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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[625]

No. 40.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Die Locke der Charlotte Corday.

„Die Mondesschimmer fliegen,
Als säh’ ich unter mir
Das Schloß im Thale liegen,
Und ist doch so weit von hier!“
  Eichendorff.

Ich sehe es wirklich, in diesem Augenblick, das alte melancholische Herrenhaus auf der vereinsamten Landstraße nach H–, und eine Eichendorff’sche Mondbeleuchtung paßte zu den grauen Mauern, der breiten Steintreppe, dem mächtigen Park mit seinen steinernen Göttergestalten, die alle heimlich Leid trugen um eine fehlende Nase, einen abgebrochenen Arm, eine zerbröckelte Hand, einen losgelösten Fuß. Jetzt ist es seit vielen Jahren unbewohnt und der Obhut eines alten Castellans überlassen, denn der junge M., der es nach dem Tode seiner Verwandten erbte, besitzt eine reizende Villa am Comer See und zieht den Aufenthalt in Licht und Glanz begreiflicher Weise dem Leben in jenem grauen Palaste vor. Und dennoch scheuen manche Fremde, die auf der breiten Schienenstraße Deutschland durchfliegen, jenen Umweg und Zeitverlust nicht, um dem alten Schlößchen einen Besuch zu machen. Man zeigt nämlich dort das einzige wahrhaft getreue Portrait des Mädchens von Caen, der wunderbaren Charlotte Corday. Auf einer Staffelei im Erkerzimmer des linken Flügels steht es, in einen schwarzen Holzrahmen gefaßt, in ergreifender Schönheit. Es ist nur flüchtig angelegt, fast skizzenhaft, von mattem Farbenton, aber der Charakter dieses seltenen Kopfes ist so großartig aufgefaßt, der Blick der Augen so über die Welt gleichsam hinausschauend, daß die Wirkung den Betrachtenden überwältigt. Charlotte Corday trägt ein helles Kleid mit anschließenden Aermeln, ein hochhinaufreichendes Busentuch und die bekannte französische Haube. Ihre aschblonden Haare fallen schwer und etwas nachlässig herab auf die Schultern, aber diese Schultern sind bei aller Fülle in ihren Umrissen fein und edel. Lange Wimpern und schön gezeichnete Brauen beschatten die wundersamsten Augen der Welt. Der Mund ist weich und zärtlich, es sind die sanften und keuschen Lippen einer Frau, während auf der Stirn eine männliche Entschlossenheit thront und die Nase dem Gesicht einen kühnen Ausdruck giebt; die Profillinie ist etwas streng, trotz ihrer Feinheit. Und wie kommt dies lebensvolle, offenbar unmittelbar nach Anschauung gemalte Portrait des berühmten Mädchens in dies deutsche abgelegene Schlößchen? Das ist eine seltsame Geschichte; der alte Sanitätsrath in D., dem hübschen Badeorte, hat sie mir vor langer Zeit einmal erzählt.

Hier ist sie.

Vor vielen, vielen Jahren war das graue Herrenhaus von glücklichen Menschen bewohnt und es gab nichts Erfrischenderes als in die grüne Dämmerung dieses mächtigen Gartens zu blicken, wo auf reinlich gehaltenen Wegen fröhliche Kinder spielten, und gar mancher Wanderer auf der Landstraße blieb an dem eisernen Gitterthor stehen und vergaß alle Müdigkeit, wenn das helle Lachen der Kinderstimmen an sein Ohr schlug. Herr M., der Besitzer dieses Hauses, hatte zwar nur eine einzige Tochter, aber er ließ zu ihrem Vergnügen oft die Kinder der benachbarten Güter in einem großen mit Leinwand überzogenen Wagen abholen und belebte auf diese Weise seinen Park und entzückte zugleich das Herz seines Kindes. Sie sollte durchaus fröhlich sein und nie Zeit finden ihre Mutter, die sie schon im zwölften Jahre verlor, zu vermissen. Eine ältliche brave Pfarrerstochter vom Rhein wurde in’s Haus genommen, eine französische Bonne und eine englische Gespielin. Fräulein Köhler, welche die Leidenschaft besaß, Verse zu machen und Romane zu schreiben, die nie zum Druck gelangen wollten, war sehr gewissenhaft sorglich und treu, und ihre Sentimentalität störte den Hausherrn nicht, da Melanie gar keine Anlage zu irgend einer Gefühlsschwärmerei zeigte und ganz das Naturell ihrer Mutter, einer Französin, geerbt zu haben schien. Auf dem Sterbebett dieser Mutter wurde die kleine Hand Melanie’s in die eines blassen Jünglings gelegt: „Er soll dereinst Dein Mann werden und Du wirst in Paris leben!“ hatte sie zu ihrem Kinde gesagt.

Alphons Dacier[WS 1] war der einzige Sohn eines früh verstorbenen Bruders und die Geschwister hatten ausgemacht, ihre Kinder mit einander zu verheirathen; Herr M. hatte Nichts gegen diesen Plan einzuwenden, da der junge zukünftige Schwiegersohn sehr reich war. Alphons kam nun regelmäßig im Sommer auf einige Wochen in das Schloß, und Melanie verbrachte ein Jahr gleich nach ihrer Confirmation bei einer Tante ihres Verlobten in Lyon. Herr M. selbst hatte sich inzwischen von allen Geschäften zurückgezogen und überließ sich nur noch dem Umgang mit seiner Tochter und einer geheimen Leidenschaft, die er vor den etwas unbarmherzigen Augen seiner verstorbenen Frau hatte verbergen müssen: seiner Neigung zur Malerei. Alle M.’s, die vor ihm das graue Schloß bewohnt, hatten irgend eine wunderliche Grille gehabt. War auch bei dem jetzigen Besitzer von keinem Talent die Rede, wie bei seinem Vorgänger, der ein bedeutender Musiker gewesen, so stand er doch keinem seiner Ahnen in Eifer und Hingabe an seine Neigung nach. Sein Fleiß ließ ihn oft Speise und Trank vergessen, ja nicht selten sogar den Liebling seines Herzens, die reizende Melanie. Er hatte sich ein Atelier eingerichtet in dem größten Zimmer des nördlichen Flügels und brachte dort den größten Theil [626] des Tages zu. Nichts konnte strahlender sein als sein Gesicht, wenn er vor einem frisch aufgespannten Malertuch stand und sich anschickte irgend ein Bild aus der bedeutenden Sammlung seiner Vorfahren zu copiren. Diese Copien wurden nach ihrer Vollendung auf das Schönste eingerahmt und in dem oberen Saal des Schlosses aufgehängt. Die wenigen, gewaltig ernsthaft blickenden Familienbilder, die hier früher ihren Platz gehabt und welche Melanie höchst respectwidrig die Käfersammlung zu nennen pflegte, mußten sich gefallen lassen in das anstoßende Erkerzimmer verbannt zu werden.

In dem Saal dieser Copien nun pflegte Herr M. Winter und Sommer sein Mittagsschläfchen zu halten. Es war gar zu süß mitten unter seinen Schöpfungen einzuschlummern und zu erwachen – halb blinzelnd eine in unbeschreiblichen Farben prangende Kuh nach Potter, eine Landschaft nach Salvator Rosa, ein Portrait nach van Dyk anzusehen, denn Herr M. malte Alles – um sich zu sagen: „Deine Hand hat sie geschaffen!“ Unbekleidete Figuren zu malen hatte er aufgegeben, bis auf Weiteres, seitdem sein Töchterchen ihn einmal gefragt, als er einen Engel nach Fiesole copirt: „Papa, ist der arme Junge mit den Flügeln in ein blanc manger gefallen? er guckt ja nur noch mit dem Kopf heraus!“ – „Der Kukuk mag wissen, wie sie es anfangen, die Maler, so ein Stück ordinären Fleisches herauszubringen,“ brummte Herr M. nachher, „es ist gewißlich nichts, als ein kleiner Taschenspielerkunstgriff dabei; man geräth aber von selbst nicht darauf. Nun, ich muß mir’s sagen lassen, sobald mir ein Maler einmal in den Wurf kommt.“

Melanie’s siebenzehnter Geburtstag war herangekommen. Das war ein aufregender Tag, dieser 15. Mai! Man feierte an ihm die feierliche Verlobung Melanie’s mit Alphons Dacier, der von Paris herübergekommen war, um einige Wochen im Schlosse zu bleiben. Alle die jungen Freundinnen des Mädchens waren eingeladen, nebst den dazu gehörigen Vätern, Müttern und Brüdern; die Sonne strahlte, der Flieder blühte und wie weiße Schmetterlinge flatterte die Mädchenschaar im Park umher.

Am späten Abend, als es wieder still geworden war, geschah es, daß Melanie sich auf das Bett ihrer Gouvernante setzte. Sie begann sich ihr Haar für die Nacht aufzuflechten und sagte mit einem glücklichen Lächeln: „Das war ein hübsches Fest! Es giebt doch nichts Angenehmeres, als sich zu verloben, und ich bedauerte alle meine Freundinnen, daß sie nicht auch ihre Verlobung feiern konnten.“

Fräulein Köhler zog die Garnitur ihrer Nachthaube ein wenig tiefer über ihre Lockenwickel, lockerte die Stirnbinde, die sie der allzutiefen „Denkerfalte“ wegen allnächtiglich zu tragen pflegte, legte ihre Hände über die Augen und bat: „Liebe, stelle einen Schirm vor das Licht, das Du hereingebracht. Schone meine Augen!“

Eine Secunde später lag die Gouvernante im tiefsten Schatten und der volle Lichtschein traf nur Melanie. Ihr leichtes, spitzenbesetztes Nachtkleid fiel bis auf die Füße herab. Sie standen auf einem kleinen Tabouret. Daß Melanie eine französische Mutter gehabt, zeigten diese Füße. Sie steckten noch in den kleinen rosenrothen Atlasschuhen mit den schwarzen Spitzenrosetten, in denen sie getanzt, und es gab nichts Zierlicheres als die Form dieser Füßchen mit den feinen Knöcheln. Fräulein Köhler’s mit wunderbaren Blumen bestickte Morgenschuhe – ihre zahllosen Nichten versahen sie mit diesem abscheulichen Artikel – hatten das Ansehen einer Wiege für die Füße des jungen Mädchens.

Als das Fräulein noch immer schwieg, sanken plötzlich die Hände Melanie’s in den Schooß, ein Zug von Trauer überflog das reizende Gesicht: „Mein Gott, ich habe ihr gewiß wehe gethan,“ dachte sie, „die Arme hat ja nie ein so schönes Fest gefeiert!“ Unwillkürlich neigte sie sich herab, um ihre Lehrerin zu küssen. „Wie vergnügt war der Papa heut! Nicht wahr, Sie verlassen ihn nie, wenn ich einmal fort bin, und begleiten ihn immer nach Paris, wenn er kommt mich zu besuchen?“

„Gutes Kind! Darüber reden wir ein ander Mal,“ antwortete die Köhler gerührt, „ich habe allerlei Pläne. Du sollst später Alles erfahren. Ja, Du hast Recht, es ist ein schönes Fest, das Du heut gefeiert, aber ich glaube, es wird doch noch schöner sein, wenn – wenn die rechte Liebe dabei wäre, die muß aber bei Dir erst kommen!“

„Nun, wenn sie bei Alphons da ist, dann dürfte es ja einstweilen genug sein,“ lachte das junge Mädchen. „Ich muß ihn freilich erst kennen lernen; es ist recht gut, daß er jetzt einen Monat hier bleibt. Meinen Sie, daß ein Monat genug Zeit ist, um sich lieben zu lernen?“

„Thörin!“ erwiderte die Gouvernante mit Nachdruck, „ein einziger Augenblick genüge, sagen die Dichter! Wie war Dir’s denn zu Muth, als Du Deinen Verlobten zum ersten Male sahst?“

„Lassen Sie mich ein wenig nachdenken,“ erwiderte Melanie und machte ein allerliebstes ernsthaftes Gesicht. „Ach ja, das war, als Mama noch lebte, vor fünf Jahren. Alphons ist sieben Jahr älter als ich, und ich meinte damals, er sähe sehr alt aus und wolle Alles besser wissen als ich. Nachher war er da, als die arme Mama starb, und ich hatte ihn sehr gern, weil er mich so zärtlich zu trösten versuchte und mit dem Papa so viel plauderte, und jetzt finde ich ihn recht hübsch und so unterhaltend und gewandt, wie keinen einzigen der jungen Herren, die ich kenne. Ist das noch nicht die Liebe, die man braucht, um eine glückliche Frau zu werden?“

„Ich denke, nein! Die wirkliche Liebe ist etwas ganz Anderes: ein immer aneinander Denken, ein immer beieinander Sein, ein Treubleiben in Noth und Tod. Nun, das wird Alles noch kommen!“

Das junge Mädchen antwortete nicht sogleich. Sie saß in tiefes Sinnen verloren. Wie hübsch sie in diesem Augenblick aussah, so unberührt von jedem Kummer, so schuldlos, so froh und frisch! Melanie hatte zwar mit ihrer Erzieherin manches Liebesgedicht, manche rührende Geschichte, worin von Liebe die Rede war, gelesen, aber sie gestand sich, daß sie trotzdem noch niemals ernsthaft über die Liebe nachgedacht. Und jetzt war sie doch schon Braut! –

„Die Liebe muß doch sicher die höchste Zufriedenheit sein,“ begann sie nach einer Weile, „und so meine ich, daß ich bereits anfange zu liebe. Ich bin zufrieden mit Alphons, mit Papa, mit mir selber, ich möchte Nichts anders haben und ich freue mich kindisch auf Paris.“

Und die hübschen Finger nahmen ihre unterbrochene Beschäftigung wieder auf, sie flochten das goldbraune Haar ein.

Das Fräulein seufzte. „Mein liebes Kind, wolle Gott keinerlei Prüfung über Dich kommen lassen!“

„Prüfung? Was verstehen Sie darunter?“ fragte Melanie.

„Allerlei ernsthafte Dinge: Kummer, Elend, Noth. Dergleichen besteht nur die echte und rechte Liebe mit Ehren.“

„Ich habe nicht gewußt, liebste Köhler, ob Alphons arm oder reich war, als ich mich mit ihm verlobte: also würde ich ihn genau so angenehm finden, wenn er Nichts hätte, sollte ich denken. Würde er krank, so will ich ihn gewißlich treu pflegen – dann muß er ja bald wieder gesund werden. Und Noth?! Ach, der gute Papa ist ja da und in Noth braucht ja nicht Jeder zu gerathen.“

„Melanie – Du sollst im nächsten Winter in Paris in die Gesellschaft eingeführt werden; Dein Papa will, daß Du vor Deiner Verheirathung ein Wenig von der Welt siehst; glaubst Du nicht, daß ein anderer Mann Dir jemals besser gefallen könnte als Dein Verlobter? Und Du wirst dort gewiß schöne Männer sehen, und geistvolle und liebenswürdige zu Dutzenden.“

„Das weiß ich nicht. Sollte das aber geschehen, nun so würde ich das sofort dem Papa und Alphons sagen, und wir würden schnell abreisen.“

„Das hilft nicht immer, mein Kind!“

„O, wenn ich nur Alphons sehe, liebe ich ihn auch wieder, das weiß ich gewiß! Und ich habe ja auch der todten Mama versprochen ihn zu heirathen – also das sind eigentlich unsinnige Plaudereien, ich weiß gar nicht, wie wir darauf kamen, schade, daß Alphons nicht malt oder singt, das würde Papa mehr Freude machen und mir wäre es auch recht!“

„Nun, das thut Nichts, wenn er Dich nur recht liebt, wie Du es verdienst!“

„O, wir sind doch hübsch genug ihn zu fesseln, liebe Köhler, das ist meine geringste Sorge! Und ich bin auch nicht seine erste Liebe, ich habe ihn neulich darum gefragt, und das ist mir recht lieb, dann weiß er doch, daß die Frauen nicht vollkommen sind, und nimmt mich wie ich bin.“

Es war unmöglich der Sprecherin böse zu sein, wie sie so plauderte, sie sah schelmisch dabei aus wie ein Kind, tausend neckische Geister trieben in den dunkeln Augen und in den Grübchen der Wangen ihr Wesen. Fräulein Köhler unterdrückte deshalb auch [627] ihre Strafpredigt und begnügte sich seufzend damit, ihre verlobte Schülerin zu Bett zu schicken.

„Noch Eins,“ sagte Melanie schon im Begriff dem Gebot Folge zu leisten, „ich habe eine Bitte. Alphons trägt ein schwarzes verschlossenes kleines Portefeuille in seiner Brusttasche – ich sah es, aber er schloß es mir nicht auf und behauptete, es enthalte ein Geheimniß, das ich erst an unserm Hochzeitstage erfahren dürfte. Vielteicht ist es das Portrait seiner verstorbenen ersten Liebe. Bitte, bitte, liebe Köhler, fragen Sie ihn einmal recht eindringlich danach – mir würde er ja doch keine aufrichtige Antwort geben, und dann – ich möchte um die Welt nicht, daß er mich für neugierig oder gar für eifersüchtig hielte!“




Seit jener Unterredung waren Monate verflossen, man hatte den Winter in Paris vorüberrauschen lassen und lebte erst seit vierzehn Tagen wieder im alten Herrenhause. Wie im Traume war Melanie auf den hochgehenden Wogen eines wechselvollen Daseins dahingeschwommen. Fräulein Köhler mußte sehr viele Abende einsam zubringen in jenem kleinen, eleganten Quartiere, das man in Paris gemiethet, und fand Muße genug, sich ihrer Leidenschaft hinzugeben, Romane zu schreiben, und Betrachtungen anzustellen über die Vergnügungssucht junger Mädchen. In dem Hause Alphons’ repräsentirte seit dem Tode seiner Eltern eine alte Tante, sie machte die Honneurs mit mehr Würde als Grazie. Alle seine übrigen Verwandten von Nah und Fern drängten sich herbei, die junge, reiche Braut kennen zu lernen. Melanie wurde gefeiert, wo sie sich zeigte, man umschwärmte die reizende, frische Erscheinung, man fand sie piquant ohne alle deutsche Sentimentalität und beneidete den Bräutigam um diese anmuthige Zugabe eines bedeutenden Vermögens. Aber alle derartigen Huldigungen schienen keinen sonderlichen Eindruck zu machen auf das Herz des jungen Mädchens, zur großen Beruhigung der besorgten Gouvernante; Alphons tanzte besser, als alle Andern, plauderte amüsanter, war achtsam auf alle Wünsche – man mußte ihn lieben, so lautete der Refrain aller Berichte Melaniens. Sie genoß das rauschende Paris mit einer Unbefangenheit und ruhigen Freude, die ihre Erzieherin in das lebhafteste Erstaunen versetzte.

Herr M. war in den letzten Tagen seines Pariser Aufenthaltes ungewöhnlich guter Laune. Er hatte in der Ausstellung ein Bild gekauft, das ihn unwiderstehlich reizte: Adam Lux, der bekannte schwärmerische Anbeter Charlotte Corday’s, auf seinem Wege zum Schaffot. Anordnung und Gruppirung waren meisterhaft und das Colorit von großer Wärme und Kraft, der Ausdruck der verschiedenen Köpfe frappirend. Die Bekanntschaft mit dem Maler dieses Bildes erklärte er für die interessanteste in Paris, er hatte ihn auch sofort auf mehrere Wochen zu sich nach Deutschland eingeladen. Gaston Dumont – so hieß der talentvolle junge Künstler – hatte die Aufforderung angenommen und versprochen, sobald er seine kränkelnde Mutter in das kleine deutsche Bad D. nahe bei H. gebracht, im Schlosse einzutreffen.

Der alte Herr stellte seinen Schützling seiner Tochter und seinen übrigen Angehörigen vor und war sehr verwundert über den verschiedenen Eindruck, welchen die Erscheinung des jungen Mannes hervorbrachte. Während Melanie angezogen ward von dem schwermüthigen Ernst des Ausdruckes dieses ungewöhnlichen Gesichtes und von der melancholischen Ruhe seines ganzen Wesens, betrachtete ihn Alphons mit einer Art gehässigen Mißtrauens, und die Köhler endlich fand ihn durchaus uninteressant. Er sah ja garnicht aus wie ein Maler – keine fliegenden Locken, kein Sammetbarett, keinen zurückgeschlagenen Kragen – blos ein anständiger Mann aus der guten Gesellschaft. Es war wirklich schade. Wie hübsch hätte ein mehrwöchentliches Zusammenleben mit einem echten Maler werden können! So aber, wie er, konnte jeder Assessor aussehen! –

Man war endlich wieder im grauen Schlosse und der Frühling auch, und die Fenster standen den ganzen Tag weit offen, wie die Glasthür nach dem Garten, und Melanie mußte immer daran erinnert werden, Handschuhe anzuziehen und ihren runden Hut aufzusetzen, wenn sie die Steinstufen hinabsprang. Gaston Dumont hatte seine Zusage erfüllt; er hatte sich eingestellt auf dem Schlosse. Er arbeitete mit dem Hausherrn und gab auf dessen besonderen Wunsch dem jungen Mädchen täglich eine Stunde Zeichenunterricht. Außerdem unternahm er häufig größere Streifereien in die Umgegend, skizzirte fleißig und besuchte an jedem Sonntag D. und seine Mutter.

Wie gern hätte Melanie die Mutter einmal gesehen, an der dieser Sohn mit so leidenschaftlicher Zärtlichkeit hing! Das kleine Miniaturportrait, welches er von ihr bei sich trug, zeigte ein tiefmelancholisches, wunderschönes Frauengesicht.

„Ich habe nie traurigere Augen gesehen!“ sagte das junge Mädchen, während sie das Bild betrachtete.

„Sie hat auch viel gelitten in ihrem Leben, viel verloren!“ antwortete Gaston.

Wie mochte es nur sein, wenn man viel litt und verlor! Melanie sprach indeß nicht mit Fräulein Köhler über das Bild.

Alphons kam in dieser ersten Zeit auf einige Tage, allein Melanie wunderte sich im Stillen, daß sie sich nicht mehr über seine Gegenwart freute. Er brachte so viel Unruhe in das Stillleben und spottete so über ihre Zeichenstunden. Er hatte freilich Recht: Melaniens Talent war gering, sie nahm aber zum ersten Male in ihrem Leben eine Sache ernst. Je mehr Mühe es ihr verursachte, die Vorlagen ihres Lehrmeisters nachzubilden, desto größer wurde ihr Eifer. Sie wollte um jeden Preis Etwas lernen und ihrem Lehrer Freude machen. Sie war entzückt, wenn er sie in seiner ruhigen Weise lobte.

Nur mit Widerstreben erlaubte sie ihrem Verlobten, in den Unterrichtsstunden zugegen zu sein. Herr Dumont würde dann sicher nicht mehr von seiner Mutter erzählen, wie er das sonst that, und Alphons war die Veranlassung, daß sie auf Etwas verzichten mußte, was ihr ein unbeschreibliches Vergnügen gewährte. Zudem behandelten sich beide Männer so kalt, Gaston war so stolz, Alphons so hochfahrend und gereizt, daß Melanie ein lebhaftes Unbehagen empfand, wenn sie Beide zusammensah.

„Ich hätte nie gedacht, daß Alphons so kindisch sein könnte,“ sagte sie einmal zu ihrer Gouvernante, „er redet die ganze Zeit von lauter albernen Dingen, und dabei soll man zeichnen!“

Eines Tages wollte man nach H. in’s Theater fahren, um ein paar neue Lustspiele zu sehen. Alphons hatte zu dem Ausfluge beredet, er liebte die Einförmigkeit des Landlebens nicht und langweilte sich im Stillen entsetzlich. Unmittelbar vor der Abfahrt, mit ihm auf der breiten Terrasse auf- und niedergehend, warf Melanie ihrem Verlobten sein unfreundliches Benehmen gegen den Gast ihres Hauses und den Künstler von Ruf vor. Er antwortete gereizt und abweisend, und der erste Zwist setzte sich zwischen dem Brautpaar in Scene.

„Dein plötzlicher Fleiß ist kindisch, liebe Melanie,“ sagte Alphons, „aber noch kindischer ist, daß Du empfindlich darüber bist, wenn man sich für Deinen Lehrmeister noch weniger interessirt, als für Deinen Zeichenunterricht. Ich habe nun einmal eine unüberwindliche Antipathie gegen diesen Herrn, und es ist eine alte Erfahrung, daß man Leute, die sich vom ersten Blick an nicht mögen, um keinen Preis zwingen soll, miteinander zu verkehren; es entsteht Unglück daraus. Ich finde sein Gesicht unangenehm und sein Wesen unerträglich.“

„Es ist mir leid, daß unser Geschmack auseinander geht,“ antwortete das Mädchen mit blitzenden Augen, „ich finde ihn in jeder Weise edel und angenehm.“

„Seine Nähe und Unterhaltung gönne ich Dir gern, Theuerste, sobald ich nur nicht Theilhaber zu sein brauche. Ich warte geduldig auf die unvermeidlich eintretende Abkühlung Deines Enthusiasmus und weiß, daß Du mir dann wieder Gerechtigkeit widerfahren lassen und einsehen wirst, wie sehr ich Recht habe.“

„Ich fürchte, Du wirst auf diese sogenannte Abkühlung lange warten müssen, mein Freund. Ich habe mir vorgenommen, mich ernstlich mit der Kunst des Zeichnens zu beschäftigen. Lange genug habe ich thörichte Dinge getrieben. Ich möchte auch ein wenig malen lernen.“

„Versuche es, wenn es Dir Vergnügen macht, sobald wir verheirathet sind. Ich werde Dir dann den besten Lehrer in Paris zuführen und – bezahlen.“

„Ich würde nie einen besseren verlangen und bei keinem anderen lieber lernen. Doch bin ich dafür, die Zeit vor unserer Hochzeit zu benützen.“

„Der Termin ist zu kurz, liebes Kind!“

„Wenn ich nun einen längeren beanspruchte?“ – –

„Nimmermehr, Melanie! Anfang October werden wir uns verheirathen.“

[628] Hier unterbrachen die Uebrigen das Gespräch. Der Wagen fuhr vor, Melanie reichte Fräulein Köhler zum Abschied die Hand. „Ich wollte, Sie führen mit nach H. an meiner Stelle; ich habe keine Lust in’s Theater zu gehen,“ flüsterte sie.

Der Wagen rollte aber trotzdem wenige Minuten darauf mit ihr davon. In der Loge nahm ihr Vater neben ihr Platz, die beiden jungen Männer saßen hinter ihrem Sessel. Die Lustspiele waren allerliebst, Melanie blieb jedoch schweigsam und zerstreut. Im Zwischenact des Theaters besuchte Alphons das Foyer, er glaubte in der Loge der Schauspielerinnen eine hübsche Sängerin der Opéra comique erkannt zu haben und ging, sie zu begrüßen. Herr M. plauderte mit einem Logennachbar.

„Warum so ernst?“ fragte plötzlich Gaston leise.

„Um Ihretwillen,“ hätte das Mädchen beinahe geantwortet, aber sie bezwang sich und sagte nur: „Ich bin traurig und – und habe Kopfschmerzen.“

„Wird Herr Dacier Sie bald verlassen?“

„Uebermorgen.“

„Er wird ja in wenigen Monaten wieder hier sein.“

Es war ihr in diesem Augenblick unerträglich, daß er denken könnte, es sei der Schmerz der Trennung, der jetzt schon ihr Herz belaste, und die ganze Offenheit ihres Wesens brach hervor, als sie antwortete: „O, ich bin nicht traurig um ihn, ich war noch nie traurig um seinetwillen! Ich freue mich, daß ich mit Papa noch allein zusammenbleiben und zeichnen lernen darf.“

Sie wendete nach diesen Worten ihr Gesicht nach ihm hin und sah zum ersten Mal ein Lächeln in seinen Augen. Wie eine Fluth von Licht überströmte es sie plötzlich. Eine wunderbare Freudigkeit durchdrang ihr Herz. Aller Kummer war wie mit einem Zauberschlag verschwunden. Sie hörte freundlich und geduldig den Berichten ihres Verlobten zu, der jetzt wieder hinter ihr Platz nahm, und Alphons war am Schlusse der Vorstellung äußerst zufrieden mit dem Erfolg seiner Unterhaltung. Melanie war offenbar in heiterer Stimmung. Alle Gereiztheit schien vergessen. Und nie war sie ihm hübscher erschienen, als eben jetzt, wo sie ihm in dem rasch dahinrollenden Wagen in der hellen Mondnacht gegenüber saß. Ihr Gesicht in dem Rahmen des rothen Cachemircapuchons strahlte, die Lippen lächelten und ihre Stimme klang so süß, wenn sie ihrem Vater Schmeichelworte gab.

Sie redete mit den Andern fast gar nicht, aber sie scherzte mit dem Vater über seine Studien, und Gaston betheiligte sich an diesem Scherz, Alphons hatte ihn nie so belebt gesehen. Aber was kümmerte ihn der Maler! Melanie war ja sein unbestrittenes Eigenthum, und seine Freunde hatten wirklich ein Recht, ihn um die Braut zu beneiden; er war wirklich ein Glückskind. Als der Wagen hielt, nahm er sich allen Ernstes vor, ein wenig freundlicher gegen Gaston Dumont zu sein. Mit lebhafter Zärtlichkeit drückte er die Hand des jungen Mädchens, als er Melanie unter dem Portal des Schlosses aus dem Wagen hob und in’s Haus führte.

Aber die feinen Finger, die er umschloß, erwiderten seinen Druck nicht. „Bist Du wieder gut?“ fragte er leise.

„Gewiß,“ antwortete sie ruhig, doch sie zog die Hand langsam aus der seinen.

Dann sagte sie dem Vater zärtlich gute Nacht, bat, sich zurückziehen zu dürfen, und bot ihrem Verlobten die Hand. Er umfaßte Melanie, aber sich sanft aus seiner Umarmung lösend, ging sie auf Gaston zu und reichte ihm zum ersten Mal die Spitzen ihrer Finger. Sie berührten sich einen flüchtigen Moment, diese schlanken Hände, dann war Melanie verschwunden.

Nach der Abreise Alphons’ kamen ruhige Tage, reizende helle Stunden, Sonnenschein und Blumen. Man lebte fast den ganzen Tag im Freien und Melanie nahm ihre Zeichenstunden unter einem schattigen Zelt auf der Terrasse. Herr M. arbeitete weniger eifrig als sonst, er studirte Lichter und Schatten unter den grünen Bäumen; auch der Roman der Gouvernante blieb liegen, dagegen entstanden zahllose Gedichte mit Sonne und Wonne, Flieder und Lieder, Blätter und Geschmetter – wäre nur eine mitfühlende Seele da gewesen, sie zu verstehen! Sie konnte es nicht verschmerzen, daß der Maler so gar nicht poetisch war. Wie war es nur möglich, daß Melanie so gern mit ihm plauderte! Was sie sich nur immer zu erzählen hatten? Wie sie an seinen Lippen hing, wenn er redete! Zuweilen hörte die Köhler ein Weilchen zu – allein es war wirklich gar zu langweilig, fortwährend von einer kranken Mutter reden zu hören, oder von Gegenden und Menschen, die man nicht kannte. Sie begriff ihre sonst so ungeduldige Schülerin nicht!

Es war an einem Julimorgen, als Melanie den Stift niederlegte und zu ihrem Lehrer aufblickend sagte: „Ich habe eine Bitte an Sie.“

„Ich würde glücklich sein, sie erfüllen zu können,“ lautete die Antwort, und die großen dunkeln Augen begegneten den ihren.

„In wenigen Wochen feiern wir Papa’s Namenstag, ich möchte ihm so gern mein Portrait schenken, würden Sie dasselbe als Bleistiftzeichnung ausführen mögen?“

Eine tiefe Blässe flog über das Gesicht des Künstlers.

„Nein,“ sagte er hastig, fast rauh, „ich darf nicht! Es bringt Unglück, wenn eine Hand aus unserer Familie eine Frau malt.“

„Ueber wen? Ueber den Maler oder über die Frau?“ frug Melanie erstaunt.

„Ueber Beide.“

„Dann werde ich Sie nicht mehr bitten! Aber Sie malten, wie Sie mir erzählten, einst Ihre Mutter?“

„Das war zu jener Zeit, als ich noch nichts von dem seltsamen Fluche wußte. Und doch folgte die Strafe. Meine Mutter verlor ihren Gatten und ihre einzige Schwester kaum einen Monat nachher. Sie hat jetzt nur noch mich!“

(Fortsetzung folgt.)




Vom Vater Zschokke.
Von Friedrich Nüsperli.[1]

Wer den Rheinstrom bei Schaffhausen mit Donnerrollen über die Felsen herunterstürzen, oder von der Pfalz zu Basel hinab in sanftem Dahingleiten die liebe Schweiz verlassen, oder im Rheingau sich zwischen herrlichen Weinbergen hindurchwinden sieht, mag wohl in seinem Herzen den lauten Wunsch aufkommen fühlen, den Mächtigen auch einmal daheim, im hohen Rhätien, an seinen Quellen besuchen und beobachten zu können.

So geht es uns auch gegenüber großen Männern, deren Namen uns die Geschichte in auffallenden Schriftzügen vorführt, deren Werke wir im Leben wirksam sehen, deren Schriften wir lesen, die sie schrieben, unsere Kenntnisse zu erweitern, zu läutern und zu befestigen und unser Gemüth zu erfrischen, zu bessern und zu veredeln. Es zieht uns eine natürliche Sehnsucht hin zu diesen Männern, Zeugen zu werden, wie sie an ihrem eigenen Heerde, im Kreise der Familie schalten und walten.

Die Hand, die in diesen Zeilen Erinnerungen an Vater Heinrich Zschokke, den berühmten Verfasser der „Stunden der Andacht“, „des Schweizerlandes Geschichte“, der vielgelesenen Novellen und Erzählungen u. a. m., aufzuzeichnen unternommen, will den Leser in Zschokke’s Heimath, in das Innere seines Hauses, in seine allernächste Umgebung bringen. Sie möchte, diese Hand, zu solcher Führung wohl vor anderen geeignet sein, weil sie selber geleitet worden ist durch den gefeierten Dahingegangenen von den ersten Kinderjahren an bis in’s reifere Mannesalter, da Zschokke’s Gattin dem Verfasser dieser Zeilen nahe Blutsverwandte und Pathin war und zwischen Heinrich Zschokke und ihm ein Band bestanden hat, innig, wie zwischen Vater und Sohn.

Bekanntlich war Zschokke als Statthalter nach Basel berufen worden; damit wurde er dem Familienkreise näher gerückt, in den er bald aufgenommen werden sollte.

Am linken Ufer der Aare, eine halbe Stunde von Aarau entfernt, erhebt sich ein mäßiger Hügel, bepflanzt mit Obstbäumen, Weinreben und Wald, der Kirchberg genannt. Auf dem östlichen Ende des Bergrückens steht, mit ausgezeichneter Aussicht auf die Ebenen und Hügel des Aargau, auf den Jura und eine lange Kette des Alpengebirges, einsam die Kirche nebst Pfarrhaus, eine Viertelstunde noch weiter östlich, hart am Ufer der Aare, aber liegen Schloß und Dörfchen Biberstein, nach Kirchberg pfarrgenössig.

[629]

Zschokke im Garten seines Landhauses „Blumenhalde“.

Auf Kirchberg wohnte mit seiner Familie der Pfarrer Jacob Nüsperli von Aarau, Mitglied des aargauischen Cantonsschulrathes, ein Mann voll klaren Blickes in das Wesen der Christuslehre, voll Begeisterung für die Staatsgrundsätze der Neuzeit, für das Aufblühen der Volksschulen und ein treubesorgter Vater seiner vier Kinder, eines Sohnes, und dreier Töchter, bei deren Erziehung er die einfache Lebensweise der guten alten Zeit und die neuen Grundsätze der Bildung in Einklang zu bringen suchte. Seine älteste Tochter, Nettli, geboren den 3. September 1785, war eine eben aufblühende, jungfräuliche Rose, ebenso klug und liebenswürdig, wie aufopfernd und muthvoll. Wagte sie es doch einst, in jenen Zeiten der Verwirrung, einem tobenden und auf den „Franzosen zu Kirchberg“ (so nannte man damals den Pfarrer) schimpfenden Haufen von bewaffneten Bauern vor das Haus entgegenzutreten und die Thür, damit der Vater nicht gefährdet werde, hinter sich schließen zu [630] lassen, um die Lärmer in jungfräulicher Hoheit, mit freundlichen Worten und dargereichten Erfrischungen zu besänftigen.

Mit seiner Nettli machte sich der Pfarrer einst auf den Weg nach Basel, denn es brannte sein Herz, bei dem dortigen Statthalter, für dessen Schriften und Thaten er sich ergriffen fühlte, um eine Unterredung nachzusuchen. Während der Vater seinen Geschäften oblag, weilte die Tochter im Kreise einer befreundeten Familie. Auf einmal ertönte durchs Haus der Ruf: „Unser Statthalter! er reitet vorüber!“ Die Tochter des Hauses öffnete die Fenster und zog das fremde Mädchen heran, damit dessen früher geäußerter Wunsch, Zschokke sehen zu können, erfüllt werden möchte. Hier trafen die Blicke von Jüngling und Jungfrau sich zum ersten Mal, denn auch Zschokke hob, vom Geräusch des Fensteröffnens aufmerksam gemacht, seine Augen empor. Aus der Art, wie später Frau Zschokke die Erzählung dieses ersten Zusammentreffens oft wiederholte, konnte man entnehmen, daß dasselbe auf das Herz derselben einen tiefen, nachhaltigen Eindruck gemacht, während der junge Mann, welcher grüßend zu den Frauen emporblickte, das „Unschuldsgesicht einer jugendlichen Gestalt“ wahrnahm und sich mit seinem kriegerischen Geleite über die Eine, die indeß keiner kannte und die gewiß eine Fremde sein mußte, in ein Gespräch einließ, aber nachher bekennen mußte: „der Genuß des Augenblickes sei, wie mancher andere, verschwunden und vergessen worden.“

Im Frühling des Jahres war es, als die Pfarrerstochter aus einem Concert von Aarau ihrer Heimath zuwanderte, im Herzen bewegt, denn es hatte der frühere Statthalter von Basel, der sie dort einst gegrüßt, sich unter den im Concert Anwesenden befunden. Als sie eben zwischen den Brücken war (die Aare floß früher in zwei Armen an Aarau vorüber, so daß man, um nach Kirchberg zu gelangen, zwei Brücken zu überschreiten hatte), hörte sie eilige Schritte hinter sich ihr näher kommen, und siehe – Zschokke war’s, der ihr nachgeeilt, um sie zu bitten, ihrem Vater seinen baldigen Gegenbesuch anzukündigen.

Nettli hatte auch in Aarau einen tiefen Eindruck auf den Mann gemacht, ohne daß ihm bewußt war, daß sie das nämliche Mädchen sei, nach dessen Namen er sich in Basel vergebens erkundigt hatte. Wie konnte es anders sein, als daß die Herzen sich bald entgegenschlugen, namentlich als Zschokke das nahe Schloß Biberstein zu seinem Aufenthalte wählte und den Besuch im Pfarrhause oft wiederholte, angezogen von dem ruhigen Ernst des Vaters, der damals mit Meier die Gründung der Cantonsschule betrieb und später Pflanzer der Baumschule wurde, angezogen von dem lebbaften und durchdringenden Geist der Mutter, von der Schönheit, häuslichen Einfachheit und schmucklosen Geschäftigkeit Nettli’s und von den noch im Kindesalter stehenden beiden jüngern Schwestern.

Zschokke brachte in die Familie des Pfarrers ein neues Gemüths- und Geistesleben, war Allen Alles: dem Einen begeisterter Theilnehmer an Entwürfen zur Beglückung des Nächsten, dem Andern Kampfgenosse in Witz und Laune, dem Dritten der im Stillen des Herzens geliebte Jüngling, den Kindern unermüdlicher Spielgenosse. Seinem geliebten Mädchen zu Kirchberg gegenüber aber reifte in ihm das Gelübde: „Diese, oder nie eine, zur Gefährtin des Lebens!“ Doch wollte er die Auserwählte weder zur Genossin von Schicksalen machen, die seiner noch in den fortdauernden Stürmen der Staatsumwälzungen warten mochten, noch den Frieden eines unerfahrenen Herzens leichtsinnig mit Hoffnungen stören, welche vielleicht unerfüllt bleiben mußten! Als aber durch die Vermittlungsurkunde Napoleon’s (März 1803) Ruhe in die Schweiz gekommen, als Zschokke Bürger des Aargau (August 1804) und Mitglied des Oberforst- und Bergamtes geworden war (das Buch „der Gebirgsförster“ entstand damals), bewarb er sich um die Hand der Pfarrerstochter und verband sich mit Nettli, die nach des Mannes Wunsch von nun an Nanny hieß, am 25. Februar 1805, vom Schwiegervater getraut.

Groß ist die Zahl der anmuthigen kleinen Erzählungen aus der Bräutigamszeit und den ersten Jahren von Zschokke’s Ehe. Am Hochzeitstage selber wollte er durchaus, daß seine Braut ihn in ihrem Ehrenschmucke, dem Hauskleid nämlich, zur Kirche begleite. Begreiflicherweise wäre für die ganze Frauenwelt im Hause das keine Hochzeit gewesen, und er mußte nachgeben. Dagegen willigte man ein, daß das jüngste Familienglied, damals ein munterer Knabe von anderthalb Jahren, auch mit dabei sei, und der überglückliche Bräutigam freute sich inniglich, als der kleine Schreihals in fröhlicher Laune die Anwesenden in der Kirche mit ihren Namen anrief. Während des Hochzeitsmahles, das, wie nachmals bei allen jüngern Kindern[2] des Hauses, im Pfarrhof selber stattfand, meldete sich ein bejahrter Landmann in althergebrachten, gefältelten Schweizerhosen und Dreispitz und fragte nach dem „Herrn Schwyzerpott“. Die Mutter der Braut, in der Küche beschäftigt, wollte ihn abweisen: der Schweizerbote habe heute keine Zeit zu Geschäften. Da der Alte jedoch große Dringlichkeit vorgab und endlich dem Gesuchten vorgeführt wurde, übergab er demselben jenes allbekannte Lied: „An den aufrichtigen und wohl erfahrnen Schweizerboten zu seinem Hochzeitstage!“ das uns noch jetzt in Hebel’s alemannischen Gedichten so lieblich anspricht. Unter einem Strom von Freudenthränen trug dann dasselbe der Bräutigam im Kreise der Seinen vor.

In den ersten Stunden alleinigen Beisammenseins schloß Zschokke mit dem jungen Weibchen einen Ehevertrag bessern Werthes, als jener gewöhnlich, in welchem man sich gegenseitig um Geldsummen und Aussteuern oder Wittwengehalte vergleicht. Sie kamen nämlich überein in den Grundsätzen, nach denen sie ihre Ehe führen wollten. Was aber damals erst noch gute Grundsätze sein konnten, erhärtete mit den Jahren zu guten Grundgewohnheiten. Sie lauteten: „Wir werden Beide miteinander glücklich sein, so lange wir leben auf Erden; aber wir müssen ein dreifaches Gelübde thun: Von heute an lebe Du für mich und ich lebe für Dich. Wir wollen nie vor einander das geringste Geheimniß haben und, selbst wenn wir gefehlt hätten, es uns einander sogleich offenbaren; dann aber wollen wir unsere häuslichen Sachen Niemandem sagen, damit sich Niemand zwischen uns dränge. Endlich wollen wir niemals gegen einander böse werden und nicht einmal zum Scherz mit einander böse thun, denn aus Neckerei wird oft Ernst und, was man zuweilen thut, daran gewöhnt man sich leicht.“

So begann eine Ehe, die, bis der Tod sie nach vielen Jahren trennte, eine der musterhaftesten und glücklichsten des Landes wurde.

Wie Zschokke vom frühen Morgen an seinen Geschäften unausgesetzt oblag, so mußte es auch bei seiner Frau und den Dienstboten (damals war’s ein Geschwisterpaar, Sämi und Meili), später bei den Kindern sein. So sahen sich Sämi und Meili einst mit großen Augen an, nachdem ihnen der „Herr“ befohlen, sie sollten alle Steine des Gartens zusammenlesen und in eine Ecke schaffen, als das geschehen war, in eine zweite, in die dritte, vierte und endlich wieder zurück in die erste. Die jungen Leute begriffen nicht, daß es ihrem Herrn, bei Mangel an anderweitiger Beschäftigung, daran lag, sie nicht müßig zu sehen. Zu einem Besuch wollte die junge Frau sich in einen Rock mit einer Schleppe kleiden, wie sie damals getragen wurden. Der Mann, dem Einfachheit und Natürlichkeit im Benehmen, in Hausgeräthe, Nahrung und Kleidung über Alles ging, bat seine Nanny, das nicht thun zu wollen. Das Weibchen legte sich auf’s Bitten, dann rannen Thränen hervor; endlich versuchte sie’s mit Trotzen. Da ergriff der Mann ganz ruhig eine Scheere und schnitt vom Rocke, der auf dem Tische lag, weg, so viel er für überflüssig ansah. So gab er seiner Nanny in den ersten Wochen der Ehe zu verstehen, daß er nicht mit sich spaßen lasse, und wiederholt waren wir Zeuge, wie die Ehegatten auch später und wiederbolt jene ruhige Festigkeit des männlichen Willens als Grundstein ungetrübter Eintracht bis an’s Lebensende segneten.

Einst stand der junge Gatte mit seiner Nanny auf den Zinnen des Schlosses Biberstein, hoch über dem Ufer der Aare. Sie, noch neu in häuslichen Sorgen, war in Jammer aufgelöst, denn sie hatte den letzten Thaler des Hauses in der Tasche.

„Wo ist der?“ fragte Zschokke lächelnd, ergriff das dargereichte Silberstück und schleuderte es weit hinaus in die Fluthen des vorüberfließenden Stromes, um anzudeuten, wie wenig ihm an Geld und irdischem Gute gelegen, wie leicht er auch Zeiten des Mangels, voll Gottvertrauen und dem Kummer um Zeitliches das Herz verschließend, ertragen könne. „Jener weggeworfene Thaler,“ bekannte nachmals Frau Zschokke oft, „hat uns in unserer Ehe reichliche Zinsen getragen.“

Zschokke, der für das Komische ein offenes Herz hatte, fand inniges Ergötzen an den Reimereien seines Bibersteiner Schusters, [631] die derselbe seinen Kunden, auf die Sohle geschrieben, vorführte; oder an dem Schloßschaffner, wenn dieser ihm herzlich dankend entgegenhinkte, unter stetem Aechzen über die Schmerzen an den Füßen, die Zschokke mit Bürsten gerieben, um den vom Blitzstrahl getroffenen Mann den Armen des Todes wieder zu entreißen; oder an dem Staunen seiner kleinen Schwägerinnen, als er den Ring einer derselben in das Pistol lud und es abschoß und jener sich dann, mit einer seidenen Schleife geziert, am Halse der Eigenthümerin wieder vorfand; oder an seinem Sämi, wenn er ihn auf seine Reisen mitnahm und dieser sich dazu herausgeputzt hatte, während der Herr im abgetragenen grünen Kleide erschien, wenn dann in den Gasthäusern und Sennhütten des Gebirges der Diener für den Herrn genommen wurde und daran lustige Mißverständnisse und Abenteuer sich anknüpften. Nebenbei sei bemerkt, daß Zschokke die Leitung der Dienstboten ganz seiner Frau überließ. Durch diese machte er ihnen die Bedingungen der Aufnahme in’s Haus bekannt, wobei namentlich besonderer Nachdruck auf Wahrhaftigkeit gelegt wurde. Jede im Hause dienende Person wußte, daß eine Lüge unnachsichtlich die Entlassung zur Folge haben würde. Im Uebrigen war Zschokke den Dienstboten gegenüber nichts Weiteres, als ein freundlicher Hausgenosse. In der Regel weilten Knecht und Magd lange Jahre im Hause.

Auf Antrieb von Pater Rudolf Meier in Aarau, der neben Pfarrer Nüsperli einer der thätigsten Gründer der Cantonsschule war und als begüterter Mann auch in anderer Richtung für gemeinnützige Werke große Opfer brachte, begann Zschokke zu Biberstein von Neuem die Herausgabe des Schweizerboten und verband sich zu diesem Behufe (im Jahre 1804) mit Buchdrucker und Buchhändler Heinrich Remigius Sauerländer, der damals von Basel nach Aarau übersiedelte und von nun an ihm Freund und Kampfgenosse wurde für Freiheit und Recht. Drei eheliche Bande knüpften in spätern Zeiten Kinder und Enkel der beiden Familien aneinander.

An den Schweizerboten, dieses Zeitungsblatt, das auf die Sittengeschichte und den Entwickelungsgang der Schweiz so unendlich großen und nachhaltigen Einfluß geübt, schloß sich dann auch des Schweizerboten Kalender an.

„Gott, Schöpfer alles Beseligenden“, gab dem Schweizerboten, wie Hebel im Hochzeitsliede geweissagt, in Jahresfrist „ein goldig Büeble“ und „die ungeahnten Freuden des Vaters im Anblick des erstgebornen Sohnes“. Theodor war’s, nunmehr Arzt und Lehrer der Naturgeschichte an der Cantonsschule zu Aarau. Ihm folgte Emil, jetzt Pfarrer ebenda, und so kam ein Knabe nach dem andern, bis das Dutzend voll war. Den Schluß bildete, als dreizehntes Kind, ein Töchterlein, Cölestine, nunmehr Frau Sauerländer in Frankfurt.

Im Aargau dürfen Taufen nur in der Kirche stattfinden; in der Stadt Aarau werden sie in einer sonntäglichen Abendstunde vorgenommen. Den gottesdienstlichen Handlungen wohnen in der Regel nur die Pathen und nächsten Anverwandten des Kindes bei. Aus dem Hause Zschokke war jeweilen auch die Mutter des Täuflings dabei. Als nun nach zwölf „Buben“ das Dreizehnte, ein Mädchen, getauft werden sollte, schlossen sich dem Taufzuge eine große Zahl von Schülern, Freunden und Verehrern des Vaters an, um dem Elternpaar die allgemeine Freude an dem seltenen Familiensegen zu bekunden.

Von den zwölf Söhnen gingen dem Vater zwei schmerzlich beweinte Kinder voran, zwei als Jünglinge und einer als Mann, Julius, Rechtsanwalt und Criminalrichter in Baselland. Ihm folgen zwei Söhne, Alexander, Lehrer des Kunstzeichnens an der Cantonsschule zu Aarau, und Eugen, der jüngere Arzt. Achilles ist Pfarrer in Gontenschwil bei Aarau, und die beiden Jüngsten sind Bauverständige, Alfred, Cantonsbaumeister von Solothurn, und Olivier. Mithin leben noch fünf Söhne, alle in bedeutsamen Stellungen und im Geiste des Vaters wirkend, Wohlthäter ihrer Mitmenschen, ebenso bescheiden und rastlos thätig, wie er, alle Väter, zum Theil schon Großväter einer zahlreichen, vielversprechenden Nachkommenschaft.

Als Vater steht Zschokke auf höchster Stufe seiner Menschenwürde da. Heiterkeit und Ernst, Milde und Strenge im Umgang mit seinen Kindern, Alles an gehörigem Orte, zeichneten ihn aus. Bemüht war er, die Seinigen früh an’s Entbehren des Entbehrlichen zu gewöhnen, und sorgsamste Pflege verwendete er auf die wahren Bedürfnisse und dies bis auf’s Geringfügigste. Heranbildung zu einer Höhe, welche das Niedrige weit hinter sich läßt, und Erziehung zu einer Gesinnung, die sich dem Niedrigsten freundlich gleichstellt, Angewöhnung zu Verschwiegenheit und Freimuth, wo jedes am Platz, nicht sowohl Büchergelehrsamkeit, als handliches Eingreifen für’s Leben – das waren Zschokke’s Zielpunkte in seiner Eigenschaft als Erzieher seiner Kinder.

Für den ersten Unterricht der Kinder sorgte die Mutter; dann übernahm der Vater die heranwachsenden Knaben, lehrte sie die Anfangsgründe des Lateinischen und Griechischen, führte sie in Cäsar, Virgil und Homer ein, ließ sie hierauf in den öffentlichen Lehranstalten Aarau’s für Hoch- und Kunstschule vorbereiten und endlich zur Vollendung ihrer Bildung Reisen machen.

Unvergeßlich sind uns die mit seinen Söhnen genossenen Stunden, in denen er die Alten erklärte, oder die Winterabende, an welchen er die allgemeine Weltgeschichte vortrug, deren schriftliche Ausarbeitung unter unsern Händen nach und nach zu dickleibigen Bänden anwuchs. Dieselbe Hand, die zuweilen für den Kleinsten eine Puppe, gewöhnlich Sämeli genannt, einkleidete, schwang die Peitsche, wenn der Vater am Weihnachtsmorgen mit den „Buben“ den Ritt zu Steckenpferd um den mit Wachskerzen beleuchteten Baum eröffnete; dieselbe Hand regierte das Schattenspiel, in welchem die Figuren, ein Nikodemus, ein Habakuk, eine Marzipille, Gespräche führten, die unvermerkt auf unsere Kinderherzen gemünzt waren; dieselbe Hand sammelte beim Apotheker, beim Kürschner, beim Gewürzkrämer und im eigenen Naturalienkasten diejenigen Gegenstände, womit für Jeden von uns eine Naturaliensammlung gegründet werden sollte; dieselbe zog auf einer Landkarte des Heimathcantons Aargau ein Netz von Straßen und Wegen, um darauf mit zwei feindlichen Heeren, die durch eine größere Anzahl nach den Waffengattungen verschieden bemalter Bleistücke dargestellt waren, sinnreichen Spielregeln gemäß uns Knaben Krieg führen zu lassen; dieselbe Hand schrieb zu den Bildern am Ofen anmuthige Gedichte, die wir auswendig lernen mußten; dieselbe verbesserte unverdrossen unsere Hefte und fügte den gemachten Fehlern mit rother Tinte umfassende Bemerkungen an; dieselbe strafte auch ohne langes Federlesen und in einer uns fürchterlichen Gemüthsruhe mit ein paar tüchtigen „Kläpsen“ auf den Hintern. Ohrfeigen waren uns unbekannte Größen.

Die Gemüthsruhe verließ überhaupt, meines Wissens, den Vater Zschokke nur ein Mal. Ein Mann bewarb sich bei ihm um das Amt eines Forstaufsehers, das Zschokke zu vergeben hatte. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, zog der Aspirant ein Stück Geld aus der Tasche und wollte es auf den Tisch legen. Als ihn Zschokke mit Entrüstung zurückwies und ihm erklären wollte, nun gerade darum solle er das Amt nicht erhalten, denn wer besteche, lasse sich wieder bestechen, wendete sich der Unglückliche an einen der Kleinen, welcher eben anwesend war, mit den Worten: „So nimm’s denn Du!“ Da entbrannte des Vaters Zorn. Er faßte den Mann am Kragen und warf ihn die Treppe hinunter, freilich zugleich besorgt, daß er nicht Schaden leide.

Die strenge Handhabung von Wahrheit und Rechtlichkeit, die sich die Eltern ihren Kindern gegenüber angelegen sein ließen, wurde einst auf eine harte Probe gestellt. Wenn ein Kind bei Tische eine Speise nicht gern aß, hieß es: „Das Kind hat keinen Hunger, warte man ab, bis sich derselbe einstellt.“ Dann ließ man das Kiud warten, ohne ihm weiter Etwas zu reichen, bis das verschmähte Gericht von ihm gewünscht und verspeist wurde. Nun waren die weißen Rüben nicht nach dem Geschmacke des Töchterleins und es sollte den ihm zugefallenen Antheil dieser Speise mehrere Stunden nach aufgehobener Tafel noch beseitigen. Es saß also am Tische, vor ihm die Rüben, die Mutter in eine Flickarbeit vertieft am Fenster. Alles war mäuschenstill im Hause und im Zimmer. Ein Blick der Mutter auf den Teller überzeugte sie, daß der Rüben weniger geworden. Aber was bemerkt Frau Zschokke weiter? Schiebt nicht das Kind den vollen Löffel unter den Tisch und zieht ihn entleert wieder zurück, und liegt nicht ein Bruder vor dem Kind auf den Knieen unter dem Tische verborgen und nimmt die bittern Gaben des Schwesterchens in seinen Mund auf? Richtig, so ist’s! Daß die Strafe für eine derartige Umgehung des elterlichen Willens nur milde ausgefallen, das kann sich Jeder denken.

(Schluß folgt.)



[632]
Czar und Czarewitsch.
Eine russische Haus-, Hof- und Staatstragödie.
Von Johannes Scherr.
1. „Glücklich wie eine Prinzeß!“

„Quält mich doch nicht so mit den nutzlosen Arzneien und laßt mich ruhig sterben, da ich nicht länger leben mag. Das Dasein liegt zu schwer auf mir!“

Die das sprach am 1. November 1715 im Czarenpalast von Moskau, war eine deutsche Prinzessin, Charlotte Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel, und schwer fürwahr hatte das Dasein auf ihr gelegen und gelastet, seit jenem 25. October von 1711, wo sie zu Torgau dem Czarewitsch Alexei, des großen Peter’s erstgeborenem Sohn, angetraut worden war.

Damals, zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, sind russische Heirathen noch nicht der höchste Ehrgeiz und heißeste Wunsch deutscher Fürstenhäuser gewesen. Man wußte in Mittel-, West- und Südeuropa noch wenig von Rußland. Was man aber erfuhr, war der Art, die Leute mit einem aus Verwunderung, Schrecken und Abscheu gemischten Gefühle auf ein Volk blicken zu machen, welches aus dem physischen und moralischen Morast asiatischer Barbarei herauszureißen das gewaltige Kraftgenie Peter’s des Ersten soeben unternommen und begonnen hatte. Er war allerdings in seiner Art ein großer, ein größter Mann, dieser Peter. Eine welthistorische Charakterfigur ersten Ranges, in seinem Walten und Thun als Herrscher ein tüchtiger Arbeiter am Werke menschheitlicher Civilisation, geradezu ein, nein, der russische Culturheros, obzwar für seine Person sein Leben lang ein gräulicher Barbar, am hellen Tage und vor Aller Augen zügellosen Gelüsten und Leidenschaften fröhnend, deren Befriedigung selbst schamloseste Wüstlinge in Nacht und Einsamkeit zu bergen sich bemühen. Derselbe Mann aber, welcher eine Lust darin suchte und fand, allerhöchsteigenhändig den Knutenmeister und Kopfabhacker zu machen, hat mit genialem Blicke die Zukunft Rußlands erschaut und mit riesenstarkem Arme geschaffen. Er drängte, stieß, peitschte sein Volk auf die Großmachtsbahn; er pflanzte die Fahne russischer Eroberung an drei Meeren auf, an der Ostsee, am schwarzen und kaspischen Meere; er ließ den von ihm geschaffenen Koloß des Czarismus den einen Fuß auf Europa, den andern auf Asien setzen, während des Riesen lange Arme unersättlich ausgriffen, da schwedische und polnische, dort türkische, persische und chinesische Provinzen raffend und einheimsend.

Und keineswegs war Peter nur ein asiatischer Eroberer nach der Weise der Timur und Nadir. Nein, er war auch ein europäischer Organisator und Civilisator. In diesem wundersam gebauten Menschen arbeitete, selbst während er sich im Pfuhl unmeldbarer Ausschweifungen wälzte, der ruhelose Gedanke, Etwas zuwege zu zimmern und zurecht zu schmieden auf Erden, arbeitete ein rastloser Schöpfungstrieb, eine frohlockende Kraft, die gewaltige Schulter an die Völkerlawine Rußland zu stemmen und sie vorwärts zu rollen auf der weltgeschichtlichen Bahn. Auch war vom Geiste seines Jahrhunderts ein Funke in dieses Mannes Seele gefallen. Dies erhellt nicht nur daraus, daß der Czar, „frei von allen Vorurtheilen“ – wie ein zu jener Zeit häufig umgehendes Wort lautete – nicht anstand, die Bastardtochter einer esthnischen Leibeigenen, die gewesene Sclavin verschiedener russischer Generale, welche nachmals, eine gekrönte Kaiserin, als Katharina die Erste über Rußland geherrscht hat, als seine Gemahlin neben sich auf den Thron zu setzen, weil sie seine Gedanken verstand und seine Entwürfe fördern half, sondern es erhellt auch und noch deutlicher daraus, daß in diesem Kraftmenschen, in diesem Ungethüm von Wütherich und Tyrannen schon eine nicht minder starke Ader vom Staatsdienerbewußtsein pulsirte, als sie später in den zwei aufgeklärten Musterdespoten, in Friedrich dem Zweiten und Joseph dem Zweiten, sich regte. In Wahrheit, es war etwas von echter Größe in der Art und Weise, wie Peter zu verschiedenen Malen es aussprach und bethätigte, daß ihm die Größe Rußlands unendlich viel mehr galt, als die seines Hauses. Unter der Gehirndecke dieses Czarenschädels, wie weit immer sie gewölbt war, hatte ein so kleinlich Ding wie dynastische Selbstsucht dennoch keinen Platz …

Allein gesetzt auch, die Prinzessin Charlotte von Braunschweig hätte politischen Sinn und Ehrgeiz genug besessen, um das Loos, Peter’s des Großen Schwiegertochter und voraussichtlich dermaleinst Czarin aller Reußen zu werden, willkommen zu heißen, so mußten jungfräulicher Instinct und gebildetes Frauengefühl doch schon sich angewidert fühlen von dem Gedanken, in ein Land zu gehen, wo die Barbarei der Sitten oder vielmehr Unsitten auch in den vornehmsten, höchsten und allerhöchsten Kreisen noch in voller und toller Wüstheit rumorte. Wahrscheinlich jedoch hatte die arme Charlotte gar keine Vorstellung, daß sie, das wohlerzogene, sittsame und feinfühlende deutsche Mädchen, an einen Hof versetzt werden solle, allwo weibliche Tugend und frauliche Würde schlechterdings unbekannte Dinge waren, wo ein jedes der Hof- und Ehrenfräulein des Morgens eine Kanne Branntwein erhielt „um sich den Mund auszuspülen“, weshalb „sie auch den ganzen Tag über sehr guter Laune waren“, sagt unser berichterstattender Augenzeuge; an einen Hof, wo der Soff in des gemeinen Wortes gemeinster Bedeutung Herren und Knechte, die Pfaffen inbegriffen, tagtäglich, Frauen und Mägde sehr häufig unter das Vieh erniedrigte und wo es bei großen czarischen Festen für einen Hauptspaß galt, auf der Tafel der Herren eine nackte Zwergin und auf der Tafel der Damen einen nackten Zwerg aus einer Pastete schlüpfen und auf dem Tische Grimassen schneiden zu sehen.

Und nun vollends der Bräutigam, welchem hingegeben zu werden die Prinzessin das „Glück“ hatte! Alexei Petrowitsch war im Jahre 1690 dem Czaren von seiner ersten Frau geboren worden, von jener Awdotja (Eudoxia) Lapuchin, welche Peter im Jahre 1698 verstieß und zwang, im Kloster Ssusdal als Nonne sich einkleiden zu lassen, was die Verstoßene jedoch nicht hinderte, mit allerhand Weltlichem, unter Anderem auch mit ihrem Liebhaber Stephan Glebow, sich zu befassen. Denn Awdotja ist keineswegs der fleckenlose Tugendspiegel gewesen, zu welchem gemüthliche Poeten das Bild der Verstoßenen zugeschliffen haben. Sehr begreiflich zwar, daß sie den Czaren von ganzer Seele haßte, nicht weniger begreiflich aber auch, daß Peter die rastlosen Ränke und Zettelungen, welche die Ex-Czarin von Ssusdal aus spann, um das Werk seines Lebens, die Europäisirung und Machtentfaltung Rußlands, zu hindern, zu hemmen oder wieder zu zerstören, mit eisernem Fuße zertrat.

Der Knabe Alexei wurde der Erbe des mütterlichen Hasses gegen den Vater, der seinerseits in dem Kinde von früh auf eben auch nur oder wenigstens allzusehr blos den Sprößling der verhaßten Awdotja gesehen zu haben scheint. Es war ein schlimmes Verhältniß von Anfang an. Die Erziehung des körperschwachen und geistesarmen, trägen, dabei frühzeitig auf den Abweg geschlechtlicher Sünden gerathenen Prinzen ist arg vernachlässigt worden. Die oberste Aufsicht darüber führte oder sollte führen der Emporkömmling und Günstling Mentschikow, welcher seine Sclavin Katharina an den Czaren abgetreten hatte. In dem Grade nun, in welchem diese immer bedeutender und mächtiger wurde, und ganz im Verhältniß zu der Raschheit und Entschiedenheit, womit sie dazu gelangte, von Peter erst zur Gossudarina, dann zu seiner rechtmäßigen Gemahlin erklärt zu werden – welche „Rechtmäßigkeit“ übrigens niemals actenmäßig hat festgestellt werden können – in demselben Grade und Verhältniß vernachlässigte Mentschikow seine Pflicht in Betreff des Czarewitsch, und dieser fiel gerade in der gefährlichen Epoche des Uebergangs vom Knaben- zum Jünglingsalter Leuten von altrussischer Anschauung anheim, stupiden Popen und sonstigem Hofungeziefer der dümmsten und schlimmsten Sorte.

Dieses Gesinde stopfte die enge Gehirnhöhle des Prinzen mit orthodoxem Wust voll, bildete ihm ein, er sei berufen, dereinst die „gottlosen Neuerungen“ seines Vaters zunichte zu machen, das altgläubige Czaren- und Russenthum der guten, alten, frommen Zeit wieder herzustellen und die Nachkommenschaft der Czarin Katharina auszutilgen. Selbstverständlich beeiferte das Ungeziefer sich auch, den Prinzen im Laster zu steifen und insbesondere seinen Hang zur Trunksucht zu stacheln, auf daß der also Herangezogene dereinst ein Czar wäre, wie ihn derartige treue Diener des Thrones und Altars wollten und wünschten. Den Augen Peter’s, obgleich [633] sie unendlich viel Anderes zu überwachen hatten, konnte es nicht entgehen, daß in dem eigenen Sohn ihm ein Zerstörer seines Riesenwerkes heranwuchs. Wenn sein bitterer Unmuth über die körperliche und geistige Nullität Alexei’s, über des Prinzen totalen Mangel an politischem Verständniß und kriegerischem Sinn, über dessen Trägheit und Verpfaffung zum Explodiren kam, wetterte er von Zeit zu Zeit in seiner wilden Weise darein, fuhr auch wohl mit Stock und Kantschu dazwischen, schien sich dann aber wieder Jahre lang gar nicht um den Sohn zu kümmern und verdarb natürlich mit sothaner Pädagogik vollends, was überhaupt noch zu verderben war.

Daß jedoch der Czar seiner väterlichen Pflicht keineswegs uneingedenk gewesen, beweist sein Versuch, den rohen und lüderlichen Jungen mittelst einer gebildeten, sittsamen und liebenswürdigen Frau zu bessern. Die arme Charlotte von Braunschweig wurde das Opfer dieses Experiments. Ihre Ehe mit dem Czarewitsch war vom Anfang an bis zuletzt nur ein Martyrium. Der bildungslose Schwachkopf Alexei haßte seine junge Frau schon darum, daß sie eine Lutheranerin war, denn man hatte die Prinzessin bei ihrem väterlichen Glauben gelassen, weil die Politik damals noch nicht das Wunder zu wirken wußte, deutsche Prinzessinnen im Handumdrehen von der lutherischen „Ketzerei“ zur griechisch-katholischen Rechtgläubigkeit zu bekehren. Der Czarewitsch lebte auch nach seiner Verheirathung mit seiner Magd Affraßja, einer hörigen Finnin, und das mochte für seine Frau mehr eine Erleichterung, als ein Leid, sein. Denn das Zusammensein mit dem wüsten Trunkenbold war für Charlotte eine Qual. Der Elende soll auch, was sehr glaubhaft ist, die Arme gelegentlich mit Schlägen und Fußtritten mißhandelt haben. Sie gebar ihm eine Tochter, Natalia, im Juli 1714 und am 23. Oktober 1715 einen Sohn, den nachmaligen Czaren Peter den Zweiten, welcher seiner Stiefgroßmutter Katharina auf dem Throne folgte, aber nur als ein kurzathmiger Schemen über die russische Staatsbühne ging. Dann legte sich die Unglückliche hin, sagte noch: „Das Dasein liegt zu schwer auf mir!“ und wurde von dem Allerbarmer und Allerlöser Tod zur Ruhe gebracht. Der Czar, welcher sich seiner Schwiegertochter stets rechtschaffen gegen den verwilderten Sohn angenommen hatte, war an ihrem Sterbebette gestanden und hatte der darum Flehenden versprochen, ihrer Kinder väterlich sich anzunehmen. Er traf auch persönlich die Anordnungen zum Leichenbegängniß, welches am 7. November mit feierlichem Gepränge stattgefunden hat.

Aber aus dem Grabe, in welchem dieses junge, so vorzeitig gebrochene Leben verschwunden war, ließ die Dichtung, welche es ja allzeit geliebt hat, über die herben Thatsachen der Geschichte mildernde Schatten zu breiten oder auch erklärende Lichter hinzustreuen, ein wunderlich Sagengebilde herauswachsen, an welches viele Menschen lange geglaubt haben als an eine Wahrheit. Der Tod der armen Charlotte – so lautete die Sage – sei nur ein Scheintod gewesen und es sei statt ihrer ein Holzblock begraben worden. Die Todtgeglaubte aber sei von treuen Freunden und Freundinnen, unter welchen wunderlicher Weise die berühmte Liebeskünstlerin Aurora von Königsmark eine vortretende Stelle eingenommen, aus Rußland nach Paris und von dort nach Louisiana in Amerika gerettet worden. Da habe ihr ein ritterlicher Franzos, der Chevalier d’Aubant, viele Freundschaftsdienste zu erweisen Gelegenheit gehabt und derselbe habe sich auch erboten, die Prinzessin, welche sich ihm entdeckte, nach Eintreffen der Nachricht von dem Untergang und Tod ihres Gemahls nach Rußland zurück zu geleiten. Sie jedoch, nach dem Glanz und der Barbarei des czarischen Hofes keineswegs sehnsüchtig zurückblickend, zog es vor, zu bleiben, wo sie war, gab eine Weile später der Werbung des wackern Chevalier Gehör, reichte ihm ihre Hand und lebte lange Jahre mit ihm in Glück und Zufriedenheit … Man sieht, die Poesie hat sich bemüht, das arme Opfer der Politik für die am Ufer der Newa erduldeten Leiden am Ufer des Mississippi zu entschädigen. Schade nur, daß die Poesie in diesem Falle, wie in unzähligen anderen, nur ein schöner Traum war, die Geschichte dagegen eine wüste Wirklichkeit! –


2. Vater und Sohn.

Es hat heiß in dem Czaren gekocht, während er am schon genannten 7. November 1715 dem Sarge, welcher die erlöste Charlotte barg, zur Gruft nachschritt. Mit der Trauer um die todte Schwiegertochter rang der Zorn über den lebenden Sohn; aber die weiche Stimmung war doch so vorwiegend, daß keine der gewohnten Peter’schen Vulcansexplosionen statthatte. Er gab nur dem Bedürfnisse nach, zwischen sich und dem Sohn einmal reine Bahn zu schaffen, und so hat er sich unmittelbar nach der Bestattungsceremonie hingesetzt und an den Czarewitsch einen Brief geschrieben, worin da und dort ein nicht verhaltener Zorn grollt, im Ganzen aber aus den Vorwürfen, Ermahnungen und Warnungen des Herrschers die Stimme des Vaters deutlich heraustönt. Zu wahrhafter Ehre gereicht es dem Czaren, daß er seine Epistel mit den Worten beschloß: „Ich will noch einige Zeit warten, ob Du Dich nicht aufrichtig bessern werdest. Sollte dies aber nicht geschehen, so sei hiermit versichert, daß ich Dich als ein brandiges Glied von der Nachfolge trenne. Denke nicht, daß ich Solches blos zum Schrecken schreibe, und steife Dich nicht darauf, daß ich ja keinen andern Sohn habe. Es soll wahrlich, so Gott will, erfüllt werden! Da ich mein Leben für Vaterland und Volk nicht geschont habe und noch nicht schone, wie sollte ich Dich als Unwürdigen schonen? Lieber ein würdiger Fremder als ein unwürdiger Eigener“ – (soll, wollte der Czar sagen, mein Thronnachfolger sein).

Der Czarewitsch beantwortete diese Zuschrift noch an demselben Tage, unter demüthigen Selbstanklagen seinen Trotz, dem Vater zu Willen zu sein, nur schlecht oder gar nicht verbergend. „Wofern ich nicht fähig sein sollte, die russische Krone zu tragen, so möge mir geschehen nach Deinem Willen. Ich bitte dringend darum, indem ich mich zu solchen Geschäften ungeschickt und untauglich fühle, auch mein Gedächtniß fast hin ist und ich, an geistigen und körperlichen Kräften durch mancherlei Krankheiten geschwächt, untüchtig bin, ein solches Volk zu beherrschen, das keinen so verfaulten Menschen verlangt, wie ich bin. Ich mache daher keine Ansprüche auf die Thronfolge.“ Der Czar hatte guten Grund, mit einer in diesem Tone gehaltenen Antwort des Sohnes unzufrieden zu sein, und schrieb daher zurück, er fürchte sehr, die „Bartleute“ (die altrussisch Gesinnten) möchten, so er todt, den Czarewitsch leicht dahin bringen, sein ganzes Werk wieder zu vernichten. Er sagte daher schließlich kategorisch: „Bessere Dich, bereite Dich vor, ein würdiger Nachfolger zu werden, oder aber geh’ in’s Kloster!“

Gerade an diesem Tage gebar Katharina dem Czaren einen Sohn, welcher jedoch nur wenige Jahre am Leben blieb. Man thut der Czarin wohl kaum Unrecht, wenn man annimmt, daß sie von der Geburt dieses Prinzen an darauf hingearbeitet habe, demselben auf Kosten ihres Stiefsohns die Thronfolge zuzuwenden. Allein es ist mit Bestimmtheit zu behaupten, daß ihre derartigen Bemühungen ohne die Verkehrtheit und Verbohrtheit des Alexei fruchtlos gewesen sein würden. Denn der Czar war überhaupt über dynastische Engherzigkeit so erhaben, daß er zu derselben Zeit zu einem der fremden Gesandten an seinem Hofe sagte: „Man nennt es Grausamkeit, wenn ein Fürst, um sein Reich, das ihm lieber sein soll als alles Blut seiner Adern, zu erretten und zu erhalten, die Erbfolge der Blutsverwandtschaft ändert. Ich dagegen nenne es die größte aller Grausamkeiten, das Wohl des Staates dem bloßen Rechte einer herkömmlichen Erbfolge zu opfern.“

Der Czarewitsch nahm die Geburt seines Stiefbruders zur Veranlassung, seinem Vater abermals zu erklären, daß er sich zur Thronnachfolge für untüchtig halte und demnach derselben entsage. Worauf der Czar in einem Schreiben vom 19. Januar 1716: „Ueber die Thronfolge habe ich allein zu entscheiden. Aber warum gehst Du nicht in Dich? Bessere Dich und werde thätig und tüchtig! In Nichts stehst Du meinen Bemühungen und Sorgen bei. Statt dessen verleumdest und verfluchst Du Alles, was ich aus Liebe zu meinen Unterthanen Gutes gestiftet, und ich habe große Ursache, zu glauben, daß Du, so Du mich überlebst, Alles wieder über den Haufen werfen werdest. Ich darf Dich fürder nicht so nach Deinem Gefallen hinleben lassen, als ob Du weder Fisch noch Fleisch wärest. Bemühe Dich entweder, der Thronfolge würdig zu werden, oder geh’ in ein Kloster.“ … Jeder unbefangene Urtheiler wird zugeben müssen, daß Peter bislang gegenüber dem Czarewitsch ganz verständig und pflichtgemäß gehandelt habe. Er gab den widerspenstigen Sohn auch jetzt noch nicht auf; aber Alexei rannte thöricht und blind in sein Verderben.

Im Begriffe, zur Badecur nach Pyrmont und von da zur Betreibung des schwedischen Krieges nach Kopenhagen zu gehen (1716), wollte der Czar den Czarewitsch noch besuchen, um ihm persönlich Ermahnungen zu geben; allein Alexei stellte sich krank, um den [634] Vater nicht sehen zu müssen. Kaum war dieser abgereist, so stand der Czarewitsch von seinem angeblichen Krankenlager auf und wohnte einem Zechgelage im altrussischen Styl an. Im August des genannten Jahres schrieb der Czar noch einmal mahnend und warnend an den Sohn. Er wolle ihm sechs Monate Bedenkzeit geben, um den Entschluß einer anderen Lebensführung zu fassen. In dem bisherigen Gleise der Aftergläubigkeit, Unwissenheit und Faulheit dürfe er nicht sich fortschleppen. So er dereinst den Thron besteigen wollte, müßte er dem Vater einen thatsächlichen Beweis der Sinnesänderung geben, und es bestände dieser darin, daß Alexei sich sofort aufmachte und zum Heere käme.

In der That, der Czarewitsch machte sofort sich auf, aber nicht in’s Feldlager, sondern in’s Weite. Des Vaters Rath und Wunsch war ihm Nichts. Er hörte auf Rathgeber wie Alexander Kikin und Nikiphon Wäsemski, welche der Hoffnung lebten, sie würden sich eines Tages des Czaren Alexei als eines leicht handlichen Werkzeugs bedienen können, um das Bartrussenthum und die Bojarenbarbarei wieder herzustellen im heiligen Rußland. Sie riethen dem Bethörten Schlimmstes. –


3. Flucht und Rückkehr.

In welche Wuth der Czar ausbarst, als ihm aus St. Petersburg die Kunde zuging, der Czarewitsch sei mit seiner Concubine Affraßja geheimnißvoll aus der Hauptstadt verschwunden, kann man sich unschwer vorstellen. Oder vielmehr, besser gesagt, nur sehr schwer. Denn wir gebildeten Leute der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts haben sicherlich Mühe, uns so eine echt Peter’sche Grimm- und Grollentladung dieses Ungethüms von Kraftmenschen zu veraugenscheinlichen. In jener Stunde, als der Courier aus Petersburg anlangte, hat sich im Zelt oder Cabinet des Czaren gewiß ein furchtbares Donnerwetter mit Gebrüll und Flüchen, Stockschlägen und Fußtritten entladen. In solchen Augenblicken superlativischen Zorns war der große Czar nur noch eine rasende Bestie, die den Erdball, so sie es vermocht hätte, wüthend in Stücke gestampft haben würde.

Es ist mit Grund zu vermuthen, daß seine Günstlinge dem Czarewitsch eingebildet hatten, der Czar habe ihn blos deshalb zu sich in’s Feldlager berufen, um sich mittelst einer feindlichen oder auch wohl mittelst einer absichtlich irregehenden russischen Kugel seiner zu entledigen, damit die Thronfolge dem Sprößlinge Katharina’s zugewendet werden könnte. Daß der einfältige Prinz einer solchen Einflüsterung Glauben schenkte, war ganz in der Ordnung, und da er eben so feig als albern, läßt sich seine Flucht leicht begreifen. Wir haben aber gesehen, daß Peter der Mann war und offen erklärte, der Mann zu sein, welcher das Recht habe und sich des Rechtes bewußt sei, über die Rachfolge im Reich souverain zu verfügen. Er hat auch nachher gezeigt, daß er der Mann, Angesichts aller Welt, das „brandige Glied“, so es nöthig, abzuhauen, und darum ist es nur thörichter Schwatz und Klatsch gewesen, wenn man nach Art der Kikin und Consorten dem Czaren meuchelmörderische Absichten gegen dem Sohn unterschieben wollte. Es ist wahr, im Dienst und Bann der großen Idee, für welche er lebte, hat Peter, wenn diese Idee, die Größe Rußlands, es forderte oder zu fordern schien, nie gezaudert, zu tödten, nach Umständen Einzelne oder auch ganze Massen; aber ihn zum Meuchler stempeln zu wollen, heißt dem Unhold von großem Czaren Unrecht anthun.

Der Czarewitsch war mit seiner Affraßja – die den Unglücklichen nachmals verrieth, vorgebend, sie sei zum „commerce d’amour“ mit ihm stets nur durch Androhung des Todes gezwungen worden – über Königsberg nach Wien entflohen. Dem letzten Habsburger, dem vorsichtigen Kaiser Carl dem Sechsten, kam der moskowitische Gast nicht sehr gelegen. Indessen weigerte er demselben das erbetene Asyl nicht und wies dem Flüchtling, welcher selbstverständlich in Verborgenheit zu leben wünschte, zuerst das Schloß Ehrenberg in Tirol und dann das Castell San Elmo in Neapel zum Aufenthalt an. Aber schon waren die Verfolger, welche der Czar ausgesandt hatte, der Diplomat Peter Tolstoi und der Gardehauptmann Alexei Romanzow, auf der Fährte des Prinzen. Sie spürten seinen Zufluchtsort auf, und der letzte Habsburger war keineswegs der Mann, welcher nöthigenfalls einen Bruch mit dem wüthenden Czaren riskirt hätte, um die Heiligkeit des Gastrechts unverletzt zu erhalten. Tolstoi und Romanzow sollten, so bestimmte Kaiser Carl, versuchen dürfen, den flüchtigen Prinzen zur Heimkehr zu bewegen.

Die Beiden erhielten demnach Zutritt in San Elmo und überbrachten dem Czarewitsch einen vom 10. Juli 1717 datirten Brief seines Vaters, worin dieser dem Sohne Verzeihung zusicherte, falls er zurückkehren und sich gehorsam erweisen würde. Sein ferneres Schicksal würde ganz von ihm selber, von seiner Führung und seinem Gebahren abhängen. Alexei, der sich in Folge seiner Unwissenheit, Unbehülflichkeit und Trägheit in der Fremde ganz unbehaglich und unglücklich fühlen mochte und mußte, schrieb am 15. October an den Czaren, daß er die angebotene Verzeihung dankbar annähme und unzögerlich heimkehren würde.

So geschah es in der That, und am 3. Februar 1718 langte der Czarewitsch, von Tolstoi und Romanzow begleitet, d. h. bewacht, in Moskau an. Allein hier hatten sich inzwischen mancherlei Fäden zu dem Gewebe der großen russischen Haus-, Hof- und Staatstragödie durch einander geschlungen, deren Held Peter und deren Opfer Alexei war. Die Flucht des Sohnes und was damit zusammenhing, hatte dem Czaren die traurige Ueberzeugung beigebracht, daß Alexei nicht zur Regierung gelangen dürfe, falls nicht Peter’s Schöpfung wieder zu Grunde gehen sollte. Und das sollte sie nicht. Der Entschluß des Czaren war unwiderruflich gefaßt: der Czarewitsch mußte von der Thronfolge ausgeschlossen werden.

(Schluß folgt.)




Aus der Heimath des verkauften Bruderstammes.
Von Otto Glagau.
I.
Das friesische Wattenmeer. – Wattströme und Priele. – Die Schlick- oder Wattläufer. – Die Traaler. – Der Vorspuk.

Ich stand am Westerstrande der Nordfriesischen Insel Föhr und blickte über die gelben Wogen nach dem Schwestereilande Amrum, das in südwestlicher Richtung den Horizont begrenzte, während im Nordwesten die lange schmale Insel Sylt aufdämmerte. Diese drei an der schleswigschen Westküste belegenen Inseln sind die nördlichen Trümmer des alten Nordfriesland.

Zwischen mir und Amrum, dem ich einen Besuch machen wollte, lag ein Arm der vielarmigen Wattensee, fast eine Meile breit, aber man sagte mir, daß ich nach wenigen Stunden hinübergehen könne, trockenen Fußes, wie einst die Kinder Israels das Rothe Meer durchschritten. Schon war das Wasser merklich im Sinken begriffen, in verschiedenen dunkelgefärbten Strömen, die sich mitten durch die See ergossen und sich von dieser scharf abgrenzten, floß es nach dem großen Becken der eigentlichen Nordsee ab, die ich, obgleich schon drei Meilen vom schleswigschen Festlande entfernt, noch immer nicht gesehen hatte. Die vorbeiziehenden Ewer mühten sich, den nächsten Hafen, größere Schiffe die offene See zu erreichen, ehe sie von der Ebbe überrascht würden; aus dem Wasser wuchsen einzelne Hügel empor, unterseeische Sand- und Schlammbänke, und die Küsten von Amrum und Sylt wurden höher und höher.

Immer seichter und trüber wurde das Wasser, und endlich lag auf Meilenweite der nackte Meeresgrund da, zahllose Hügel und Thäler bildend, Alles überzogen von einem graugelben, dickflüssigen Schlamme. Das sind die Wattengründe, neben den Inseln und Halligen die Trümmer des untergegangenen Landes, und sie ziehen sich längs der ganzen schleswig-holsteinischen Westküste in einer Breite bis sechs Meilen hin, eine Wüste von siebenzig Quadratmeilen umfassend, in welcher über einhundert ehemals dicht bevölkerte Kirchspiele begraben liegen. Diese ganze Fläche liegt zur Ebbezeit, wo das Wasser über sechs Meilen zurücktritt, entblößt da. Aber zahllose Rinnen, bald schmäler, bald breiter, bald seichter, bald tiefer, sogenannte Tiefen oder Wattströme, durchschneiden das Wattenfeld in allen Richtungen und theilen es in eine Menge größerer und kleinerer Inseln ab. Einige dieser Tiefen oder Gate tragen auch noch zur Ebbezeit kleinere Fahrzeuge; [635] andere, Leien oder Priele geheißen, kann man überspringen oder durchwaten und so von Watt zu Watt, von Insel zu Insel wandern, und die Insulaner, welche solches unternehmen, heißen Schlick- oder Wattläufer.

Auch ich trat jetzt meine Fußwanderung nach Amrum an; aber nicht allein, was dem Fremden aus mehrfachen Gründen nicht zu rathen, sondern in Begleitung eines kundigen Führers, der diesen Weg allwöchentlich zweimal machte, denn er war der Postbote zwischen Föhr und Amrum. Ein echter Inselfriese, worauf er nicht wenig stolz war, von langer, hagerer, aber starkknochiger, muskulöser Gestalt, mit röthlich-blonden, lockigen Haaren und wasserblauen Augen, die mattweiße Haut mit Sommersprossen und Leberflecken bedeckt. Wir staken Beide in hohen, gethranten Schlickstiefeln, die das Wasser nicht einließen; aber Haik Melw Prottje – so nannte sich mein Begleiter – hatte sich auch im Uebrigen dermaßen ausgerüstet, als gälte es eine Nordpolexpedition. Trotz des Sommertages trug er ein buntes Wollenhemd und darüber eine dicke, blaue Flansjacke, um den Hals einen rothen Wollenshawl und auf dem Kopfe eine Kappe von Seehundsfell, die heruntergezogen Gesicht und Nacken bedeckte und nur die Augen frei ließ.

„Lukkins tu!“ sagte er, als ich nach der Ursache dieser Vermummung fragte. „Man kann nie wissen, was es auf den Watten giebt: kalte, feuchte Winde sind gewöhnlich, nicht selten aber auch Regen- und Hagelschauer.“

Die Brieftasche hatte er sich um den Leib geschnallt, während er auf dem Rücken einen mäßig großen Kasten trug, der nach seiner Angabe verschiedene Eß- und Colonialwaaren enthielt, die er auf Föhr für seine Nachbarn eingekauft. Endlich hielt er in der Hand eine lange Springstange.

Aus der Ferne gesehen, erscheinen die Watten todt und einförmig, aber jetzt konnte ich auf ihnen ein reges Leben und Treiben von mancherlei Pflanzen und Thieren entdecken. Der Boden des Wattenmeeres besteht aus einer dickflüssigen Thonerde, Klei oder Schlick genannt, die häufig mehrere übereinander abgelagerte Schichten von Sand oder Terrig als Unterlage hat. Daneben finden sich ganze Gras- oder Tangwiesen, Torfmoore, Wälder von Baumwurzeln, Austern- und Muschelbänke. Um die Steine ranken sich zierliche Tangbüschel und allerhand Seepflanzen, und sogar in den Spalten der Steine sieht man wundersame Bildungen, nämlich schöne Dendritenlandschaften. Auf den Schlammbänken wimmelt’s von Seesternen und Muschelthieren, Porren und Krabben; große Schwärme von Seevögeln lassen sich hier nieder und finden auf der Schlammbank den Tisch gedeckt. Die tiefer liegenden Wattgründe, welche sich meist an Schlammbänke lehnen, sind die Heimath der Auster, deren Felder große Strecken einnehmen. Ueberall sieht man Fischer und Schlickläufer. Jene fangen in den Wattströmen Schollen und Butten, Aale und Sandspieren, diese sammeln Bernstein und Muscheln, die in Husum zu Kalk gebrannt werden. Einige stechen Seetorf, der theils als Feuerungsmaterial, theils zur Bereitung des friesischen Salzes benutzt wird. Andere sind Sand- und Stranddiebe, die sich vor den landesherrlichen Sand- und Strandvögten gar wohl in Acht zu nehmen haben. In den Rinnen stehen Ewer, Prahme und Boote, in welche Fische, Muscheln und Torfstücke eingeladen und mit der rückkehrenden Fluth fortgeschafft werden. Andere Fahrzeuge sitzen auf dem bloßen Watt, von der Ebbe überholt und müssen nun, um wieder flott zu werden, die nächste Fluth oft mehrere Tage abwarten. Ueberhaupt ist das Geschäft eines Wattenschiffers oder Binnenlandfahrers mit mancherlei Beschwerden und Gefahren verbunden. Er muß genau alle Tiefen und Untiefen, Strömungen, Baaken und Landmarken kennen, sich durch Stürme, Nebel und Eis zurechtzufinden und bei der Enge und Leichtigkeit mancher Wattströme mit seinem Schiffe klug zu laviren und es geschickt hindurchzuschieben wissen. Trotz alledem kann er auf’s Trockene gerathen und Tage lang sitzen bleiben.

Jedes Watt, jede Sandbank haben ihren Namen, ihre Geschichte. Dort ist ein Schlickläufer verirrt oder gar zu Tode gekommen, hier ein Schiff gestrandet oder ein werthvoller Fund gemacht worden. So heißt eine große Sandbank bei Sylt Buttersand, weil auf ihr ein Wattenschiffer mit seinem Fahrzeug vierzehn Tage lang gelegen, bevor eine Springfluth ihn wieder flott machte, während welcher Zeit er in Ermangelung anderer Lebensmittel die Butter verzehrte, in der die Ladung des Schiffes bestand. Eine andere noch größere Bank, die Höntje geheißen, auf der große Austernfelder liegen, war einst der Schauplatz eines Gefechts zwischen friesischen und dänischen Austernfischern, und auf der Hoogebank haben dänische und schwedische Kriegsschiffe, die hier zur Ebbezeit beiderseits auf den Sand und so aneinander geriethen, sich im Frühjahr 1713 eine blutige Schlacht geliefert.

Auge und Ohr werden nirgends leichter betrogen, als auf dem stillen Watt, zumal bei dickem Nebel oder finsterer Nacht, wo das Rauschen der Gewässer und das Gekreisch der Seevögel die überdies mit zahllosen Spukgeschichten angefüllle Phantasie des Schlickläufers sieden machen. Auch mein Führer erzählte mir, wie er sich einst auf dem Watt verirrt habe, von der Fluth überrascht worden und nur mit Mühe dem Tode entronnen sei.

„Aber,“ fragte ich, „wie könnt Ihr Euch verirren auf einem Wege, den Ihr tausend Mal gemacht habt, wo Ihr jeden Stein kennen müßt?“

„Aa Gottat dachan!“ antwortete er. „Bedenkt, Herr, daß der Weg von heute nicht mehr der von gestern ist. Die See verwischt jeden Fußstapfen, jedes Merkzeichen, läßt nicht Stock noch Stein an ihrem Platze, wandelt Thal in Hügel, reißt neue Priele auf und füllt alte aus. Und dann erst der Nebel! Herri Jimandi! Wenn der Euch überfällt, kreist Euch der Kopf und Ihr wißt nicht mehr, was rechts oder links ist.“

„Doch wie mag die Fluth Euch überraschen? Man weiß ja die Stunde ihres Eintretens und soll sie schon in weiter Ferne donnern hören.“

„Uuha!“ machte er. „Die Fluth richtet sich nicht nach dem Kalender, sie kommt früher oder später. Bisweilen hört man sie, aber sie kommt auch leise wie der Dieb angeschlichen.“

„Und kann man ihr nicht entfliehen?“

„Pü – ü – ü!“ lächelte er. „Entfliehen? Ihr wollt der Fluth entkommen?! Und wenn Ihr das schnellste Pferd unter Euch hättet, sie würde Euch doch überholen. Luk so! Ihr hört sie in der Ferne donnern, sie steht in weißer Brandung noch hinter Euch, Ihr geht schneller, aber plötzlich ist sie Euch zur Seite und jetzt quillt sie vor Euch aus dem Boden empor und umzingelt Euch, rechts und links, hinten und vorn. Nein, nein, Ihr könnt der Fluth nicht entlaufen, und wenn Ihr auf dem Winde reitet!“

„Also die Fluth überraschte Euch?“

„Ja, ich hatte den Weg verloren und sie war plötzlich da. Di Blixam! Ich lief nach einer Muschelbank, thürmte Stein auf Stein und stellte mich hinauf; allein sie kam immer höher, Steine waren nicht mehr bei der Hand, und so nahm ich diesen Kasten, schob ihn mir unter die Füße und stützte mich auf die Springstange, damit mich das Wasser nicht umwürfe. Bald ging’s mir über die Kniee, bald über den Leib, endlich bis an die Brust. Dann stand es, aber ich mußte sechs Stunden ausharren, ohne den Kasten wäre ich verloren gewesen.“

„Gräßlich!“ rief ich.

„Wohl gräßlich!“ sagte er. „Doch nicht des Wassers wegen. Das ließ mich in Ruhe, nicht aber die verdammten Traaler.“

„Was sind Traaler?“

„Ae, Ihr seid ein Fremder, ein Pröish, wie ich meine. Nun denn, die Traaler sind Unholde, die Geister Gestorbener oder noch Lebender, die sich in Vögel, Katzen, Seehunde, oft auch in feine Dirnen mit langen weißen Gewändern verwandeln und den einsamen oder verirrten Wanderer ängstigen. Auch mich umflatterten sie, wie ich unter Todesängsten auf der Muschelbank stand, in allerhand Gestalten, schnitten abscheuliche Gesichter, schlugen mich mit den Flügeln, verlachten und verhöhnten mich, und schrieen mir Verwünschungen in die Ohren. Eine Weile ließ ich’s mir gefallen, dann aber wußte ich sie zu verscheuchen.“

„Ihr schlugt ein Kreuz, spracht ein Gebet?“

„Nicht doch. Daran kehren sich die nicht. Nein, ich kniff die Augen fest zu und spuckte ihnen in’s Gesicht. Das können sie nicht vertragen und ließen mich dann in Frieden.“

„Wenn ich Euch recht verstanden, so leben noch heute unter Euch Personen, die heimliche Traaler sind?“

„Gewiß! es giebt deren noch manche auf Föhr und Amrum; aber man kann sie leider nicht mehr, wie es früher häufig geschehen, vor das Dinggericht stellen und auf der Haide verbrennen. Unter ihnen befinden sich Männer und Frauen, junge Mädchen und alte Weiber. Alle Traaler treiben Teufelskünste und Zauberei [636] schlagen Menschen und Vieh mit Krankheit, oder sie legen einem den Traalkranz, aus bunten Fäden gewebt, in das Kopfkissen, worauf der Bezauberte kein Auge zuthun kann, beständig von Kopfweh und Mattigkeit geplagt wird, so daß er hinschwindet wie der Thau an der Sonne, wenn man den Traalkranz nicht entdeckt und vergräbt.“

„Und wie erkennt man, daß Jemand ein Traal sei?“

„Es giebt dafür nur ein Mittel, aber ein unfehlbares. Luk so! Man legt dem Traal einen Besen in den Weg. Jeder ordentliche Christenmensch schreitet unbekümmert darüber weg, aber ein Traal kann das nicht: er muß ihn aufbeben und bei Seite stellen.“

„In der That?!“

„Bi’n Hinghar!“ betheuerte Haik. „Seht! mein eigner Vater – Gott hab’ ihn selig! – hatte eine Traal zur Braut. Es war ein feines, blutjunges Mädchen, aber sie hatte die Teufelskunst von der Mutter gelernt. Eines Nachts geht mein Vater nach dem Strande, um zu sehen, was die Fluth aufgeworfen hat. Unterwegs überfallen ihn die Traaler in Gestalt großer grüner Vögel und verspotten ihn. Er glaubt den schönsten Vogel an der Stimme als seine Braut zu erkennen und versetzt ihr mit seinem Messer einen scharfen Stich. ,Stoß noch einmal!’ ruft die Traal. Doch mein Vater hütete sich: der zweite Stich hätte den ersten geheilt. Am andern Tage hatte das Mädchen die Schulter verbunden und behauptete, es wäre gefallen und hätte sich schwer verletzt; mein Vater wußte es indeß besser, er ging ihr fortan aus dem Wege und freiete eine Andere.“

„Und Ihr glaubt wirklich an diese Sachen?“

„Bi’n Dönnar!“ schrie er, erstaunt die Augen aufreißend und mich mitleidig ansehend. „Ich sollte nicht glauben, was ich hundert Mal von alten klugen Leuten gehört und selber erfahren habe?! Unser Herr Pastor und der Schulmeister dünken sich zwar weiser und schelten es Aberglauben, aber sie hüten sich, in Nacht und Unwetter auf das Watt oder die Haide zu gehen.“

Unter solchen Gesprächen erreichten wir endlich Amrum. Es liegt mit Föhr auf einer großen Wattfläche, die nur hin und wieder durch schmale seichte Rinnen zerspalten ist. Täglich zwei Mal wandern die Föhringer und Amringer hinüber und herüber. Vor fünfzig Jahren konnte man zur Ebbezeit auch von Amrum nach Sylt gelangen. Beide Inseln trennte damals nur ein schmales Gat, das inzwischen zum breiten reißenden Strome geworden und die Vortraptiefe heißt. Zuweilen sollen es noch kecke Schlickläufer unternehmen, von Sylt nach dem gegenüberliegenden, vier bis fünf Meilen entfernten Festlande zu wandern, aber gewöhnlich müssen die Waghälse wegen der vielen breiten Priele umkehren, und mehrere sind schmählich ertrunken.

Die Insel Amrum hat die Gestalt eines halben Mondes, ist etwa anderthalb Meile lang und von sehr ungleicher Breite, die in der Mitte, wo sie am größten ist, fast eine halbe Meile beträgt. Auf ihr befinden sich drei Dörfer, zwei Schulen, eine Kirche und eine Windmühle. Norddorf zählt vierzig, Süddorf zwanzig und das in der Mitte gelegene Kirchdorf Nebel achtzig Häuser. Außerdem stehen noch auf Stianaad, wo sich der kleine Hafen der Insel befindet, zwei Häuser. Die Zahl der ganzen Bevölkerung beträgt etwa sechshundertundfünfzig, von denen sich jedoch viele Männer und Jünglinge meistens auswärts, das heißt auf der See befinden.

Als wir das niedrige Marschufer erreichten, stießen wir auf eine kleine Alte, die unter der Last ihrer Jahre gebückt, aber rüstig sich fortbewegte. Sie grüßte uns mit dem landesüblichen „Gud Dâi!“ und machte dann vor uns Halt, indem sie die Hände auf ihren Stock stützte und mich mit ihrem frischen rothen Gesicht und den hellen blauen Augen musterte. Sie richtete an meinen Begleiter mehrere Fragen, die dieser gegen seine Gewohnheit nur einsilbig und wie es schien mit Widerstreben beantwortete. Beide sprachen in ihrem friesischen Dialect, wovon ich leider nur wenig verstand; doch konnte ich merken, daß ihre Unterhaltung dem Fremden galt. Endlich schien sie befriedigt und humpelte weiter. Haik blickte ihr nach, und als auch sie sich nach uns zurückkehrte, schrak er sichtlich zusammen und wandte sich schnell.

„Ist die Alte eine Traal?“ fragte ich.

„Nicht doch!“ entgegnete er, „aber sie hat den Vorspuk.“

Der Vorspuk ist ein psychologisches Phänomen, das den Bewohnern abgelegener Inseln in unserm Norden beizuwohnen pflegt, und auf den Hebriden und Shetlandsinseln second sight oder Zweites Gesicht heißt. Sonntagskinder oder solche, die auf einer Glückshaut geboren sind, können gewisse Ereignisse mit allen Einzelheiten voraussehen. Man sieht die Leiche eines noch Lebenden auf dem Strohlager liegen, hört den Sarg zimmern und zunageln, den Küster singen, sieht den Leichenzug sich vom Sterbehause nach dem Gottesacker bewegen, oder erblickt statt dessen auf dem Kirchwege Feuerkugeln und hüpfende Lichter. Man sieht auf der Sandbank, genau da, wo sich später der Unglücksfall ereignet, ein Schiff mit allen Segeln und der ganzen Takelage in der Luft schweben, von einem hellen Schein umgeben. Man hört die Lieben, welche in der Fremde starben, bedeutungsvolle Worte sagen, und der Seemann, der im Sturm verunglückte, tritt in aufgezogenen wassertriefenden Stiefeln, schweren Ganges, und wäre es tausend Meilen weit, unter die Seinen. Man sieht das Haus in Flammen stehen oder gar die leergebrannte öde Stätte.

Jetzt verließ mich mein Führer. Er ging nach Nebel, woselbst sich das Postcomptoir befindet, während ich zunächst in dem vor uns liegenden Norddorf bei einem ehemaligen Schiffscapitain vorsprechen wollte, an welchen ich mir auf dem Festlande einen Empfehlungsbrief hatte geben lassen. Haik weigerte sich, ein Geldstück anzunehmen, das ich ihm für seine Führung bot.

„Nicht doch!“ sagte er. „Es ist gern geschehen und hat mir nicht die geringste Mühe gemacht.“

Solche Uneigennützigkeit und eine große Gastfreundschaft findet sich noch auf den kleinen Inseln und Halligen, selbst unter den ärmsten Leuten, aber nicht mehr auf Föhr und Sylt, wo die zahlreichen Badegäste jene Tugenden fast ganz verwischt haben.

„Nein!“ wiederholte der brave Bursche, als ich in ihn drang, die wohlverdiente Kleinigkeit doch anzunehmen. „Nein, Geld nehme ich nicht; aber wenn Ihr mir durchaus etwas schenken wollt, so gebt mir jenes Uhrband, und ich will es zum Andenken an Euch tragen.“

Es war ein einfaches Band in den schleswig-holsteinischen Landesfarben, was er jetzt dankend in Empfang nahm und mit sichtlichem Vergnügen sofort an seiner massiven dreigehäusigen Uhr, einem Erbstück seines Großvaters, befestigte. Dann wünschte er mir glückliche Reise, und ich ging in’s Dorf.




Wasserwein und Hobelspähne.

Wenn unsere leichtgläubigen Landsleute auf Zeitungsannoncen hin, wie jene des albernen pommerschen Barons, daß seine siebenzehnjährige taubgeborene Tochter nach dem Gebrauche von siebenundzwanzig Flaschen des Hoff’schen Malzextractes ihr Gehör wieder erhalten habe und zwar so vollkommen, daß sie sich zur Harfenvirtuosin ausbildet, ein paar Dutzende des Hoff’schen Laxirbieres bestellen, so erhalten diese doch wenigstens Etwas für ihr Geld. Freilich hätten sie sich den Wundersaft mit ein paar Händen voll Malz und ein paar Fingerspitzen voll von der Rhamnus frangula für ein Viertel der Summe selbst bereiten können. Dasselbe gilt vom Daubitz’schen Liqueur und anderen Schnäpsen; immer bekommen die freilich in ihren hohen Erwartungen Getäuschten wenigstens Etwas für ihr Geld. Wir wollen aber heute von einer Industrie sprechen, welche, wenn es wahr ist, daß das große Geheimniß ein guter Kaufmann zu sein darin bestehe, für viel Geld wenigst möglich zu geben, in dieser Hinsicht den Culminationspunkt erreicht hat, indem sie für sehr viel Geld gar nichts giebt.

Wir meinen jene Erfindungen, welche, wie so viele andere große und welterschütternde, gleichzeitig gemacht zu sein scheinen, die Erfindungen der Herren Wilhelm Schiller und Co. in Berlin und C. Leuchs und Co. in Nürnberg: Wein aus Wasser ohne Trauben oder sonstiges Obst und ohne Hefe darzustellen und zwar alle möglichen Sorten, laut Avertissement, den Eimer, etwa einhundertundvierzig Zollpfund, noch

[637]

Die Falschmünzer.
Originalzeichnung von Joseph Litschauer.

[638] unter zwei Thaler. Die Einrichtung kostet nach dem ehrenwerthen Herrn Schiller höchstens drei Thaler.

Wer sollte nicht Lust bekommen, für einige Thaler Millionär werden in wollen? Herr Schiller, welcher sich als alter Besitzer dieses Geheimnisses schon jedenfalls auf dieser schwindelnden financiellen Höhe befindet, will gegen ein Honorar von zehn, respective dreißig Thalern, wenn man mit Gährung arbeiten will, sich herablassen uns in den Tempel Mammons einzuführen. Herr C. Leuchs, die Priorität dieser erstaunenswerthen Erfindung beanspruchend und Herrn Schiller als Pfuscher brandmarkend, verlangt für sich sechszig Thaler und außerdem Geheimhaltung seiner enormen Entdeckung bis zum Jahre 1875. Zahlreiche Annoncen der Firma Schiller, namentlich in deutschen illustrirten Blättern, welche selbstverständlich aus der Tasche der in’s Netz Gegangenen bezahlt werden müssen, sprechen für die Rentabilität des Geschäftes.

Um aber unseren Lesern, welche keine sechszig Thaler anwenden können und auch nicht warten wollen, bis Herr Leuchs sie Anno 1875 in freigebiger Weise gratis in das financielle Paradies einführen wird, diese schnelle Gelegenheit ihr Glück zu machen nicht vorzuenthalten, folgt hier eine detaillirte Schilderung des Geheimnisses. Der durch die Anzeigen in Leipziger und Stuttgarter u. a. Zeitschriften in’s Garn Gelockte setzt sich mit einem der oben genannten Herren in briefliche Verbindung und empfängt als Antwort von Herrn Leuchs ein großes gedrucktes Pamphlet, das Massen von Danksagungen von Käufern seiner Vorschrift enthält, welche sämmtlich in merkwürdig kurzer Zeit ein kolossales Vermögen erwarben. Diese im Style der Hoff’schen Reclamen gehaltenen Dankbarkeitsergüsse sind aber merkwürdiger Weise alle ohne Namensunterschrift. Datirt sind dieselben aus der ganzen Welt und nach ihnen ist Herrn C. Leuchs’ Erfindung sogar nach Irkutsk, dem er selbst für der Geographie Unkundige noch „Sibirien“ beifügt, gedrungen. Ein Dankbarer, aber Ungenannter, aus Würtemberg bemerkt, er sei nun völlig überzeugt, daß selbst die Natur übertroffen werden könne; allein die komischeste Annonce von allen ist unstreitig die, gezeichnet M. v. N., worin der Verfasser erklärt: „Ich bin mit der Weinbereitung aus Wasser so zufrieden, daß ich gedenke meinen Weinberg zu verkaufen.“ Das kommt doch wohl der Heilung der taubgeborenen pommerschen Baronesse durch siebenundzwanzig Flaschen Hoff’schen Malzextractes ziemlich nahe!

Herrn Schiller’s Taktik ist eine andere. In einer mitunter nicht streng orthographischen Epistel wird dem an der Angelschnur Zappelnden dargelegt, wie es der höchste Triumph der modernen Chemie sei, synthetisch zu werden und die Resultate genauer Analysen zu diesem Zwecke zu verwenden. Man wisse aber, daß Wein aus Wasser, Alkohol, Zucker, Gerbstoff und Aether bestehe (sic), folglich handle es sich nur darum, die Bedingungen kennen zu lernen, unter welchen eine Mischung dieser Substanzen Wein gebe, welchen „weder die Chemie noch die geübteste Weinkennerzunge von Naturwein unterscheiden könne“.

Nach eingesendeten zehn Thalern erhält man nun von Herrn Schiller folgende Vorschrift:

„Man bereite eine Tinctur von zwei Theilen Muscatblüthe, zwei Theilen Muscatnuß, fünf Theilen Fliederblüthe, einem Theil Iris florentina, einem Achtel Gewürznelken, jedes für sich in Weingeist einige Tage digerirend und dann gemischt, wovon dem Weine nach Bedarf beigegeben werde. (Diese Vorschrift soll augenscheinlich den beliebten „Muscat-Lunel“ geben!)

a. stärkerer Weißwein: achtundachtzig Pfund Wasser, zwölf Pfund Alkohol, ein halbes Pfund Acidium Tartar., vier Loth Fliederblüthe, anderthalb Pfund Zucker, ein halbes Pfund Schlehen, ein Loth Kochsalz, etwas von obiger Essenz und ein Viertel Quentchen Oenanthäther, in Ermangelung ein Pfund Cognac. Ist der Wein zu sauer, so setze man ein bis zwei Loth Natronlösung zu.

b. schwächerer Weißwein: neunzig Pfund Wasser, zehn Pfund Weingeist, ein Pfund Zucker und wie oben.

c. Rothwein: achtzig Pfund Wasser, zehn Pfund Weingeist, drei Viertel Pfund Schlehen, zehn Pfund vergohrene Heidelbeeren oder Hollundersaft, zwei Loth Kochsalz, zwei Loth Glaubersalz, ein Loth Alaun.

Oder man mache folgende Composition:

Schwach: 92 Pfund Wasser, 8 Pfund Alkohol, 1 Pfund Zucker, 1/3 Pfund Acid. tart., 1/8 Pfund Tannin, 1/8 Pfund Glaubersalz, 1/8 Pfund Kochsalz.

Stark: 90 Pfund Wasser, 10 bis 12 Pfund Alkohol, 1/2 Pfund Zucker, 1/2 Pfund Acid. tart., 1/8 Pfund Tannin, 1/6 Pfund Glaubersalz, 1/6 Pfund Kochsalz.

Sollte das Bouquet nicht nach Wunsch ausfallen, oder die Sache große Eile haben, so giebt man zwei bis vier Tropfen Himbeeräther und drei bis sechs Tropfen Erdbeeräther zu.“

Dies ist es, was Herr Schiller als „Triumph der synthetischen Chemie“ seinen Opfern für zehn preußische Thaler darbietet, und ich wünsche nur herzlich, daß der Zufall Niemandem ein ähnliches Höllengebräu über die Zunge führe. Die einfache Mittheilung der Recepte überhebt uns wohl der Nothwendigkeit einer wissenschaftlichen Kritik.

Etwas methodischer geht Herr Leuchs zu Werke. Nach eingesandten sechzig Thalern erhält man die höchst interessante Mittheilung, daß es Herrn Leuchs gelungen sei, die Theorie der größten Chemiker unserer Tage über die Gährung zu stürzen, „daß nicht Kleber, Eiweiß, Hefe die eigentlichen Erreger der Weingährung seien, sondern – man lache nicht – Hobelspähne“. Man kann also getrost, wie der oben angeführte M. v. N., seine Weinberge verkaufen und sich dafür Hobelspähne anschaffen. Der Hobelspähnewein wird nun nach Herrn Leuchs auf nachstehende Art bereitet:

„Man füllt ein aufrechtstehendes Faß mit Hobelspähnen, bis auf ein bis drei Fuß vom oberen Rande, legt dann dort ein hölzernes Gitter oder einen Deckel mit Löchern auf, der durch Zapfen so festgehalten wird, daß er weder herauf- noch herabgehen kann. Das Faß hat unten einen Hahn zum Ablassen und es ist gut, bis etwa zwei bis drei Zoll über demselben eine Schicht von reinen Kieselsteinen in dasselbe zu bringen, was ein klareres Ablaufen der Flüssigkeit bewirkt. Ist Alles so vorgerichtet, so füllt man das Faß mit warmem oder kaltem Wasser, so dass dieses bis etwas über das Holzgitter geht, zieht das Wasser nach vierundzwanzig Stunden ab und wiederholt das Aufgießen so lange, bis es rein und geschmacklos abläuft. Dann füllt man das Faß mit dem Wasser, welches in Wein verwandelt werden soll, so weit voll, daß das Wasser einen halben bis anderthalb Fuß über dem Holzgitter steht. Tas Wasser darf kalt sein. Nun legt man auf das Holzgitter den Zucker und die übrigen Zusätze. Er löst sich dort leicht und schnell.

Die von Herrn Leuchs angegebenen Verhältnisse sind folgende:

1. Weißer Wein, leichter a. 100 Pfd. Wasser, 15 Pfd. Zucker, 1/4 Pfd. Weinsteinsäure, 1/8 Pfd. Tannin, 1/8 Pfd. Glaubersalz.
Weißer Wein, leichter b. 100 Pfd. Wasser, 9 Pfd. Zucker, 1/4 Pfd. Weinsteinsäure, 1/8 Pfd. Tannin, 3 Pfd. Spiritus, 1/4 Pfd. Glaubersalz.

2. Weißer Wein, starker a. 100 Pfd. Wasser, 20-25 Pfd. Zucker, 1/2 Pfd. Weinsteinsäure, 1/8 Pfd. Tannin, 1/8 Pfd. Glaubersalz.
Weißer Wein, starker b. 100 Pfd. Wasser, 10-12 Pfd. Zucker, 1/2 Pfd. Weinsteinsäure, 1/8 Pfd. Tannin, 5-7 Pfd. Spiritus, 1/4 Pfd. Glaubersalz.

3. Süßer Wein, leichter a. 100 Pfd. Wasser, 15 Pfd. Zucker, 1/2 Pfd. Weinsteinsäure, 1/8 Pfd. Tannin, 8 Pfd. Spiritus, 1/8 Pfd. Glaubersalz.
Süßer Wein, leichter b. 100 Pfd. Wasser, 25 Pfd. Zucker, 1/2 Pfd. Weinsteinsäure, 1/8 Pfd. Tannin, 4 Pfd. Spiritus, 1/8 Pfd. Glaubersalz.

4. Süßer Wein, starker a. 100 Pfd. Wasser, 40 Pfd. Zucker, 1/2 Pfd. Weinsteinsäure, 1/4 Pfd. Tannin, 4 Pfd. Spiritus, 1/4 Pfd. Glaubersalz.
Süßer Wein, starker b. 100 Pfd. Wasser, 20 Pfd. Zucker, 1/2 Pfd. Weinsteinsäure, 1/4 Pfd. Tannin, 10 Pfd. Spiritus, 3/8 Pfd. Glaubersalz.

Zu Rothwein giebt man bei 1. oder 2. entweder gleich mit dem Zucker sechs Pfund Heidel- oder Schwarzbeeren oder Hollunderbeeren in’s Gährfaß oder färbt den Wein durch Aufguß von Pappelblüthe.

So viel erhält man von Herrn Leuchs für sechszig Thaler. Inwiefern dieses Gemisch von Schnaps, Tannin, Zucker und Glaubersalz auch nur annähernde Weinähnlichkeit bekommen kann, überlassen wir der Beurtheilung des Lesers. In der Pfalz, in den weinproducirenden Districten Frankens und in Frankreich würde ein derartiger Weinproducent so wie der Urheber eines solchen Weinverbesserungsverfahrens dem Strafgesetze verfallen.

[639] Eine künstliche Weinbereitung ist ein Unding – schon deshalb kann von ihr keine Rede sein, weil die maßgebenden Bestandtheile des Weines noch keineswegs hinreichend gekannt sind. So ist namentlich über die Bouquetstoffe des Weines so gut wie nichts bekannt, denn die Arbeiten Winkler’s darüber haben sich bei wiederholten Versuchen Anderer als ungenau herausgestellt. Es ist durch die Untersuchungen von Béchamp bewiesen worden, daß der Wein das Resultat nicht einer, sondern mehrerer Gährungen ist, und noch täglich werden neue wesentliche Bestandtheile des Weines gefunden, von denen die Herren Leuchs und Consorten sich nichts träumen lassen; ich erinnere nur an die Nachweisung von Glycerin und Bernsteinsäure im Weine von Pasteur. Nach den schönen Versuchen von A. Béchamp und Maumené über Weingährung nimmt sogar der wirkliche Most, wenn er nur filtrirt wird, ein ganz anderes, weinunähnliches Aroma an, Most aber, dem Bierhefe beigesetzt, verliert alle Eigenschaften des Traubensaftes nach der Gährung; die Anwendung der Leuchs’schen Hobelspähne scheinen die französischen Gelehrten noch nicht zu kennen.

Eine fernere Schwierigkeit, welche sich der künstlichen Weinerzeugung, selbst wenn alle nothwendigen Elemente des Weines bekannt wären, was, wie oben gezeigt, noch lange nicht der Fall ist, entgegenstellen würde, ist die, daß der Wein wie das Bier eine in beständiger Veränderung begriffene Flüssigkeit ist, welche unter günstigen Umständen in kürzerer ober längerer Zeit einen Höhepunkt der Vollkommenheit erreicht, dann aber an Güte abnimmt.

Diejenigen unserer Leser aber, welche den Leuchs’schen Reclamen einen unverdienten Glauben beizumessen für gut finden, haben wenigstens die Gelegenheit, ohne Auslegung von sechszig Thalern mit dem Hobelspähnewein ihr Glück zu versuchen. Nur müssen wir sehr darum bitten, daß diese aus Dankbarkeit dann uns nicht etwa auffordern mögen, ein Glas der Schiller’schen oder Leuchs’schen Weinparodie auf glücklichen Fortgang des Geschäftes zu trinken, denn wenn wir uns in die traurige Nothwendigkeit versetzt finden, Glaubersalz zu verschlucken, so thun wir dies doch wenigstens ohne den keinesfalls den Geschmack verbessernden Zusatz von Tannin und Schnaps.
Dr. v. B.




Blätter und Blüthen.


„Bedaure, Alles besetzt!“ Es war Herbstmesse in Frankfurt a. M. und wunderschönes Herbstwetter dazu. Ein Doppelstrom von Geschäftsleuten und Touristen aller Zungen ergoß sich über die Stadt und stieg, Alles überschwemmend, bis zu den höchsten Mansarden der Gasthöfe hinauf.

Arme Menschenkinder, die verspätet mit dem letzten Bahnzuge ankommen und nun, im sichern Hafen sich wähnend, einem gastlichen Nachtlager sich entgegenfreuen! Droschken genug, die von dem Bahnhof zur Stadt führen, aber vor allen Gasthäusern das leidige Wort: „Bedaure, Alles besetzt!“ Immer weiter fährt die müde Droschke; in dunkeln Nebengäßchen, vor den schlechtesten Herbergen bettelt der stolze Kleinbürger, den sie führt, mit verhaltenem Grimme um Einlaß, und auch hier überall abgewiesen, lenkt er endlich mit verzweifeltem Muthe die Fahrt nach den vornehmsten Hotels. Aber Alles ist vergeblich! Schon verlöschen hie und da die Lichter in den Häusern. Die trostlose Aussicht, auf dem Pflaster oder einer Bank der Promenade übernachten zu müssen, wird zum fürchterlichen Ernst.

Auf einer solchen Fahrt landet spät Abends ein Fuhrwerk vor dem *** Hofe. Eine armselige Droschke vor dem Hotel der Kaiser und Könige! Der goldbetreßte Portier, der im Thore steht, macht mit dem schweren, silbernen Knopfe seines Stabes eine vornehm abweisende Bewegung. Aber der Kutscher steigt ab und öffnet den Schlag: „Thun’s gefälligst aussteigen, ’s Thier kann nich weiter: dritthalb Stunden, drei Personen, zwei Koffer, mit Laterngeld, thut drei Gulden vierundzwanzig Kreuzer zusammen!“ Und die Insassen steigen wirklich aus: ein ansehnlicher Herr mit kurzgeschnittenem, weißem Haar und weißer Cravatte, eine stattliche Frau, ein blühendes Töchterlein, nach Accent und Wesen ehrsame Holländer.[3]

Der Portier tritt entrüstet zwei Schritte vor und ruft sein „Alles besetzt!“ Allein die Koffer werden auf’s Pflaster gesetzt. Es kommen kleine und große Kellner mit weißen Servietten unter dem Arm und schnarren ihr „Alles besetzt!“ Aber der Alte zählt gelassen aus seiner Börse Kreuzer um Kreuzer hervor und mit der entschlossenen Miene eines Feldherrn, der im Angesicht des Feindes die eigenen Schiffe hinter sich verbrennt, lohnt er die Droschke ab. In ängstlicher Verlegenheit, halb unbewußt, mustert inzwischen die Frau die prachtvollen Säulen des glänzend erleuchteten Portals, während das Töchterlein hinter einer derselben ein wunderliebliches Kinderköpfchen entdeckt und fröhlich zu ihm niederkauert, es auf die blond gelockte Stirn küßt und dem herzigen Wesen kosend einen Blumenstrauß aus den Biebericher Gärten in den Gürtel steckt.

Da naht, zur Hülfe gerufen, die höchste Autorität des Hauses, der Oberkellner selbst, und das andere Dienstvolk schweigt, während er mit nachdrucksvoller Würde spricht: „Muß wirklich sehr bedauern, mein Herr, aber wir haben in der That auch nicht ein Zimmer mehr freil“

„Ja wohl,“ dehnt der Gelassene, „das haben mir ja alle die Herren da schon genug gesagt. Sprechen wir nicht mehr davon! Aber eine Tasse Thee,“ sagt er lächelnd, „eine Tasse Thee wird ja doch wohl noch im *** Hofe zu haben sein, nicht wahr? Portier, bitte, lassen Sie mein Gepäck einstweilen im Hofe einstellen! Das Gastzimmer ist ja wohl hier rechts?“

„Zu dienen, mein Herr!“

Sie treten in das Gastzimmer. „Bitte, Kellner, drei Portionen Thee!“

Der Thee wird langsam geschlürft. Die Menge der Gäste beginnt sich zu lichten. Ein Sopha wird frei, und wie der Belagerer auf eine verlassene Schanze des Feindes, so schreitet der Holländer auf das freie Polster zu. Rechts und links in die Ecke postiren sich Mann und Frau und auf einem Sessel daneben nimmt das Töchterlein Platz. „Nun sitzet fest,“ flüstert er, „auf die Straße hinaus wird man uns nicht weisen!“ Und siegesgewiß ruft er den Kellner. „Drei Portionen Beefsteak mit Salat und eine Flasche Bordeaux, wenn ich bitten darf.“

„Sogleich, mein Herr!“

Noch immer gehen Gäste, Herren und Damen, ab und zu. Auch das schelmische Blondköpfchen schielt zur Thür herein und eine jugendliche Frauengestalt, die es an der Hand führt, wirft lächelnd einen langen Blick auf die holländische Gruppe.

Endlich ist das Abendessen verzehrt, die Flasche ausgetrunken, das Gastzimmer geleert und nur noch spärlich erleuchtet. Der Holländer zündet eben die dritte Havanna an und beginnt dieselbe Zeitung zum dritten Mal zu lesen; die Frau hat das bürgerliche Strickzeug hervorgeholt und nickt nach jeder zehnten Masche ein; das muntere Kind im Sessel aber ist schon lang entschlafen.

Der schläfrige Kellner dreht die vorletzte Gaslampe zu. „Bitte, geniren Sie sich nicht,“ sagt der Alte, „löschen Sie auch die letzte aus!“

Da tritt ein zweiter Kellner ein: „Ein Zimmer mit Cabinet, mein Herr, wenn Ihnen gefällig ist?“

Der Kellner leuchtet vor, öffnet eine Treppe hoch ein Zimmer, setzt die siibernen Armleuchter auf den Tisch: „Noch Etwas zu befehlen, mein Herr?“

„Morgen um acht Uhr Chocolade im Gastzimmer und um neun Uhr eine Droschke nach dem Main-Neckar-Bahnhof,“ befiehlt der Herr in vornehm gestimmtem Ton.

Die Erlösten sehen sich um in dem Asyl, das sie so unerwartet gefunden. „Ein wahres Königszimmer,“ sagt der Alte, „wahrhaftig Oelgemälde aus bester Schule, Statuetten vom reinsten Marmor, prachtvolle exotische Gewächse und Meubles, so geschmackvoll, wie im Schlosse von Laeken!“

„Und die kostbaren Albums hier auf dem Tische,“ ruft das Töchterlein, „die allerliebsten Nippsachen, die schweren, seidenen Vorhänge, die Teppiche, ach, und seht nur hier heraus, das reizende Cabinet!“

„Ja, ja, ein wahres Königszimmer,“ seufzt die Mutter, „und wird auch schon die Zeche darnach sein! Weißt Du nicht, wie unser Präsident uns gewarnt hat? Auf zwei Nächte und einen Tag hat er für sich mit Frau und Zofe zweiundneunzig Gulden zahlen müssen und hat gewiß nicht so prachtvoll gewohnt!“

„Immer besser, als auf der Straße campiren,“ sagt der Alte, „wollen froh sein, daß meine List gelungen ist! Laßt uns zu Bett gehen! Wir werden gut schlafen!“

Und sie schlafen vortrefflich und die Chocolade, die sie am nächsten Morgen im Gastzimmer einnehmen, ist köstlich. Das Töchterlein mustert neugierig die Zeil, auf der die glänzenden Läden sich öffnen, und die sorgliche Mutter berechnet gutachtlich im Stillen die Zeche. Bis zu etwa einunddreißig Gulden hat sie es gebracht und strickt seufzend mit erneuter Energie, als ob sie die Rechnung noch schnell abverdienen wollte. Da dehnt endlich der Alte das schwere Wort heraus: „Bitte, Kellner, die Rechnung!“

„Drei Gulden sechsunddreißig Kreuzer, mein Herr!“

„Bitte, wie viel?“ fragt der Holländer zweifelnd.

„Drei Gulden sechsunddreißig Kreuzer, mein Herr!“

Der Holländer öffnet seine Börse und schließt sie wieder. Er nimmt aus seiner Tabatière eine gewaltige Prise und schlürft sie mit lauten Zügen ein, stäubt mit dem seidenen Taschentuche die entfallenen Körnchen säuberlich vom blüthenweißen Hemde ab und spricht endlich lächelnd mit dem Selbstbewußtsein eines ehrlichen Mannes: „Aber, bester Garçon, Sie irren sich wohl! Drei Portionen Thee, drei Beefsteaks mit Salat, eine Flasche Bordeaux, drei Chocoladen mit Backwerk und Logement und drei Gulden sechsunddreißig Kreuzer? Nein, nein, das ist wohl nicht möglich!“

„Erlauben, mein Herr, werde den Oberkellner fragen!“

Und der Oberkellner in eigner Person erscheint. „Habe sehr um Entschuldigung zu bitten, mein Herr! Es ist eine unverzeihliche Verwechselung vorgegangen; die Rechnung ist für jenen Herrn im Nebenzimmer, der eben im Vorübergehen mit seinen Damen eine Chocolade eingenommen hat.“

„Ja. ja, habe mir so Etwas denken können. Aber bitte nun, was habe ich zu zahlen? Ich brauche keine schriftliche Rechnung.“

„Aber, mein Herr, Sie erinnern sich doch, daß ich gestern in der Nothwendigkeit war, Sie abzuweisen, daß wir keinen Platz –“

„Freilich, freilich, Bester! Hab’s genug gehört, bin aber erfahren in solchen Dingen, kenn’ es, wie die Herren Portiers und Oberkellner Ausflüchte [640] machen, wenn eine arme Droschke anfährt; weiß wohl, bin etwas zudringlich gewesen, aber so was hilft; nehmen Sie’s nicht übel. Sie haben sich und mir vortrefflich aus der Verlegenheit geholfen! Bin Ihnen dankbar, wahrhaftig, ja!“

Der Oberkellner sah den Fremden mit stolzen Blicken an und sagte mit Nachdruck: „Die Portiers und Kellner im *** Hof machen keine Ausflüchte, mein Herr; sie lassen keinen Menschen auf der Straße schlafen, so lange noch ein Winkelchen im Hotel zum Uebernachten frei ist.“

„Nun gut, gut, wollen nicht streiten! ’s war ein süperbes Winkelchen, das Sie noch frei hatten. Wußte wohl, daß sich’s so finden würde, bin ein alter Prakticus. Aber bitte nun, die Rechnung!“

Wieder warf der Oberkellner dem Fremden einen stolzen Blick zu: „Die Rechnung, mein Herr? Sie haben Nichts zu bezahlen!

Jetzt war es mit der Gelassenheit des holländischen Phlegma zu Ende: „Wa – wa – wie? Nichts zu bezahlen ? Herr, das ist zum Lachen! Fürstlich gelebt und königlich gewohnt, und Nichts bezahlen? Nein, Herr, ich habe keine Zeit und Lust zu Späßen! Ich bitte, die Rechnung!“

„Mein Herr, ich hatte schon drei Mal die Ehre, Ihnen zu versichern, daß wir keinen Platz für Sie hatten. Sie sind abgewiesen im *** Hof, und unser Hotel hat nichts mit Ihrer Zahlung zu schaffen. Und in der That, verzeihen Sie, ich finde es fast unzart, daß Sie in dieser Weise Rechnung fordern. Oder sollten Sie wirklich nicht wissen, wo Sie logirt haben?“

„Nun zum Henker, im *** Hof!“

„Mein Herr, aus einem Sopha des *** Hofs hatten Sie sich Quartier gemacht, und ich würde Sie nicht davon vertrieben haben. Aber Ihr Nachtlager verdanken Sie nicht unserm Hotel, sondern – mein Gott, wissen Sie denn das nicht? Unser gütiges Fräulein hat Ihre Verlegenheit bemerkt, und sie, ja, mein Herr, die Tochter den Hauses selbst hat ihr eigenes Zimmer und Cabinet Ihnen abgetreten, und das begreifen Sie doch wohl, daß wir von Gästen unseres Fräuleins nun und nimmer Zahlung annehmen können.“

„Aber Bester, Liebster, ich bitte Sie! Ihr gütiges Fräulein hat uns ihr Zimmer eingeräumt? Das ist ja eine ganz merkwürdige Geschichte, ja höchst merkwürdig und außerordentlich liebenswürdig! Aber in der That, ich bin in Verlegenheit; ich kann doch nicht fortgehen, wie ein Eindringling, ohne zu zahlen!“

„Läßt sich nicht ändern, mein Herr!“

„Aber ich bitte Sie, Verehrtester, kann denn nicht wenigstens ich und Madame dem Fräulein Aufwartung machen und Dank sagen?“

„Fräulein wird bedauern, sie hat eben kein Empfangzimmer zur Verfügung!“

„Aber dem Herrn des Hauses, ich bitte Sie, Ihrem Herrn werde ich doch einen Besuch machen dürfen?“

„Der Herr wird bedauern, er macht eben seinen Morgenspazierritt!“[AU 1]

„Aber mein Gott, Bester, das ist ja verzweifelt! Ich muß mich doch wenigstens bei Jemandem bedanken können! Oder, lieber Herr, bitte, bitte, danken Sie in meinem Namen und im Namen von Madame und im Namen meiner Tochter, bitte, bitte!“ Und dabei sucht er in kleinlauter Verlegenheit dem Kellner ein Goldstück in die Hand zu drücken.

Mit einer vornehmen Verbeugung tritt dieser zurück: „Mein Herr, von Gästen unseren Fräuleins nimmt kein Diener des *** Hofs ein Trinkgeld an. Uebrigens steht eine Equipage des Hotels mit Ihrem Gepäck vor dem Hause bereit. Reisen Sie glücklich, mein Herr!“

Die Ausgewiesenen gehen zum Wagen und bemerken mit Beschämung, wie auch nicht ein trinkgeldlustiger Kellner und Hausknecht sich sehen läßt. Sie steigen ein und der Lakai schließt den Schlag. Da springt mit strahlender Freude das liebliche Lockenköpfchen von gestern herbei, reicht ein wundervolles Bouquet in den Wagen und flüstert: „Schwester Sannchen läßt das freundliche Fräulein grüßen!“

„Main-Neckar-Bahnhof im Trab!“ ruft der Lakai, indem er sich auf seinen Sitz schwingt. Die Rappen ziehen an, das Kind winkt mit der Hand ein Lebewohl!

War vielleicht der kleine Engel es gewesen, der mit seiner Bitte den Fremden ein Asyl geöffnet hatte? Wie dem auch sein mochte, die Ehre des Hotels war gewahrt. Es hatte Gastfreundschaft in zartester Weise geübt und lieber selbst die Zeche gezahlt, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, daß es unter falschem Vorwand die Gastfreundschaft versagt habe.

Die alte holländische Notabilität zählt diesen Liebesdienst zu den freundlichsten Erinnerungen ihren Lebens.
A…x.




Blumen- und Vogeluhr. Ohne daß man damit den hohen Werth der Erfindung der sogenannten Nürnberger Eier durch Peter Hele, oder den großartigen Geschäftsbetrieb der Uhrenfabrikation in der französischen Schweiz, oder gar die Verdienste eines Mannhardt, eines Elliot Smith um Vervollkommnung der Chronometer nur im Mindesten unterschätzen will, verdient doch jene sehr bekannte Thatsache bemerkt zu werden, daß Gärtner oder sonst aufmerksame Blumenfreunde sich sehr leicht eine sogenannte Blumenuhr verschaffen können, welche durch Oeffnen und Schließen der Blüthenkelche zu gewissen Stunden und Minuten die Zeit sehr genau bestimmt, und wer dann nur einigen Sinn für das Pflanzenleben besitzt, wird durch die Freuden reichlich belohnt, die ihm die ordnungsliebenden Kinder der Flora täglich und stündlich gewähren. Doch ein noch viel lebhafteres Interesse, als die Blumenuhr, bietet uns, besonders Jenen, die viel in der freien Natur leben, z. B. dem Jäger, der etwa keine Taschenuhr besitzt, die Vogeluhr, die im Ordnungssinn der kleinen, befiederten, allerliebsten Sänger begründet ist und nebenbei recht viel Ergötzliches enthält. Nach der unermüdlichen Nachtigall, die durch ihren schmetternden, flötenartigen Gesang die stille, feierliche Nacht verschönert, ist der lebhafte, muntere Fink der früheste der Vögel; er giebt das weithin vernehmbare Signal zur allgemeinen Reveille; sein Gesang geht dem Aufgang der goldenen Sonne voraus und ertönt schon von 11/2–2 Uhr an. Von 2–21/2 Uhr läßt die schwarzköpfige Grasmücke ihren Flötengesang erschallen, der mit dem der Nachtigall rivalisiren würde, wäre er nicht so kurz und abgebrochen. Von 21/2–3 Uhr hört man den Wachtelschlag, den kurzen, eindringlichen, welcher mit seinem entschiedenen, raschen „Weg vom Bett, weg vom Bett!“ die Langschläfer zu mahnen scheint, an ihr Tagewerk zu gehen, weil Morgenstunde Gold im Munde habe. Von 3–31/2 Uhr läßt die rothbäuchige Grasmücke ihren melodischen Triller erschallen, der den aufmerksamen Hörer, selbst wenn er mit noch so geringem musikalischem Talent ausgerüstet wäre, jedenfalls viel mehr erbaut, als die unablässigen Trillerstudien einer ob auch noch so liebenswürdigen Nachbarin, welche diese geisttödtenden Uebungen mit einer unverwüstlichen Geduld und Ausdauer nach Czerny, Hummel, Bertini, nach Louis Plaidy, Chopin oder gar nach dem frommen Abbé Liszt vornimmt, der einstens in den Armen der süßen Lola den Becher der Freude bis auf den Boden leerte und nun der Welt um so leichter „Ade!“ sagen kann, da die schönen Tage von Aranjuez bereits vorüber sind und ihm jedenfalls neben seinen priesterlichen Amtsgeschäften so viel Zeit bleibt, statt seiner symphonischen Dichtungen und ungeheuerlichen Transcriptionen für Piano Oratorien über wunderbare Legenden zu schreiben.

Von 31/2–4 Uhr erhebt die schwarze Amsel ihre Stimme, die sich bekanntlich durch ihr musikalisches Gedächtniß selbst mit dem genialen k. bairischen Hofpianisten Hans v. Bülow, der dem Münchener Publicum einen gewissen Standpunkt klar zu machen versuchte, in einen Wettstreit einlassen könnte. Von 41/2–5 Uhr läßt die Schwarzmeise ihren eigenthümlich schrillen Ruf ertönen, welcher jedoch kaum mehr für Waidmannsohren genießbar erscheint. Nun aber fängt erst recht das Lamentabel an. Von 5–51/2 Uhr beginnt ein Erzspitzbube, der grauschmutzige Sperling, zu pipen, dieser geflügelte, ungezogene Schusterjunge – nur lange nicht so musikalisch, als man diesen kleinen Pechfinken überall findet – dieser unersättliche Räuber, der da ist ein Feinschmecker, ein Faulpelz, ein Tumultuant, ein echter Proletarier, Communist und Arbeitseinsteller, aber dabei äußerst keck und ergötzlich in seinen unverschämten Späßen, gerade wie übermüthige Musikanten, diese Lockvögel des Teufels, auf einer Bauernkirchweih, wenn sie naturwüchsigen Bauern von Ober- und Niederbaiern, die nach Lasaulx den eigentlichen Krystallisationskern Baierns bilden, „Tusche“ aus allen Löchern ihrer Blasinstrumente blasen, so daß man sein Gehörsorgan ernstlich gefährdet glaubt. Doch kaum hat der nasenweise Pfälzer Krischer sein Mark und Bein durchdringendes Geschrei ertönen lassen, als auch schon von allen Seiten die Morgenglocken erklingen und die segenbringende Spenderin alles Lichts die Vogeluhr für den weitern Tageslauf entbehrlich macht.




Ausspruch eines jüdischen Wilberforce. Als die traurige Kunde von dem grausamen Tode Lincoln’s nach der City Londons kam, sagte Baronet Montefiore, der bis zu seinem dreiundachtzigsten Lebensjahre für die Emancipation der Israeliten Palästinas, Aegyptens, Rußlands, Italiens und Marokkos wie ein jüdischer Wilberforce persönlich und mit seinem Gelde gewirkt, folgende schöne Worte: „Lincoln hat die schwarze Race, die Negersclaven von ihren Fesseln befreit und fiel. Ich wollte, Gott gäbe mir die Kraft und Energie eines Lincoln, damit ich die Bande meines Volkes, seine Ketten im gewaltigen, halbcivilisirten Czarenreiche und seine Knechtschaft im barbarischen Marokko lösen könnte. Hunderttausende meiner Brüder harren noch auf einen Erlöser Lincoln; ich würde gern den Tod eines Lincoln sterben, wenn mir ein solches Erlösungswerk für meine weißen Brüder gelänge.“ Und bei diesem jüdischen Wilberforce ist es kein leeres Wort. Montefiore reiste noch in seinem einundachtzigsten Jahre nach Marokko, um den blutigen Verfolgungen von Christen und Juden daselbst Einhalt zu verschaffen.




Die Falschmünzer. (Mit Abbildung.) Wie die Gartenlaube seit ihrem Bestehen der Entwickelung der deutschen bildenden Kunst eine besondere Aufmerksamkeit zugewandt und in jedem Jahrgange eine Reihe vorzüglich bedeutender oder durch ihr Motiv besonders zum Herzen sprechender Schöpfungen deutscher Künstler in gelungenen xylographischen Nachbildungen dem großen Publicum zugänglich gemacht hat, so wird sie fortan diesem Theil ihres Repertoirs noch regelmäßiger ihre Spalten erschließen und gewissermaßen eine Galerie neuerer deutscher Künstler und Kunstwerke eröffnen, deren erstes Stück sie heute ihren Lesern ausstellt. Es ist die Schöpfung eines der talentvollsten Jünger der neueren Düsseldorfer Schule, Carl Joseph Litschauer’s, der, ein geborener Oesterreicher, seine ersten Studien zwar unter der Leitung des jüngst erst verstorbenen bekannten Wiener Malers Waldmüller machte, aber erst in Düsseldorf zu dem wurde, was er jetzt ist: ein Künstler von ungewöbnlicher Kraft der Conception und wirkungsvollster Ausführung in Zeichnung und Farbe, ein Maler, welcher das Genrebild gewissermaßen zur bistorischen Composition zu adeln versteht. Wir denken demnächst unter Vorführung seines Portraits und eines andern seiner vielbegehrten Gemälde Näheres über Leben und Streben Litschauer’s zu berichten und wollen heute nur noch als charakteristisch für seine Art und Richtung hervorheben, daß er sich die Nachtseite der menschlichen Gesellschaft zu einem besondern Studium erkoren und namentlich das Wesen der Verbrecherwelt ergründet hat, wie kaum ein Künstler vor ihm. Seine „Falschmünzer“ – auf deren Geschichte wir im nächsten Artikel zurückkommen – bekunden dies auf den ersten Blick, wie sie in Amsterdam, in dessen Kunstakademie sie zuerst ausgestellt waren, das größte Aufsehen erregten und dem jungen Maler außer der großen goldenen Medaille die böchst selten gewählte Auszeichnung der Mitgliedschaft der erwähnten Akademie eintrugen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Zschokke’s Schwager.
  2. Louise wurde nachmals Gattin des Rectors Evers an der Cantonsschule zu Aarau und Sophie die des Handelsgärtners Zimmermann daselbst.
  3. Der Name des Mannes hat einen ehrenvollen Klang weit über die Grenzen seines Landes hinaus, soll aber hier, wo wir den würdigen Herrn in wenig beneidenswerther Verlegenheit erblicken, nicht genannt werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Alphons Rouer, berichtigt in Heft 41.

Anmerkungen des Autors

  1. Da ich mich scheuen muß, die bescheidene Tochter in die Zeitung zu bringen, so darf ich auch den Namen des ehrenwerthen Vaters nicht nennen. Der geneigte Leser, der auf Personalien erpicht ist, mag in den reizenden Villen der freien Stadt sich umthun, vielleicht findet er diejenige heraus, in welcher jetzt der ehemalige Gastwirth der Kaiser und Könige in wohlverdienter Ruhe lebt.