denn als es nach etwa einer Viertelstunde lichter wurde (der Hagel hatte dem Regen Platz gemacht), erkannten wir tief unter uns den Lago Nero, an welchem der Pfad vorüberführen sollte.

Dahinab mit dem Pferd? Ueber eine terrassirte Böschung im Fallwinkel von etwa fünfzig Graden? Ueber das schlüpferige Terrain?! Nun, der Versuch mußte gemacht werden. Anfangs führte Conrad das Pferd Tritt für Tritt, von einem Absatz zum andern, dann, als das Thier einigemal mit den Hinterfüßen zu rutschen begann, packte es mein Italiener beim Schweif, um Hemmschuhdienste zu übernehmen, und als seine Kräfte gegenüber dem Pferdegewicht zu schwach waren, theilte sich der Stalliere mit ihm

[189]

Eine Rutschpartie in den Alpen.
Originalzeichnung von Rittmeyer.

in dieses Zügelgeschäft von hinten und ich führte den Gaul. Da kam’s denn, daß bald ich, bald das Roß, bald der eine oder andere der Schweifdirigenten rutschend absaßen. So wenig es uns bei dieser fatalen Situation wohl war, so wenig konnten wir doch mitunter ein unwillkürliches Gelächter unterdrücken. An den Hunger dachten wir nicht mehr, mitunter eine Hand voll Hagelkörner in den Mund genommen, netzte den trockenen Gaumen ein wenig an, aber die leise hereinschleichende Dämmerung gab nun zu ernstlichen Besorgnissen Veranlassung.

Wir waren so schrittweise, immer erst tastend, ob der schlüpfrige Boden auch tragfest sei, hinabgeklettert, als eine schräge Felsenplatte; die nicht zu umgehen war, vorläufig unserm Weiterhinabsteigen [190] ein Ende machte; das Pferd konnte sie schlechterdings nicht passiren. Großer Rath!

„Herr, jetzt lassen wir die Geschichte gehen, wie’s geht!“ sagte Conrad, „ehe es ein Menschenleben kostet – lieber den Gaul! Geben Sie her, ich führe das Thier, gehen Sie allein, und stürzt’s, nun, dann ist’s fertig!“ Wahl blieb mir nicht übrig, also vivat sequens! Ich kam mit Hülfe meines Bergstocks gut hinüber, aber Conrad, beim ersten Schritt, den er auf der schlüpfrigen Platte thun wollte, glitt aus und vermochte sich nur durch einen im Felsen eingeklemmten Wurzelstrunk noch zu halten.

„Hier ist’s unmöglich, wir müssen wieder ein Stück zurück!“ und dem Pferde schmeichelnd, zu dem die alte Liebe des treuen Knechtes erwacht war, stieg er mit ihm wieder bergan. Endlich glaubte er eine bessere Passage entdeckt zu haben. Ich war schon tief drunten. Mit einem Mal hageln an mir Steine vorüber, ich höre schreien, wende mich und sehe, nicht weit von mir, die ganze Cavalcade im Rutschen und gleich darauf in der Gruppirung festsitzen, wie Freund Rittmeyer auf unserem Bilde sie dargestellt hat. Conrad konnte kaum schreien, so lastete das Gewicht des Pferdes auf ihm, während der Italiener unablässig versuchte, das Thier am Schweif zurückzuziehen. Die Kniee versagten mir den Dienst, vom Lachen überwältigt, sank ich auf’s Geröll. Aber es war kein Spaß, stöhnend ächzte der Zusammengepreßte um Hülfe, er müsse ersticken. Ich raffte mich auf, riß das Pferd an der Kinnkette empor, so daß Conrad Luft bekam und sich zur Seite wenden konnte, und gab ihm einen Hieb mit dem Bergstock. Der Italiener ließ los und kopfüber, kopfunter rollte das Thier hinab.

Wer aber beschreibt unser Erstaunen, als wir nach einigen Secunden tief unter uns das Pferd laut wiehernd aufrecht stehend sehen, zwar zitternd über und über, aber den Regen und Sand rüstig abschüttelnd? Flugs wir hinab! Nun war die Partie gewonnen, die schlechteste Passage überwunden. Das Thier blutete an mehreren Stellen und wir sahen wie die Banditen aus, über und über voll Schmutz, die zerrissenen Lappen an allen Seiten herabhängend.

Es schlug Mitternacht, als wir vor dem Albergo Bülferi-Batistasse zu Ponte di Legno todtmüde ankamen. Alles finster, kein menschliches Wesen. Wir klopfen, rufen, skandaliren; endlich öffnet sich ein Fenster und mürrisch erklärt uns der Wirth, er habe kein Lager für uns. Neuer Spectakel. Dieser weckt die Carabinieri, die nahebei ihr Wachtlokal haben (die österreichische Grenze auf dem Monte Tonale ist zwei Stunden von hier), sie kommen mit Laternen, sehen unsern verdächtigen An- und Aufputz und wir sollen als Landstreicher arretirt werden oder, wie wir später erfuhren, als vermeintliche Complicen einer Bande, die den Postwagen draußen bei Colico beraubt und ihr Fra Diavolo-Geschäft sehr frech und offen getrieben hatten. Ich berief mich auf meinen von der Züricherischen Regierung ausgestellten Reisepaß und andere Legitimationen. Anfangs kein Gehör, nichts! wir mußten Banditen sein. Endlich kam der Sergeant doch zu der Besinnung, meine Papiere einmal anzusehen. Er donnerte an die Thür des Wirthshauses und befahl zu öffnen. Hinauf in die Wirthsstube. Aus meiner Brieftasche nahm ich den durchweichten Paß, die Alizarintinte (oder welcher Qualität sie sonst war) hatte sich aufgelöst und das Blatt war unleserlicher, als ein schlecht auf der Copirpresse abgezogener Brief geworden. Zudem deutsch, das verstanden die Italianissimi nicht. Der Zweifel über unsere Unbescholtenheit wuchs. Da fällt mir ein, daß ich ein offenes Empfehlungsschreiben an Seine Excellenz den Marchese Pap[s], Präfecten der Provinz Sondrio, in meiner Tasche habe. Das flößt etwas mehr Respect ein, und scharf fixirend, sinnenden Blicks, ruht das Auge des Ober-Carabiniere auf mir. Ich las in demselben den Schluß: „Entweder ist das ein Hauptspitzbube, oder ein respectabler Mann, und dann haben wir uns blamirt!“ Da fällt mir unser freundlicher Officier von heute Mittag ein, ich suche nach seiner Karte und siehe da, diese endlich erlöst uns von dem Verdacht der Banditerei, macht die Carabinieri zu den höflichsten Menschen von der Welt, dictirt dem Wirth, uns zu erklären, daß plötzlich noch drei Betten frei seien, und verhilft uns schließlich zu einem frugalen, aber köstlich mundenden Imbiß mit diversen Fläschchen feurigen Piemonteser Weines, von dem die Polizeimannschaft uns einmal Bescheid thut, dann aber unter den verbindlichsten Entschuldigungen mir „felicissima notte“ wünscht.




Die socialen Folgen der Arbeitstheilung.
Vortrag gehalten im Saale des großen Handwerkervereins zu Berlin von Schulze-Delitzsch.


Unter den natürlichen Factoren, welche die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse beherrschen, nimmt die Arbeitstheilung eine der wichtigsten Stellen ein. Darin, in welcher Weise und mit welchen Folgen für das individuelle Gedeihen, wie für die gesellschaftliche Gruppirung der Einzelnen sie vor sich geht, liegt das Hauptstück der socialen Frage.

I. Die Wirkungen der Arbeitstheilung auf wirthschaftlichem Gebiet.

Ueber die wirthschaftliche Seite der Sache hier nur einige flüchtige Notizen, um mit den weiteren Folgerungen daran anzuknüpfen.

Die Arbeitstheilung, die Vertheilung der vielfachen, zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse erforderlichen Thätigkeiten unter verschiedene Menschengruppen, als mehr oder weniger ausschließliche Beschäftigungszweige, wurzelt unmittelbar im Wesen des Menschen. In erster Reihe kommt hierbei das Maß und die höchst ungleiche Vertheilung der Kräfte, Anlagen und Neigungen unter den Menschen in Betracht. Vermöge derselben ist jeder Einzelne nur zu dieser oder jener, Keiner aber zu allen den vielfachen Arbeitsverrichtungen befähigt, welche erforderlich sind, um uns mit unsern sämmtlichen Bedürfnissen zu versorgen. Anstatt daher einen Jeden mit diesen Thätigkeiten insgesammt zu befassen, was für den Einzelnen geradezu unmöglich würde, finden wir sie unter verschiedene Arbeiterbranchen vertheilt, und so mittelst des gegenseitigen Austausches der verschiedenen Erzeugnisse, Allen die Möglichkeit gegeben, zur Befriedigung ihres Gesammtbedarfs zu gelangen.

Bei dieser Scheidung der verschiedenen Arbeiterbranchen, deren jede eine bestimmte Classe von Producten herstellt, bleibt es übrigens nicht. Vielmehr dringt die Arbeitstheilung, jemehr die Industrie fortschreitet, desto mehr in jede dieser Branchen selbst ein, mit der Folge, daß die zur Herstellung eines bestimmten Verbrauchsartikels aus den Rohstoffen erforderlichen Arbeitsoperationen, welche sonst von einem und demselben Arbeiter verrichtet wurden, unter mehrere vertheilt werden, die sich dabei gegenseitig in die Hände arbeiten.

Die Wirkungen der Arbeitstheilung für die Erleichterung, Vervollkommnung und Ergiebigkeit der Arbeit sind unübersehbar, und wir erinnern hier nur ganz flüchtig an das Hauptsächlichste.

Zunächst steigert sie in ganz unberechenbarer Weise die Leistungsfähigkeit der Arbeiter. Einmal kann sich nun Jeder dem speciellen Fache widmen, wozu er von Natur am meisten geschickt ist. Besonders aber ist die Concentration der Thätigkeit für die Ausbildung in jedem besonderen Arbeitszweige, die dadurch erreichte größere Erfahrung und Geschicklichkeit nicht hoch genug anzuschlagen, während, wenn die Menschen genöthigt wären, so verschiedenartige Dinge alle zu lernen und zu treiben, das höchste Lebensalter zu den Lehrjahren nicht ausreichte.

Sodann verhütet die Arbeitstheilung die Capitalsvergeudung bei der Arbeit. Zu jeder Art der Arbeit gehören bekanntlich als unerläßliche Vorbedingungen gewisse Rohstoffe, Werkzeuge und sonstige mehr oder weniger kostspielige Anlagen. Wie stände es damit bei dem Einzelnen, der sich alle seine Bedürfnisse selbst fertigen sollte? Er bedürfte aller möglichen Werkstätten und Stoffe, müßte Feld, Ackergeräth und Vieh anschaffen, Mühlen anlegen, kurz tausend Dinge haben, ehe er nur daran denken könnte, an eine einzige dieser Arbeiten selbst zu kommen, und es ist klar, daß dies allein seine Kräfte zeitlebens weit überstiege.

Endlich übt die Arbeitstheilung bei der Production den erheblichsten Einfluß auf die Mitwirkung der Naturkräfte und Schätze aus, welche bekanntlich sehr ungleich auf der Erde vertheilt sind. [191] So kann man nun an jedem Orte sich vorzugsweise auf die Herstellung solcher Arbeitserzeugnisse legen, welche sich da, Dank der Naturausstattung, am leichtesten und billigsten herstellen lassen, was schließlich durch den allgemeinen Tauschverkehr Allen zu statten kommt.

Wie die Arbeitstheilung sonach sich als unentbehrlich für unsere materiellen Bedürfnisse erweist, ist sie es in demselben Grade für unsere geistige Entwickelung, für den gesammten Culturfortschritt des menschlichen Geschlechts. Ehe Jemand daran denken kann, sich mit Ausbildung seiner höheren Anlagen, mit der Pflege der edleren Keime seiner Natur zu beschäftigen, muß erst für die leibliche Nothdurft gesorgt sein. Man muß erst dem gebieterischen Bedürfniß der sinnlichen Natur genügen, erst das Nothwendige und Nützliche schaffen, ehe man an das Schöne und Angenehme denken kann. So lange die Arbeit bei einem Volke nicht soweit entwickelt ist, daß sie einen Ueberschuß über den täglichen Gebrauch gewährt, ist von Bildung keine Rede. Nur ein solcher Ueberschuß macht einen Theil der zur Beschaffung des Nothwendigen erforderlichen Menschenkräfte frei und stellt sie für höhere Aufgaben zur Verfügung. Daß aber solche geistige Bildung im Haushalt der menschlichen Gesellschaft, ein solches Mehr der Gesammtproduction über die Gesammtconsumtion ohne die Arbeitstheilung niemals erreicht werden kann, ist unbestritten.

Als Anhalt für unsere Erörterungen fassen wir daher das Gesagte kurz dahin zusammen:

1. Die Arbeitstheilung beruht auf einer innern, in der menschlichen Natur begründeten Nothwendigkeit;

2. ohne dieselbe reichen die Kräfte der Menschen zur Beschaffung der Mittel ihrer leiblichen Existenz nicht aus, und von der Entwickelung und Bethätigung der uns eingebornen höheren Anlagen, d. h. der Erreichung wahrer Menschenbestimmung, könnte nicht die Rede sein.

II. Die socialen Uebelstände der Arbeitstheilung.

Aber wenn über die wirthschaftliche Unentbehrlichkeit der Arbeitstheilung kein Streit herrscht, so ändert sich dies, sobald man zu den weiteren socialen Folgen derselben übergeht, und es eröffnet sich ein ganzes Feld feindlicher Meinungen und ungeschlichteter Wirren, aus denen wir nur das Hauptsächlichste herausheben.

Trotz des Gesagten soll nämlich die Arbeitstheilung, so wirft man ihr vor, für die Entwickelung eines großen Theiles der Menschen geradezu hemmend, ja verderblich sein. Insbesondere wird ihr die Hervorbringung der noch immer bestehenden schroffen Classenunterschiede schuld gegeben, vermöge deren den Menschen in Beziehung auf Bildung und Wohlstand wie auf ihre gesellschaftliche Stellung so ungleiche Loose zufallen, daß es scheint, als könne das Wohlbefinden der Einen nur erkauft werden durch die Verkümmerung der Andern. Besonders verweist man hierbei auf die Nachtheile, welche die in der neuern Industrie immer mehr durchgeführte Beschränkung der einzelnen Arbeitergruppen auf ganz specielle Verrichtungen mit sich bringt, und in der That lassen sich dieselben durchaus nicht in Abrede stellen. Denn indem dadurch einer jeden solchen Gruppe nur ein geringer Bruchtheil der Production ihrer Branche zufällt, ihre ganze Thätigkeit häufig auf die unablässige Wiederholung einiger wenigen mechanischen Manipulationen beschränkt ist, verlieren sie das Ganze der Production aus den Augen, was nicht nur eine einseitige Richtung in ihrer technischen Befähigung zur Folge hat, sondern auch ungünstig auf ihre ganze Lebenshaltung zurückwirkt. „Ein Mensch,“ sagt ein bekannter französischer Nationalökonom, „der während seines ganzen Lebens nur eine Verrichtung thut, gelangt sicher dazu, sie besser und schneller auszuführen, als ein Anderer, aber zugleich wird er zu jeder andern physischen und geistigen Beschäftigung weniger geeignet, indem seine übrigen Fähigkeiten durch Nichtgebrauch erlöschen.“ Daß sich dies nicht auf das technische Gebiet beschränkt, sondern auf den ganzen Menschen erstreckt, deuteten wir schon an. Der Umstand, welche Anlagen unserer Natur bei der Berufsthätigkeit vorzugsweise zur Ausbildung gelangen, die Summe der physischen, sittlichen und intellectuellen Anregungen, welche die Art der Arbeitsverrichtung auch mittelbar in sich schließt, ist für die humane Entwickelung, für die wirthschaftliche Lage und bürgerliche Stellung der Betheiligten nicht gleichgültig. Und je stetiger ungünstige Einflüsse in dieser Richtung in einer meist von Jugend an aufgenommenen Beschäftigung auf den Menschen wirken, desto schwerer wird es, sich ihnen zu entziehen.

Können wir uns hiernach nicht entbrechen, die großen Mißstände in unsern socialen Verhältnissen in nahe Beziehung zur Arbeitstheilung zu bringen, wie dieselbe sich mit ihren Consequenzen im heutigen Wirthschaftsleben herausgebildet hat, so drängt sich uns die Frage auf: ob diese Erscheinungen principiell, mit innerer Nothwendigkeit, aus dem Wesen der Arbeitstheilung hervorgehen, so daß wir sie als ewig und unabänderlich damit verbunden zu betrachten haben? oder: ob sie im Gegentheil als krankhafte Auswüchse, als Abirrungen von der normalen Gestaltung derselben aufzufassen sind, veranlaßt durch äußere Störungen durch fremde Einflüsse, mit deren Beseitigung sie verschwinden?

Sicher werden wir der ersten Alternative, der Permanenzerklärung des Elends, als unvermeidlicher Nachtseite der Cultur, uns ohne Weiteres anzuschließen um so weniger geneigt sein, als dadurch die Natur eines furchtbaren Widerspruchs mit sich selbst bezichtigt wird. Ist die Arbeitstheilung, wie wir nachgewiesen haben, der Ausdruck unseres eigensten Wesens und nie und nirgends für uns zu entbehren, da ohne sie die Menschheit niemals zu einer gesicherten materiellen Existenz, geschweige denn zur vollen Entfaltung ihres höhern Geisteslebens zu gelangen vermag; hat die Natur also selbst dem Menschen die Arbeitstheilung durch seine Organisation unerläßlich auferlegt: wie mag dieser große natürliche Hebel in sein Gegentheil umschlagen und mit derselben innern Nothwendigkeit, wenn auch nur bei einem Theile der Menschen, die leibliche und geistige Verkümmerung nach sich ziehen? In der That ein unlösbarer Conflict wenn derjenige Vorgang, welcher die Civilisation erst möglich macht, uns gleichzeitig zum großen Theil der Segnungen derselben beraubte; ein entsetzlicher Hohn, wenn es wahr wäre, daß, wie Proudhon es ausdrückt, „die Arbeitstheilung, das erste und mächtigste Werkzeug des Wissens und Reichthums, welches die Vorsehung in unsere Hand gelegt hat, für uns ein Werkzeug des Elends und der Dummheit würde!“ Wohl muß eine Frage, welche die höchsten Interessen unseres Geschlechts so nahe berührt, uns zu ernster Erwägung auffordern, und um hier einen Anhalt zu gewinnen, werden wir auf Wesen und Zweck der Arbeitstheilung näher einzugehen haben, und ihre Wirkungen mit den berührten Erscheinungen in das rechte Verhältniß zu setzen suchen.

Daß mittels der Arbeitstheilung, durch Einordnung der Einzelnen in die verschiedenen Beschäftigungszweige, eine Scheidung der Menschen sich vollzieht, welche auf die individuelle Entwickelung, wie auf die gesellschaftliche Lage wesentlichen Einfluß übt, davon gingen wir bei unserer Betrachtung aus. Aber wenn wir auch diese Scheidung als etwas wesentlich durch die Arbeitstheilung Bedingtes gelten lassen, so ist damit doch noch nicht gesagt, daß sich dieselbe nothwendig bis zu jenen schroffen Classenunterschieden steigern müßte, welche mit der Spaltung und dem feindlichen Widerstreit der Interessen, mit den schneidenden Gegensätzen zwischen äußerstem Ueberfluß und äußerster Entblößung, zwischen höchster menschlicher Entfaltung und tiefster Verkommenheit das Grundübel unserer socialen Zustände ausmachen. Ein genauerer Hinblick genügt vielmehr, dies zu verneinen und uns zu zeigen, daß die Schranken gegen solche Ausschreitungen ebenfalls im Wesen der Arbeitstheilung liegen, daß der trennenden Tendenz in ihr zugleich das Gegengewicht beigegeben ist, welches den Vorgang regelt. Alles von der Natur Gegebene, jede wahrhaft natürliche Organisation trägt ihr Maß in sich selbst. Rufen wir uns nur die im Eingange begründeten Sätze zurück. Einzig durch die Arbeitstheilung war die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse möglich. Da nun jede der verschiedenen Beschäftigungsclassen blos einen Theil des eignen Bedarfs wie des aller Uebrigen herzustellen im Stande ist und die Gesammtaufgabe nur durch die Cooperation, die ineinandergreifende Thätigkeit Aller gelöst werden kann: so ist keine dieser Classen sich selber genug, keine im Stande, die Befriedigung ihrer Bedürfnisse sich durch ihre alleinige Thätigkeit zu verschaffen. Vielmehr bleibt jede von ihnen in demselben Grade, wie ihre Thätigkeit den andern unentbehrlich ist, auch ihrerseits auf die Leistungen dieser anderen angewiesen. Und das eben ist, jenem trennenden Elemente gegenüber, das einende Element der Arbeitstheilung, wodurch dieselbe die sämmtlichen von ihr geschiedenen Gruppen in eine höhere Einheit wieder zusammenfaßt und sie gerade durch jene Scheidung aus ihrer Isolirung herausnöthigt. Einzig durch diese Gliederung der Einzelnen in den verschiedenen Classen schafft die Arbeitstheilung den ineinandergreifenden Organismus [192] der Gesellschaft, welche ohne sie, wenn jeder Einzelne von uns in seinen Daseinsforderungen sich selber genügte und nicht auf seine Nebenmenschen angewiesen wäre, kaum existiren würde. Erst die Arbeitstheilung schafft mittelst der Classenscheidung die unentbehrlichen Organe, deren die Gesellschaft zu ihren Lebensfunctionen bedarf.

Und somit trägt sie die natürliche Schranke gegen die gerügten Ausschreitungen in sich selbst. Sind die beiden Elemente, das trennende und das einende, nichts als zwei Seiten einer und derselben Sache, gleichsam die Pole der Achse, um welche sich Alles bewegt, so müssen sie beide gleichmäßig zur Geltung kommen, soll die normale Wirkung eintreten. Denn sobald das eine das andere entschieden überwiegt, wird der Schwerpunkt des Ganzen verschoben, die ausgleichende Wirkung, welche beide aufeinander auszuüben bestimmt sind, vernichtet und man geräth in Bahnen, welche von den natürlichen mehr oder weniger abweichen. Ganz besonders wird dies der Fall sein, wenn dem trennenden Elemente, welches sich zu dem einenden doch nur als das untergeordnete, als Mittel zum Zweck verhält, zuviel Spielraum verstattet wird, so daß die Classenscheidung das Bewußtsein der höhern Zusammengehörigkeit ertödtet, die Gegenseitigkeit in den Leistungen der verschiedenen Classen mehr und mehr aufhebt, und einzelnen von ihnen das Abmühen um die materiellen Lebensbedürfnisse der Gesammtheit als ausschließliche Lebensbestimmung aufgebürdet wird.

Und dies bringt uns auf den Kern der Frage: auf die Bestimmung des Lebensgebietes und seiner Grenzen, innerhalb dessen die Arbeitstheilung ihrem wahren Sinn und Zwecke nach sich zu bethätigen hat. Da sie nichts weiter ist als die Form, in welcher menschliche Arbeit überhaupt verrichtet wird, so müssen wir dabei nothwendig auf die letztere selbst zurückgreifen. Der unbestrittene Zweck aller Arbeit ist nun die Versorgung der Menschen mit ihrem Lebensbedarf, die Beschaffung der Mittel zum Dasein im weitesten Sinne. Wohlverstanden also: mit den Daseinsmitteln, nicht mit dem Daseinszwecke haben es die verschiedenen Arbeitsverrichtungen der Menschen zu thun, welche auf Herstellung der zum Gesammtbedarf erforderlichen Summe von Gütern und Diensten gerichtet sind, aus welcher jeder Einzelne sein Theil beansprucht. Und so lassen sich die Grenzen des fraglichen Gebietes füglich bestimmen. Die Arbeitstheilung tritt darnach vorzugsweise bei allen den Aufgaben ein, welche den Menschen in die Lage versetzen sollen, seiner wahren Bestimmung, der Ausbildung und Bethätigung aller in ihn von der Natur gelegten Anlagen, mit Erfolg nachzugehen. Namentlich gilt dies von Beschaffung der Mittel zur materiellen Existenz und von gewissen Diensten und Hülfsleistungen, welche nothwendige Erfordernisse der individuellen Entwickelung sind. Nur auf diesem Gebiete, nur bei Gewährung der äußern Vorbedingungen zur Erreichung unseres eigentlichen Lebenszweckes ist der Austausch gegenseitiger Leistungen überhaupt möglich; nur hier mag der Eine für den Andern eintreten, mag also eine Vertheilung der darauf bezüglichen Thätigkeiten unter verschiedene Personen mit der Wirkung stattfinden, daß die Leistungen des Einen den Andern zu gut kommen. Niemals aber darf die Arbeitstheilung in dem, was die Menschenbestimmung selbst in sich faßt, scheidend und ausschließend zwischen die Einzelnen treten. Liegt doch hier ein innerer Lebensproceß vor, der sich in jedem Menschen selbst und ganz vollziehen muß, den Keiner für den Andern durchmachen kann. So wenig Einer für den Andern wachsen oder lernen kann, so gewiß solche Acte in Jedem selbst vor sich gehen müssen, sollen sie ihm zu gut kommen: so gewiß kann jene innere geistige Lebensarbeit nicht vertheilt und Jemandem abgenommen, so gewiß darf Niemandem die Selbstthätigkeit dabei entzogen werden, weil dadurch sein eigentlicher Lebenszweck gefährdet wird. Deshalb hat sich die Arbeitstheilung auf das eigentliche Erwerbsleben, die sogenannten Fachthätigkeiten, zu beschränken, welche theils, wie Production und Handel, die zur äußeren Existenz erforderlichen Sachgüter, theils, wie die Thätigkeiten des Arztes, Beamten, Lehrers, Gesindes und dergleichen, gewisse Dienste uns zu Gebote stellen, die zur Nothdurft und Annehmlichkeit gehören und unser körperliches und geistiges Gedeihen fördern. In diesem ihrem Elemente sich bewegend, wird die Arbeitstheilung nur die wohlthätigsten Folgen für den Einzelnen, wie für die Gesammtheit üben, und sich wirklich als das unentbehrlichste und wirksamste Förderungsmittel für alle höhere Culturbestrebungen bewähren. Dies wird aber im Augenblick verschoben, wo die von ihr bewirkte Classenscheidung so weit geht, daß sie, wie wir bereits sagten, einem Theile der Menschen die Sorge und Beschäftigung für die äußere Nothdurft des Daseins, insbesondere die niedere Gewerbsarbeit, dergestalt ausschließlich aufbürdet, daß demselben weder Zeit noch Kraft zu jener innern Aufbauung übrig bleibt. Dann fördert sie die davon Betroffenen nicht in Erreichung ihres Lebenszweckes, was wir doch allein als ihre Bestimmung erkannten, vielmehr hemmt sie dieselben. Ja, dann kann man überhaupt nicht mehr von einer Theilung menschlicher Arbeit, sondern weit eher von einer Zertheilung des Menschen selbst, einer Verstümmelung des menschlichen Wesens überhaupt reden, wenn man dessen Hauptelemente, die ganz und unzerstückelt in Allen vorhanden sind, bei ganzen Classen nur zu einem Bruchtheil sich entwickeln läßt und insbesondere die Summe der höheren geistigen Anlagen nur bei einer bevorzugten Minderheit zur vollen Bethätigung bringt, während dieselben bei den Uebrigen der Verkümmerung preisgegeben werden. Das ist ein Hohn wider das Menschenthum, ein Auflehnen wider die Natur!

Bei Thieren sehen wir wohl eine solche Theilbefähigung innerhalb der Gesammtthätigkeit einer Gattung von der Natur gegeben, nicht aber beim Menschen. Wir verweisen auf das bekannteste aller Gesellschaftsthiere, die Biene, wo man von einer Arbeitstheilung in gewissem Sinne sprechen kann. Da finden wir die einzelnen Classen: die Arbeiterin, die Drohne, die Königin, ganz speciell und ausschließlich zu einzelnen Functionen organisirt, und bei jeder Classe geht ihre ganze Lebensthätigkeit und Fähigkeit, also ihre ganze Bestimmung in dieser speciellen Classenfunction auf. Die Arbeitsbiene ist eben nur das, und will und kann nichts Andres sein, ebenso die Drohne, wie die Königin, als Mutter des Stockes, und der Gattungsbegriff „Biene“ kommt in keiner dieser Classen für sich allein zum Abschluß. Anders der Mensch. In der Erwerbsthätigkeit, in jenen Fachstrebungen und Leistungen, vermöge deren Jeder das Seine zu dem äußerlichen Bedürfniß, zu dem Lebensapparat der Gesammtheit beiträgt, ist die Summe seines Daseins nicht beschlossen, welches höhere Ziele hat und über höhere Kräfte gebietet. Vielmehr sind wir von der Natur so organisirt, daß der Einzelne die ganze volle Menschheit in sich entwickeln, daß Jeder ein ganzer Mensch sein kann und sein soll, nicht blos ein Bruchtheil davon. Jedem ist der göttliche Funke eingeboren, der uns erst zu Menschen macht, und was darauf hinausläuft, ihn bei einem Theile der Menschen zu ersticken, ist ein Attentat gegen die Menschheit. Am wenigsten darf die Arbeitstheilung, zu welcher die Natur selbst unser Geschlecht hindrängt, um mittels der leichteren Beschaffung der Mittel zum Dasein ihm die Erreichung seiner höheren Ziele zu ermöglichen, auf die angedeutete Art in ihr Gegentheil verkehrt, dazu gemißbraucht werden, eine ganze Halbschied der Menschheit von diesem höheren Ziele auszuschließen und um ihr besseres Theil zu verkürzen.

(Schluß folgt.)




Kleiner Briefkasten.


A. R…r in L. Ganz Recht. In dem in Nr. 10 unseres Blattes enthaltenen Artikel „Künstlerwandelungen“ muß es gelegentlich des Componisten des „Matrimonio segretto“ nicht Cherubini, sondern „Cimarosa“ heißen.

G. F. in S… Auf Ihre Anfrage, was es mit den Angriffen zweier Leipziger Blätter und darin veröffentlichter Correspondenz hinsichtlich unserer Mittheilungen über den „Untergang des London“ für eine Bewandtniß habe, antworten wir: Wir glauben vollkommen im Rechte zu sein, wenn wir den betreffenden Bericht als von einem „Augenzeugen“ herrührend bezeichneten, da in dem sehr angesehenen englischen Blatte, das unser Londoner Correspondent seinem Artikel zu Grunde legte, ausdrücklich von der Erzählung eines „Augenzeugen der Katastrophe“ die Rede ist.

K. in D. Wie oft sollen wir wiederholen, daß es nicht Aufgabe der Gartenlaube ist, sich in das Getriebe der Tagespolitik zu mischen? Unsere Tendenzen sind klar ausgesprochen: wir wollen neben der Unterhaltung und Belehrung alle Bestrebungen der Humanität und Aufklärung und die Kräftigung des Nationalismus in entschiedener Weise zu fördern suchen. Dieses Programm wird unter jeder Bedingung festgehalten, und weder Kanzel noch grüner Tisch werden uns darin stören.




Nicht zu übersehen!
Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Kneipwart im Jahre 1866, Herr Stöckart, verspricht ganz in die Fußstapfen seines Vorgängers zu treten; ebenso Herr Kappel, der Nachfolger des zum Präsidenten erhobenen Ravenstein.