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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[161] No. 11.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


In diesem Augenblick, als Herr von Walde durch das Fenster herein Elisabeth scharf fixirte, trat Miß Mertens in das Zimmer, um das junge Mädchen abzuholen; sie war mit Allem fertig und vollständig gerüstet, das Haus zu verlassen. Elisabeth eilte aufathmend ihr entgegen, während Herr von Walde das Fenster verließ und draußen einigemal auf- und abschritt. Als er wieder näher trat, verbeugte sich Miß Mertens tief und ging freudig auf ihn zu. Sie sagte ihm, daß sie heute schon mehrere Mal bei ihm vergeblich Zutritt gesucht habe, und sich nun sehr freue, ihm doch noch ihren Dank aussprechen zu dürfen für alle seine Güte und Fürsorge.

Er winkte abwehrend mit der Hand und wünschte ihr dann Glück zu ihrer Verlobung. Er sprach sehr ruhig. Wie durch einen Zauberschlag hatte sich plötzlich seine ganze Erscheinung wieder mit dem Nimbus der Hoheit und Unnahbarkeit umgeben, so daß Elisabeth nicht mehr begriff, wo sie den Muth hergenommen hatte, diesen Mann auf die Gesetze der allgemeinen Höflichkeit zurückzuführen … Die vorhin so leidenschaftlich flammenden Augen ruhten jetzt ernst auf Miß Mertens’ Gesicht. Der weiche, tiefe Klang seines Organs ließ nicht mehr ahnen, daß er sich noch vor wenig Augenblicken in beißender Ironie verschärft hatte, daß jedes seiner Worte ein Ausdruck der tiefsten Gereiztheit gewesen war und geklungen hatte, als solle es rächen und verwunden.

Herr von Walde war mit Bitterkeit gegen seinen Vetter erfüllt, das hatte Elisabeth ja heute schon einmal bemerkt. Warum aber mußte sie es büßen, wenn ihm der Verhaßte vor die Augen kam? … War sie nicht schon beleidigt genug gewesen durch Hollfeld’s abermalige Zudringlichkeit? … Und nun wurde sie auch noch das Opfer einer Entrüstung, an der doch nur Helene die Hauptschuld trug … Ein stechender Schmerz durchzuckte sie, als sie sich erinnerte, wie zärtlich und verzeihend Herr von Walde die Schwester in seine Arme genommen hatte, wie auch nicht ein Blick des Vorwurfs auf sie selbst gefallen war bei Erwähnung der Hollfeld’schen Besuche … sie, die arme Clavierspielerin, die nothgedrungen Hollfeld’s Anwesenheit mit dulden mußte, wurde nun zum Blitzableiter des brüderlichen Zornes … Oder hatte er mit angesehen, wie Hollfeld ihr die Rose auf das Buch warf, und war in seinem aristokratischen Stolz tief beleidigt, daß sein Vetter einem bürgerlichen Mädchen in der Weise huldige? … Dieser Gedanke kam Elisabeth wie ein erleuchtender Blitz … Ja, ganz gewiß, so nur konnte sie sich sein Benehmen erklären … Sie sollte die arme Blume zertreten und mit ihr den Beweis vernichten, daß Herr von Hollfeld einen Augenblick seine hohe Abkunft vergessen hatte. Darum wurde so plötzlich in rauhem, befehlendem Ton zu ihr gesprochen, in einem Ton, welchen sicher nur diejenigen an ihm kannten, die ein Vergehen zu büßen hatten; und darum auch sollte sie durchaus sagen, welchen Eindruck ihr Hollfeld’s plötzliches Erscheinen gemacht habe … In diesem Augenblick hätte sie nun hintreten und ihm unumwunden erklären mögen, wie verhaßt ihr sein hochgeborener Vetter sei, daß sie sich durchaus nicht geehrt fühle durch dessen Aufmerksamkeiten, sondern dieselben stets als eine ihr widerfahrene Schmach ansehe. Allein es war zu spät. Herr von Walde sprach mit Miß Mertens über Reinhard’s Reise nach England so ruhig und eingehend, daß es geradezu lächerlich gewesen sein würde, mitten hinein den Faden des vorigen stürmischen Gesprächs wieder aufzunehmen. Auch fiel nicht ein Blick seines Auges mehr auf sie, obgleich sie ziemlich nahe bei Miß Mertens stand.

„Ich bin eigentlich halb und halb entschlossen, die Reise selbst mitzumachen,“ sagte er schließlich zu der Gouvernante. „Reinhard soll mit Ihrer Frau Mutter zurückkehren, denn ich will Lindhof von nun an ganz unter seine Aufsicht stellen; ich aber bleibe den Winter über in London, gehe im Frühjahr nach Schottland.…“

„Und kehren dann Jahre lang nicht wieder heim,“ unterbrach ihn Miß Mertens erschrocken und betrübt zugleich. „Hat denn Thüringen ganz und gar keine Anziehungskraft für Sie?“

„O ja, aber ich leide hier, und Sie werden wissen, daß oft ein herzhafter Schnitt eine Wunde rasch und glücklich heilt, während sie unter einer allzu nachsichtigen, feigen Behandlung gefährlich werden kann … Ich hoffe viel von der schottischen Luft für mich.“

Die letzten Worte hatte er in einem Ton gesprochen, der scherzhaft sein sollte, allein der gewisse Zug zwischen den Augenbrauen trat schärfer hervor, denn je, und ließ Elisabeth seine heitere Stimmung sehr bezweifeln.

Er reichte darauf Miß Mertens die Hand und schritt langsam den Kiesweg hinab, wo er bald hinter einem Bosket verschwand.

„Da haben wir’s nun,“ sagte die Gouvernante traurig. „Statt daß er uns, wie ich im Stillen hoffte, eine schöne, junge Frau nach Lindhof bringt, zieht er wieder hinaus in die weite Welt und läßt in Jahr und Tag nichts wieder von sich hören noch sehen … Es ist etwas Ruheloses in ihm; kein Wunder, wenn man die unerquicklichen hiesigen Verhältnisse bedenkt … Die Baronin Lessen ist ihm ein Gräuel, und doch ist er gezwungen, an seinem eigenen Heerde stündlich mit ihr zu verkehren, denn [162] die Schwester, die er zärtlich liebt, hat ihm ja erklärt, daß sie im Umgang mit dieser Frau das Herbe und Freudenlose ihres Daseins vergißt. Auch sein Vetter ist ihm ein ungebetener Gast ... Herr von Walde ist eine viel zu gerade Natur, als daß es ihm glücken sollte, seine Abneigung zu verbergen, und doch sind diese Menschen wie von Stahl und Eisen; die wenig rücksichtsvolle Behandlung des Hausherrn gleitet vollständig an ihnen ab, sie haben weder Augen, noch Ohren, wenn er auf eine Trennung hindeutet. Und Herr von Hollfeld, nun, der ist in meinen Augen ein ganz erbärmlicher Mensch; ich begreife heute noch nicht, wie er Fräulein von Walde’s Herz gewinnen konnte.“

„Also wissen Sie das auch?“ fragte Elisabeth.

„Ach, Kindchen, das ist ja längst ein öffentliches Geheimniß … Sie liebt ihn so tief und hingebend, wie ein Weib nur lieben kann. Diese unselige Neigung aber, in der sie jetzt lebt und athmet wie im Sonnenlicht, sie wird dereinst den düstersten Schatten werfen auf das Leben der ohnehin so schwer Heimgesuchten… Dies ganze traurige Verhältniß und seine Zukunft durchschaut und ahnt Herr von Walde, aber da er seiner Schwester nicht die Augen öffnen kann, ohne sie tödtlich zu verwunden, so bringt er seiner brüderlichen Zärtlichkeit die schwersten Opfer und geht lieber, da ihm der Aufenthalt in seinem eigenen Hause zu unerträglich wird.“

Während dieses Gesprächs hatten Miß Mertens und Elisabeth längst das Schloß verlassen und stiegen bergauf. Bald stieß Reinhard zu ihnen, der einen Gang nach dem Dorfe gemacht hatte. Miß Mertens erzählte ihm das Zusammentreffen mit Herrn von Walde und seine letzten Aeußerungen bezüglich seiner Reise.

„Gesagt hat er mir noch nichts,“ meinte Reinhard, „aber er sah vorhin gerade so aus, als möchte er am liebsten auf der Stelle Lindhof verlassen … Schöne Wirthschaft das! .… Der Herr des Hauses ist das fünfte Rad am Wagen in seinem Verwandtenkreise, er muß die Sippschaft ernähren, und als Dank dafür machen sie ihm das Herz der Schwester abspenstig … Herr Gott, steckte ich doch nur zwei Tage in seinen Schuhen, ich wollte den unsaubern Geist austreiben, daß auch nicht eine Spur übrig bliebe! … Uebrigens hoffe ich, daß Herr von Hollfeld wenigstens wieder auf einige Tage nach Odenberg geht. Sein Verwalter hat soeben die Nachricht gebracht, daß die Wirthschafterin ihm plötzlich auf und davongegangen ist; es bleibt Keine, der saubere gnädige Herr ist zu geizig … Es sollen auch noch andere Unannehmlichkeiten drüben vorgefallen sein.“

Burg Gnadeck war erreicht und der Gast wurde von Ferbers sehr herzlich begrüßt. Wie heimlich und traut umfing Miß Mertens’ Stübchen die neue Bewohnerin! Es blinkte in Sauberkeit; auf Bett und Tisch lagen frische, weiße Decken, eine hübsche Schwarzwälder Uhr tickte leise neben dem zierlich geordneten Schreibtisch, und einige Reseden- und Rosenstöcke auf dem Fenstersims hauchten ihren Duft durch den kleinen Raum. Durch die offene Thür sah man in das Wohnzimmer der Familie. Dort auf dem gedeckten Tisch entzündete Elisabeth die Spiritusflamme in der Theemaschine, während Miß Mertens rasch ihre wenigen Habseligkeiten in Kommode und Schrank einräumte.

Unterdeß hatte sich auch der Onkel in Begleitung Hector’s und der langen Pfeife eingefunden. Auch Reinhard blieb da, und so saß bald eine fröhliche Gesellschaft zusammen. Der Oberförster war sehr rosiger Laune. Elisabeth saß neben ihm. Sie bemühte sich aus allen Kräften, auf seine Neckereien einzugehen, aber noch nie war es ihr so schwer geworden, und er, der ein sehr feines Ohr für die leiseste Modulation ihrer Stimme hatte, bemerkte das sehr bald.

„Holla, Goldelse, was ist mit Dir?“ rief er plötzlich, „da ist etwas nicht in Ordnung.“ Er faßte sie am Kinn und sah ihr in die Augen. „Richtig, hast einen Schleier über den Augen und auf der Seele! … Potztausend, Du siehst ja auf einmal ganz anders aus! … Was soll’s mit dem trübseligen Nonnengesicht da?“

Elisabeth wurde feuerroth unter seinem forschenden Blick. Sie bot Alles auf, um durch munteren Scherz einer strengen Beichte zu entgehen, allein es gelang ihr sehr schlecht, und zuletzt blieb ihr nichts übrig, als sich an das Clavier zu setzen, dort neckte und störte er sie ja nie.

Wie wohl that es ihrem gepreßten Herzen, als es aufgehen durfte in vollen, rauschenden Accorden, als die Töne schmerzlich hinausklangen in die beginnende Abenddämmerung, ein Echo jenes tiefen Wehes, das sie erfüllte, seit sie wußte, daß Herr von Walde Thüringen wieder verlassen wollte … Vorbei war es mit jenem Grübeln und Sinnen, jenem Haschen nach dem unklaren, fremdartigen Etwas, das plötzlich wie ein liebliches Räthsel zwischen ihren Tongedanken aufgetaucht war! Es sprach jetzt mit eigener, fester Stimme, in gewaltigen Klängen, vor denen das einstige, harmlose Saitenspiel ihres Inneren zu einem unhörbaren Säuseln erstarb … Der Schleier, unter dem ihre Seele in glücklicher Unwissenheit bis dahin gelegen, war zerrissen, sie erkannte mit Lust und unsäglichem Schmerz, daß – sie liebte.

Wie lange sie gespielt hatte, sie wußte es nicht. Aber sie erwachte jäh aus dem gänzlichen Vergessen der Außenwelt, als ein Lichtstrom aus dem Wohnzimmer herüberquoll und grell über Beethoven’s bleiche Büste floß. Die Mutter hatte die große Lampe angezündet, und Elisabeth sah jetzt, daß der Onkel neben ihr im Fenster saß; er mußte sehr geräuschlos eingetreten sein. Als ihre Hände von den Tasten herabglitten, strich er leise mit, der Hand über ihr Haar.

„Siehst Du, Kind,“ sagte er endlich mit bewegter Stimme, nachdem das letzte Vibriren der Saiten verhallt war, „wenn ich nicht schon gemerkt hätte, daß etwas ganz Absonderliches in Dir vorgeht, so wüßte ich’s jetzt durch Dein Spiel; das waren ja Thränen, nichts als Thränen!“


11.

Mit Miß Mertens’ Einzug in der alten Burg hatte sich das Ferber’sche Familienleben womöglich noch freundlicher gestaltet als bisher. Die Gouvernante fühlte sich seit langer, trostloser Zeit zum ersten Male wieder heimisch angeweht und von Liebe umgeben. Ihr warmes Fühlen, bis dahin ängstlich bewacht und zurückgehalten, brach jetzt hervor und ließ sie im Verein mit ihrem reichen Wissen höchst liebenswürdig erscheinen. Sie trachtete sich nützlich zu machen, wo sie konnte. Namentlich beschäftigte sie sich viel mit dem kleinen Ernst, der unter ihrer Anleitung eifrig englische und französische Vocabeln lernen mußte; auch Elisabeth suchte von dem Aufenthalt der Miß Mertens auf Gnadeck so viel Vortheil wie möglich zu ziehen. Sie studirte emsig, denn das war ja die beste Abwehr für alle trübe Grübelei.

Die Uebungsstunden bei Fräulein von Walde hatten mittlerweile ihren regelmäßigen Fortgang. Hollfeld, der nur auf einen Tag nach Odenberg gegangen war, kam nach wie vor als eifriger Zuhörer und bot Alles auf, einen Moment des Alleinseins mit Elisabeth zu gewinnen. Er hatte es schon einigemal so schlau einzurichten gewußt, daß Helene während der Pause aufgestanden war, um irgend einen besprochenen oder von ihm gewünschten Gegenstand in einem anderen Zimmer zu holen; allein er erreichte seinen Zweck nicht, denn Elisabeth ging zugleich hinaus und ließ sich von dem Bedienten ein Glas Wasser geben. An ein Begegnen auf dem Nachhauseweg durfte er auch nicht denken, da Miß Mertens regelmäßig mit Ernst kam, um das junge Mädchen abzuholen .… Dieses stete Vereiteln seiner Wünsche machte ihn endlich ungeduldig und rücksichtsloser. Die Hand fiel von dem Gesicht, er trug seine Leidenschaft unverhohlen zur Schau, und nur ihrer Kurzsichtigkeit verdankte es Helene, daß ihr eine schmerzvolle Entdeckung vor der Hand noch erspart blieb … So wurden Elisabeth die Gänge in’s Schloß, immer peinlicher, und sie dankte Gott, als endlich das beabsichtigte Fest heranrückte, denn mit ihm hörten dann wenigstens die täglichen Uebungsstunden auf.

Es war am Tage vor dem Geburtsfest des Herrn von Walde, als Reinhard Nachmittags bei einem Besuch auf Gnadeck erzählte, daß bereits ein Gast unten im Schlosse angekommen sei.

„Der Flederwisch hat uns noch gefehlt!“ meinte er ärgerlich.

„Wer ist denn das?“ fragten lachend Frau Ferber und Miß Mertens zugleich.

„Ach, eine sogenannte Freundin von Fräulein von Walde, eine Hofdame aus L. Sie will beim Arrangement des Festes helfen; gnade Gott den armen Leuten, die kehrt das Unterste zum Obersten!“

„Ah, Fräulein von Quittelsdorf!“ rief Miß Mertens noch immer lachend. „Nun ja, die hat allerdings Quecksilber in den Adern, sie ist entsetzlich oberflächlich, aber von Herzen nicht böse.“

Später ging Elisabeth in Reinhard’s Begleitung hinunter nach Lindhof. Als sie in die Nähe des Schlosses kamen, wurde gerade Herrn von Walde’s Reitpferd an die große Freitreppe inmitten [163] der südlichen Fronte geführt. Gleich darauf trat er selbst aus der Glasthür, mit der Reitpeitsche in der Hand, und stieg die Stufen hinab … Elisabeth hatte ihn nicht wieder gesehen seit jenem Nachmittag, wo er ihr so rauh und rücksichtslos begegnet war; er erschien ihr auffallend bleich und finster.

In dem Augenblick, als er sich auf das Pferd schwang, erschien eine junge Dame in weißem Kleide auf der Treppe. Sie war sehr hübsch und eilte mit graziöser Leichtigkeit hinunter, um das Pferd auf den Hals zu klopfen und ihm ein Stück Zucker zu reichen.

Fräulein von Walde, die an Hollfeld’s Arm mit ihr zugleich herausgetreten war, blieb oben stehen und winkte ihrem Bruder grüßend mit der Hand zu.

„Die junge Dame ist Fräulein von Quittelsdorf?“ fragte Elisabeth.

Reinhard bejahte mit einem mißvergnügtem Gesicht.

„Ihre äußere Erscheinung gefällt mir,“ meinte das junge Mädchen. „Herr von Walde scheint sich gern mit ihr zu unterhalten,“ fügte sie leise hinzu. Der Reiter bog sich in diesem Augenblick vom Pferd herab und schien nachdenklich auf das zu hören, was ihm die junge Dame vorplauderte.

„Je nun, er will nicht grob sein und läßt sich das Geschwätz einen Moment gefallen,“ sagte Reinhard weiterschreitend. „Die spricht das Blaue vom Himmel herunter und ist im Stande, dem Pferd in die Zügel zu fallen, wenn er davon will, ehe sie mit ihrem Capitel fertig ist.“

Inzwischen waren sie in das Vestibüle getreten. Elisabeth verabschiedete sich hier von Reinhard und begab sich hinauf in das Musikzimmer, wo sich alsbald auch Fräulein von Walde und Hollfeld einfanden. Erstere ging noch einmal in ihr Ankleidezimmer, um ihre ein wenig derangirten Locken in Ordnung bringen zu lassen; diesen Moment benutzte Hollfeld und trat eilig auf Elisabeth zu, die sich in die Fensternische zurückgezogen hatte und in einem Notenheft blätterte.

„Wir wurden neulich abscheulicher Weise gestört,“ flüsterte er.

„Wir?“ fragte sie ernst und mit Nachdruck und trat einen Schritt zurück. „Ich hatte allerdings Ursache, mich über Störung zu beklagen, und muß gestehen, daß ich sehr entrüstet war, meine Lectüre unterbrochen zu sehen.“

„Ah, jeder Zoll eine Fürstin!“ rief er scherzhaft, aber mit unterdrückter Stimme. „Ich habe übrigens durchaus nicht beabsichtigt, Sie zu beleidigen, im Gegentheil, wissen Sie nicht, was die Rose sagt?“

„Gewiß, sie hat sicher gemeint, es sei tausendmal schöner, am Zweig zu sterben, als zu einem so unnützen Zweck abgerissen zu werden.“

„Grausame! … Sie sind hart wie Marmor … Ahnen Sie denn gar nicht, was mich täglich hierher zieht?“

„Ohne Zweifel die Bewunderung für unsere großen Tonmeister.“

„Sie irren sich.“

„Dann jedenfalls zu Ihrem Vortheil.“

„O nein, denn damit käme ich um keinen Schritt weiter. Die Musik ist für mich lediglich die Brücke –“

„Von der Sie sehr leicht in’s kalte Wasser fallen dürften.“

„Und würden Sie mich untergehen lassen?“

„Ja, ganz sicher … Ich bin nicht ehrgeizig genug, um mir die Rettungsmedaille verdienen zu wollen,“ antwortete Elisabeth trocken.

Fräulein von Walde kam zurück. Sie schien verwundert, die Beiden im Gespräch zu finden, denn bis dahin war ja noch nie ein Wort zwischen ihnen gewechselt worden. Ihr Blick streifte prüfend über Hollfeld’s Gesicht, das den Ausdruck eines lebhaften Verdrusses noch nicht ganz zu unterdrücken vermochte, dann setzte sie sich schweigend an das Clavier und präludirte, während Elisabeth die Noten zusammensuchte. Hollfeld nahm seinen gewöhnlichen Platz ein und stützte melancholisch den Kopf auf die Hand. Noch nie aber hatten seine Blicke so glühend und verzehrend auf Elisabeth geruht, als in diesem Augenblick. Sie bereute, sich in ein Gespräch mit ihm eingelassen zu haben; ihr Bestreben, ihn durch Kälte und Schroffheit zurückzuweisen, schien eine ganz entgegengesetzte Wirkung gehabt zu haben. Furcht und Widerwillen bemächtigten sich ihrer beim Anblick seiner auffallend erregten Gesichtszüge, und obgleich das triumphirende Lächeln des Onkels vor ihr aufstieg, gewann doch der Entschluß, lieber den Stunden zu entsagen, als sich noch länger diesen unverschämten Blicken auszusetzen, immer mehr Boden in ihrer empörten Seele.

Die Stunde nahte ihrem Ende, als in Begleitung von Fräulein von Quittelsdorf die Baronin eintrat und auf Elisabeth zuschritt.

„Fräulein von Walde wird Ihnen wohl noch nicht mitgetheilt haben,“ sagte sie in ziemlich gnädigem Ton zu dem jungen Mädchen, „daß sich alle Geladenen zu dem Fest morgen um vier Uhr unten im großen Saal einfinden werden? ich bitte, die Stunde ja nicht zu versäumen. Das Concert wird jedenfalls gegen sechs Uhr zu Ende sein; ich bemerke Ihnen dies nur, damit die Ihrigen Sie nicht früher zu Hause erwarten.“

Helene sah bei diesen Worten verlegen auf die Tasten, während Fräulein von Quittelsdorf sich neben die Baronin postirte und Elisabeth neugierig in’s Gesicht starrte. So hübsch auch die schwarzen Augen waren, die auf ihr ruhten, so fühlte sich das junge Mädchen doch verletzt durch dies unausgesetzte Fixiren. Sie verbeugte sich leicht vor der Baronin mit der Versicherung, daß sie sich pünktlich einfinden werde, und heftete dann einen festen, ernsten Blick auf die hübsche Zudringliche. Die Wirkung war eine blitzschnelle. Fräulein von Quittelsdorf wandte den Kopf weg und drehte sich verlegen und wie ein ungezogenes Kind auf dem Absatz herum. In demselben Augenblick entdeckte sie Herrn von Hollfeld in der Fensternische.

„Wie, Hollfeld,“ rief sie, „sind Sie es selbst oder ist’s Ihr Geist? Was thun Sie hier?“

„Ich höre zu, wie Sie sehen.“

„Sie hören zu? … Ha, ha, ha! … Und genießen Unverdaulichkeiten wie Mozart und Beethoven? … Wissen Sie nicht mehr, daß Sie mir noch vor vier Wochen beim letzten Hofconcert versichert haben, Sie litten jedes Mal nach dem Genuß classischer Musik an verdorbenem Magen?“

Sie hielt sich die Seiten vor Lachen.

„Ach, lassen Sie jetzt die Possen, beste Cornelie,“ sagte die Baronin, „und helfen Sie mir lieber mit Ihrem erfinderischen Geist beim Festprogramm… Und auch Du, lieber Emil, würdest mir einen großen Gefallen thun, wenn Du mitkommen wolltest. … Du weißt ja, ich bin jetzt in die traurige Nothwendigkeit versetzt, eine männliche Stütze neben mir haben zu müssen, wenn meine Anordnungen respectirt werden sollen.“

Hollfeld erhob sich mit sichtlichem Widerstreben.

„Nun, dann nehmt mich auch mit! … Wollt Ihr so grausam sein, mich die ganze, lange Zeit bis zum Thee allein zu lassen?“ rief Helene vorwurfsvoll und stand auf. Sie sah verstimmt aus, und es kam Elisabeth zum ersten Mal so vor, als hafte ihr Blick neidisch auf Corneliens flinken Füßen, die ohne Weiteres Hollfeld’s Arm genommen hatte und zur Thür hinaushüpfte. Elisabeth machte den Flügel zu und wurde eiligst entlassen.

In den Gängen des Schlosses, die das junge Mädchen passiren mußte, herrschte reges Leben. Mehrere Bediente schleppten Körbe voll Silberzeug und Porcellan in ein Zimmer neben den großen Saal. Aus den Küchenfenstern im Souterrain quollen Duftströme aller möglichen gebackenen und gebratenen guten Dinge, und in einem offenstehenden Domestikenzimmer lagen ganze Berge grünen Laubwerks und bereits fertiger Guirlanden und Kränze.

Und er, zu dessen Verherrlichung sich Aller Hände heute rührten und regten, er ritt einsam draußen, mit umdüsterter Seele auf Mittel und Wege sinnend, wie er dem fried- und freudelosen Leben in seinem Hause entfliehen könne!

Elisabeth ging hinüber in das Dorf, um einen Auftrag ihres Vaters auszurichten. Vor einigen Tagen nämlich hatte ein heftiger nächtlicher Gewittersturm dem baufälligen Erker im Garten wieder dergestalt zugesetzt, daß man fürchten mußte, er werde bei der leisesten Erschütterung zusammenstürzen und die ihm naheliegenden, kaum erst mit so großer Mühe hergestellten Gartenanlagen mit seinen Trümmern zerstören. Zwei Lindhofer Maurer hatten endlich Ferber versprochen, die Ruine nächsten Montag abzutragen; da ihnen aber in Bezug auf das Worthalten nicht zu trauen war, wie der Oberförster nach gemachter Erfahrung versicherte, so sollte Elisabeth sie nochmals an ihre Zusage erinnern und ihnen die Nothwendigkeit ihres Kommens vorstellen.

Das Resultat ihrer Wanderung war ein befriedigendes. Einer [164] der Arbeiter hatte ihr sogar bei Allem, was ihm heilig und theuer, geschworen, zu kommen, und nun schritt sie durch den stillen, einsamen Wald nach Hause. Ungefähr in der Mitte des Pfades, der vom Dorf nach dem Forsthause lief, bahnte sich ein schmaler, nach der Burg Gnadeck aufwärts führender Weg ab. Er wurde selten betreten und wäre deshalb für ein fremdes Auge gar nicht sichtbar gewesen, denn an vielen Stellen überwucherte ihn das Gestrüpp, und das modernde Laub lag so locker aufgeschichtet zwischen den knorrigen Baumwurzeln, als sei es noch nie von der Sohle eines Menschen berührt worden. Elisabeth liebte diesen Pfad und wählte auch jetzt ihn zum Rückwege.

Noch nie war ihr hier ein menschliches Wesen begegnet; heute aber war sie noch nicht weit in die grüne Dämmerung vorgedrungen, als sie die Bemerkung machte, daß ungefähr zwanzig Schritte vor ihr, und zwar rechts, drunten am Abhange, neben dem Stamm einer mächtigen Buche, etwas wie ein Arm sich langsam vorwärts strecke und dann wieder zurücksinke. Sie konnte diese Bewegung um so deutlicher erkennen, als an jener Stelle die Bäume weiter auseinander traten und eine kleine Lichtung begrenzten, deren grüner, heller Rasenfleck wie eine Oase mitten im Waldesdüster lag. Elisabeth schritt unhörbar und langsam weiter und kam dadurch immer näher in das Bereich jener Buche, bis sie plötzlich erschrocken stehen blieb.

An dem Baume lehnte ein Mann. Er kehrte ihr den Rücken zu; sein Haupt war unbedeckt und zeigte einen Wust ungekämmter, struppiger Haare. Einen Augenblick stand er unbeweglich, als lausche er auf irgend ein Geräusch; dann trat er einen Schritt vor, hob den ausgestreckten, rechten Arm in die Höhe, richtete die Mündung einer Pistole hinaus nach der Waldblöße, als wolle er auf einen gegenüberstehenden Baum schießen und ließ nach einer Weile den Arm niedersinken.

„Er übt sich,“ dachte Elisabeth, aber sie dachte es nur, um sich zu beruhigen, denn eine unbeschreibliche Angst hatte sich ihrer plötzlich bemächtigt; sie wußte nicht, sollte sie vor- oder rückwärts laufen, um von dem Unheimlichen nicht bemerkt zu werden, und blieb deshalb gerade wie festgewurzelt stehen.

Da schlug Pferdegetrappel an ihr Ohr. Der Mann drüben richtete sich wie elektrisirt in die Höhe. Wenige Augenblicke darauf erschien jenseits der Lichtung ein Reiter. Der Mann mit der Pistole trat rasch zwei Schritte vor, hob den Arm in der Richtung des Reiters und wandte dabei den Kopf etwas seitwärts… Elisabeth erkannte sofort in den todtblassen, von Haß und Grimm entstellten Zügen den ehemaligen Verwalter Linke, und Jener dort, den sein Pferd immer näher vor die Mündung der todbringenden Waffe trug, war Herr von Walde… In diesem Augenblick ging eine merkwürdige Verwandlung in Elisabeth vor. Hatte sie noch eben mädchenhaft ängstlich vor der Begegnung mit jenem unheimlichen Menschen gezittert, so überkam sie jetzt ein wunderbarer Muth, eine unbegreifliche Ruhe und Beherrschung ihrer selbst in dem Gedanken, daß sie berufen sei, zu retten… Lautlos glitt sie vorwärts und stand plötzlich, wie aus der Erde gewachsen neben Linke, der, das Auge gespannt auf sein Opfer richtend ihre Nähe nicht ahnte… Mit aller Kraft, deren sie fähig packte sie seinen Vorderarm und riß ihn zurück. Die Pistole entlud sich mit einem lauten Knall und die Kugel schlug zischend seitwärts in einen Baum, während der Elende entsetzt zur Erde taumelte. Zu gleicher Zeit scholl ein lauter weiblicher Hülferuf durch den Wald… Der Mörder richtete sich auf und floh in das Gestrüpp… Drüben bäumte sich das Pferd im ersten Schrecken, dann aber flog es, von seinem Herrn angetrieben, über die Wiese und stand mit einigen Sätzen nahe bei Elisabeth, die sich todtenbleich an der Buche festhielt, denn nun, nachdem die Gefahr vorüber, machte die weibliche Natur ihr Recht geltend. Das junge Mädchen zitterte am ganzen Körper, aber ein glückliches Lächeln verklärte ihr blasses Gesicht, als sie Herrn von Walde gerettet vor sich sah.

Er sprang bei ihrem Erblicken bestürzt vom Pferde; sie aber, die eben noch eine so außerordentliche Selbstbeherrschung an den Tag gelegt, stieß einen leisen Schrei aus und drehte sich tödtlich erschrocken um, als sich von rückwärts zwei Arme um ihre Schultern legten; sie blickte in Miß Mertens’ tief erregte Züge.

„Um Gotteswillen, Elisabeth,“ rief die Gouvernante athemlos, „was haben Sie gethan, er konnte Sie ermorden!“

Herr von Walde drang durch den Rest von Gestrüpp, der ihn von den Beiden trennte.

„Sind Sie verletzt?“ fragte er rasch und heftig Elisabeth.

Sie schüttelte mit dem Kopfe. Ohne ein Wort weiter zu sagen, hob er sie vom Boden auf und trug sie nach einem umgestürzten Baumstamm, wo er sie niederließ. Miß Mertens setzte sich zu ihr und lehnte den Kopf des jungen Mädchens an ihre Schulter.

„Nun sagen Sie mir, was geschehen ist,“ sagte Herr von Walde zu der Gouvernante.

„Nein, nein,“ rief Elisabeth angstvoll, „nur hier nicht, wir wollen gehen, der Mörder ist entkommen; er lauert vielleicht im nächsten Gebüsch und führt sein Vorhaben doch noch aus!“

„Linke wollte Sie ermorden, Herr von Walde,“ sagte Miß Mertens mit zitternder Stimme.

„Der Elende! der Schuß galt also mir,“ entgegnete er ruhig, ohne das mindeste Anzeichen von Bestürzung. Er ging hierauf tief in das Gebüsch, durch welches, nach Miß Mertens’ Angabe, Linke entflohen war. Elisabeth zitterte, als er im Dickicht verschwand, und war eben im Begriff, alle Selbstbeherrschung zu verlieren und ihm nachzuspringen, als er zurückkehrte.

„Sie können ruhig sein,“ sagte er zu dem jungen Mädchen, „es ist keine Spur von ihm zu entdecken, der schießt heute sicher nicht zum zweiten Mal… Nun erzählen Sie mir den Vorfall, Miß Mertens.“

Sie war, wissend, daß Elisabeth heute über das Dorf zurückkehre, ihr auf dem schmalen Waldweg entgegengegangen. Langsam vom Berg niedersteigend, hatte sie dieselbe Entdeckung gemacht, wie das junge Mädchen. Die Absicht des Elenden war ihr sofort klar geworden, aber der Schrecken hatte sie dergestalt übermannt, daß sie im ersten Augenblick weder Zunge noch Fuß zu bewegen vermochte. So hatte sie in tödtlicher Angst wie eingewurzelt gestanden, als plötzlich Elisabeth, die sie vorher nicht gesehen, hinter dem Mörder erschienen war. Im Entsetzen über die Gefahr, in welche sich das junge Mädchen begeben, war ihr der Hülferuf entflohen, den man mit dem Schuß zugleich gehört hatte… Sie erzählte dies Alles in fliegenden Worten. „Wo nahmen Sie nur den Muth her, Elisabeth,“ rief sie schließlich, „den Menschen zu packen? .… Ich schaudere schon bei dem bloßen Gedanken an die Berührung und hätte es sicher beim Schreien bewenden lassen.“

„Wenn ich schrie,“ entgegnete Elisabeth einfach, „dann konnte eine unwillkürliche Bewegung des Elenden, infolge des Schreckens, das Unglück gerade herbeiführen.“

Herr von Walde hörte der Schilderung mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu. Nur als Miß Mertens beschrieb, wie Elisabeth den Mörder mit Blitzesschnelle gefaßt hatte, wechselte er jäh die Farbe und warf einen langen, ängstlich forschenden Blick auf das junge Mädchen, als wolle er sich versichern, daß es auch wirklich unverletzt aus der Gefahr hervorgegangen sei… Er bog sich zu ihr nieder, nahm ihre Rechte und führte sie an seine Lippen; sie fühlte dabei ein leises Beben seiner Hand.

Miß Mertens, welche bemerkte, daß diese Dankesäußerung Elisabeth sehr verlegen machte und ihr eine Purpurgluth auf die Wangen trieb, verließ ihren Platz, hob die Pistole vom Boden auf, die Linke auf seiner Flucht von sich geworfen hatte, und gab sie Herrn von Walde.

„Abscheulich!“ murmelte er. „Der Elende hat sich auch noch einer Waffe bedient, die mir gehört.“

Elisabeth erhob sich jetzt auch und versicherte auf Miß Mertens’ Befragen, daß sie von den Wirkungen des Schreckens ganz und gar nichts spüre und den Rückweg antreten könne. Beide wollten sich von Herrn von Walde verabschieden; allein er band sein Pferd an der verhängnißvollen Buche noch fester an und sagte in scherzhaftem Ton: „Linke ist, wie wir uns heute überzeugt haben, sehr rachsüchtiger Natur; es dürfte leicht sein, daß er meine Lebensretterin im Augenblick noch grimmiger haßt, als mich selbst … ich kann nicht zugeben, daß Sie ihm ohne männlichen Schutz begegnen.“

Sie stiegen den Berg hinauf. Miß Mertens eilte voraus, um auch Herrn von Walde zur Eile anzutreiben, denn es mußten ja doch Schritte zur Verfolgung des Verbrechers geschehen; allein ihre Bestrebungen waren umsonst. Er schritt langsam und schweigend neben Elisabeth, die eine Zeitlang mit sich kämpfte, endlich aber in leisem, verzagtem Ton ihn bat, er möge jetzt nicht wieder allein zu seinem Pferd zurückkehren, sondern dasselbe holen lassen.

[165]

„Hangen und bangen in schwebender Pein“.
Originalzeichnung von Otto Eberlein.

[166] Er lächelte. „Mein Belisar ist wild und eigensinnig, Sie kennen ihn ja,“ sagte er. „Er geht nur mit mir, und würde es sehr übel vermerken, wenn ihn ein Anderer, als sein Herr, nach Hause bringen wollte… Jener feige Mensch wird übrigens, wie ich Ihnen schon gesagt habe, heute auf keinen Fall einen zweiten Angriff gegen mich wagen… Nun, und wenn auch, ich bin ja gefeit! … Ist nicht heute ein guter Stern über mir aufgegangen?“

Er blieb stehen. „Was meinen Sie,“ fragte er plötzlich mit gedämpfter Stimme, während sein Auge aufleuchtete und das ihre forschend suchte, „soll ich wohl den entzückenden Wahn festhalten, daß er mich durch mein ganzes Leben begleiten werde?“

„Wenn Sie Wagstücke in diesem Sinn ausführen wollen, dann ist es freilich besser, Ihr Glaube an jenen Stern ist kein so unbedingter.“

„Das größte Wagstück war wohl dieser augenblickliche Wahn selbst,“ murmelte er mehr für sich, während ein finsterer Schatten über sein Gesicht flog.

„Ich verstehe Sie nicht,“ sagte Elisabeth erstaunt.

„Das ist ganz natürlich,“ entgegnete er bitter, „Ihr Denken und Wünschen hat ja eine ganz entgegengesetzte Richtung… Bei aller Strenge gegen sich selbst, begegnet es einem doch manchmal, daß man sich von einem lieblichen Traum beschleichen läßt… Nein, nein, sagen Sie nichts mehr! … ich bin ja schon bestraft, denn ich wache.“

Jetzt beschleunigte er seine Schritte und ging nun an Miß Mertens’ Seite, während Elisabeth stumm folgte und sich den Kopf darüber zerbrach, warum er wohl so plötzlich wieder in jenen rauhen Ton verfallen war, der sie stets tief verletzte. Er sprach kein Wort mehr, und als endlich die Mauern des alten Schlosses durch die Büsche blickten, empfahl er sich in auffallend kurzer und knapper Weise und schritt rasch den Berg wieder hinunter.

Miß Mertens sah ihm erstaunt nach. „Sonderbarer Mann!“ sagte sie endlich und schüttelte den Kopf. „Und wenn auch wirklich das Leben für ihn sehr wenig Werth hat, wie ich in diesem Augenblick annehmen muß, so meine ich doch, wäre ein Wort des Dankes beim Auseinandergehen nicht gerade überflüssig gewesen, wenn man bedenkt, daß Sie Ihr Leben um seinetwillen in Gefahr gebracht haben.“

„Ich sehe diese Nothwendigkeit durchaus nicht ein,“ entgegnete Elisabeth. „Sie legen überhaupt meinem Antheil bei dem Vorfall viel zu viel Gewicht bei… Ich habe einfach eine Pflicht gegen den Nächsten erfüllt, und würde,“ fügte sie mit einem eigenthümlichen Trotz in Ton und Geberden hinzu, „ganz ebenso gehandelt haben, wenn der Fall ein umgekehrter und Linke der Bedrohte gewesen wäre… Es ist mir sehr erwünscht, daß auch er die Sache in der Weise auffaßt; denn bei seinem Hochmuth müßte ihm das Gefühl einer nicht einzulösenden Verbindlichkeit einem anderen menschlichen Wesen gegenüber jedenfalls ein höchst peinliches werden, ich aber möchte um Alles dieses Wesen nicht sein.“

In diesem Augenblick stritten zärtliche Angst und Bitterkeit in ihr. Sie verfolgte in Gedanken den Hinabsteigenden Schritt um Schritt und schüttelte sich vor Entsetzen, wenn sie dachte, er gehe vielleicht gerade jetzt an der Stelle vorüber, wo der Rachedürstende auf ihn lauere… dann meinte sie, indem sie hastig vorwärts schritt, es sei doch recht thöricht, alles Denken und Empfinden an einen Mann zu verschwenden, der ihr geflissentlich die rauheste Seite seines Wesens zeige… Selbst der Baronin gegenüber, die ihm doch in tiefster Seele zuwider war, verlor er keinen Augenblick seine Ruhe, setzte er nie die Formen der allgemeinen Höflichkeit aus den Augen, wenn er ihr auch seine Ueberzeugung stets ungescheut in’s Gesicht sagte. Seine ganze Umgebung kannte ihn nicht anders, als von dem Nimbus der Ruhe und Würde umgeben, nur im Gespräch mit ihr hielt er es nicht der Mühe werth, sich zu beherrschen… Wie heftig konnte er da werden! Wie flammten seine Augen auf und hingen mit verzehrender Ungeduld an ihren Lippen, wenn sie nicht rasch oder bestimmt genug antwortete! … Dabei verlangte er, sie solle ihn womöglich schon verstehen, noch bevor er gesprochen, und doch war er ihr noch völlig unverständlich, wenn er fertig zu sein meinte. Vielleicht waren alle Anderen scharfsinniger als sie und fanden sich rascher in seine Sprech- und Denkweise, die für sie nun einmal ein unlösbares Räthsel war und blieb… War es ihr zu verdenken, wenn sie sich vornahm, dergleichen Conflicten künftig auszuweichen? … Gewiß nicht…. Nun, zum Glück war ja seine Abreise nahe … zum Glück? … Der mittelst Trotz und Stolz aufgerichtete Bau der Selbstbetrügerei zerfiel plötzlich vor diesem einen Gedanken; ja, er versank so spurlos, daß sie zu Miß Mertens’ Verwunderung eilig in den Weg einbog, der von der Waldblöße hinunter nach dem Schlosse führte… Sie mußte sich überzeugen, ob Herr von Walde unangefochten zurückkehre. Miß Mertens folgte ihr willig bis in ein Bosket, nahe bei der Thür, wo er abzusteigen pflegte, und auch ihr fiel ein Stein vom Herzen, als er gleich darauf aus dem Walde hervorsprengte.

(Fortsetzung folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 21. Ein Wintervergnügen.


Ruhigem, mildem Schneefall sind sonnenhelle, aber schneidend kalte Tage gefolgt und haben jede stillstehende Wasserfläche mit spiegelblanker Eisdecke belegt. Nur die rasch dahinströmenden Gewässer blieben noch unbezwungen, wenigstens konnte bei diesen der scharfe Frost bisher nur die träger fließenden Uferwellen zu Eis erstarren machen. Alles wilde Wassergeflügel aber ist deshalb von Teichen und Seen – sofern solche nicht warme und darum eisfreie Stellen bieten – vertrieben worden und hat sich auf Flüsse und Bäche geflüchtet, wenn es nicht vorgezogen, gleich weiter südwärts zu ziehen, wohin der eisige Nord, aufgehalten durch die hohe Alpenscheide, nicht folgen konnte, oder doch machtgebrochen nicht mehr im Stande war, das Lebenselement der Wassergeborenen zu starren Krystall zu verwandeln. Lassen wir diese glücklichen, leichtbeschwingten „Segler der Lüfte“ in jene schöneren Gefilde ziehen, wir kältegewöhnten Menschenkinder aber, zumal solche, welche die Natur unter allen Umständen lieben lernten und zu genießen verstehen, erfreuen uns recht gern einmal an so recht echten, herzerfrischenden Wintertagen. Und so eilen wir denn, in Begleitung des wackern Künstlers Otto Eberlein in Göttingen, welchem die Gartenlaube (in Nr. 26, 1865) schon ein allerliebstes Jagdbild zu verdanken hatte, wohlgemuth und munter hinaus in die schneeigen Fluren und durchstreifen da zuerst und vorzugsweise gern den vor uns liegenden weitgedehnten Wald. Hier unter den Bäumen, die unter dem Druck ihrer blendenden Last die Wipfel gleich gothischen Kreuzbögen gegeneinander neigen, wird der Wandelnde von schmeichelndem Dämmerschein umfangen. Nur hier und da durchdringen einzelne blendende Sonnenstrahlen das Waldesdunkel, die aber durch das Schwanken der schneebehaupteten alten Tannen nur in zitternder Bewegung den flaumgedeckten Boden stellenweise zu glitzernder Pracht zu erleuchten vermögen.

So schreiten wir fort, immer dem Lauf eines Baches folgend, der sich in vielfachen Krümmungen durch das bald enge, bald weiter werdende Thal des herrlichen Forstes windet. Rasch fließt das klare Naß, von Eisrändern umstarrt, dahin, denen die daran hineilenden Wellchen sanftklingende, singende Töne entlocken, von so seltsam lieblicher Art, daß man nicht müde wird, den reizenden Accorden zu lauschen. Hier im engen Bett dahinschießend, dort im ruhigen Lauf sich ausbreitend, dann wieder über natürliche Wehre hinabstürzend, daß der aufwirbelnde feine Wasserstaub an dem überhängenden Gezweig der Erlen und Weiden haften bleibt, daran zu wunderbar geformtem Reif erstehend, der, von der Sonne durchleuchtet, einen wahrhaft magischen Anblick gewährt, bietet das Flüßchen dem Wanderer ein ewig wechselndes Bild. Dazu kommt die belebende Staffage eines den kleinen sonnenbestrahlten Strudel oben überflatternden, juwelenschillernden Eisvogels, während weiterhin die einfacher geschmückte, doch gar liebe Wasseramsel das [167] Menschenherz durch ihren geschwätzigen, aber so melodischen Gesang erquickt, den der muntere, traute Vogel, von Stein zu Stein, die dem Wasser entragen, fliegend, trotz aller Kälte ertönen läßt. So bietet der scheinbar so monotone Winter noch Hundertfältiges, was den Naturfreund zu fesseln im Stande ist. Und für den Jäger gar sind die Wintermonate ja recht eigentlich Wonnemonde! Unter solchen Betrachtungen wandern wir weiter und nähern uns dabei dem Ausgang des Waldes, der hier nun lichter und lichter wird. Die blendende Sonne überstrahlt jetzt ungehemmt unsere Bahn, so daß es rings um uns her glitzert und flimmert, besonders wenn der leichte Wind, der sich erhoben, die feinen Schneekrystalle von den Bäumen niederweht. Da ist es, als wenn Demantregen den Höhen entfiele, denn jedes niederschwebende, sonnenbestrahlte Eissternchen blitzt gleich einem irisirenden Edelstein.

Wir verlassen den unvergleichlichen Wald, dafür die sich ihm anschließenden Fluren durchstreifend, aber immer noch dem Bache folgend, der uns schon im bergenden Forste den Pfad angab. Da hören wir plötzlich vor uns einen Schuß, dann rasch hintereinander noch einen zweiten und dritten fallen, uns ein fröhliches Zeichen, daß das lustige Waidwerk heute nicht feiert. Was könnte aber einen Jäger mehr verlocken, als so einem hellhörigen Flintenknall zu folgen? Deshalb beeilen wir uns, die Jagenden ausfindig zu machen, und sehr bald erblicken wir, wenn auch erst noch von Weitem, die Nimrode am Bachesrande und sehen und hören sie nun auch wiederholt schießen. Pfeifend kommen darauf mehrere Stockenten über uns weggezogen, die jedenfalls im Flüßchen gelegen und von den Jagenden beschossen worden sind. Und richtig! Kaum sind wir näher gekommen, so erkennen wir, daß das Schießen allerdings den Enten gegolten hat, und zwar nicht ohne Erfolg, der freilich einen selten drastisch-drolligen Ausgang nehmen sollte.

Da, wo der Bach zwar steilufrig, aber doch ziemlich breit und deshalb weit nach der Mitte zu mit Eis bedeckt ist, war ein angeschossener Entvogel hineingefallen, den ein prächtiger Hühnerhund eben apportirte. Allein das Herauskommen aus dem eisigen Wasser ward dem Eifrigen schier zur Unmöglichkeit, denn sowie dieser auf dem Eise seinen Ausstieg nehmen wollte, brachen jedesmal die dünnen Ränder durch, ohne daß er irgend Fuß fassen konnte. So schwamm der Getreue rastlos den Bach auf und ab, aber nirgends vermochte er das Land zu gewinnen, wie sehr auch die ängstlich zusprechenden Worte seines Herrn ihn dazu anspornten. Dem gequälten Herzen des Gebieters entrang sich gar mancher Kernfluch, der aber nicht etwa seinem Lieblinge, sondern vielmehr nur dem unvorsichtigen Cameraden galt, welcher das brave Thier, ohne zu fragen, in’s Wasser geschickt hatte, nur von dem einen Gedanken beseelt, seine zappelnde Beute zu erlangen. Wie nun aber vollends die Situation des Hundes immer bedenklicher wurde, steigerte der Unwillen des Herrn sich auch fast bis zur Bosheit, indem er jetzt den beutegierigen Schützen mit Entschiedenheit aufforderte: unverzüglich nun mit eigener Hand das erschöpfte Thier aus seiner schlimmen Lage zu befreien, oder …!

Nolens volens schickte dieser sich dazu an, die schwierige Aufgabe zu lösen. Das dünne Randeis hätte unbedingt einen Menschen nicht getragen. Man half sich also in anderer Weise. Rasch wurde eine Erlenstange abgeschnitten und mit einem daran gelassenen hakenartigen Aste der Rettungsbeflissene am Jagdtaschenriemen festgehalten. Die Beine fest eingestemmt am Ufer und sich auf Manneslänge frei über das Eis hinüberbeugend, sollte er den Hund am Halsband erfassen und herausziehen. Und wirklich gelang dieses Manöver auch in so weit, als der Hülfespendende den Apportirenden eben zu erfassen in der glücklichen Lage war und zu diesem Zwecke unwillkürlich noch mit der andern Hand einen leichten Stützpunkt auf dem Eise suchte, – da zum Schrecken Aller brach der frostspröde Haken der Stange und beraubte den horizontal über dem Eise Schwebenden jeglichen Haltes. Klirrend und platschend hörte man den Aermsten erst das Eis durchschlagen und alsdann in’s Wasser plumpsen.

So plätscherten einen Moment Jäger, Hund und Ente, die, in der Verwirrung losgelassen, weiter schwamm, im Wasser herum, während die beiden Cameraden, nun jede Rücksicht gegen sich selbst vergessend, ohne Bedenken bis an den Leib in’s Wasser nachsprangen, den Bedrängten aus seinem unfreiwilligen Bade zu erlösen. Als nun aber alle Drei nebst Hund den kalten Wellen entstiegen waren und stampfend und schüttelnd am Ufer standen, da vermißten sie zu ihrem größten Aerger das eigentliche Unglücksobject, die Ente, die wahrscheinlich unter das Eis gekommen und nicht mehr zu entdecken war.

Wie die betrübten Lohgerber trabte das triefende Kleeblatt dem nächsten Dorfe zu, um möglichst schnell in trockene Kleider zu kommen, so recht das alte Sprüchwort bethätigend:

„Nasses Waidwerk, trock’ner Fischfang –
Ist weder dem Jäger noch Fischer zu Dank!“




Eine Saison beim „Director“ Lampe in Goslar.[1]
Von W. v. V., einem Curgast Lampe’s.


Ein großer Theil meiner Leser wird schon von dem ehemaligen Schuhmacher Lampe gehört haben, der jetzt als Kräuterheilkünstler und Heilanstaltsdirector in Goslar sein Unwesen treibt und sich seines ungemeinen Zulaufs von Patienten aus allen Theilen Deutschlands erfreut. Zu diesem Lampe hatte auch ich vor einigen Jahren meine Zuflucht genommen, denn wer Jahre lang krank ist und nirgends Heilung findet, setzt leider nur zu leicht sein Vertrauen in Mittel, die mit der Quacksalberei so ziemlich identisch sind.

Klopfenden Herzens trat ich einige Stunden nach meiner Ankunft in Goslar in das am Viti-Thor belegene Haus Lampe’s ein; das blaue Schild mit der in Gold gefaßten bedeutungsvollen Inschrift „Heilanstalt“ machte mich wonnetrunken. Endlich sollte ich den Mann mit leiblichen Augen schauen, auf den mein geistig Auge schon längst mit Bewunderung geblickt hatte; endlich sollte ich Heilung finden!

Aber meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt; das Erscheinen einer ältlichen Frauensperson, mehr noch ihre Frage nach Namen und Stand, sowie der kurze Bescheid, „mich andern Tags in den Vormittagsstunden wieder einzufinden,“ dies Alles riß mich plötzlich aus meinem Freudentaumel und machte mich schnell nüchtern. Ich wußte ja nicht, daß Lampe’s angeborenes und durch vieljährige Praxis ausgebildetes Talent der Krankheitserkennung (Diagnose) sich in Einzelerscheinungen wohl einmal täuschen darf, in der Hauptsache aber der Krankheit jeder Zeit auf den Grund sehen muß. Welch’ furchtbares Aufsehen hätte es nun machen müssen, wenn Lampe ganz unvorbereitet mich empfangen und mir Leiden dictirt hätte, die mir vielleicht dem Namen nach bekannt waren, von denen mein Leib aber nichts wußte! Darum ist es eine gute Sitte, daß der Kranke in Goslar dem Director Lampe nicht so ohne Weiteres gegenübertreten darf; Lampe läßt sich nicht darauf ein, den Patienten anzuhören; er bezeichnet die Krankheit selbst ganz genau; ob’s dem Kranken richtig scheint oder nicht, ist ihm sehr gleichgültig und damit „basta“. Um nun aber den guten Ruf über die Gabe des „sicheren Erkennens“ zu bewahren, ist es doch erforderlich, daß der Kranke die Ansichten Lampe’s mit den eigenen wenigstens einigermaßen in Harmonie zu bringen im Stande ist. Lampe forscht daher sehr genau nach der Krankheit – bevor er den Patienten vor sich treten läßt.

Am folgenden Tage begab ich mich zu angegebener Stunde von Neuem zu Lampe; ich erhielt ohne Weiteres Zutritt. Da stand er vor mir, der siebenzigjährige Held des Stückes, er, dem ich mein Schicksal anzuvertrauen Willens war, grau von Kopf bis zu Fuß, wie einer seiner Biographen uns erzählt, den Oberkörper etwas nach vorn gebückt, ein Auge halb auf, das andere nicht geschlossen, [168] nur bisweilen um die Wette zwinkernd mit der schelmischen Falte um den großen Mund. Er würde uns nicht verrathen, daß seine Wiege und sechszig Jahre seines Lebens in einer Schusterwerkstatt gestanden, wenn nicht die linkischen Bewegungen, das Fuchteln mit den langen Armen und die eigenthümliche Behandlungsweise seines Anzugs seine frühere Lebensstellung kennzeichneten. Mütze und Schlafrock gehören zu seinen Lieblings-Bekleidungs-Requisiten; er trägt die Mütze im Freien und in der Stube, nur mit dem Unterschiede, daß er da, wo es gilt, sich zu zeigen, den Schirm, wie jeder andere Mensch, gerade vor die Stirn rückt, während er denselben für gewöhnlich mehr zur Seite, nach rechts hin zieht; der graue Schlafrock, von welchem man umgekehrt sagen kann, was von den englischen Bedientenröcken gilt: „Sehr gut, aber etwas zu kurz gerathen,“ erscheint auf seinem Leibe als ein ungewohntes Bekleidungsstück; er bindet die Schnur desselben nicht vorn, sondern hinten zu und benutzt die daran hängenden rothen Troddeln gleichsam als Verzierung seines Hintertheils.

Bei meinem Eintritt in das Sprechzimmer machte ich eine Verbeugung; bevor ich aber noch meinen Namen zu nennen im Stande war, redete mich Lampe wie Jeden, dem die Zahlungsunfähigkeit nicht geradezu auf der Stirn geschrieben steht, mit der Frage an: „Sie wollen bei mir in die Cur treten?“ Als ich dies bejahte, drehte er mich mit einem kräftigen Ruck an den Schultern dem Fenster zu, so daß das Tageslicht auf mein Gesicht fiel, ruckte den Schirm seiner Mütze etwas mehr zur Seite, heftete den Blick eine Zeit lang stier auf mein Gesicht, zwinkerte mit den Augen, räusperte sich und zählte dann, den Zeigefinger des lang ausgestreckten rechten Armes wie ein Pistol auf meine Brust setzend, in einem Athem die Leiden her, von welchen ich geplagt sein sollte: „Leberanschwellung, Stockungen im Unterleibe, Congestionen zum Kopf, Appetitlosigkeit, Schwindel, Nervenerregtheit.“ – Dies waren die Beschwerden, welche er mit solcher Bestimmtheit nannte, daß ich an deren Vorhandensein gar nicht zweifeln konnte. Anfänglich überraschte mich diese Diagnose, bald aber sah ich ein, daß Alles ganz natürlich sei; ich hatte meine Leiden mit denselben Worten brieflich geschildert, und Lampe gewann zwischen meinem ersten Besuch, der ihm die Kenntniß meines Namens eintrug, und dem zweiten soviel Zeit, daß er mir zur Noth meinen ganzen, vier Seiten langen Brief hätte hersagen können.

Nach Feststellung der Krankheit richtete Lampe die Frage an mich: „Was hätten Sie gemacht, wenn ich nicht da wäre? Die dummen Kerls, die Aerzte, haben schon viel Unheil in Ihrem Körper angerichtet.“

„Das wissen die Götter“ antwortete ich, „Sie aber wollen mir offen gestehen, ob Hoffnung zur Genesung noch vorhanden ist.“

„Sie sollen nicht sterben“ war seine Entgegnung, die er mit einem freundlichen Lächeln und leisem Klopfen auf meine Schulter begleitete.

Nachdem ich noch meinen Namen und Stand in das Curbuch eingetragen, erhielt ich mein Quartier angewiesen, und empfahl mich, begleitet von der nochmaligen Versicherung Lampe’s: „Sie sollen nicht sterben.“ Zum Sterben war ich freilich nicht nach Goslar gekommen, aber ich muß gestehen, daß mir diese, eigentlich nichtssagende Redensart mehr imponirte, als es früher mit den trostreichsten Versicherungen je der Fall gewesen.

Die Art der Krankheiten, die ich in dem mir zur Wohnung angewiesenen Hause vertreten fand, mußte mein Vertrauen zu Lampe entweder grenzenlos steigern oder aber total vernichten und Lampe als Charlatan vom reinsten Wasser hinstellen. Ich sah Zuckerkrankheit, Schwindsucht, Gelbsucht, Gicht etc. vertreten, und jeder einzelne Repräsentant dieser Leiden erzählte mir ganz treuherzig, wie er höchst elend nach Goslar gekommen, jetzt aber sich bedeutend wohler fühle. So kam es, daß die Wagschale, in welche ich die Gefühle pro et contra Lampe warf, sich vorerst entschieden zu Gunsten Lampe’s neigte. Die Zeit der Verblendung war aber für mich nur kurz; schon das, was ich gleich bei Beginn der Cur sah und hörte, mußte mich mit Recht nachdenkend und argwöhnisch machen.

Die Sommersaison zwar noch nicht eröffnet; wir genossen den sogenannten Kräutertrank in unserer Behausung; die Tochter des Hauswirths holte ihn Morgens und Nachmittags zur bestimmten Stunde aus der Wohnung des Directors.

Wie lachte ich über die sonderbare Manier, mit welcher Lampe die Unterscheidung zwischen den einzelnen Flaschen der Medicin bewerkstelligt! Wie erstaunte ich aber, als ich Wirthsleute wie Curgäste allen Ernstes jene Merkmale als von höchster Wichtigkeit, als Barometer des Befindens hinstellen hörte! Ein viereckiges Stück eines französischen Kartenblattes, vermitelst eines durch zwei Ecken gezogenen Bindfadens über den Hals der Flaschen gehängt, bildet die Etiquette; aus der Farbe der zur Marke benutzten Karte ersieht der Patient seine und Herrn Lampe’s Hoffnungen. Findet der Curgast seine Flasche mit einer rothen Farbe, mit Coeur oder Carreau bezeichnet, so mag er jubeln, denn mit seiner Krankheit ist es dann nicht weit her, die Heilung ist eine Kleinigkeit; aber wehe, wehe, erhält er eine schwarze Farbe, Trefle oder Pique, vielleicht gar Pique-Aß, als memento mori! Sein Zustand ist dann bedenklich, wenn auch Lampe hinterher so thun sollte, als ob er von der ganzen Sache nichts wisse.

Ich habe dieser Alfanzerei nur Erwähnung gethan, weil ich überzeugt bin, der Leser wird schließlich mit mir zu der Einsicht gelangen, daß die ganze Lampe’sche Cur eben nichts weiter als eine großartige Possenreißerei ist.

Ueber das sonst so gemüthliche und naturwüchsige Goslar ist mit dem officiellen Breitmachendürfen der Lampe’schen Cur eine fast unglaubliche Corruption hereingebrochen. Die Gier nach dem Gelde der düpirten Kranken wäre noch zu verzeihen, aber unverzeihlich ist es, daß die große Mehrzahl Derer, denen durch Lampe materieller Nutzen erwächst, sich auch zu Werkzeugen der abscheulichsten Gaukelei machen. Man forscht den neu ankommenden Kranken erst gründlich aus, meldet die Krankheit dem Herrn Director und dieser hat dann eben keine schwierige Aufgabe, die Leiden festzustellen.

Der Kranke ahnt gar nicht den Zweck der zudringlichen Fragen seiner Wirthsleute; diese stellen sich gewöhnlich auch so dumm an, als ob sie die unschuldigsten Leute von der Welt wären. So wird denn z. B. ein Schwindsüchtiger gefragt: „Sie haben wohl die Wassersucht?“

„Nein,“ erwidert der Gefragte, „ich habe starken Husten mit Auswurf und Anlage zur Schwindsucht.“

„Das sieht Ihnen aber kein Mensch an,“ entgegnet der verschmitzte Wirth, wenn auch der Kranke bereits auf dem letzten Loche pfeift, und erhält nach und nach alles das zu wissen, was ihm, mehr noch was Lampe in seinen Kram paßt. Der Wirth ist nun aber auch nobel und revanchirt sich durch gleiche Offenherzigkeit; er erzählt dem Patienten Wundercuren, gegen welche die Heilung von Schwindsucht eine wahre Bagatelle ist; er versichert vorzugsweise, daß von Goslar Niemand ungeheilt fortginge.

Nur durch die Quartiergeber in Goslar, also durch Lampe’s Creaturen, lernt man, wie die Kunst im Heilen, so auch die Mildthätigkeit Lampe’s kennen. Da heißt es denn: „Ach, der Herr Director ist ein sehr guter Mann; er curirt Viele für die Hälfte, ein großer Theil hat die Cur ganz umsonst.“ Ich erwidere darauf: Lampe nimmt, abgesehen von zwei bis drei Exemplaren, die als Repräsentanten seiner Mildthätigkeit figuriren müssen, Niemanden in die Cur, dem er die Zahlungsunfähigkeit ansieht oder abfragt; wer aber Monate lang den abscheulichen Curtrank genossen, mit schwerem Gelde bezahlt und noch nicht die Lust verloren hat, die Cur aufzugeben, dem bewilligt Lampe zuweilen großmüthig die halbe Curtaxe. Man bedenke aber, was das sagen will! Man hat beispielsweise in acht Wochen mit achtundvierzig Thalern – die Flasche fünfzehn Silbergroschen! – einen Trank bezahlt, den jeder Apotheker für etwa sechs Thaler – die Flasche zwei Silbergroschen gerechnet – mit Freuden liefern würde, und erhält nun hinterher vom Herrn Director die Vergünstigung, fortan die Flasche statt acht nur etwa vier Mal höher als bei jedem Apotheker bezahlen zu dürfen. Der Aufenthalt in Goslar wäre nicht zu theuer; der Wirth erhält für Logis und Kost nur sechs, höchstens acht Thaler wöchentlich; Lampe aber vertheuert den Aufenthalt, indem er sich für den abscheulichen Trank eben so viel wie für Logis und Kost bezahlen läßt. Ich weiß bestimmt und habe es mit eigenen Ohren gehört, daß, wo Lampe über die Geldverhältnisse eines Kranken zweifelhaft war, er denselben ohne alle Umstände nach dem Bestand seiner Casse fragte und hiernach die Länge der Cur bestimmte oder wohl auch den armen Kranken gar nicht annahm. –

Ich begann die Cur und trank regelmäßig den mir vorgesetzten Kräutertrank. Es ist in der That keine Kleinigkeit, den abscheulichsten Trank von der Welt in Portionen von je einem Quart [169] des Morgens und Nachmittags herunterwürgen zu müssen, und ich habe Manchen gesehen, bei dem derselbe ohne Weiteres den Weg zurücknahm, den er kurz zuvor gegangen. Da nimmt es freilich nicht Wunder, wenn oftmals in kürzester Zeit in dem Befinden des Patienten eine Krisis eintritt, auf die Lampe, Quartiergeber und Gast gleich stark, wie auf eine Verheißung, rechnen. In Goslar ist die Krisis das geworden, was beim Bäcker die Semmel ist; man mag jammern oder frohlocken – alle Welt fragt, und die Frage paßt auch auf alle Fälle: „haben Sie schon die Krisis gehabt?“

In den ersten Tagen der Cur erging es mir, gleich manchem anderen Patienten: die Hoffnung auf Heilung erweckte in mir Muth und Vertrauen. Der bis dahin finstere Blick belebte sich neu und wurde noch heiterer, als meine Gattin, nach überstandenem Wochenbette, als Trösterin zu mir eilte. – Wie erstaunte ich aber, als Lampe gleich bei dem ersten Besuche, welchen er meiner Frau abstattete, die Verordnung gab, daß auch sie den Kräutertrank genießen sollte; meinen Begleiter, dem er, wie fast aller Welt, versteckte Hämorrhoiden zudictirte, hatte er bereits zum Curgast gemacht, und selbst unser neugebornes Kind sollte von dem Safte nicht verschont bleiben. Wir mußten sammt und sonders purgirt werden, denn das Purgiren schwächt nicht, wie Lampe hoch und theuer versichert. Unser Kind blieb auf den von mir erhobenen und durch das Alter von erst sechs Wochen begründeten Protest von der Strafe des „Trinkens“ zwar verschont, es wurde dafür aber die Strafe der „Einreibung“ substituirt. Diese Einreibungen bilden einen wichtigen Theil der Lampe’schen Cur; sechs Mal in der Woche wird der ganze Körper des Patienten, besonders Rückgrat, Bauch und Brust, mit einer eigens dafür hergerichteten Fichtennadelsalbe stark und gehörig eingerieben. Dies Geschäft besorgt ein durch Lampe geschulter Curdiener, Namens Lentje, resp. dessen Frau.

Ich habe mich nicht überzeugen können, daß diese Einreibungen so ganz harmloser Art sind; die Salbe enthält Terpentin und kann zuweilen gefährliche Entzündungen hervorrufen. Eine Frau von K…e aus der Provinz Sachsen kam nach Goslar, um sich von rheumatischen Leiden heilen zu lassen. Die Einreibungen wurden forcirt, und bald stellten sich an einem Knie Entzündung und Geschwulst ein. „Hic haeret aqua“ hieß es nun für Lampe und der Physicus Dr. Müller wurde herbeigeholt. Lampe ersuchte diesen, die Geschwulst zu schneiden, Dr. Müller erklärte solches Beginnen für wahnsinnig, da sich die Rose eingestellt hatte. Herr von K., der seine Gattin mit einfachem Rheumatismus nach Goslar reisen ließ, erhielt sie von Lampe nur als – Leiche zurück. –

An einem Kinde von sechs Wochen, das wird mir Jeder zugestehen, der ein derartiges Geschöpf je genauer betrachtet, ist äußerst wenig einzureiben; ich glaubte den Wünschen meines Kindes, welches selbst noch unfähig zum Ausdruck derselben war, entgegen zu kommen, wenn ich um möglichste Schonung bat. Nach einiger Zeit ließ ich die Reibungen einstellen; das Kind bekam, wahrscheinlich vom Schreien dabei, einen Nabelbruch.

Es ist ein schöner Trost in dem alten Worte enthalten: „wer weiß, wozu es gut ist?“ Auch ich tröstete mich damit und lernte bald erkennen, daß alle Wege der Vorsehung zum Besten dienen. Das kranke Kind durfte ich nicht länger in Lampe’s Behandlung lassen, auch der Zustand meiner Frau gab zu mancherlei Bedenken Anlaß, ich selbst aber fühlte das Herannahen der Krisis, vor welcher ich eine unerklärliche Furcht hatte; so erbat ich mir denn ohne Zögern den Besuch des mir zunächst wohnenden Arztes, des Stadt-Physicus Dr. Müller.

Bevor ich nun näher auf mein Verhältniß zu genanntem Arzte eingehe, will ich noch in Kürze Kunde von dem geben, was ich bei Lampe zu der Zeit sah und hörte, als mein Vertrauen zu seiner Kunst noch nicht ganz erschüttert war. Der Leser wird dann begreifen, warum ich mit der Zeit auf einen wirklichen Arzt wie auf eine Verheißung wartete. –

Ich erlitt also alle Qualen der Cur in Geduld, auch selbst dann noch, als sich bereits sehr bedenkliche Erregtheit, Appetitlosigkeit und gänzliche Schlaflosigkeit eingestellt hatten. Während der Nacht mußte ich, so leid es mir that, den Schlaf meiner ruhebedürftigen Frau stören; sie mußte mich trösten und die Bedenken zerstreuen, welche nach und nach immer lebendiger vor meine Seele traten. Bei Tage besorgte dies Geschäft Herr Lampe; zu ihm nahm ich, so oft es nur anging, meine Zuflucht, theils allein, theils in Begleitung anderer Curgäste, um mir Trost zu erbitten. Ich fand denselben auch regelmäßig, theils in Gestalt eines kleinen Schnapses, theils in der bestimmten Angabe der Ursachen, welche störend auf den Heilungsproceß influirten. „Sehen Sie nicht,“ so begann Lampe auf meine Klagen nach der Wetterfahne zeigend, „daß wir Westwind haben“ – und ich war befriedigt. War es kein Westwind, so thaten Nord-, Ost- und Südwind dieselben Dienste, und war es ganz windstill, so mußten, unter andern Dingen, Neumond, erstes Viertel, Vollmond und letztes Viertel herhalten. War Lampe guter Laune, so nahm er zu der Zeit, als die eigentliche Saison noch nicht eröffnet war, mich und sämmtliche Patienten in seine Stube und erzählte uns von seinen Wundercuren.

Lampe nimmt, wie schon erwähnt, Jedermann in Behandlung, der nicht zahlungsunfähig oder vielleicht mit Ekel erregender, ansteckender Krankheit behaftet ist. Schwindsüchtige nimmt er recht gern auf; diese Patienten incommodiren ihn in der Regel nicht lange, er muß nur Acht darauf haben, daß er dieselben als „geheilt“ oder mit der Weisung, „in einiger Zeit wieder zu kommen“, aus Goslar jagt, bevor ihnen die Vorsehung den Weg in das Jenseits anweist. Bei Schwindsüchtigen läßt die Krisis nicht lange auf sich warten; der abscheuliche Trank, mit dem man im Stande ist, auch den verstocktesten Sündern die Seele aus dem Leibe zu purgiren, raubt dem Schwindsüchtigen die letzte Lebenskraft und beschleunigt sein Ende. – Bei Schwindsüchtigen vertritt Lampe in Wahrheit das Amt eines Nachrichters.

Es ist eine grobe Lüge, wenn Rolffs, der Biograph Lampe’s, erzählt, daß Lampe für jeden Kranken eine besondere Medicin bereite; er verfährt vielmehr ganz nach früheren Erinnerungen, indem er Alles über Einen Leisten schlägt. Purgiren schwächt nicht, der Stoffwechsel muß herbeigeführt, daher auch alle Welt purgirt werden, ob schwind- oder wassersüchtig. Lampe bezeichnet die Flaschen verschieden durch Kartenblätter, er holt sie auch, sobald die Cur im Garten begonnen, aus verschiedenen Abtheilungen hervor; es ist das Alles aber pure Gaukelei. Ich habe die Flaschen von Schwindsüchtigen, Zuckerkranken, Podagristen etc. gekostet; überall dieselbe Mixtur, bestehend aus Aloe, Faulbaumrinde, Rhabarber, Sennesblättern, Enzian, Ellernrinde, ja sogar gewöhnlicher Gerberlohe, wie auch der von Lampe fortgeschickte Apotheker angiebt.[2]

Wir sind im Mai; die Saison hat begonnen, der Verkehr ist bereits rege und wird täglich lebhafter. Es ist acht Uhr Morgens und die Zeit der Ausgabe des Kräutertranks gekommen; treten wir einmal ein in den Curgarten. Die ganze Anlage desselben ist hausgartenartig, klein und patriarchalisch, von den engen Laubgängen an bis zum Pavillon, der aus einer sommerlichen Theestube zum Orchestersitz umgeschaffen ist. Zweimal des Tages versammelt sich hier zur bestimmten Stunde eine fashionable Welt, Damen und Herren, um den dunkelbraunen Trank, täglich zwei große Flaschen voll, ernst und gewissenhaft bis auf die Neige zu leeren und sich die schlichten Weisen des deutschen Commersbuches: „Wo Muth und Kraft“, „Heute muß ich fort von hier“ etc., vorspielen zu lassen. – Da kommt er selbst, der Veranstalter dieser Komödie, en escarpins, den Schlafrock um den Leib, die unvermeidliche Mütze auf dem Kopf. Er hat seine Frau, Karoline, am Arm und promenirt mit dieser in dem kleinen, dicht vor dem Curhause gelegenen Hofraum, um den Curgästen einstweilen ein glückliches Eheleben vorzuführen. Die Nonchalance, mehr noch die Rücksichtslosigkeit Lampe’s hinsichtlich seines Anzuges, geht oft in’s Unglaubliche.

Einstmals verwies ihm die Gräfin von B…f diese Unziemlichkeit mit den Worten: „Herr Director! Wenn Sie wollen, daß ich und die übrige Damengesellschaft noch ferner Ihren Garten besuchen sollen, so bitten wir Sie, für die Zukunft in einem Costüm zu erscheinen, welches uns die Erfüllung Ihres [170] Gebots zur Möglichkeit macht!“ – „Frau Gräfin, da ist die Thür,“ war die Antwort des erzürnten Directors, und alle Einwendungen halfen hier nichts – die Frau Gräfin mußte den Garten verlassen. Später hat diese Dame dann dem Wunderdoctor viel gute Worte geben müssen, um wieder in die Cur aufgenommen und des Lampe’schen Heils noch ferner theilhaftig zu werden. Das ist eine Probe von Lampe’s Höflichkeit, die ebensosehr wie seine Mildthätigkeit und Sanftmuth gerühmt wird.

Lampe hat nach einiger Zeit das Promeniren mit seiner Karoline aufgegeben und befindet sich mitten unter den Curgästen. Sobald dieser Moment je eintrat, versammelte sich die große Mehrzahl der Gäste schnell um den Director, wie um ein Wunderthier. Er richtete diese und jene Frage an einzelne Patienten, bis ihm dann die Gelegenheit kam, als Apostel aufzutreten. „Sehen Sie, meine Herren,“ so begann Lampe, „Sie sind Alle hier, um gesund zu werden. Die verfluchten Doctors haben viel verdorben; jetzt kommen Sie zu mir, weil Ihnen kein Arzt mehr helfen kann. Sehen Sie, ich könnte auch Doctor sein, aber ich wollte es nicht; der Titel ist mir angeboten, ich wollte aber lieber Director heißen, und das bin ich auch geworden. Ich selbst kann nicht heilen; ich kann nur den Stoffwechsel herbeiführen, die Heilung kommt dann ganz von selbst. Sie Alle werden gesund von Goslar gehen oder doch sehr bald zu Hause gesund werden; aber prägen Sie sich das ein, daß Sie sich vor den dummen Kerls, vor den Doctors, zu hüten haben. Sonst können Sie leicht einen Rückfall bekommen.“ Auf die Bemerkung irgend eines Curgastes, „wie der Herr Director doch so schnell zu Macht und Ansehen gestiegen, und selbst die höchste Anerkennung gefunden,“ brummt er dann vor sich hin: „Ja, wenn der Kronprinz von Hannover nicht zur Zeit meine Hülfe nachgesucht hätte, so –“, und: „wenn der König früher zu mir gekommen wäre, so –.“

Und nun giebt Lampe den neuangekommenen Curgästen lebendige Beispiele seiner Kunst in einer Weise, über die man sich todtlachen müßte, wenn es nicht zum „Todtweinen“ wäre. Für manche Kranke hatte Lampe die „halbe Krisis“ erfunden. Das Wort „Krisis“ war in Goslar in Aller Munde; was Lampe unter halber Krisis verstand, haben sie mir nicht mitgetheilt; ich kann es mir aber wohl denken. – Aus der Krisis geht der Patient in Goslar entweder todt oder lebendig hervor. Tritt der erste Fall ein, so war die Krisis vollständig, ja mehr als das, und man erwähnt ihrer gar nicht erst; im zweiten Falle aber bestimmt Lampe darüber. Hat Jemand die Droguencur schon so lange gebraucht, daß es als ein Wunder zu betrachten ist, wenn er aus der Krisis überhaupt noch auf die Beine kommt, so hat er seine Schuldigkeit gethan und die ganze Krisis überstanden. Es wird ihm einfach erklärt: „Sie sind geheilt und können reisen,“ wenn er auch nichts dem Aehnliches an sich verspürt. Ist er etwa so offenherzig zu erklären: „Ich fühle mich aber doch noch sehr leidend,“ so erhält er den Trost mit auf den Weg, daß die Nachcur die hier begonnene Heilung vervollständigen werde. Ist dagegen die Krisis bald nach Beginn der Cur eingetreten und giebt der Zustand des Betreffenden zu keinem ernsten Bedenken Anlaß, so vindicirt man ihm die halbe Krisis. Er kann weiter trinken und so seine sechs bis acht Wochen, die gewöhnliche Curzeit, unter Zahlung von sechs Thalern pro Woche, abarbeiten.

Hat Lampe seinen Vortrag geendet, den ärztlichen Stand, wie immer, nach Möglichkeit und in der brutalsten Weise insultirt, so lohnt ihm reichlicher Applaus seiner Zuhörer. Der seiner Rede zu Theil gewordene Beifall versetzt Lampe in Ekstase; er ruft diesem und jenem zu: „Nu, man nich den Kopf hängen lassen; immer frischen Muth, Ihr müßt Alle gesund von Goslar gehen,“ und befiehlt der Musik, zur Aufheiterung der Gesellschaft einen recht „Lustigen“ zu spielen. Er bezeichnet selbst das zu spielende Stück: “Ach, ich bin so müde, ach, ich bin so matt“, dreht sich, als ob ihn eine Tarantel gebissen, nach dem Tact der Musik im Kreise herum und verschwindet unter einem gnädigen „auf Wiedersehen!“ den Blicken der gaffenden Menge.

Es ist ein Wagstück für einen Curgast Lampe’s, einen wirklichen Arzt zu Rathe zu ziehen; verschwiegen bleibt es nicht lange, und erfährt es Lampe, so ist es mit dem Verweilen in Goslar zu Ende, man erhält den Laufpaß. Der betreffende Quartiergeber muß dem Willen seines Gebieters Folge leisten, und böte man ihm auch den zehnfach höheren Miethspreis, er würde doch eintretenden Falls die Exmission vornehmen und vornehmen müssen, wenn anders er nicht von Stund’ ab auf jede andere Einquartierung zu verzichten gesonnen wäre.

So entschloß auch ich mich nur mit Zagen zu dem Schritt, den Dr. Müller zu consultiren; aber die Nothwendigkeit war geboten, Frau und Kind waren leidend, das letztere, so dachte ich, konnte zur Noth als Ableiter des Lampe’schen Zorns dienen. Ich ging nun gar nicht mehr zu Lampe, ließ mich krank melden und erhielt die zwei Flaschen Kräutertrank pro Tag regelmäßig nach meiner Wohnung. Ich darf wohl nicht erst versichern, daß ich den Trank fortan nicht mehr genoß; ich goß ihn in die Straßenrinne und zahlte, so lange ich noch in Folge der erlittenen Cur unfähig zur Rückreise war, die sechs Thaler per Woche regelmäßig weiter. Lampe schwieg, er traute mir wohl schon längst nicht mehr, ich aber fürchtete ihn jetzt nicht sonderlich, da mir der menschenfreundliche Arzt, Dr. Müller, für den Fall der Exmission bereitwilligst ein Logis bei einem seiner Verwandten zur Verfügung stellte. Ich war übrigens in Folge der entsetzlichen Purgircur so kraftlos geworden, daß ich Tage lang nicht das Zimmer zu verlassen und nicht anders als mit den Händen von Stuhl zum Tisch greifend mich über die Stube fortzubewegen vermochte; die Nerven waren auf’s Furchtbarste angegriffen, ihre Erregtheit hatte eine bedenkliche Höhe erreicht. Dazu traten nun noch als stetes Gefolge einer so sinnlosen Purgircur die heillosesten Unterleibsstockungen, so daß der Gesammtzustand mir in Wahrheit die größten Besorgnisse einflößte.

Nach etwa vierzehntägiger Behandlung durch den Physicus Dr. Müller hatte ich das Unheil, welches die Lampe’sche Cur über meinen Körper gebracht, wenigstens so weit überwunden, um ohne zu große Gefahr die Rückreise antreten zu können. Ich wollte aber doch nicht ganz, wie eine Katze aus dem Taubenschlag, aus Goslar ziehen, und so entschloß ich mich, obschon schweren Herzens, dem Herrn Director noch einen letzten Besuch zu machen. Als ich in den Curgarten trat, fand ich denselben von Curgästen bereits geleert, nur Lampe saß, in Gedanken vertieft, auf einem erhöhten Platz in einer Laube; vielleicht stellte er so seine Betrachtungen über das „die Welt will betrogen sein“ an. Als er meiner ansichtig ward, rief er mir auf den ihm dargebotenen Morgengruß mit rauher Stimme entgegen: „Wo stecken Sie? Warum kommen Sie nicht zur Cur?“

„Ich war sehr leidend,“ war meine Antwort.

„Nun,“ entgegnete der Spaßvogel, „wissen Sie denn nicht, daß wir Neumond haben? Man muß nicht so zimperlich sein; kommen Sie einmal näher.“

Ich mußte mich nun an seine Seite setzen und er fragte weiter: „Wie lange sind Sie in der Cur?“

„Acht Wochen,“ erwiderte ich und erhielt nun die glücklichste Bescheerung in meinem Leben mit den inhaltsschweren Worten:

„Sie sind gesund und können reisen! Was noch an Krankheit in Ihrem Körper etwa vorhanden sein sollte, verschwindet in der Nachcur; ich werde Ihnen das Recept geben, holen Sie sich den Thee und verfahren Sie nach Vorschrift. Nur mäßig in allen Dingen, und die verfluchten Doctors lassen Sie ja in Ruhe!“ –

Wem Geld und Gesundheit lieb ist, der folge meinem Rathe und reise nicht nach Goslar! Nicht Jedem dürfte es ergehen wie mir, der ich bei meiner sonst zähen Constitution noch so mit blauem Auge davongekommen bin, obschon ich noch lange an den Folgen dieser unverantwortlichen Cur zu leiden hatte. Schwache Naturen können nach dieser willkürlichen, mehr für Pferde denn für Menschen eingerichteten Cur den Tod oder doch vollständiges Siechthum davontragen. Vor keinem der bekannten Medicinal-Pfuscher muß so ernstlich gewarnt werden, wie gerade vor Friedrich Lampe in Goslar, trotzdem, oder besser gesagt, weil er Director einer Heilanstalt ist und cum privilegio curirt; in dieser Auszeichnung, die an ihm geradezu zum Hohne wird, liegt die Versuchung und das Verderben für Tausende von Menschen.

Irren ist menschlich und verzeihlich! Nach meiner innersten Ueberzeugung, Keinem zu Gunsten oder Gefallen, rein empirisch, spreche ich meine Ansicht dahin aus: Lampe ist der größte Charlatan der Welt! Durch zähe Ausdauer, durch richtige Speculation auf die Dummheit der Menschen, durch Schlauheit, am meisten aber durch besondere Glücksumstände ist es ihm gelungen, Behörden und Publicum in Täuschung zu versetzen und es schließlich dahin zu bringen, der Vernunft wie dem Rechte officiell in’s Gesicht schlagen zu dürfen.



[171]
Ein Ritter vom Zukunftsgeiste.


Wer etwa noch an dem alten Wahne festhält, das staatliche, gesellschaftliche und religiöse Entwickelungsleben der heutigen Menschheit seien verschiedene, für sich bestehende, einander wenig berührende Departements des Menschengeistes, so daß der Theolog nur die Religion, der Diplomat nur den Staat, der Jurist und Cameralist nur die Gesellschaft zu fördern habe, der wird sich in den Fortschrittskampf unserer Tage nicht zu finden wissen und über die rüstigen und muthigen Vorkämpfer in demselben unwillig erstaunt den Kopf schütteln. Denn der gewaltige Drang nach vollständiger Lebenseinheit, nach Neugestaltung und höherer Entwickelung des ganzen Menschheitslebens lebt und webt in all diesen Rittern vom Geist, wenn auch individuell verschieden, so doch im Allgemeinen auf ziemlich gleiche Weise und ein und dasselbe Ziel anstrebend. Wenn z. B. Schulze-Delitzsch auf dem socialen Gebiet zumeist thätig ist und in der Förderung des Interesses des Arbeiterstandes seine glänzenden Triumphe feiert, so wäre es sehr thöricht, anzunehmen, seine Geistesrichtung beschränke sich auf dieses Gebiet, und er dächte und strebte nun in staatlicher Beziehung anders, als der wahre Staatsmann denkt und strebt, oder in religiöser Beziehung anders, als z. B. Wislicenus und Schenkel, oder in Bezug auf das Naturleben anders, als Moleschott. Es wäre derselbe Irrthum, als wenn man annehmen wollte, ein Augenarzt aus der Gräfe’schen Schule sei nicht im Einklang mit den Fortschritten der neuen rationellen Heilkunde überhaupt. Wie hier das Leben des menschlichen Körpers in seinen einzelnen Theilen durchaus als Ganzes erkannt und behandelt werden muß, ganz ebenso das Leben des menschheitlichen Körpers. Der echte Ritter vom Geist, der im Dienste der Zukunft je nach seiner individuellen Begabung oder nach dem sympathischen Zuge seines Genius sich vorzugsweise der Hebung und Förderung des religiösen Lebens zugewandt hat, wird der analogen Hebung und Förderung aller andern Interessen der Menschheit zugethan sein, wie der moderne Augenarzt dem Fortschritte aller übrigen medicinischen Disciplinen.

Was vermögen die Gespenster alten Wahnes und neuer Halbheit gegen die markige Kraft, gegen die schlagfertige Gewandtheit und den jungen Heldengeist der echten Paladine von der modernen Tafelrunde! Diese, auf dem felsenfesten, unerschütterlichen Boden der Wissenschaft stehend, welchen sie sich selbst auf die Grundvesten der Natur mit kühnem Forschergeist, mit bewundernswerthem Eifer und Fleiß und mit glühender Begeisterung gebaut haben, setzen den Hebel an die Welt des bisherigen Scheins, um diese mit archimedischer Wissenschaftskraft aus den Angeln zu heben und an ihre Stelle die aus der Naturerforschung hervorgegangene, aus dem erleuchteten Menschengeiste geborene und mit dem Feuer hochpoetischer Begeisterung getaufte neue Welt des Seins, der Wahrheit zu stellen. Ist die Zahl dieser Tafelrunde auch noch nicht Legion, sie wächst von Tag zu Tag, und was ihr an Quantität fehlt, ersetzt sie an Qualität, und wir dürfen den Anstrengungen der Don Quixote der alten Weltanschauung gegenüber die erhebende Ueberzeugung aussprechen: sie werden die alte Welt des Wahns überwinden! Sie werden die neue Welt der Wahrheit aufbauen, sie werden den Sieg haben, wie das kleine Häuflein der Apostel, oder richtiger der einzige, geistesstarke Paulus auch die römische Welt besiegte und die christliche an ihrer Stelle aufbaute.

Wenn wir die Häupter der Ritter von dieser Tafelrunde des Geistes, die jetzt auf der Lebensbühne thätig sind, diese echten Naturforscher, hier zusammenzählen wollten, es würde sich eine auch numerisch nicht zu verachtende, die Blüthe des heutigen Geistes repräsentirende Sippe herausstellen. Wir bescheiden uns aber heute, nur einen derselben vorzuführen, der durch Vielseitigkeit, Gewandtheit, Unerschrockenheit, Kampftüchtigkeit, Geistesstärke und Milde in gleich hohem Grade, Gerechtigkeits- und Menschenliebe, Gedankentiefe und Klarheit der Darstellung, Idealismus und poetischen Schwung, so wie in allen Tugenden des modernen Geistritterthums so ausgezeichnet ist, daß wir nicht zu weit zu gehen fürchten, wenn wir ihn als Typus der ganzen Genossenschaft betrachten.

Wir meinen den edlen und wackern Vorkämpfer Eduard Baltzer.

Wir wissen recht gut, welche Vorurtheile uns bei Nennung dieses sehr bekannten Namens in einer großen Anzahl der Leser dieses Blattes entgegentreten, aber wissen ebensogut, wie leicht sie sich dem zerstreuen, der unsern Mann in seinem rechten Lichte zu sehen versteht. Man hat gelesen, daß Baltzer, früher protestantischer Prediger wie G. A. Wislicenus, in ähnlicher Weise wie dieser aus der Kirchengemeinschaft getreten, wie dieser eine freie Gemeinde in Halle, so er eine solche in Nordhausen gegründet hat, deren Sprecher und Vorsteher er heute noch ist, und man denkt sogleich an einen Abklatsch von Zinzendorf, Georg Rapp, Proli und dergleichen und zuckt die Achseln mit mitleidigem Lächeln. Es kann keinen größeren Irrthum geben, als diesen; denn Baltzer ist nichts weniger als ein religiöser Schwärmer und Sectenstifter; er ist gerade das Gegentheil eines solchen, ein klarer, vom Hauch des deutschen Idealismus durchwärmter Denker und wissenschaftlich hochgebildeter, vielseitiger Geistpfleger auf allen Gebieten des Geistes und als solcher selbstverständlich ein Feind und Bekämpfer aller Sectirerei. Seine feinen, aber scharfen und meisterhaft geführten Waffen sind ebenso gegen die katholischen Jesuiten und die protestantischen Mucker, wie gegen die modernen Materialisten und Spiritualisten gerichtet. Er ist ein würdiger Nachfolger Kant’s, der in seinem Buche: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793)“ , sagt: „Der schwärmerische Religionswahn ist der moralische Tod der Vernunft, ohne die doch gar keine Religion, als welche, wie alle Moralität überhaupt, auf Grundsätze gegründet werden muß, stattfinden kann.“ Aber Baltzer ist dabei praktischer Philosoph; ihm genügen die gefundenen Wahrheiten der Vernunftschlüsse nicht; er will, ein moderner Pygmalion, die Schönheit der Idee zur concreten Erscheinung beleben; er will die mangelhaften Formen der Gesellschaft mit der Idee befruchten, damit sie sich in edle und menschheitbeglückende verwandeln; er will alle abgestorbenen und unfruchtbaren Aeste und Zweige am „goldenen Lebensbaum“ entfernt wissen, damit den jungen, gesunden Sprossen und Trieben die nöthige Nahrung aus Erde, Sonne, Wolke und Luft nicht länger entzogen werde. All’ sein frisches, schönes Streben geht darauf aus, nicht etwa gottselige, gläubige Erbprinzen des Himmels, sondern glückselige gottbewußte Bewohner der Erde zu bilden, die im Genuß der holden Spenden ihrer Mutter, wie in dem der sie erfüllenden und tragenden Idee, in deren mannigfacher Ausstrahlung in Wissenschaft, Kunst, Poesie, Lebensschönheit die höchste Befriedigung finden, die dem Sterblichen vergönnt ist. Somit ist Baltzer Reformator in des Wortes höchster, schönster und vielseitigster Bedeutung; denn er will nicht etwa Katholiken, Protestanten, Juden zu christlichen Rationalisten machen, nein, er will sie zu Menschen, zu wahren Gottmenschen, umbilden und sie, ein heutiger Prometheus, mit dem Gluthstrahl des höchsten Geistes beleben. Wahrlich, wenn irgend ein Mann unserer Tage die höchsten und reinsten Ziele verfolgt, Menschenglück oder vielmehr Menschheitglück, das aus dem Weltganzen, aus der Materie, wie aus der Idee, in gleicher Weise hervorgehen muß, so ist es Eduard Baltzer. Man lese doch seine trefflichen Abhandlungen und Vorträge in dem Werke: „Alte und neue Weltanschauung. Vier Bde. Nordhausen. Förstemann 1850 ff.“, um sich von der Wahrheit unseres Ausspruches zu überzeugen.

In diesen wie in seinen übrigen Schriften (das Leben Jesu,[3] Allgem. Religionsgeschichte, Erklärung der vier Evangelien, religiöse Jugend- und Volksbildung etc.) zeigt sich uns Baltzer als ebenso gründlicher Philosoph, wie Naturforscher, und aus der Combination Beider geht nothwendig der Reformator hervor.

Das Resultat der Baltzer’schen Folgerungen ist, daß ohne tiefere Begründung und höhere Entwickelung, ohne Verinnerlichung des sittlich-religiösen Selbstbewußtseins der Menschheit keine wahre, segensreiche Verjüngung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens vollzogen werden könne. Nur durch wahre Religion, d. h. echtes Geistesleben, Verkörperung der Idee, kann ein fester Grund zum Aufbau der Zukunftswelt gelegt werden. Aber diese Religion [172] kann weder aus dem veralteten Spiritualismus, noch aus dem modernen Materialismus hervorgehen. Beide führen, so scharfe Gegensätze sie auch sind, in ihrer Consequenz zu demselben Resultat, sie machen den Menschen zum willenlosen Sclaven oder vielmehr zur Marionette einer ihm außerweltlichen Macht, sie machen ihn zum Fatalisten. Die wahre Religion kann nur das Kind der sittlichen Freiheit sein. Diese wird blos durch den freien Willen gewonnen und der freie Wille ist das Product der ernsten, anhaltenden ethischen Arbeit. Nur wer durch die strenge Schule der sittlichen Thätigkeit gegangen ist, hat freien Willen, sittliches Selbstbewußtsein, wahre Religion. Es ist die Hauptaufgabe der zukünftigen Erziehung, das Volk von Jugend auf zur sittlichen Arbeit anzuhalten, alle Individuen ohne Ausnahme daran zu gewöhnen.

Eduard Baltzer.

Am klarsten und überzeugendsten hat Baltzer diese Ideen, insbesondere die Aufhebung des bisherigen Gegensatzes von Spiritualismus und Materialismus in seine höhere Einheit, ausgeführt in seinem trefflichen Buche: „Die neuen Fatalisten des Materialismus“, worin er für die sittliche Freiheit des Willens sowohl gegen die junge Schule des Materialismus, als auch gegen die alte der Orthodoxie kämpft. Die praktische Anwendung der gewonnenen, den Menschen durch die Idee der Freiheit adelnden Ueberzeugung hat er in seinem nicht genug zu lobenden Buche: „Von der Arbeit oder die menschliche Arbeit in persönlicher und volkswirthschaftlicher Beziehung. Nordhausen, Förstemann 1864“ in höchst anziehender Weise gegeben. Dieses Buch ist unserer Meinung nach die Blüthe der Gesammt-Geistesthätigkeit Baltzer’s. Hier tritt er gleich bedeutend als Prediger der wahren Religion, als Philosoph und als Volkswirth auf. Dieses Buch bildet den Schlußstein des ganzen philosophisch-religiösen, praktisch-socialen Zukunftsgebäudes, welches Baltzer in seinen übrigen Schriften seit zwanzig Jahren allmählich aufgebaut hat, und wir, können nun das ganze eben so wissenschaftlich streng construirte, wie anmuthig ausgeführte und mit poetischem Schmuck überkleidete Gebäude überschauen.

Im Buche „Von der Arbeit“ liefert Baltzer den schönen Beweis, daß die Durchgeistung d. h. Beglückung des wirklichen praktischen Lebens das letzte und höchste Ziel der Religion sein soll. Freilich eine spiritualistische Religion kann dieses Ziel nicht erreichen, so wenig wie die extremen Richtungen des Materialismus; die Aufgabe kann nur in einem höhern Stadium des Geistes vollständig gelöst werden, in der Religion der Alleinheit, deren würdiger und begeisterter Priester unser Baltzer ist. Man muß das herrliche Buch lesen, um zu der tröstlichen Ueberzeugung zu kommen, daß der Zukunftsbau des gesellschaftlichen Lebens, wenn er allen Betheiligten Glück und Wohlfahrt gewähren soll, nur auf dem festen Grunde dieser freien Religion errichtet werden darf. Von solchem Grunde führt Baltzer als gewandter und genialer Baumeister das ganze Gebäude der Gesellschaft in soliden Formen mit Geschmack und Verständniß auf. Es ist eine ungemein wohlthuende und versöhnende Klarheit in diesem Buche, das man eine Apotheose der Arbeit nennen möchte.

Baltzer’s Religion ist ein über allen Erscheinungsformen des Spiritualismus und seines Gegensatzes, des Materialismus, erhabenes und diese Gegensätze in ihrer höhern Einheit erfassendes Bewußtsein, Ewiges und Endliches versöhnend und verschönend und durchleuchtet, durchwärmt und überglänzt vom Sonnenstrahle der Poesie. Denn das müssen wir endlich noch aussprechen, daß Baltzer seiner innersten Natur nach Dichter ist, aber ein Dichter der wahren Naturerkenntniß, nicht des „holden Scheins“, sondern des wirklichen Seins, mit Einem Worte, ein Dichter, und Weiser der Zukunft, der im Brennpunkt der Poesie alle Lebensstrahlen vereinigt, so die Geistesflamme entzündend, welche die nach uns kommende Menschenwelt erleuchten, befruchten, beleben wird. Und so schließt er sich auf die würdigste Weise seinen großen Lehrern Giordano Bruno, Schleiermacher, Alexander von Humboldt an.[4]

Die Religion der Zukunft, die Baltzer verkündet und zur Grundlage des socialen Aufbaus der Arbeit gemacht wissen will, jene höhere Religion, zu der sich heute schon alle begabten ehrlichen Menschen, auf welcher Stufe der Gesellschaft sie auch stehen mögen, innerlich bekennen, bezeichnen wir am besten mit seinen eignen Worten:

„Die Ahnung des Ewig-Einen in allem Endlichen ist in des Menschen Brust seine – Religion, sein Glaube, vom ersten Erzittern der Furcht und der Wonne bis hinauf zur Weisheit, in der, wie überm Monde, ein ewig heitrer Himmel glänzt. –

„Ob Stoff, ob Geist das A und O aller Dinge sei, dieser unklare Nachhall alten Glaubens, ist dann keine Frage mehr, welche die Geister verwirren und entzweien könnte. Eine Allwesenheit offenbart sich uns dann in Allem. Wir weihen ihr keine Tempel mehr von Menschenhänden gebaut, ihr tönen keine Lippengebete, und mit keinem Opfer erkauft man ihre Gunst, aber sie lebt und webt in seligen Menschenseelen; das All ist ihr Tempel, das Menschenherz ihr Allerheiligstes, und wo zwei oder drei Herzen schlagen in ihrem Namen, da ist sie in ihnen als Gottseligkeit. Die Geister eilen mit Macht diesem Evangelium entgegen.“

Es ist begreiflich, daß ein so vielseitig gebildeter Theolog, welcher der alten Theologie und dem Kirchenglauben überhaupt so entschieden entgegentritt, wie unser Baltzer, von den Vertretern dieser Wissenschaft und dieses Glaubens, hinter welchen heute noch die Staatsgewalt steht, nicht zum freundlichsten angesehen, nicht collegialisch-brüderlich behandelt wurde und daß deshalb sein Leben ein vielbewegtes sein mußte. Die „streitende Kirche“ ist sich zu allen Zeiten gleich geblieben.

Baltzer ist in dem preußischen Dörfchen Hohenleina, nur wenige Stunden nordöstlich von Leipzig, am 24. October 1814 als der jüngste Sohn des dortigen Pfarrers geboren, hat also sein einundfünfzigstes Jahr überschritten. Sein bewegtes, selbst [173] von blutigen Verfolgungen und von herben Schicksalsschlägen durchzogenes Leben zu schildern, würde hier zu weit führen. Genug, daß sein Herz sich durch nichts hat verbittern lassen. Sechs Jahr war er evangelischer Geistlicher in Delitzsch, seit achtzehn Jahren Sprecher der freien Gemeinde in Nordhausen. Er war Mitglied des Frankfurter Vorparlaments, der preußischen Nationalversammlung und in ihr der Verfassungscommission. Sein Verfassungsbüchlein ist in zweiundzwanzigtausend Exemplaren verbreitet. Er ist, wie schon vor achtzehn Jahren, Vorsitzender der Stadtverordneten-Versammlung und als Mitarbeiter der Nordhäuser Zeitung von weitreichendem Einfluß.

Wie Baltzer Alles, was zur Befreiung des Menschengeistes von den Banden des alten Spiritualismus und des jungen Materialismus beiträgt, mit Begeisterung ergreift, so mußte er auch in den Fröbel’schen Kindergärten einen mächtigen Hebel dieser Freiheit erblicken. Sein Wunsch, einen Kindergarten in Nordhausen zu haben, brachte mich mit ihm in Verbindung. Der dort 1851 gegründete Kindergarten gab zu neuen Schmähungen und zum Verbot der Fröbel’schen Kindergärten in Preußen, womit sich das Cultusministerium Raumer kennzeichnete, Veranlassung. Daher kenne ich Baltzer aus persönlichem Umgange.

Seine Persönlichkeit ist keine imponirende, aber eine gewinnende. Aus seinem trefflich modellirten Kopfe, den wir im Bilde mittheilen, namentlich aus seinem seelenvollen Auge spricht die hohe Intelligenz seines geistigen Wesens, und wenn er auf der Tribüne spricht, sprühen ihm Geist und Liebe aus allen Zügen und Bewegungen. Man muß ihn öffentlich sprechen hören und sehen, um die Ueberzeugung zu gewinnen, daß er ein echter Ritter vom Zukunftsgeist, daß er Denker und Dichter, Lehrer, Redner, Staatsmann, Volkswirth, mit Einem Worte, Prophet und Schöpfer der Zukunft nach allen Geistesrichtungen ist.

Mögen die geistige Tiefe und Frische, die ihn kennzeichnen, ihm für seinen glücklichen Familienkreis, wie für das große öffentliche Leben noch lange Jahre treu bleiben, damit er mit ihnen den Siegestag des freien Geistes erleben könne, den heraufführen zu helfen er sich zur Aufgabe seines Lebens gestellt hat!
Ludwig Storch.




Bilderschau in meinem Zimmer.
Erinnerungsblätter von Franz Wallner.
III.


Ein treffliches Bild der berühmten Tänzerin Fanny Elßler hängt über meinem Schreibtisch. Nie hat eine ähnliche Erscheinung das Publicum erfreut, nie wird eine ihr gleiche Künstlerin die Bühne zieren. Fanny Elßler war die verkörperte Grazie, dabei, neben der vollendeten Tänzerin, eine Schauspielerin vom ersten Wasser; sie vermochte z. B. in der Titelrolle im Taubstummen, ohne alle musikalischen und choreographischen Behelfe, dem Zuschauer die heißesten Thränen zu entlocken; ihre Yelva, die russische Waise, wird Jedem unvergeßlich bleiben, der die Freude gehabt hat, sie als solche zu bewundern. Im Jahre 1850 brachte sie im Ballet des kaiserlichen Hoftheaters in Petersburg eine vollständige Umwälzung hervor. Die von ihr und dem genialen Perrot in Scene gesetzten neuen Arrangements enthusiasmirten die ganze Hauptstadt derartig, daß ihr Kaiser Nikolaus bei ihrem Benefize einen prachtvollen Blumenstrauß, „aus farbigen Diamanten“, mit den Worten übergab: „Er wollte heute der Erste sein, der ihr Blumen überreiche.“ Dabei war Fanny als gefeiertste Künstlerin das, was sie jetzt noch im Privatleben ist, das bescheidenste, anspruchsloseste Wesen; sie theilte ihr reiches Einkommen im Stillen mit den Armen und theilt es noch immer, verehrt von Allen, die je mit ihr in gesellige Berührung gekommen. Möge ihre Bescheidenheit mir verzeihen, wenn ihr diese Zeilen zu Gesicht kommen; ich habe meinem Herzen damit Luft gemacht und gethan, was ich nicht lassen konnte.

Sehr komisch war ihr erstes Zusammentreffen mit dem Geldfürsten Baron von Stieglitz in St. Petersburg, an den sie empfohlen war. Der reiche Bankier fuhr im Hotel Napoleon vor, um der berühmten Künstlerin einen Besuch abzustatten. Im Corridor sieht er einen Menschen auf und nieder gehen, der ihn auf die Frage, wo Fanny Elßler wohne, an die Zimmerthür führt. Stieglitz warf dem Mann, den er für den Lohndiener hielt, seinen kostbaren Zobelpelz zu und trat „schwarzbefrackt und weißbehandschuht“ bei der Dame ein. Als er sich wieder empfahl, bat er, den Diener zu rufen, dem er seinen Pelz übergeben habe, aber Niemand wußte etwas von einem solchen, und „Roß und Reiter sah man niemals wieder“. Ein zufällig anwesender Dieb hatte sich das Vertrauen des russischen Crösus zu Nutze gemacht und mit dem prachtvollen Kleidungsstück das Weite gesucht. Nun, der Mann konnte es verschmerzen, obgleich der Pelz mehr als tausend Silberrubel werth war. –

Von Kriehuber auf Stein gezeichnet und zum Sprechen getroffen, ziert eine sehr hübsche Portrait-Gruppe von Nestroy, Scholz und Treumann, dem Komikerkleeblatt, wie es kaum wieder in gleicher Vollendung und passenderem Zusammenwirken an einer Wiener Bühne erscheinen wird, die Wand meines Arbeitszimmers. Nur der letztere lebt noch, in erfreulich-erfolgreicher Thätigkeit als Director des ehemaligen Carltheaters; die Collegen aus früherer Zeit deckt der kühle Rasen. Ein größeres Original, nach allen Richtungen hin, als Nestroy war, hatte die deutsche Bühne wohl nie aufzuweisen. Geistreich wie Wenige, war er in Gesellschaft so scheu und wortkarg, daß man einen Dummkopf vor sich zu haben meinte, und nur dann und wann raunte er einem Freunde oder einem neben ihm sitzenden näheren Bekannten ein Witzwort, meist sarkastischen Inhalts, zu, welches an Schlagfertigkeit Alles übertraf, was im Verlauf mehrerer Stunden gesprochen worden war. Freilich sind fast alle diese bonmots so cynischer Natur, daß sich die meisten derselben nicht wieder erzählen lassen. Nestroy hat ein halbes Hundert Possen geschrieben, von denen eine namhafte Zahl, mustergültig und mit großem Beifall aufgenommen, über alle deutschen Bühnen ging. War das Buch einmal den bewährten Händen seines Directors Carl übergeben, hatte er seine Rolle in dem Stück einstudirt, so kümmerte er sich nie mehr um dasselbe, und selbst bei der ersten Aufführung seiner Arbeiten ließ er sich den Erfolg der Scenen, in welchen er nicht selbst beschäftigt war, in der Garderobe wieder erzählen. Der Autor dieser kleinen Feder-Zeichnungen erinnert sich noch mit Erstaunen an eine derartige Scene.

In der hundert und hundert Mal gegebenen Posse „Lumpaci-Vagabundus“ hatte Nestroy für sich die Rolle des Schusters Knieriem geschrieben, der im zweiten Act nicht beschäftigt ist. Während das Stück im vollen Cassenzuge war, wurde der Darsteller des Schneiders Zwirn, der geniale Scholz, einst krank und mir von meinem Chef das Wagniß aufgebürdet, die Partie von Mittags bis Abends zu lernen und für den leidenden Liebling des Wiener Publicums zu übernehmen. Ich zog mich leidlich genug aus der Affaire, und als ich, nach dem zweiten Acte von den nachsichtigen Zuschauern hervor gerufen, mit gewaltig erleichtertem Herzen von der Scene trat, kam mir Nestroy dankend mit freundlichen Worten entgegen. Die Neugierde, wie der bisher unbeachtete Anfänger seine schwierige Aufgabe lösen würde, hatte ihn als Zuschauer hinter die Coulissen gezogen, was er sonst nie that. Seine wohlwollende Rede endete mit den Worten: „Bei der Gelegenheit habe ich doch auch den zweiten Act meines Stückes kennen gelernt.“ Wirklich hatte er weder bei der ersten Scenirung, noch bei den unzähligen Wiederholungen der Posse sich um sein Werk bekümmert und den zweiten Act, in dem er nichts zu thun hatte, seit er aus seiner Feder hervorgegangen, total vergessen. Er arbeitete mit reißender Schnelligkeit, meist Vormittags im Bette liegend, mit Bleistift auf die halbe Seite großer, in Bittschriftenformat zusammengelegter Bogen schreibend. An der leeren halben Seite wurden spätere Aenderungen, Couplets, Witzfunken etc. notirt und das fertige Stück dann so der Direction übergeben. Nie bekümmerte er sich dann mehr um dasselbe, ebensowenig wie um die nöthige Ausstattung, Besetzung, Inscenesetzung etc. etc., er wußte das Alles bei Carl in den besten Händen.

[174] Täglich mit einer namhaften Rolle beschäftigt – als Director sagte er mir einst, er sei sein fleißigstes Mitglied – spielte er doch nur mit Widerwillen, kam erst in der letzten Minute seiner Verpflichtung, nach, war in der Garderobe, fünf Minuten vor dem Auftreten, noch der mißmuthige, faule Nestroy, der sich aber, sobald er die Scene betrat, mit Blitzesschnelle in den genialen, geistreichen Künstler verwandelte. Director Carl pflegte das Talent seiner Komiker in jeder nur denkbaren Weise auszubeuten, unter Anderem auch dadurch, daß er denselben kleine Rollen in ernsten, ja selbst in classischen Stücken aufbürdete, um die Zugkraft dieser Stücke zu erhöhen. Nestroy und Scholz nahmen sich vor, ihrem Chef dies in ihrer Art ein für allemal gründlich abzugewöhnen, und als ihnen dieser einst die Rollen der beiden Wächter des Hutes in Schiller’s Tell octroyirte, setzten sie dies Vorhaben in folgender Weise in Scene. In der bekannten dritten Scene des dritten Actes erschien Nestroy als Frießhardt mit einem riesigen Bart, Scholz als Leuthold mit glattem Gesicht, knallrothen Backen und über den Augen zwei schwarzen, kurzen, dicken, aufrechtstehenden Wülsten, welche die Brauen vorstellen sollten. Mit steinernem Ernst, der um so drastischer wirken mußte, nahmen die Söldlinge den Tell – von Kunst dargestellt – gefangen, „weil er dem Hut nicht Reverenz bewiesen“. Bis dahin lief die Sache leidlich ab, bis der böse Landvogt, mit großem Gefolge, Rudolf, Bertha und Rudenz, auf die Scene tritt und von den Wächtern erfährt, daß Tell gefangen sei, weil „er dem Hut nicht Reverenz bewiesen“.

Erzürnt spricht nun der Landvogt: „Verachtest Du so Deinen Kaiser, Tell –“

Nestroy als Frießhardt einfallend: „Daß Du dem Hut nicht Reverenz beweisest?“

Geßler (mit abwehrender Bewegung gegen Nestroy fortfahrend): „Und mich, der hier an seiner Statt gebietet –“

Scholz als Leuthold: „Daß Du dem Hut nicht Reverenz beweisest.“

Geßler: „Daß Du die Ehr’ versagst dem Hut, den ich zur Prüfung des Gehorsams aufgehangen?“

Nestroy, wie oben: „Daß Du demselben nicht Reverenz beweisest?“

Tell: „Verzeiht mir, lieber Herr! Aus Unbedacht, nicht aus Verachtung Euer ist’s geschehn. Wär’ ich besonnen –“

Scholz: „Würde er dem Hute Reverenz bewiesen haben.“

So ging die Scene fort, in immer unpassenderer, störenderen Weise, bis die Darsteller der ernsten Rollen sich vor Verlegenheit nicht mehr zu fassen wußten und die Zuschauer in ein nicht enden wollendes, brüllendes Gelächter ausbrachen. Wenn der Landvogt Tell befahl, die Armbrust zu nehmen, so rieth ihm Scholz, dem Hute Reverenz zu beweisen; wenn Geßler den armen Vater höhnte, daß er das Seltsame liebe, so meinte Nestroy, das bewiese er, „weil er dem Hut nicht Reverenz bewiese.“

Die Scene nahm ein Ende mit Schrecken; die Komiker wurden von der Direction in Ordnungsstrafe genommen, aber in kleinen Rollen ernster Stücke nie mehr beschäftigt.

Freilich hatte Nestroy noch oft genug Gelegenheit, in tragischen Scenen anderer Art seinen Jocus zu treiben. Ich erinnere mich noch des unauslöschlichen Gelächters, als in einem der damals modernen Ritterstücke ein Gottesgericht mit großer Feierlichkeit in Scene gesetzt wurde. Die Kämpfer standen unter der schwarzbehangenen Tribüne, die offenen Särge, bereit, die Leiche des Ueberwundenen aufzunehmen, an ihrer Seite. Der Kampfrichter theilt, unter dumpfem Trommelwirbel, „Sonne und Wind“, die Leibknappen – der eine von Nestroy dargestellt – stehen im Hintergrunde mit den Waffen ihrer Gebieter. Trompetenschall, der Kampf beginnt. „Knappe, mein Schwert!“ ruft der tapfere Held. Nestroy übergiebt ihm dasselbe mit den Worten: „Hier ist es, acht Groschen habe ich für’s Schleifen bezahlt.“

Alle Scherze, Witzworte und Calembourgs Nestroy’s trugen den Stempel des ausgesprochensten Cynismus oder der bittersten Ironie, und doch war er persönlich einer der gutmüthigsten Menschen, der mit Willen keiner Katze weh thun konnte. Ein wunderbareres Gemisch von guten und schlimmen Eigenschaften, von Schüchternheit und namenloser Frechheit, von böser Zunge und weichem Herzen ward wohl noch nie unter einem Menschenhaupt vereinigt gefunden.

„Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich habe mich nie getäuscht.“ Diese Phrase in seinem Munde, so absurd sie klingen mag, charakterisirte ihn doch auf das Entschiedenste. Nie, im Guten wie im Bösen, hat uns je etwas an Nestroy überrascht; er stand unter dem strengsten Pantoffelregiment eines ihn schwer drückenden Verhältnisses, darin ausharrend bis zum Ende seines Lebens, während ein rascher Entschluß die klirrenden Ketten gesprengt hätte. Dagegen entblödete er sich nicht, durch offene Untreue tausend und abertausend Mal die Eifersucht seiner Gebieterin bis zur rasenden Flamme anzufachen. Bei Gastspielen ließ er sich ein kleines „Extraconto“ für seine geheimen Plaisirs anlegen, da er „der Frau“ von der Verwendung eines jeden verdienten Guldens strenge Rechenschaft ablegen müsse. Dies gestand er selbst in größter Naivetät ein, obwohl er Gelegenheit genug fand, tausende von diesen Rechenschaftsgulden den Augen „der Frau“ zu entziehen.

Charakteristisch ist der Brief, den er an Scholz, seinen langjährigen Collegen, richtete, nachdem er die Direction des Carltheaters übernommen und Scholz ihn frug, ob jetzt das alte vertrauliche „Du“ zwischen ihm und seinem Director wegfallen müsse? Das Schriftstück lautete:

          „Lieber Freund Scholz!

Indem ich Dir beifolgend Deinen neuen Contract zusende (in demselben war Scholz das Doppelte seines bisherigen Gehaltes zugesichert), hoffe ich, Du wirst es als seinen Beweis meiner Freundschaft anerkennen, daß ich das Risico übernehme, ein Mitglied ohne Probegastspiel und ohne den Beisatz ‚auf Gefallen und Nichtgefallen‘ zu engagiren. Ich sichere Dir auch unser ‚Dusagen‘ contractlich zu, mit der Clausel, daß Du für jedesmalige Unterlassung eine Monatsgage als Strafe zu zahlen hättest.

„Wien, den 10. October 1854.

Dein alter Freund und junger Director
Johann Nestroy.“     

Einen größeren Gegensatz als den scharfen, sarkastischen, geistreichen Nestroy zu dem dicken behäbigen, gutmüthigen Scholz konnte man sich nicht denken. Nestroy mit angenehmen, feinen Zügen, Scholz mit einem kugelrunden verschwommenen Gesicht, kleinen munteren Augen, eine verkürzte Fallstafffigur, während Nestroy’s stattliche Persönlichkeit auch außer der Bühne imponirte. Auch die Witze der beiden Dioskuren trugen den Stempel ihrer Persönlichkeit. Die Scherze Nestroy’s waren immer scharf pointirt und ließen noch Vieles zwischen den Zeilen vermuthen, während die Späße des guten alten Scholz durch die knüppeldicke harmlose Dummheit stets eine enorme Wirkung hervorbrachten.

Bei dem Einzug eines Gutsbesitzers, dem auf einem nicht ganz reinlichen Kopfkissen die Schlüssel seines Schlosses von dem Amtmann entgegen gebracht wurden, hielt Scholz die Anrede und entschuldigte den Mangel an Sauberkeit des Kissens damit, „daß der Mann kleine Kinder habe“. In einer Posse, wo in einer Versammlung Gutgesinnter jeder angab, was er im Jahre 1848 für sein Vaterland gethan habe, erzählte Scholz: „Im Jahre Achtundvierzig habe ich für mein Vaterland gezittert.“ „Schlagt sie in Keden“ (Ketten), ruft er als Tyrann Sacripandus, „schlagt sie in Keden, aber mit einem weichen D, damit es ihr nicht so weh thut.“ Bei einer Herrschaft, bei der er sich zum Dienstantritt meldet, verlangt er, daß ihm sein neuer Herr alle Monate auf seine Kosten einen Zahn reißen lasse und ihm täglich einen Groschen für Milch gebe, denn er müsse täglich Milch trinken, da seine gute Mutter vergessen habe, ihn als Säugling zu entwöhnen.

Solche Späße erregten stets ein brüllendes Gelächter, welches freilich nur durch die Art des Vortrages, durch die unbeschreibliche Komik des Mannes begreiflich wurde.

Im Sommer des Jahres 1857 trat er ganz unverhofft zu mir in’s Zimmer. „Er sei mit seiner jungen Frau auf einer Reise nach Hamburg begriffen und wolle das ‚Mier‘ (das Meer) sehen,“ erzählte er mir, weshalb er auch meine Aufforderung, einigemal in Berlin zu spielen, ablehnte. Ich machte ihm nun den Vorschlag, er möge sechs Mal als Gast an meinem Theater auftreten, dann wolle ich mit ihm reisen und gemeinschaftlich mit ihm und seiner Frau das „Mier“ sehen, welches mir keine neue Erscheinung mehr war.

Während Scholze’s Gastspiel war das Haus täglich überfüllt und erdröhnte von schallendem Gelächter durch die ganze Vorstellung; nach Beendigung derselben raisonnirten die Zuschauer in fast maßloser Weise: es wäre doch gar zu dumm, es läge doch gar kein Sinn und Verstand in dieser Art von Komik etc. Mit diesen lauten Aeußerungen entfernte sich das Publicum jeden Abend, um [175] den nächsten Tag noch zahlreicher wiederzukommen. Nachdem nun mein alter College seinen improvisirten Gastspielausflug beendet und eine ganz ansehnliche Anzahl preußischer Thaler eingesackt hatte, eine Arbeit, die ihm unbeschreibliche Freude machte, weil sie so unverhofft kam, begleitete ich ihn, meinem Versprechen zufolge, mit seiner Frau, einem hübschen, einfachen Weibchen, die den alten Mann mit der aufmerksamsten Fürsorge einer zärtlichen Tochter behandelte, nach Hamburg. Nachdem ich ihn mit der reizenden Umgebung und den Merkwürdigkeiten der Stadt bekannt gemacht, stellte ich ihn dort in mehreren bekannten Kaufmannshäusern, namentlich bei einem der dortigen Geldfürsten, einem leidenschaftlichen Theaterliebhaber, vor, welcher den urkomischen Scholz von Wien aus kannte und schätzte. Den folgenden Tag waren wir dort zu einem solennen Frühstück eingeladen, welches der reiche Mann, dem fremden Künstler zu Ehren, auf seinem prachtvollen Landsitze veranstaltet hatte.

Scholz, der sich unter Kaufmann eine Art wohlhabenden Gewerbtreibenden vorstellte und dem die Species, deren Federzug in Canton wie in Paris, in Petersburg wie auf Java gleiche Gültigkeit und Achtung hatte, noch nie vorgekommen war, konnte sich vor Erstaunen nicht erholen, als ich ihn in die fürstliche Pracht der Wohnung seines neuen Gastfreundes einführte. Das lucullische Mahl ging in sehr heiterer Weise vor sich; Scholz ließ den trefflichen, ihm ganz fremden Gerichten ebensoviel Gerechtigkeit widerfahren, wie den zahlreichen Sorten edlen Rebensaftes, und als der freundliche Wirth die Gesundheit des Wiener Künstlers ausbrachte, stand Scholz, schon etwas überselig, mit verklärten Augen von seinem Sitze auf, wankte zu dem des Hausherrn hin, versicherte ihn seines Wohlwollens und seiner Dankbarkeit und bot ihm, den er heute zum ersten Male gesehen, zu meinem Entsetzen auf die naivste Weise an, mit ihm Brüderschaft zu trinken.

Es war überaus komisch anzusehen, wie der würdige, fein gebildete Millionär in ruhigster Weise diese Offerte entgegennahm und die Umarmungen des überschwänglich glücklichen Scholz über sich ergehen ließ. Derselbe bemühte sich, ihm seine Versicherung, daß er nicht etwa betrunken sei, dadurch zu beweisen, daß er auf dem Strich des Parkets zu gehen versuchte, was allerdings nicht ohne kleine Schwankungen ermöglicht wurde; er aß und trank Alles durcheinander, süß und sauer, kalt und warm, und duzte zuletzt die ganze Gesellschaft. Man sollte meinen, daß dies die Anwesenden etwa verletzt oder unwillig gestimmt habe, doch war dies keineswegs der Fall, denn als die erste Befremdung vorüber war, amüsirte sich Alles über den urkomischen Kauz, der hier mit hinreißender Drollerie zu singen, zu tanzen und zu declamiren anfing, als befände er sich in einer Kneipe seiner Vaterstadt. Auf mich machte die Scene einen um so überraschenderen Eindruck, als Scholz sonst außer der Bühne der ernsteste, stillste Mensch war, der stundenlang ruhig in Gesellschaft sitzen und den kräuselnden Rauchwolken aus seiner riesigen Meerschaumpfeife zusehen konnte. Nach dem Frühstück, welches an Quantität und Qualität drei festliche Mahlzeiten in sich schloß, wurden Mokka und Cigarren präsentirt. Die letzteren setzten meinen alten Freund durch ihre Güte wieder in Ekstase. „Erlaubst Du wohl,“ frug er den Gastgeber, „daß ich ein paar von diesen wunderbaren Cigarren einstecke, um sie in Wien zu zeigen?“

„Lieber Scholz,“ war die freundliche Antwort, „ich habe schon daran gedacht, und wenn Du in Dein Hotel zurückkommst, so wirst Du tausend Stück davon vorfinden, die ich Dich bitte, zur Erinnerung an mich mitzunehmen.“

Nachdem der gute Wenzel den Großmüthigen eine Weile verblüfft angeglotzt, kam er auf mich los und stöhnte unter hellem Schluchzen: „Sixst (siehst Du), solche Leut’ findt man bei uns nid!“

Den folgenden Tag frug er mich ganz unerwartet, ob ich ihn auf der Rückreise noch einige Mal in Berlin spielen lassen wolle, und als ich mit Vergnügen auf diesen Vorschlag einging, trieb er zur schleunigen Abreise. „Das Mier“ aber hat der alte Mann nicht mehr gesehen, denn noch in demselben Jahre trat er die Reise in jenes unbekannte Land an, von dem Hamlet behauptet, es sei noch kein Wanderer davon zurückgekehrt, obgleich er selbst kurz vorher den Geist seines Vaters gesprochen und geprüft, daß derselbe kein Gespenst aus der Hölle sei.

Am 7. October 1857 wurde in Wien unter unermeßlichem Zudrange des Publicums der Mann zur Gruft geleitet, der zahllose Male Tausende erheitert und, wie der Dichter sagt, nur ein Mal, durch seinen Tod, betrübt hat.




Blätter und Blüthen.


Mehr Wissen leichter zu erlernen – daß ein Mittel hierzu für die Schule wie für das Leben von unschätzbarem Werthe sein würde, bezweifelt Niemand. Und wenn man die neuerdings von einem sächsischen Lehrer, Herrn Mauersberger, in mehreren Lehrerversammlungen mit dem System der Gedächtnißkunst (nach dem Griechischen Mnemonik oder Mnemotechnik genannt) vorgeführten Proben betrachtet, so möchte man die Lösung dieser Aufgabe wenigstens sehr nahe gerückt glauben. Einer allgemeinen sächsischen Lehrerversammlung zu Chemnitz z. B. stellte Herr Mauersberger drei Knaben aus der ersten Classe der dortigen mittlern Bürgerschule vor, welche er nur vier Tage lang nach den Regeln der Gedächtnißkunst unterrichtet und denen er in dieser kurzen Zeit eine Tabelle sächsischer Geschichte von dreihundert Daten nach Jahr, Monat und Tag, ferner die geographische Lage von etwa achtzig Orten und mehrere der hundert Potenzen von der Zahl 2, also riesige Zahlen von mehr als dreißig Stellen, mnemonisch gut und fest eingeprägt hatte. Die Knaben bestanden das Examen vor der Versammlung auf das Glänzendste.

Auch dem Herausgeber d. Bl. führte Herr Mauersberger einen von ihm unterrichteten Knaben von etwa zwölf Jahren vor, der nach den Regeln derselben Gedächtnißkunst eine Menge Geschichts-Daten und geographischer Zahlen in verhältnißmäßig sehr kurzer Zeit gelernt hatte und die Fragen darnach größtentheils geläufig und sicher beantwortete.

Carl Otto Reventlow (und nach ihm Hermann Kothe und alle späteren Mnemoniker) geht nämlich von der Anschauung aus, daß man Das am leichtesten und nachhaltigsten merke, was man begriffen habe; deshalb verwandelt er Alles, was außerhalb der Sphäre des Begriffs liegt, d. h., alle Zahlen und Laute, von denen man nichts als ihre Zahl- und Lautbeziehungen kennt, in Begriffe, indem er diesen Zahlen und Lauten Merke-Wörter oder Merke-Sätze unterschiebt. Zu diesem Behufe bestimmte man folgende Gleichstellung der Consonanten:

a) mit den Ziffern:
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9
l z tz
c=z
t d n x m w r q ſ s
ß sch
b p v f
ph ver
vor
h ch
j
g k ck
c=k


b) mit den Monatsnamen:
Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. Oct. Nov. Dec.
l z tz
c=z
f ph r q p t m w Bademonat
b
Bademonat
d
g k
ck
c=k
ſ s
ß sch
h ch
j
v
vor
ver
x n


Bei dieser Gleichstellung ist für die Ziffern die Gestalt, für die Monate der Klang der betreffenden Consonanten maßgebend und hilft sie dem Gedächtniß leicht vertraut machen. Wir wollen dies an einigen Beispielen anschaulich zeigen. Man wähle für 1 das dieser Ziffer sehr ähnliche t und merkt dann leicht, daß auch d ebensoviel bedeute; für 2 gilt n, wegen seiner zwei Grundstriche, und x, das, deutsch geschrieben, umgekehrt wie 2 aussieht; für 3 gelten, wegen ihrer drei Grundstriche, m und w; für 4 gilt r und q, weniger der Aehnlichkeit wegen, als weil der Deutsche wie der Lateiner in vier und quatuor an diese Buchstaben leicht erinnert wird; für 5 gilt das ihm ähnliche (lateinische) s und darum auch s, ſ, ß und sch; die 6 sieht dem b ähnlich und dazu merkt sich p von selbst; wenn man ein lateinisches V an ein f zur Linken oben ansetzt, so kommt eine Figur heraus, die einige Aehnlichkeit der 7 hat, und darum gelten dafür f, v und ph; die Aehnlichkeit von 8 und dem geschriebenen deutschen h liegt näher und dazu fügt man das j, welches wenigstens wie ein halbes h aussieht, und ch; noch, näher liegt 9 = g, und der Klangähnlichkeit wegen auch k, ck und c (= k); dagegen muß c (= z), sowie z, l und tz als 0 gelten. Diese Consonanten für 0 bedeuten auch den Januar, Februar = f (und ph), März = r (und q), April = p und wegen Aprilwetter auch = t, Mai = m und als Wonnemonat auch = w, Juni und Juli sind beide Bademonate, also Juni = b, Juli = d, August = g (k, ck und c = k), September = s (ſ, ß, sch), October, der achte Monat = h (ch und j), November = v (vor und ver) und December = x = x und n.

Um Zahlen zu merken, muß man ihnen also Merk-Wörter oder Merk-Sätze unterlegen. Spielend leicht ist dies natürlich, wenn man sich die zu merkenden Zahlen selbst auswählen kann, denn dann nimmt man eben das erste beste Wort oder den ersten besten Satz und bildet nach den Consonanten desselben die Zahl. Man kann damit eine in dies Geheimniß noch nicht eingeweihte Gesellschaft in das größte Erstaunen über sein augenscheinlich außerordentliches Zahlengedächtniß versetzen.

[176] z B. Man merkt sich das Wort Vergißmeinnicht, d. i. 79,532,281. Es wird Niemandem ganz leicht sein, diese Zahl sich ohne die geheime Hülfe zu merken; mit derselben ist’s natürlich Kleinigkeit. Man kann aber das Erstaunen bis zur Bewunderung steigern, wenn man irgend einen Satz oder gar einige Strophen eines Gedichts in Zahlen verwandelt, z. B: wandelt, z. B.

7 4 1 5 2 4 9 1 1 4 7 2 9 2 1 8 1 4 5 0 5 3
3 4 6 1 4 1 2 3 2 2 1 4 2 9 2 8 3 3 0 8 1 2 8 0 9 1 8 3.

Welche Zahlen! Aber der Eingeweihte sagt sie ohne Anstoß her, weil er nur die vier ersten Verse der ersten Strophe von Schiller’s Lied an die Freude in Ziffern übersetzt hat.

Schwerer wird die Sache, wenn die Zahlen gegeben sind; dann erst geht das, was wir zur Kurzweil unserer Leser als Spielerei hingestellt haben, in die eigentliche mnemonische Kunst über. Es gilt dann, die Merke-Wörter oder Merke-Sätze oder das, was der Mann vom Fach die mnemonischen Substitutionen nennt, selbst zu suchen, für sich zu bestimmen, oder die in den Lehrschriften der Mnemoniker bereits für geschichtliche Daten, geographische und andere Zahlen etc. bestimmten zu merken.

Dabei wird nicht blos dem Gedächtniß, sondern hauptsächlich dem Verstand und der Phantasie – und dazu dem gern mit Kling und Klang spielenden Geist der Kinder das Meiste aufgegeben. Will z. B. Jemand das Jahr merken, in welchem die Censur in Deutschland in’s Leben trat, so wird es ihm nicht schwer fallen den Rückert’schen Reim vom kräutersammelnden Apotheker und der Natur auf die Censur und Literatur anzuwenden:

Da ward Alles leichenfarber
Als Rhabarber

vermag ihn aber die Censur an Rhabarber zu erinnern, so hat er (das Jahr 1000 versteht sich von selbst) in Rhab = 486 die nun sicherlich unvergeßlichen übrigen Ziffern dazu.

Die Wiederherstellung des Jesuitenordens am 7. August 1814 merkt man durch den Zusatz: „Der Gefährliche“, d. h. (nachdem sich 1800 von selbst versteht) der = 14, G = August, f = 7.

Um zu prüfen, wie und wie rasch der von Herrn Mauersberger uns vorgeführte Knabe sich selbst für neue Aufgaben die Gedächtnißhülfe schaffe, legte Herr Keil ihm die Frage vor, welches Wort er sich merke, wenn er die Höhe z. B. des Nicolaithurms in Leipzig, diese zu 260 Fuß angenommen, mnemonisch sich einprägen wollte?

Der Knabe antwortete nach kurzem Besinnen: „Nebel.“

„Warum dies?“

„Weil der Thurm doch oft im Nebel stehe.“

Im Worte Nebel ist aber nach dem eben angedeuteten System der Mnemonik die Zahl 260 ausgedrückt.

Leider sind den Mnemonikern bis jetzt noch nicht alle Substitutionen so treffend und sinnig gerathen, bei vielen erscheint sehr Vieles an den Haaren herbeigezerrt, so daß diejenigen, welche sich mit einem flüchtigen Blick in eines der mnemonischen Lehrbücher der Geschichte, Geographie, Statistik begnügen, mit dem Urtheil über die Untauglichkeit der Sache sehr bald fertig sind. Jedenfalls ist’s rathsam, durch solche Urtheile nicht auch hier das Kind mit dem Bade auszuschütten, das Gelungene nicht wegen des Mißlungenen mit zu verwerfen, sondern das Gute zu benützen, bis es von Besserem abgelöst wird. Dagegen werden die Mnemoniker selbst gut daran thun, ihr Gebiet nicht sofort über alles Wissen ausdehnen zu wollen, sondern auf bestimmten Feldern auch dem Gedächtniß seine Ehre allein zu lassen.

Zu den jüngsten Bearbeitern der Geschichte nach den Regeln der Mnemonik gehört Herr C. T. Mauersberger, der uns die Veranlassung zu dieser Besprechung der Sache gab. Seinem ersten Werkchen: „Die wichtigsten Daten aus der Weltgeschichte, mnemonisch bearbeitet“ (Lpz., Friedr. Fleischer), verspricht er ein Wörterbuch von Substitutionen nachfolgen zu lassen, das allerdings den Anfängern das Fortschreiten in dieser Kunst sehr erleichtern würde.
Fr. Hofmann.




Auber und ein musikalischer Fund. Kürzlich ging ein französischer Abgeordneter, welcher als außerordentlicher Musikliebhaber bekannt ist, durch die Straßen von Paris. Da hörte er plötzlich einen jungen Menschen, der mit einem Wagen durch die Straßen fuhr und zerbrochenes Glas zusammenkaufte, mit heller, durchdringender Stimme seinen Ruf erheben: „Wer hat zerbrochene Flaschen?“

Der Klang dieser Stimme frappirte das musikalische Ohr des Abgeordneten; er redete den Glassammler an: „Woher sind Sie?“

„Aus Aveyron.“

„Ei, da sind wir ja Landsleute. Sie haben eine schöne Stimme.“

„Ist das Ihr Ernst?“

„Ja. Kommen Sie morgen Abend zu mir; hier ist meine Adresse.“

„Sehr gern. Soll ich meinen Wagen mitbringen?“

„Ich wüßte nicht, wozu.“

Am andern Abend klingelte der junge Mensch zwischen acht und neun Uhr an der Thür des Deputirten. Derselbe hatte einige Freunde, lauter Musikdilettanten, eingeladen.

„Nun, – mein Freund,“ sagte er zu dem Glasscherbensammler, „jetzt singe uns einmal irgend ein kleines Lied.“

„Ich! Sie haben mich zum Narren, ich singe nicht.“

„Lieber Freund, ein Deputirter hat Niemanden zum Narren. Mit einer solchen Stimme müssen Sie doch singen können!“

„Wahrhaftig nicht.“

„Wie, Sie können nicht einmal das berühmte Lied: ‚Nichts ist heilig für einen Sapeur‘? oder das: ‚Beim Mondenschein‘?“ „Nein.“

Alle Anwesenden lächelten. Sie sprachen damit die Ueberzeugung aus, daß ihr Wirth, der Musikenthusiast, sich getäuscht habe und in seiner Einbildung wieder einmal zu weit gegangen sei.

„Nein,“ sagte derselbe, „so leicht lasse ich mich nicht werfen. Jetzt lassen Sie einmal Ihren Ruf hören wie gewöhnlich.“

Die Fensterscheiben zitterten, als der junge Mensch aus voller Kehle rief: „Wer hat zerbrochene Flaschen?“

Die ganze Gesellschaft war überrascht von der Frische und Stärke seiner Stimme, man rief sogar: „da capo!“

Der Abgeordnete sprach, ganz erfreut über diesen Erfolg: „Junger Mann, ich werde Ihnen einen Gesanglehrer geben. Lernen Sie irgend ein Lied, geben Sie sich aber ordentlich Mühe, und nach Verlauf von vier Wochen, wenn Sie das Lied ordentlich auswendig können, gehen Sie mit sammt Ihrem Wagen in die Rue St. George Nr. 24. Dort vor der Hausthür schreien Sie, so laut Sie können: ‚Zerbrochene Flaschen!‘ und hernach fangen Sie Ihr Lied an und singen es recht gut.“

Dies Programm wurde wörtlich befolgt. Der Glassammler stellte sich ganz gut zum Singen an; eines schönen Morgens hielt er mit seinem Wagen vor dem bezeichneten Hause und begann, nachdem er seinen Ruf sehr energisch ausgestoßen, mit heller Tenorstimme das eingelernte Lied.

Nach dem ersten Vers öffnete sich ein Fenster im ersten Stock; nach dem zweiten Vers zeigte sich oben der kleine, feine Kopf eines Greises und eine Hand winkte den Sänger herauf.

Er folgte dem Wink und erzählte dem alten Herrn oben auf sein Befragen Alles, wie es zugegangen.

„Gut gespielt!“ sagte Auber lachend.

Der junge Mensch befindet sich gegenwärtig im Conservatorium, wo er lernt, mit seinem Gesang keine Fensterscheiben mehr zu zerbrechen und sich überhaupt des Verkehrs mit zerbrochenem Glase zu überheben, nebst noch manchem Anderen.

Vielleicht hört man künftigen Winter den an Auber adressirten Zögling in den Pariser Salons in elegantester Toilette seine Lieder vortragen und hierauf in der großen Oper debutiren.




Noch einmal das Singemäuschen. Seitdem die Gartenlaube die erste Kunde von der Existenz singender Mäuschen gebracht, ist dieses Thierchen, dessen Stammbaum vielleicht schon Jahrtausende zurückreicht, auch den Naturforschern erst bekannt geworden. Wir erhielten damals aus unserem Leserkreise viele Zuschriften über den Gegenstand, der von Manchen angezweifelt, von Anderen wieder durch neue ähnliche Funde belegt wurde. Das Neueste darüber berichten österreichische Blätter aus Prag. Dort, schreibt man, scheinen die Singmäuse in den Häusern auf derjenigen Seite der neuen Schloßstiege, welche sich an den Schloßberg anlehnt, förmlich heimisch zu sein. Seit November 1862 erfreute sich dort eine Familie jeder Nacht und oft selbst bei Tage des schmetternden wohltönenden Gesangs des wunderbaren Mäuschens, das endlich vor den Familiengliedern alle Scheu verlor, am Tage sich aus den Schlupfwinkeln des Bodens hervor in die Zimmer wagte und der Liebling der ganzen Familie wurde. Als diese eine andere Wohnung bezog, beschloß man, das Mäuschen zu fangen und mitzunehmen. Ein prächtiger Käfig nahm das niedliche Thierchen auf und so wanderte es mit in eine andere Gasse der Kleinseite Prags; – aber mit der Freiheit war auch der Gesang des Mäuschens dahin, erst nach vielen Tagen erhob es eine leise, fast klagende Weise; es war sein Schwanengesang, noch am selben Abend war es todt. Kurze Zeit nachher zog dieselbe Familie wieder auf die neue Schloßstiege, in ein Haus neben der alten Heimath des todten Singmäuschens, und siehe, abermals dringt melodischer Gesang unterm Fußboden hervor, als ob ein Kanarienvogel sich dort häuslich niedergelassen, und wieder ist’s ein solch’ unermüdliches Singmäuschen, welches ganze Nächte durch seine einfachen und doch so eindringlichen Weisen schmettert.




Dichter und Componist – jedem das Seine. Eine Notiz in der Gartenlaube und den Deutschen Blättern wünscht den Melodieen der Leierkasten bessere Texte, als die „fünf schönen neuen Lieder, gedruckt in diesem Jahre,“ gewöhnlich zu bieten pflegen; und so ist es gewiß nicht zu viel verlangt, wenn die armen, deutschen Liederdichter, die ja überdies schon zumeist aus allen Journalen hinausgetrieben wurden, mit der Bitte an Componisten und Concertgeber kommen, doch bei den Texten die sie zu ihren Compositionen und zu ihren Vorträgen in Concerten wählen, auch des Namens der Dichter Erwähnung zu thun. Es ist dies gewiß eine einfache, aber durch und durch gerechtfertigte Bitte. Das Lied ist Eigenthum des Dichters, das Niemand ihm antasten oder schmälern darf. Und wenn auch jeder Dichter sich freuen wird, wenn zu seinen Textesworten eine schöne Melodie durch die Welt geht, und er gewiß nicht den Componisten derselben, ob Benutzung seiner Worte, wegen Nachdrucks verklagen wird, wie er es doch könnte, so wird er aber verlangen und erwarten können, daß man seinen Namen nicht gänzlich und stets verschweige. Wir sehen dabei ganz ab, daß viele, namentlich jüngere Componisten, die gemeinhin jedes Lied, das sie componirt, stolz als so und so vielstes Opus in die Welt senden, auch zugleich eine Kritik und Censur sich anmaßen, die ihnen nicht zusteht; während sie wohl den Namen einzelner Dichter nennen, welche ihnen bedeutender erscheinen, oder an deren allbekannten Namen sie ihre unbedeutende Composition gleichsam emporranken und sich stützen lassen, lassen sie andere Namen gänzlich fort. Ebenso ist es bei den Concerten.

Jedem das Seine – und Gott für uns Alle. Wir glauben, es bedarf nur dieser Hinweisung, um ein Unrecht abzustellen!




Kleiner Briefkasten.


E. D .… in Stadtsch–g. Daß der dortige Pfarrer in seiner Polemik wider den Zeitgeist ganz besonders auch über unsere Gartenlaube die Fülle seines heiligen Zornes ausgegossen hat, befremdet uns gar nicht. Wir sind an dergleichen Freundlichkeiten von Seiten der sogenannten Frommen schon zu sehr gewöhnt, als daß wir ihnen die mindeste Bedeutung beilegen sollten. Uebrigens hat der Ihrige uns noch glimpflich genug behandelt; Hengstenberg in seiner Kirchenzeitung und Consorten verstehen das Geschäft besser.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ueber die Lampe’sche Charlatanerie, sowie über die vieler anderer Medicaster, ist in einem nächstens erscheinenden Schriftchen unter dem Titel „Die Wilden-Medicin der Jetztzeit im Allgemeinen und Koryphäus Friedrich Lampe insbesondere“, Ausführlicheres zu finden. – Diesem Schriftchen, welches ich von dem mir bekannten Verfasser in den Aushängebogen zugesandt erhielt, entnahm ich die vorstehenden Mittheilungen zur Warnung vor jener Lampe’schen Charlatanerie und empfehle sie den Kranken, die nach Goslar zu pilgern beabsichtigen, zur Beachtung und Beherzigung.
    Bock.
  2. Anweisung zur Bereitung des Lampe-Tranks und der Lampe-Tropfen nach Dr. H. Hager. Trank. Nimm auf ein Quantum von zwei Weinflaschen: Rhabarber ¼ Loth, Sennesblätter ½ Loth, Faulbaumrinde 1 Loth, Enzian, Cardobenedictenkraut, Wermuth, Tausendgüldenkraut von jedem 1/16 Loth, Ellernrinde 1 Loth. Geschnitten wird alles mit drei Pfund Wasser aufgekocht und dann das Flüssige durchgeseiht. Wenn man will, setzt man dazu Glaubersalz und Bittersalz, von jedem ½ Loth.
    Tropfen. Nimm Faulbaumrinde 3 Loth, Rhabarber 3 Loth, Enzian, Cardobenedicten, Wermuth, Tausendgüldenkraut, Galgant, von jedem ½ Loth. Diese Substanzen zerschnitten koche mit 1¼ Pfund Wasser eine Viertelstunde, seihe und presse die Flüssigkeit aus und versetze sie mit ¼ Pfund Spiritus.
  3. Das „Leben Jesu“ von Baltzer ist im Ganzen wie in den einzelnen Theilen ein weit würdigeres und tiefergreifendes Werk, als das Buch von Renan, das so viel Geschrei auch in Deutschland von sich gemacht hat. Man griff in unserm Vaterlande wieder einmal nach der französischen, aufgeputzten Waare, die man in Deutschland weit solider hatte. Baltzer’s Buch ist die schönste und würdigste Verherrlichung des großen Nazareners und steht auch über Schenkel’s neuerem Werke.
  4. Baltzer’s reiche poetische Begabung hat sich besonders in seinen eben so tief gefühlten wie sprachgewandten Liedern im „Gesangbuch der freien Gemeinde zu Nordhausen“, wie in seiner Schrift „Aus dem Evangelium“ (wegen des milden Geistes und der schönen Form vorzüglich Frauen zu empfehlen!), sowie endlich in der Liedersammlung „Aus der Edda“, dargelegt. Diese Bücher enthalten Perlen der Poesie vom höchsten Werth, und Vieles darunter hat daher bereits seinen Componisten gefunden.