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Autor: unbekannt
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Titel: Künstler-Wandelungen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 149, 152–155
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Franz Liszt, Musiker und Priester
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[149]

Abbe Liszt mit Pius dem Neunten und Cardinal Antonelli im Kreuzgang der Laterankirche zu Rom.
Originalzeichnung von Paul Thumann.

[152]
Künstler-Wandelungen.


„Ein Münich stand in seiner Zell’
Am Fenstergitter grau,
Viel Rittersleut’ in Waffen hell,
Die reiten durch die Au.

Sie singen Lieder frommer Art
In schönem, ernstem Chor,
Inmitten fliegt von Seide zart
Die Kreuzesfahn’ empor.

Der Münich steht am Fenster noch,
Schaut ihnen nach hinaus:
‚Ich bin wie ihr ein Pilger doch
Und bleib’ ich gleich zu Haus.‘

Des Lebens Fahrt durch Wellentrug
Und heißen Wüstensand,
Sie ist ja auch ein Kreuzeszug
In das gelobte Land.“

Altes Lied (componirt von Franz Schubert).


Es war im landständischen Saal in Wien, an einem Novemberabend des Jahres 1822, als eine dichtgedrängte Menschenmenge erwartungsvoll auf einen zarten, blonden Knaben schaute, der sich eben dem Flügel näherte. Adam Liszt, der Freund Joseph Haydn’s und Hummel’s, der ausgezeichnete Clavierspieler und Geiger, führte seinen elfjährigen Sohn Franz zum ersten Male vor den Richterstuhl eines Publicums, das einen Mozart gekannt. Die Reihen der Männer schienen weniger dicht gedrängt, doch waren alle Musiker von Bedeutung versammelt und in der Nähe des Flügels bemerkte man den interessanten Kopf Salieri’s, und den ernsten Czerny, die Lehrer des Knaben. Der versammelte Frauenflor war desto reicher; das leuchtete, glühte, lächelte und schmachtete wie ein Blumenbeet nach einer thauigen Sommernacht, und gar Viele gab es, die es als eine günstige Vorbedeutung bezeichneten, daß der junge Debutant wie von Rosen umgeben erschien.

Ganz im entferntesten Winkel des Saales folgten zwei wunderschöne, sanfte Frauenaugen jeder Bewegung der schlanken Kindergestalt und auf einem zarten Antlitz lag die rührende Blässe tiefster, mächtigster Bewegung. Die Brust der lieblichen Frau hob und senkte sich voll Unruhe und die kleinen Hände, die gefaltet ineinander lagen, zuckten. Ein schwarzer Spitzenschleier verhüllte die Fülle des goldigen Haares und fiel auf die feine Büste nieder; ein schlichtes, schwarzes Gewand umschloß die schlanke Gestalt. Um die Lippen lag ein Zug von Trauer, und doch versuchten sie zu lächeln, als jetzt eine plötzliche Stille eintrat und die ersten Töne vom Flügel her den Saal durchzogen. Der kleine Franz spielte ein Concertstück von Hummel wunderbar feurig und kraftvoll. Das zahlreiche Publicum beirrte ihn nicht, er schien so ruhig und sicher wie ein erfahrener Steuermann an seinem Steuerruder auf bewegter See.

Warum zagte sie denn noch immer und athmete so angstvoll, jene blonde Frau? Sie hörte ja, wie man dem Knaben Beifall spendete; sie sah, wie ein freudiges Leuchten über sein Gesicht flog, als er sich zu kurzer Rast an der Seite seines Vaters niederließ. Der hübschen kleinen Sängerin mit dem tief ausgeschnittenen weißen Atlaskleide und der Rose hinter dem linken Ohr, die nun eine trillerreiche Arie sang, ward kein Blick aus jenen großen Augen mit den dunkeln Wimpern – unverwandt hingen sie nur an dem Antlitz des Knaben. Wie blaß erschien sein fein geschnittenes Gesicht mit dem vornehmen Munde! Mit einer lebhaften Handbewegung strich er zuweilen das reiche, blonde Haar zurück. Die Sängerin zog sich eben, begleitet von dem lebhaftesten Applaus, zurück und streifte an ihm vorüber, nicht ohne ihre Hand liebkosend über eben dies Haar gleiten zu lassen. Jene Frau im Spitzenschleier bemerkte es seufzend. Dann trat der Knabe wieder an den Flügel, eine kurze, kindliche Verbeugung und die schlanken Finger glitten im H moll-Concert Hummel’s über die Tasten. Die Zuhörer waren entzückt. Auch das sanfte Frauenantlitz im fernen Winkel des Saales überflog eine leichte Röthe der Freude.

Und wieder flötete die niedliche Signora und wirbelte in kecken Coloraturen auf und nieder und zog die vollen Schultern in die Höhe und warf zündende Blicke nach allen Seiten und verbeugte sich endlich mit reizender Koketterie wieder und wieder, als man „Bravo!“ rief. Dann aber nahm der Knabe zum letzten Mal seinen Platz ein zur freien Phantasie. Und still wurde es rings umher, wie in einer Kirche während des Gebets; man wagte kaum zu athmen. Es waren Mozart’sche und Beethoven’sche Themen, die seine Finger ineinander webten und variirten in zauberhafter Weise.

Ueber Salieri’s gefurchtes Antlitz glitt ein stolzes Lächeln; die blonde Frau aber hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen und heiße Thränentropfen rollten über ihre Wangen und die sollte Niemand sehen. Fest und fester falteten sich die Hände und ein brünstiges Gebet stieg auf zum Himmel aus einer frommen, reinen Seele für den Knaben, der dort spielte. So tief war das Flehen dieses Herzens, daß selbst der Jubelruf der Menschen, die jetzt nach dem letzten Accord ihrem Entzücken freien Lauf ließen, es nicht störte. Wohl aber ließ der Klang einer Stimme die junge Frau erschreckt auffahren. Diese Stimme, die sie kannte, sagte eben zu ihr: „Madame, Ihr Sohn hat brav gespielt, ich bin mit ihm zufrieden. Sie werden Freude an ihm erleben und dürfen stolz sein auf Ihren Knaben. Wir wollen zu ihm gehen!“

Die Mutter Franz Liszt’s erhob sich, um ihre Hand auf den Arm eines großen, düster blickenden Mannes zu legen, der vor ihr stand. Sein volles Haar war in genialster Unordnung, seine Kleidung nachlässig. Die Menge wirbelte längst bunt und erregt durcheinander, aber wie vor dem Kaiser selbst wich sie ehrerbietig zurück, um jenem Paare Platz zu machen, das jetzt den Weg zum Flügel antrat. Sie redeten kein Wort miteinander, nur dann und wann schlug die Mutter die sanften Augen auf, um ihren Begleiter voll Bewunderung und Zagen anzuschauen, und er nickte ihr dann voll fast väterlicher Freundlichkeit zu. Und endlich sah der Knabe die Beiden.

„Mama, Du wirklich hier und – Beethoven!“ rief er aufglühend und leidenschaftlich erregt.

Und einen Augenblick später hing der „Stern des Abends“ am Halse seiner Mutter und das freundliche Lächeln Ludwig van Beethoven’s war der erste echte Lorbeer, der sich um die Stirn des jungen Künstlers legte. –

Seit jenem Tage war die Laufbahn Franz Liszt’s entschieden, und das Mutterherz gab, trotz tausend banger Sorgen, nach. Muthig drängte es die Schreckbilder von Gefahren, Entbehrungen und Täuschungen, die es Tag und Nacht beunruhigten, zurück. „Geh’ hin, und alle Heiligen mögen Dich behüten und zum wahren Frieden geleiten!“ sagte die sanfteste Stimme der Welt, und das heißgeliebte Kind betrat den dornenvollen Pfad der Künstlerschaft, der zu jenen Höhen der Menschheit führt, allwo sich’s gar „einsam“ stehen soll. Ohne Klage begrub die fromme Frau den Lieblingswunsch ihrer Seele, den Sohn auf jenem Pfade zu sehen, der, wie sie einfältiglich meinte, ohne Umwege sicher in den Himmel führt, nämlich als geweihten Priester. Fortan war sie nur die Mutter des Künstlers.

[153] Die gesegneten Mütter aller unserer bedeutenden Männer zerfallen in zwei große Gruppen. Die eine sammelt sich um die rührende und verklärte Gestalt Monica’s, der Mutter St. Augustin’s, die andere um jene lebensvolle Erscheinung der Frankfurter Patricierin – der Frau Rath Goethe.

In der ersten Gruppe finden wir jene ätherischen Wesen mit gen Himmel gerichteten Blicken, die wie Fleisch gewordene Schutzgeister mit leisen Tritten dem Schritt des Kindes folgen, die das Ideal des schwärmenden Jünglings werden und der Trostengel des Mannes in seiner Todesstunde. In der zweiten begegnen uns kluge, lachende Augen und frische Wangen, die Frauen, die ihre Söhne zu lehren verstehen, „hineinzugreifen in’s volle Menschenleben“, von denen eben diese Söhne die „Frohnatur“ erben und „die Lust zum Fabuliren“. Es müßte eine interessante Aufgabe sein, die Mütter unserer Märtyrer, Helden, Dichter und Künstler nach dieser Eintheilung zu classificiren. –

Der erste Ausflug Liszt’s galt der Weltstadt Paris, jener wunderschönen, grausamen Sphinx mit dem sinnverwirrenden Lächeln und den „Löwentatzen“. Das Conservatorium unter Cherubini’s Leitung war der Stern, dessen Licht die junge Künstlerseele mit unwiderstehlicher Gewalt anzog. Beide Eltern begleiteten den Sohn in das moderne Babylon. Der Componist des „matrimonio segretto“[WS 1] und des „Wasserträgers“ lauschte dem Spiel jener schlanken Finger. Und er staunte über diesen flügelschlagenden jungen Aar, aber – Franz Liszt wurde dennoch nicht, wie er es so heiß ersehnt, Schüler der berühmten Musikschule, ihre Gesetze verweigerten dem Fremden den Eintritt. Dagegen wurde der Knabe etwas Anderes in kürzester Frist, nämlich der Liebling von ganz Paris. In allen Salons der hohen Aristokratie begegnete man fortan der schlanken Knabengestalt; schöne Augen schauten bewundernd auf ihn, sammetweiche Händchen liebkosten seine Wangen. Die Erfolge, die Franz Liszt feierte, die Güte und Liebenswürdigkeit seiner Lehrer, Paër und Reiche, die Zärtlichkeit seiner Eltern, die sich zu verdoppeln schien, als sie den Knaben unter jener fehlgeschlagenen Hoffnung leiden sahen, tröstete allmählich die junge Seele über den Schmerz, Cherubini’s Unterweisung nicht genießen zu dürfen. Der Herzog von Orleans, der nachmalige König der Franzosen, war es, der den Knaben zuerst einen neuen Mozart nannte, und dies Wort schwebte bald auf Aller Lippen. Die Pariser Blätter, ohne Ausnahme, ergingen sich in Lobpreisungen dieses seltenen und bezaubernden Talents und prophezeiten eine große Zukunft. Die Concerte, in denen Adam Liszt seinen Sohn zuweilen dem größeren Publicum vorführte, waren gedrängt voll und die Franzosen in ihrer Lebhaftigkeit und Begeisterungsfähigkeit brachten dem jungen Virtuosen alle erdenklichen Ovationen. Aber der süße Wein aller dieser Huldigungen berauschte diesen klaren Kopf und diese nach den höchsten Zielen strebende Seele keinen Augenblick. Wer den Knaben hätte belauschen dürfen, wer ihn in all’ seiner Formensicherheit und in der heitern geistvollen Grazie seines Wesens unter seinen vornehmen Freunden sich bewegen gesehen, wie er im einfachen Musikzimmer daheim mit dem strengsten Ernst stundenlang Bach’sche Fugen und Präludien spielte und diese Fugen in andere Tonarten zu übertragen versuchte, den würde dieser Feuereifer entzückt haben. Immer höher erglühten dann die Wangen, immer heller leuchteten die Augen, der Lernende und der Spielende vergaß Zeit und Stunde, bis sich endlich zwei weiße, feine Hände sanft auf seine Finger legten, zwei weiche Arme ihn umschlangen und die heiße Stirn an die Schulter der Mutter sank. Aber dieser milde Schutzgeist in so anmuthiger Gestalt blieb damals nicht lange in Paris an seiner Seite; die schwere Erkrankung ihrer einzigen Schwester rief sie nach Graz.

Erst nach der Trennung von der Mutter und sorgenden Hausfrau unternahmen Vater und Sohn kleine Reisen in die Departements, um überall Ruhm und Gold zu ernten. Und weiter und weiter trugen ihn die Schwingen, endlich selbst über die Wasserwoge in das nebelvolle England. Auch dort erregte er Staunen und Bewunderung.

Im Jahre 1825 fand in Paris die Aufführung einer kleinen Oper statt: „Don Sancho ou le château de l’amour“. Das Theater der Academie Royale war überfüllt, die Darstellung meisterhaft, jede Nummer wurde mit dem lebhaftesten Beifall aufgenommen. Man ruft jubelnd den Namen des Componisten: Franz Liszt. Tücher wehen, schöne Hände winken und der Darsteller des Don Sancho trug den kaum fünfzehnjährigen Knaben auf seinen Armen der jauchzenden Menge entgegen. Aber das Zauberschloß hatte auch eine gefährliche Thürhüterin: Mademoiselle Rose, die reizende Sängerin. Sie war es, die den jungen Sieger hinter den Coulissen empfing. Im Nu war sein Kopf zwischen ihren kleinen Händen, ein rosiges, lachendes Antlitz schmiegte sich an das seine, zwei süße, brennende Lippen berührten den Mund, den bis zur Stunde nur eine Mutter geküßt.

War es vielleicht die Erinnerung an jenen berauschenden Lohn, welcher ihm nach der ersten Aufführung des Don Sancho geworden, was ihm allen anderen Beifall kalt und arm erscheinen ließ; war es der ernste Briefwechsel mit seiner Mutter, oder war es endlich jener ermattende Ueberdruß, der so oft hochfliegende Seelen überschleicht, jenes alle Freude vergiftende Bewußtsein von der Ohnmacht jedes menschlichen Strebens und der Vergänglichkeit alles Erdenruhms: genug, der junge Franz verlor plötzlich seine neckische Heiterkeit, seinen genialen Uebermuth. In düsteres Grübeln versenkt, vertiefte er sich in religiöse Bücher; die Väter der Wüste, das Leben der Märtyrer und die Bekenntnisse des heiligen Augustin wurden seine liebste Lectüre. In seinen Briefen an die ferne, treueste Freundin seiner Seele legte er alle Scrupel, Zweifel und Träumereien nieder, und sie dankte den Heiligen für solche frühe Wandelung; sie sah den geliebten Sohn schon geborgen, entrückt allen heißen Kämpfen ruhend im tiefen Schatten eines Klosters.

Anders war der Eindruck, den diese plötzliche Veränderung des Sohnes auf den Vater machte. Er ängstigte sich um die große Zukunft des Künstlers, an die seine Seele so fest glaubte wie an den Himmel selber. Auf den Rath eines ärztlichen Freundes unternahm er eine Reise in die Schweiz mit seinem Liebling und führte ihn dann in das Seebad Boulogne. Die Freude, die Wangen des Sohnes in neuer Frische erblühen, dessen Heiterkeit wiederkehren zu sehen, sollte seine letzte auf Erden sein. Adam Liszt schied am Augustustage von dem Stolz und Glück seines Herzens und ließ sein Kind allein in dem ersten Morgenroth seines jungen Ruhms. Die treue Mutter eilte voll tiefstem Schmerz, als die Schreckenskunde sie erreicht, nach Paris zurück, um bei dem nun Verlassenen zu bleiben. Sie gewahrte bald die Rückkehr des Sohnes zu seiner geliebten Kunst, ihre Hoffnungen verflogen, aber kein Laut, kein Zeichen verrieth, daß sie darüber trauere, sie begnügte sich damit in seiner Nähe zu bleiben, ihm eine Heimath zu bereiten, ihm zuzulächeln, wenn er müde, ihn zu pflegen, wenn er ermattet, und seinen Triumphen in der Welt von ferne zuzuschauen mit dem entsagenden Blick einer Heiligen.

In jenen Tagen war es, wo eine Frauenerscheinung den Weg des jungen Künstlers kreuzte. Ein Köpfchen taucht auf, halb verhüllt von niederwallenden goldgesäumten Schleiern, wie aus Wolken schauend, wie auf Goldgrund von dem Pinsel eines Tintoretto gemalt, und rings um dies Bild zieht sich ein Kranz von rothen Rosen und Passionsblumen. Es war eine glühende, junge Liebe und ein verzweifeltes unabwendbares Entsagen, und Niemand als die Augen der Mutter sahen Beides und Niemand als die Lippen der Mutter durften versuchen zu trösten.

Lieb und Leid waren so groß, daß Franz Liszt aus den glänzenden Gesellschaften verschwand, daß sein Fuß die glatten Parkets nicht mehr betrat, auf denen er sonst so sicher einhergeschritten, daß ihn auch die engeren Freundeskreise schmerzlich vermißten, daß man ihn nirgend mehr hörte. In dem stillen Zimmer der Mutter saß er, auf einem niedern Tabouret, den Kopf an ihre Kniee gelehnt.

Ihre weiße Hand lag auf seinem dunkelblonden Haar, ein Haar, das die französischen Frauen so lebhaft bewunderten. Heißer denn je betete die Mutter in dieser Lebenskrise für den Frieden des Sohnes, aber sie selbst war es auch, die ihn unablässig an den Trost seiner Kunst mahnte, die ihn an den verlassenen Flügel führte und seine widerstrebenden Hände auf die Tasten legte. Wild und zerrissen klangen die Phantasien, denen sich der Jüngling jetzt überließ. Stundenlang irrten nun die Finger wieder auf und nieder, aber Niemand durfte zuhören, als die Mutter. Da drang in das melancholische Stillleben der Beiden plötzlich die Nachricht von der Ankunft eines jener wunderbaren Phänomene, wie sie vielleicht eben nur von Jahrhundert zu Jahrhundert über die Erde ziehen: Paganini traf in Paris ein und zeigte sein erstes Concert an. Die Weltstadt hatte seit jener Stunde kein anderes Interesse mehr. Alles redete einzig und allein von dem märchenhaften Geigenkönig, aus dessen Amati die ruhelose Seele eines gemordeten Weibes klagte.

[154] Und unter den vielen Hunderten, die an jenem Abend den Concertsaal füllten, saß auch, in den entferntesten Winkel einer Loge gedrückt, Franz Liszt und lauschte wie verzaubert dem Gesange jenes Dämons, der da in Gestalt eines finstern, unheimlichen Mannes in schwarzer Kleidung vor ihm erschien. Es ergriff ihn mit unwiderstehlicher Gewalt, eine übermächtige Erregung erfüllte ihn, die Wolken der Schwermuth zertheilten sich und wie die Sonne strahlte die Ueberzeugung auf, daß auch – der Genius verpflichtet („le génie oblige“). Er fühlte, er war der Welt die ihm von einer höhern Macht verliehenen Gaben schuldig, er war sich selbst schuldig, weiter und weiter zu eilen, den lichten Höhen künstlerischer Vollendung entgegen, sich empor zu raffen. Mit diesen Gedanken und Ueberzeugungen kehrte Liszt aus dem Concert Paganini’s zurück.

Wie tief und mächtig seine Seele von jener eminenten Künstlererscheinung ergriffen worden war, zeigt sich in einem Nachruf für Paganini nach dessen Tode. Mit feiner und zugleich glühender Feder schilderte er diese seltenste aller künstlerischen Persönlichkeiten und erklärte sie für den unbestrittenen Künstler-König.

Ein anderer Kreis war es aber jetzt, der den in die Welt zurückkehrenden jungen Künstler in seine Mitte nahm, ein Kreis von jenen früheren gar sehr verschieden. Die Scenerie verwandelte sich: statt der hocharistokratischen Salons erschien plötzlich ein schlichtes Zimmer. Franz Liszt saß an dem Kamin der zauberischen Frau Aurora Dudevant, George Sand, um ihre reizenden Plaudereien und ihre kleinen orientalischen Pantoffeln zu bewundern und die noch kleineren Füße, die darin steckten. Zu gleicher Zeit lag Alfred de Musset auf einem Polster am Boden und schaute träumend in die Gluth des Feuers oder in die Gluth jener Augen, die ihm noch viel verderblicher werden sollten, als alles Feuer der Welt. Vielleicht plauderten auch Jules Sandeau, Alfred de Vigny und der geistvolle Maler Delacroix eben in der Fensternische, oder Victor Hugo trat mit einem heitern Gruß in die Thür. Ein Piano stand im Winkel, und da geschah es denn zuweilen, daß Franz Liszt plötzlich aufsprang, mitten in einem geplauderten Satz, um ihn in Tönen zu vollenden. Dann verstummten sie allmählich Alle und wandten sich langsam um, jenem Spiel zu lauschen, das auf die verschiedensten Naturen gleichen Zauber übte durch jene unwiderstehliche Kraft und Gluth des wahren, echten Genius. Und leise erhob sich George Sand, die junge Frau, deren Indiana einen Feuerbrand in so viele Herzen geworfen; die türkischen Pantöffelchen blieben vergessen stehen, sie schlich näher, um sich mit übereinandergeschlagenen Armen an den Flügel zu lehnen. Nur eine venetianische Lampe brannte und in dem Doppelschein ihres schwachen Lichts und des flackernden Kaminfeuers erschienen die Köpfe der Beiden in zauberhaftem Contrast. Aurora, die köstliche, üppige Gestalt mit dem kühn geschnittenen Profil, mit dem nachtschwarzen Haar, das tief im Nacken in einem Knoten lag, im schwarzen, losen Kleide, einen purpurnen Shawl um die Taille geschlungen, in dessen Falten ein kleiner Dolch steckte. Und diese Augen! Groß, flammend, dunkel, voll Geist und Leidenschaft, im Schmuck tadelloser Wimpern und Brauen, Spanierin und Hindu zugleich im Blick. Und diese schwellenden Lippen von thauiger Frische und diese kleine, volle Hand, die sich eben ausstreckte, um den tief niedergehenden Scheitel zurückzustreichen! Zuckende Lichter flogen über dies Antlitz, fremd und seltsam erschien es, eine Tropenpflanze neben – der blauen Märchenblume. Franz Liszt’s Gesichtsausdruck war damals so zart, so vergeistigt, sein träumerisches Lächeln, das Funkeln seines Blicks, der schwermüthige Zug seines Wesens so fesselnd, daß nach dem Urtheil aller Zeitgenossen keine Frau gleichgültig an ihm vorüberstreifte. Auch Aurora’s Blick hing bewundernd an dieser Stirn, an diesem feinen, vornehmen Munde, vielleicht mit denselben Empfindungen, mit denen sie viele Jahre später den melancholischen, leidenschaftlichen Träumer Chopin anschaute, während er seine todestraurigen Tanzweisen vor ihr spielte.

Vorbei, vorbei!

Man hat oft Vergleiche gezogen zwischen George Sand und Franz Liszt; die schillernde Farbenpracht, die glühenden Tinten in der Darstellung Beider hatten in der That viel Verwandtes. Die Geister nahmen gleichen kühnen Flug und fühlten sich unwiderstehlich von einander angezogen. Von welchem hohen poetischen Reiz mag jene Reise in die Schweiz gewesen sein, die Liszt später in Begleitung der George Sand und des liebenswürdigen Schriftstellers Pictet unternahm! Die berühmte Frau beschreibt ihren Zauber in den „Briefen eines Reisenden“, und Pictet’s Reise nach Chamounix ist fast nur eine Apotheose des jungen Künstlers. Liszt selber erzählte von diesen köstlichen Stunden in seinen „Pilgerjahren“, jenen tönenden Blättern von der „Chapelle de Guillaume Tell“, „au bord d’une source“, und läßt zum Abschied „les cloches de Genève“ läuten.

Unter den Schriftstellern fing der junge Virtuose auch an zu schriftstellern, und die im elegantesten Französisch geschriebenen reizenden Betrachtungen „Ueber die Lage der Künstler“ las man in Paris mit Bewunderung. Vielleicht war diese Lebensperiode des großen Künstlers die schönste, ungetrübteste. Ohne Plan und Ziel schwärmte sie umher an den Ufern des Genfer, des Vierwaldstätter Sees und im Berner Oberlande, jene bunt zusammengewürfelte Gesellschaft genialer Menschen, ohne den hemmenden Ballast irgend welcher Sorge an den Flügeln. Schöne und bedeutende Frauen, geistvolle Männer lauschten im Freiburger Dom den Klängen der weltberühmten Orgel unter den Händen Liszt’s. Es war eben ein Leben voll Glück und Glanz, ein Athmen in balsamischer Luft, über den Häuptern wie über den Herzen ewig blauer Himmel, ein ungestraftes Wandeln unter Palmen.

Die Strahlen der Ruhmessonne Thalberg’s waren es, die jenem entzückenden „dolce far niente“ jenem „Mittsommernachtstraum“ ein Ende machten. Wie Rinaldo aus den Armen Armida’s, so fuhr der Träumer auf. Die Feuerseele verlangte, sich mit dem plötzlich aufgetauchten Gegner zu messen. Bald schlugen, statt der murmelnden Wellen des blauen Sees, die brausenden Wogen der Weltstadt wieder an sein Ohr. Paris empfing den Zurückkehrenden mit Jubel und hielt ihn fest, wie es eben Jeden festzuhalten weiß, dem es seine Schönheit schleierlos zeigt, es hielt ihn auch, als längst der Kampf der beiden Nebenbuhler beendet und der Sieg Liszt’s entschieden war. Das Urtheil der Frauenwelt über den eleganten, glatten Thalberg, den meisterhaften Virtuosen, und den genialen Himmelstürmer trat wohl zu Tage in jenem Ausspruch einer geistvollen Frau, die damals bemerkte: „Thalberg ist der Erste, aber Liszt der – Einzige.“

Es ist seltsam, daß in dem Leben Liszt’s immer von Zeit zu Zeit Momente tiefster Zurückgezogenheit ihre verhüllenden Schleier über seine Gestalt werfen, daß Wochen und Monate in ununterbrochener Einsamkeit verlebt mit berauschenden Triumphzügen und einem glänzenden Leben in der großen Welt wechseln. Er liebte es, zuweilen vom Schauplatz seines Ruhmes spurlos zu verschwinden, und überließ es seinen Freunden, sich in Muthmaßungen über sein Verbleiben zu erschöpfen.

So zog sich Franz Liszt nach einem langen, sonnenhellen Aufenthalt in Venedig, Florenz, Rom und Neapel in die kühlen Schatten des Parks der Villa Maximiliana bei Lucca zurück. Pinien rauschten über der gedankenvollen, bleichen Stirn, Orangenblüthen tropften auf die lässig ruhenden Hände, aber zwischen den Lorbeergebüschen, neben dem blühenden Rhododendron lauschte vielleicht ein reizender Frauenkopf hervor, in dessen lachenden Augen deutlich zu lesen stand: „Vive la joie!“ – Und wo war die Mutter?

Fern von dem heißgeliebten Sohne und doch ihm unablässig nah mit ihrem Gebet und ihren Wünschen für seine Seele, und der Gedanke an sie begleitete auch ihn überall hin. Wie oft faltete er wohl in heißer Sehnsucht die Hände nach ihrer Liebe und ihrem Troste – denn wann käme je die Zeit für ein Menschenherz, wo es sich stark genug fühlte, Mutterliebe und Menschentrost zu entbehren? Der Zug tiefer Zärtlichkeit für seine Mutter geht wie ein Strom durch das Leben Liszt’s, das unzerreißbarste Band schlang sich um diese Mutter und diesen Sohn. An all’ seinem Thun und Schaffen nahm sie den regsten Antheil. Und war er müde und traurig, so flüchtete er sich in seinen Briefen zu ihr, wie er es damals gethan in seinem ersten Liebesschmerz, und wieder wie damals fühlte er ihre zarte Hand auf seinem Haupte und hörte ihre süße Stimme ihn trösten und aufrichten.

War es nicht das Andenken an sie und den heißesten Wunsch ihrer frommen Seele, was ihn endlich nach einem Leben voll Glanz, nach Jahren unermüdlichen Schaffens, Ringens und Kämpfens für sich und Andere, nach seinem Capelldirectorium in Weimar und seinem Aufenthalt am Hofe des Fürsten von Hohenzollern-Hechingen zu Löwenberg in Schlesien, die Hand nach dem Priesterkleide ausstrecken ließ? Die Welt sieht ihn nicht, den Faden, der hier in [155] diesem wunderbaren Künstlerleben Anfang und Ende verknüpft. Zwischen jenem im Anfang dieser Blätter geschilderten Concert im landständischen Saal zu Wien und dem Heute liegen vier und vierzig Jahre. Wieder ist es ein Concert, gegeben von Franz Liszt, wieder sehen wir ihn am Flügel. Aber statt einer dichtgedrängten Menge ist es diesmal nur ein einziger Zuhörer, der den Tönen lauscht, ein Greisenantlitz, Pio Nono, der Papst von Rom. In einem Gemach des Vaticans spielt der Abbé Liszt vor dem Papst und die schwermüthigen Augen des Greises leuchten auf bei den Weisen, die jener ernste Mann im dunklen Priestergewande den Saiten entlockt. Ein ander Mal aber sehen wir die Beiden, wie auf unserm vortrefflichen Bilde, und hinter ihnen eine Schaar hoher Würdenträger der Kirche, darunter das kluge Gesicht des Cardinals Antonelli, durch die prachtvollen Kreuzgänge wandeln, welche sich an Roms Hauptkirche, die Kirche auf dem Laterane, schließen, jene Kirche, von deren Balcon der Papst dem versammelten Volk den Segen zu spenden pflegt. –

Nur einmal in meinem Leben ist es mir vergönnt gewesen, Franz Liszt zu sehen und zu hören; schon vor langer, langer Zeit, im Jahre 1842 zu Leipzig. Es war im Gewandhause, in jenem weltbekannten Concertsaale. Er spielte eine Beethoven’sche Sonate, seinen galop cromatique und seine Transcription des Schubert’schen Erlkönigs. Da lösten sich endlich „alle Bande frommer Scheu“, die sonst so besonnenen Leipziger wurden fast so erregt, wie das Publicum eines italienischen Theaters. Die begeisterte Jugend stand auf den Stühlen fast athemlos, mit glühenden Wangen, ungestüm klopfendem Herzen und leuchtenden Augen. Keine Bewegung, kein Ton ging uns verloren. Kein Blick seiner Augen streifte uns, er hatte zu viel zu thun mit jenen enthusiastischen, älteren, erwachsenen Damen, die muthiger als Andere zu ihm auf das Orchester kletterten und von dem Lorbeerkranz, den man ihm um das Notenpult gewunden, Blatt um Blatt abrissen. Ich glaube, man theilte sich auch in einen seiner Handschuhe, der vergessen auf dem Flügel lag. Friedlich war aber diese „Theilung der Erde“ nicht, und Mancher kam zu spät, nicht nur „der Poet“.

Als ich später Liszt’s wunderschönes Gedenkbuch Chopin’s las und mir die Thränen auf gar manches Blatt niederfielen, hörte ich dazwischen immer wie aus weiter Ferne die Prestissimo gespielten Octaven der Begleitung des Erlkönigs und das Sturmsausen der Melodie und sah den schlanken, bleichen Mann, wie er mit einer unnachahmlich stolzen Bewegung das Haar von der Stirn zurückwarf.

Und, so sehe ich ihn noch oft – nicht Franz Liszt, den ernsten Priester, nur Franz Liszt, den unvergleichlichen Künstler.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Tatsächlich war Domenico Cimarosa der Komponist des „Matrimonio segretto“ (vergleiche: Kleiner Briefkasten, Heft 12, Seite 192).