Die Gartenlaube (1865)/Heft 39
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No. 39. | 1865. |
(Schluß.)
Werner hatte bewegungslos zugehört. Er mochte fürchten, durch einen tieferen Athemzug oder einen Blick die weiche Stimme zu verscheuchen, die ihm hier, in Luft und Schmerz halb gebrochen, die Tiefen einer Mädchenseele enthüllte. Als Magdalene schwieg, sagte er langsam und ohne sich nach ihr umzuwenden:
„Und fiel kein einziger Liebesstrahl in Ihr Kindesleben?“
„Die Muhme hat mich mütterlich und zärtlich gepflegt – ihr Herz ist voll Liebe gegen mich,“ sagte Magdalene rasch und bewegt, „aber sie mußte für Brod sorgen, und es blieb ihr keine Zeit, zu beobachten, was in meinem Innern vorging. Auch hatte sie gewissermaßen eine Scheu vor meinem stürmischen Wesen, was mich später bewog, ihr gegenüber so ruhig wie möglich zu sein, um ihr keinen Kummer zu machen… Dann saß in der Schule neben mir ein schönes, kleines Mädchen mit einer sanften Stimme, die ich unbeschreiblich liebte; das Kind war barmherzig gegen mich; es spielte mit mir und nahm mich sogar einmal mit in sein elterliches Haus. Seitdem aber wurde es scheu und wich mir aus, und als ich einstmals sehnsüchtig auf der Steintreppe vor dem Hause saß, da kam ein Dienstmädchen heraus und hieß mich rauh meiner Wege gehen – die Frau Secretairin leide es nicht, daß ihr Töchterchen mit hergelaufenen Kindern spiele… Oft, wenn ich aus der Schule nach Hause ging, begegnete ich einem Knaben, der ernst und stolz den Kopf in den Nacken warf und der doch so mild aussehen konnte mit seinen blauen Augen. Seine Locken waren so golden, wie die meiner Mutter, und deshalb mußte ich ihm immer nachsehen, so lange ich konnte. Ich betrachtete ihn mit ehrfurchtsvoller Scheu und meinte, in den schön gebundenen Büchern, die er unter dem Arme trug, müßten Wunderdinge stehen. Er war viel älter als ich und der Sohn vornehmer Eltern; das kümmerte mich nicht – er sah ja aus wie meine Mutter, und deshalb mußte er gut und edel sein und ein Herz voll Mitleiden haben… Als mich aber einst eine Horde wilder Knaben mit Steinwürfen verfolgte und mich mit höhnendem Geschrei umringte, ging er vorüber. Er führte ein kleines Mädchen mit lichten Augen und farblosen Haaren sorgsam an der Hand; sie war ihm verwandt und hieß Antonie, sie zeigte geringschätzend auf mich, das berührte mich nicht, aber von ihm dachte ich, er wird dich schützen und die bösen Kinder verjagen … o, wie wehe that es, als er von fern stehen blieb, Abscheu in den Zügen, und das kleine Mädchen an sich drückend, als könne mein Anblick ihr schaden… Wahrlich, er war schlechter noch, als meine Verfolger; denn es hätte nur eines Wortes aus seinem Munde bedurft, um mich vor der Verwundung zu schützen, deren Narbe ich noch am Arme trage… Es war, als drehe sich in jenem Augenblick mein Herz um, und es ward voll Haß gegen den Knaben!“
Magdalene war einen Schritt näher getreten. Sie hatte immer lauter und heftiger gesprochen, und ihre Augen, die sie jetzt fest auf den jungen Mann richtete, flammten, als käme erst in diesem Augenblick jenes Gefühl zum Durchbruch.
Werner blickte auf. Er sah bleicher aus als vorher, nahm aber gelassen den Bleistift auf und schnitt ihn zurecht, indem er fragte:
„Und – hassen Sie ihn noch?“
„O, mehr als je!“ stieß Magdalene leidenschaftlich heraus.
„Ich mag ihm nie mehr begegnen! … Einen Gifttropfen, der zerstört, segnet man nicht!“
Mit diesen Worten wandte sie sich um und eilte durch den Kreuzgang hinaus in die Stube, die sie hinter sich verriegelte. Hier stand sie eine Weile athemlos und mit starren Augen am offenen Fenster und wiederholte sich, was eigentlich geschehen war. Sie hatte sich hinreißen lassen, vor einem Manne, den sie selbst herzlos und hochmüthig nannte, die Wunden ihrer Seele zu enthüllen, sie, die bis dahin zu stolz gewesen war vor fremden Ohren je eine Klage laut werden zu lassen. Sie hatte ein Erlebniß erzählt, das, wenn auch in ihr Kindesleben fallend, doch von großem Einfluß auf ihr innerstes Sein gewesen war und das in jüngster Zeit wieder die heftigsten Kämpfe in ihr hervorgerufen hatte… Nie hatte selbst die Muhme erfahren, wie dem armen Kinde der ganze Sonnenglanz seiner Seele, die kindliche Schwärmerei für ein aus der Ferne abgöttisch verehrtes Wesen grausam entrissen wurde. Nie aber auch hatte Magdalene sich selbst eingestehen mögen, daß das heranwachsende Mädchen später jenen Vorfall in der Erinnerung zu verwischen suchte und gern das Ideal ihrer Kindheit mit dem stolzen, lockenumwallten Gesicht in ihren Träumen heraufbeschwor. Sie sträubte sich ja noch in diesem Augenblick leidenschaftlich gegen das Bewußtsein, daß kein Gedanke sie beseele, der nicht ihm gehöre, keine Regung in ihrer Brust auftauche, die nicht von ihm spreche, ja, daß sie mit jeder Faser ihres Lebens an ihn gekettet sei, der auf der eisigen Stirn ihr nur Hohn und Spott entgegenhielt… Und nun war Vieles über ihre Lippen geschlüpft, das aus dem tiefinnersten Geheimniß hervorging, und zwar vor ihm, der es nie und nimmer hätte wissen sollen… Mußte nicht die Treue, mit der sie jene Episode der Kinderzeit festgehalten, die leidenschaftliche Aufregung, in die sie bei ihrer Erzählung gerieth, ihm nothwendig zeigen, in welchem Maße ihre Seele von ihm erfüllt war? … Es war ihren Blicken [610] nicht entgangen, trotz der strengen Beherrschung seiner Züge, daß Werner in der Schilderung des Knaben sich erkannt hatte – einen Moment war dies ruhige, kalte Gesicht bleich geworden, ohne Zweifel im Zorn darüber, daß ein Mädchen den Muth haben konnte, ihm, dem verwöhnten, vornehmen Mann, gegenüber ungescheut zu sagen, sie hasse ihn… Das war ein Triumph für sie gewesen, eine glänzende Sühne für die Qualen, die jene hochmüthigen Augen, jenes spöttische Lächeln ihrem Herzen so oft zugefügt hatten. Ja, sie hatte sich und ihren Mädchenstolz einen Augenblick vergessen; aber sie hatte auch gesiegt … und doch weinte sie jetzt über diesen Sieg heiße Thränen; ja, es war ihr, als klaffe unter ihm ein Grab, in das sie das liebste Eigenthum ihrer Seele muthwillig selbst gestoßen habe.
Aus dem Gewirr von widersprechenden Gedanken, welches in ihrem Kopf auf und ab wogte, trat nur einer klar ausgeprägt vor ihre Seele, und sie griff nach ihm, als dem einzigen Rettungsanker – sie mußte nun unausbleiblich fort, weit fort. Es half zu nichts, wenn sie in eine andere, nahegelegene Stadt ging – sie durfte keine deutsche Luft mehr athmen, keinen deutschen Himmel mehr über sich sehen, das Meer mußte zwischen ihm und ihr liegen – sie wollte fort, weit, weit fort.
Als gäbe dieser Gedanke ihr neue Flügel, lasse sie aber auch jetzt schon nirgends mehr rasten, eilte sie aus der Stube und betrat mechanisch wieder den Kreuzgang. Beim ersten Blick überzeugte sie sich, daß Werner den Garten verlassen hatte. Sie lief rastlos auf und ab, ihr Denken angestrengt auf den einen Punkt gerichtet, wie sie sich Reisemittel verschaffe, bis sie sich todtmüde auf das Postament setzte, das Jahrhunderte lang die Statue der Jungfrau Maria getragen hatte. Sie schloß die Augen und schmiegte sich an das Gemäuer, das eine erfrischende Kühle über ihre brennenden Glieder hauchte. Tiefe Stille herrschte in dem kleinen Winkel, die kein Lüftchen zu stören wagte; nicht einmal die Ranken des Ginsters bewegten sich, die, droben um die Säulenknäufe gewickelt, ihre Enden muthwillig und frei in der Luft hängen ließen… Nur dann und wann, sobald das junge Mädchen aufzuckte und hastig seine Stellung änderte, ließ sich ein leises Knirschen in der Wand hören, wobei das Postament jedesmal leicht erzitterte. Zu tief in sich selbst versenkt, hatte Magdalene anfänglich dies seltsame Geräusch nicht weiter beachtet; einmal aber stieß sie heftiger an eine hervorragende Stelle in dem unteren Mauerwerk und wurde in dem Augenblick unter einem widrigen Gekreisch, das aus dem Gemäuer zu kommen schien, sammt dem Postament stark gerüttelt. Das kam ihr grauenhaft vor. Sie sprang auf und floh einige Schritte in den Garten hinaus. Bald aber kam sie zurück. Schien doch die Sonne so lebenswarm und golden herein; eben flogen die Schwalben, deren Nester an den umgrünten Säulen des Ganges hingen, unbeirrt und fröhlich zwitschernd aus und ein und über die Gartenmauer klang helles Kindergelächter… Sie schämte sich ihres Grauens und fing an, die Sache herzhaft zu untersuchen.
Ueber dem Postament, neben einem weit hervortretenden Stein, befand sich eine Art Knauf, rund und massiv, wie man sie noch hier und da an sehr alten Thürschlössern findet. Er war bisher unbemerkt geblieben, weil ihn die Statue vollkommen verdeckt hatte. An diesen Knauf hatte Magdalene mit dem Arm gestoßen… Unwillkürlich fiel ihr die Sage von den zwölf silbernen Aposteln ein, die, einst im Besitz des Klosters, noch in einem unterirdischen Gang desselben liegen sollten. Der Volksmund hatte freilich auch hier nicht verfehlt, schwarze Kettenhunde mit tellergroßen, glühenden Augen bewachend vor den Aus- und Eingang zu placiren und letzteren verschwinden zu lassen, sobald ihn das ungeweihte Auge eines Sterblichen berühre… Wenn nun hier die Lösung dieses Geheimnisses vor ihr lag? Wenn ihr vielleicht vorbehalten war, jenen Schatz zu heben, von dessen Werth und Größe die Sage Unglaubliches fabelte? … Welche Genugthuung für sie, wenn sie dann diesen geldstolzen Stadtbewohnern, und vor Allem ihm, diese Silbermassen verschmähend vor die Füße werfen konnte, nichts für sich behaltend, als die Mittel, die es ihr möglich machten, die Stadt verlassen zu können! … Aber das war ja Alles so märchenhaft lächerlich! Nur eine aufgeregte Phantasie konnte mitten in die Wirklichkeit solche Luftschlösser zaubern. Trotz dieser Raisonnements des Verstandes faßte Magdalene den Knauf. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, ihn umzudrehen, stieß sie ihn endlich mit Gewalt in die Mauer zurück, und siehe da – mehrere Quadersteine, die ohnehin aussahen, als wollten sie jeden Augenblick aus dem Gemäuer herausfallen, schoben sich unter lautem Geräusch, und eine mächtige Staubwolke aufwirbelnd, langsam vorwärts. Ein breiter Spalt erschien in der Mauer, und nun sah Magdalene, daß die Quadern keineswegs so dick im Durchmesser waren, als von außen schien; sie waren vielmehr dünn gespalten und geschickt auf einer eichenen Thür befestigt, die sich jetzt ohne Mühe weiter öffnen ließ. Unmittelbar zu Magdalenens Füßen führten acht bis zehn ausgetretene Stufen in die Tiefe. Drunten aber dämmerte es grüngolden, wie wenn die Sonne durch dichtes Laubwerk dringt. Es sah ganz und gar nicht unheimlich aus, und deshalb stieg Magdalene auch rasch entschlossen die Treppe hinab. Unten angelangt, sah sie einen schmalen, ziemlich niedrigen Gang vor sich, der links, dicht an der Decke, schmale, aber lange Oeffnungen hatte, durch welche frische Luft und ein gedämpftes Licht einströmten. Der Gang lief ohne Zweifel parallel mit der Klostermauer droben, die im Verein mit der lebendigen Wand von dichtem Buschwerk dem Auge die Luftlöcher von außen entzog. Der Boden des Ganges war mit einem feinen Sande bedeckt, und an den Wänden saß der Mörtel noch so fest in dem Steingefüge, als seien erst Jahre und nicht Jahrhunderte an ihm vorübergestrichen.
Magdalene schritt weiter. Der Gang senkte sich ziemlich steil abwärts und plötzlich that sich zur Rechten des Mädchens ein zweiter Gang auf, der sie in tiefster Finsterniß angähnte. Sie eilte erschrocken vorüber, immer den grünschimmernden Leitsternen folgend, die so tröstlich in den Hauptgang hereinglänzten. Eine Strecke lang jedoch hörten auch diese auf. Eine starke Erschütterung über ihr ließ sie vermuthen, daß sie sich unter einer belebten Straße voll Wagengerassel und Menschenverkehr, wahrscheinlich unter dem Marktplatz, befinde. Der Gang bildete hier eine scharfe Ecke nach rechts, und beim Umbiegen glänzten ihr droben die Lichter wieder entgegen.
Magdalene war nun ziemlich lange geschritten, allein nirgends, weder an den Wänden, noch am Boden war eine Spur der Klosterschätze zu entdecken. Ihr Fuß watete in dem weichen, mehlartigen Sande, ohne einen anderen Gegenstand zu berühren, und in den Luftlöchern droben zeigte sich manchmal der schillernde Schuppenleib einer vorüberschlüpfenden Eidechse – das war Alles!
Noch einige Schritte, und sie stand vor einer Thür, die genau aussah, wie die am Eingang. Magdalene blieb zögernd stehen. Ohne Zweifel löste sich hier das Räthsel, aber wie? … Wenn nun dieser unbekannte Raum, da vor ihr, Miasmen aushauchte, die sie augenblicklich betäubten und ihren Tod unvermeidlich herbeiführen mußten? … Hier unten wollte sie nicht sterben – der Gedanke war entsetzlich – sie trat einen Schritt zurück. … Aber nun flog Alles, was sie heute schon gelitten, wieder durch ihre Seele. Noch vor einer Stunde schien ihr kein Preis zu hoch, ihre Seelenruhe wieder zu erlangen, und war, selbst wenn sie hier unten sterben sollte, dieser Gedanke schrecklicher, als das Bewußtsein, daß sie nun ein vielleicht langes Leben, so freudenleer und sonnenlos, mit müdegehetztem Herzen, an einem verhaßten Ort hinschleppen müsse? … Ihre Pulse klopften heftig. Es war, als ob Stürme ihr Haupt umbrausten und mit schwarzen Flügeln über ihre Augen wehten… Sie faßte den Knauf an der Thür und stieß ihn zurück – ein lauter Krach, begleitet von Rasseln, betäubte ihr Ohr – ein Strahl, als ob die Sonne ihre ganze Lichtgewalt hier ausströmen wolle, blendete ihre Augen – sie wankte einen Schritt vorwärts und verbarg ihr Gesicht in beiden Händen, während abermals ein donnerähnliches Gepolter hinter ihr ertönte und den Boden unter ihren Füßen erschütterte.
Endlich schlug sie die Augen auf… Wo war sie? … Vor ihr lag ein reizendes Blumenparterre; über ihr wölbte sich eine Gruppe prächtiger Linden; sie selbst stand auf einem reinlichen Kiesplatz, und das leise Rauschen einer Fontaine schlug an ihr Ohr, deren silberner Strahl nicht weit von ihr durch das Gebüsch schimmerte.
Im ersten Augenblick erschien dem jungen Mädchen, das aus dem schwachen Dämmerlicht eines engen Schachtes trat, die ganze Umgebung blendend und feenhaft, kein Wunder, wenn ihrer reichen Phantasie die überraschenden Lösungen der Märchenwelt vorschwebten. Aber nach einem einzigen forschenden Blick sanken die hochgehobenen Flügel der Einbildungskraft und machten einem heftigen Schrecken Platz… . Himmel, sie stand auf fremdem Grund [611] und Boden, in dem Garten irgend eines vornehmen Hausbesitzers! … Unter einem luftigen Pavillon, jenseits des Blumenparterres, saß eine reizende Gruppe junger Mädchen. Sie plauderten, nachlässig in den Sessel zurückgelehnt und eine Arbeit in den Händen haltend, während mehrere andere einen Rosenstrauch in der Nähe plünderten und unter lautem Lachen die prächtigen Zentifolien in ihre Flechten steckten. Sie flatterten in ihren leichten, weißen Gewändern wie Tauben durch die Gebüsche, und Magdalene blieb, trotz ihres tiefen Schreckens, einen Augenblick wie angefesselt vor dem wunderlieblichen Bilde stehen. Dann aber wollte sie in den Gang zurückfliehen. Sie wandte sich um – da war jedoch keine Thür, keine Maueröffnung zu sehen, wohl aber stierte sie aus einem grünbemoosten, mächtig wallenden Barte das ernste Steingesicht eines großen Heiligenbildes an.
Mit bebenden Händen tastete sie an der Mauer nach einem Knauf oder irgend einem Mittel, die verschwundene Pforte wieder aufzufinden. Sie durchwühlte die Brennnesseln am Fuße der Statue, befühlte jede Steinfalte des priesterlichen Gewandes und rüttelte zuletzt verzweiflungsvoll an dem Bilde, das wie zürnend seine starren Augen auf sie gerichtet hielt – vergebens, hier war ihr der Rückzug abgeschnitten, und vorwärts konnte sie nicht gehen, ohne den Hausbewohnern zu begegnen. … Sie mußte an den Auftritt in Werners Hause denken. Ihre ärmliche Kleidung, die nicht ein mal durch ein schützendes Tuch bedeckt war, konnte ihr auch heute ähnliche Demüthigungen zuziehen. Sie sah ein, daß man anfänglich ihrer Erzählung keinen Glauben schenken würde, weil sie ja so unglaublich klingen mußte, und bis sie im Stande war, die Wahrheit zu beweisen, wie viele Anfechtungen hatte ihr stolzes Gemüth bis dahin zu erdulden!
Noch einmal blickte sie hinüber nach den jungen Mädchen; sie sahen so harmlos und lieblich aus, sie waren jung wie sie, vielleicht, wenn sie muthig auf sie zuging und ihr Abenteuer erzählte, glaubten sie ihr und nahmen sie bis zur einbrechenden Dunkelheit auf oder gaben ihr eine Hülle, um über die Straße gehen zu können.
Schnell betrat sie den Kiesweg, der drüben vor dem Pavillon mündete, aber kaum hatte sie das erste Blumenbeet erreicht, als sie heftig erschrocken stehen blieb. Aus einem großen, eisernen Gitterthor, gerade ihr gegenüber, trat im schwarzen Seidenkleide, einen mächtigen Schlüsselbund über der sorgsam vorgebundenen weißen Schürze, die Räthin Bauer, gefolgt von ihrer Enkelin, die gleich der hinter ihr gehenden Magd eine Platte voll Tassen und Kuchenkörbe trug. … Es blieb Magdalenen kein Zweifel, der unterirdische Gang war ein Verbindungsweg zwischen zwei Klöstern gewesen, sie befand sich in Werner’s Garten.
Das Herz stand ihr fast still vor Angst, aber da kam ihr plötzlich ein trostreicher Gedanke. In diesem Hause wohnte ja auch ihr alter, guter Jacob; wenn es ihr gelang, seine Stube zu erreichen, dann war sie geborgen. Die Fenster des hohen Wohnhauses blinkten durch die Aeste einiger Kastanienbäume über ein niedriges Dach, jedenfalls das Hintergebäude, zu ihr herüber. Sie wußte nun die Richtung, die sie einzuschlagen hatte, und bog in einen schmalen Seitenweg ein, der durch ein Bosquet führte.
Nach wenigen Schritten stand sie vor einem kleinen Gebäude, das sich an die Rückwand des Hinterhauses lehnte und oben große Glasfenster hatte. Halb zugezogene seidene Gardinen verbargen das Innere, zu welchem mehrere an beiden Seiten mit Topfgewächsen besetzte Stufen führten. Vielleicht stand dies Zimmer in Verbindung mit dem Hintergebäude oder führte wenigstens in den Hofraum. Magdalene trat schnell hinein; es war Niemand darin, aber es hatte auch, wie es schien, keinen zweiten Ausgang.
An der Wand hin, die keine Glasscheiben hatte, liefen Bänke mit dunkelrothen Polstern. In der Mitte stand eine verhüllte Staffelei und auf den Tischen lagen im bunten Durcheinander Zeichnungen und Bücher. Das war ohne Zweifel Werner’s Atelier. Einen Augenblick blieb sie wie angezaubert stehen und blickte in den Raum, den die zugezogenen Gardinen in eine grüne Dämmerung hüllten. … Hier schaffte und waltete er und hier auch, hatte der alte Jacob gesagt, war das Bild des italienischen Mädchens, das Werner als seine künftige Frau bezeichnet hatte. … Wenn sie einen Zipfel der Hülle über der Staffelei hob, dann konnte sie vielleicht die Züge derjenigen sehen, der es gelungen war, jenes stolze Herz zu besiegen … nein, und wenn es Engelszüge waren, sie hätte sich nicht überwinden können, das Tuch zu lüften.
Ein Geräusch hinter Magdalene ließ sie erbeben, sie wandte sich um. Auf der untersten Stufe stand eine alte Magd, Staubtuch und Besen in den Händen, starr vor Erstaunen, während ihre Blicke wie Spinnen über die Gestalt des jungen Mädchens liefen.
„Nu, da seh’ mir Einer an!“ rief sie endlich, „das nenn’ ich doch frech, am hellen, lichten Tag sich in die Häuser zu schleichen. Wenn man betteln will, da ist da vorn eine Hausflur, da bleibt man hübsch stehen und wartet, bis die Leute kommen, aber man läuft nicht so mir nichts, dir nichts bis in den Garten hinein, das ist ja schlimmer, wie bei den Zigeunern. … Na warte, das will ich doch gleich der Frau Räthin sagen.“
„Ich bitte Sie um Gotteswillen, liebe Frau!“ bat Magdalene in Todesangst.
„Ach was, ich bin keine Frau!“ entgegnete die Alte grämlich. „Wenn Sie mir etwa schmeicheln will, da ist Sie an die Rechte gekommen, sag’ ich Ihr! … Ihre Strafe muß Sie haben,“ fuhr sie fort, indem sie den Kehrbesen auf die Erde stampfte. „Wenn doch nur lieber gleich der junge Herr da wäre!“
„Was willst Du denn von mir, Katharine?“ fragte Werner’s Stimme in dem Augenblick. Er bog um die Ecke und sah ebenso erstaunt in’s Zimmer, wie vorher die alte Magd.
Magdalene stand bewegungslos und verbarg ihr Gesicht in beiden Händen. Werner sprang die Stufen hinauf.
„Sie wollten zu Jacob und haben sich verirrt, nicht wahr?“ fragte er hastig.
Magdalene schwieg.
„Ach was, zum alten Jacob geht man nicht durch den Garten, Herr Werner!“ sagte die Alte ärgerlich. „Das lustige Jüngferchen da wird schon wissen, warum es sich verirrt hat.“
„Ich habe Dich nicht um Deine Meinung gefragt, Katharine,“ sagte Werner streng. „Gehe jetzt vor in das Haus und sage Niemand, daß Du diese junge Dame hier getroffen hast; ich werde selbst mit meiner Tante darüber sprechen.“
Die Magd entfernte sich stillschweigend.
„Jetzt,“ wandte sich Werner an Magdalene, „sagen Sie mir, was Sie hierher zu mir führt.“
Um keinen Preis hätte das junge Mädchen in diesem Augenblick erzählen mögen, wie sie hierher gekommen. Sie dachte an die Beweggründe, die sie veranlaßt hatten, in die Tiefe hinabzusteigen. Sie fühlte überhaupt, daß sie nicht andauernd ihm gegenüber sprechen könne, ohne in die heftigste Aufregung zu gerathen; hatte sie doch Mühe, den Kopf aufrecht zu erhalten und ihre Züge zu beherrschen. Sie sagte deshalb kurz:
„Ich habe nicht zu Ihnen gewollt und glaube auch nicht, daß ich genöthigt bin, mich Ihnen gegenüber meines Hierseins wegen zu vertheidigen. Die Versicherung wird Ihnen genügen, daß mich in der That ein Irrthum hierher geführt hat.“
„Wenn ich mich nun aber mit dieser Versicherung durchaus nicht zufriedengestellt erkläre?“
„So steht Ihnen frei, zu denken, was Sie wollen.“
„Ah, immer kampfgerüstet, selbst in der peinlichsten Lage!“
„Wenn Sie meine Lage peinlich finden, so versteht es sich von selbst, daß Sie mich so rasch wie möglich aus derselben befreien. Es wird Ihnen ein Leichtes sein, mir einen Weg zu zeigen, auf dem ich mich unbemerkt entfernen kann.“
„Sie wollen den Damen da draußen nicht begegnen?“
Magdalene schüttelte heftig mit dem Kopfe.
„Dann thut es mir leid, Ihnen nicht helfen zu können. Sie sehen, dies Zimmer hat nur diesen einen Ausgang. Sie müssen schlechterdings durch den Garten, wenn Sie in den Hofraum wollen, und sehen Sie dort hinüber,“ er schob einen Vorhang ein wenig zurück, „dort promeniren die Damen eben vor der Gartenthür!“
„Nun, dann seien Sie wenigstens so rücksichtsvoll, mich hier allein zu lassen, bis die Damen sich aus dem Garten entfernt haben.“
„Auch das kann ich nicht. Das Schloß an dieser Thür ist seit heute Morgen defect, sie kann deshalb nicht verschlossen werden. Ließe ich Sie hier allein, dann wären Sie nicht sicher vor ähnlichen Anfechtungen, wie Sie eben durch die alte Katherine zu erleiden hatten … Es läßt sich durchaus nicht ändern, ich muß hier bleiben zu Ihrem Schutz.“
[612] „Nun, dann will ich lieber draußen zehnfach Unrecht leiden, als auch nur einen Augenblick länger hier bleiben!“ rief Magdalene außer sich und eilte nach der Thür.
In demselben Augenblick wurde draußen Werner’s Name gerufen.
„Was giebt es?“ rief er aufgeregt und öffnete ein Fenster.
„Es fängt an zu regnen,“ antwortete Antonie. „Wir möchten aber nicht hinauf in die schwülen Zimmer und bitten Dich recht sehr, uns zu erlauben, daß wir ein wenig in Deinem Atelier bleiben dürfen.“
„Bedaure unendlich, aber dieser Raum hat einen Marmorfußboden. Ich wäre untröstlich, wenn sich die Damen den Schnupfen holten, und muß deshalb meine Einwilligung entschieden verweigern.“
„Auch mir, liebster Egon?“ fragte Antonie in den schmelzendsten Tönen.
„Auch Dir, verehrteste Antonie.“
„Aber das ist wirklich sehr unliebenswürdig, Herr Werner,“ rief eine andere Mädchenstimme, „wir hätten so gern das Bild der schönen Italienerin gesehen, von dem uns Antonie erzählt hat!“
„Ah, ich entdecke in diesem Augenblick ein reizendes Spionirtalent an meinem Mühmchen! … Nun ja, ich will’s nur gestehen, ich habe eine engelschöne Italienerin hier; aber ich spüre nicht die mindeste Lust, sie irgend Jemand zu zeigen, aus dem einfachen Grunde, weil ich sie für mich ganz allein behalten will!“
„Pfui, wie ungalant!“ riefen Alle zugleich und huschten schnell vorüber, denn es fielen schon große Tropfen. Gleich darauf wurde die Gartenthür zugeschlagen.
Jetzt drehte sich Werner rasch um und zog Magdalene, die eben hinauseilen wollte, in das Zimmer zurück. Es war eine merkwürdige Veränderung plötzlich mit ihm vorgegangen. Wo war die Marmorglätte seiner Züge, die kalte Ruhe seiner Augen geblieben? … Die Hand des jungen Mädchens festhaltend, sagte er mit bebender Stimme:
„Sie dürfen dies Zimmer nicht verlassen, bevor Sie mir eine Bitte erfüllt haben.“
Magdalene sah erstaunt und erschreckt auf. Aber er fuhr fort:
„Vor einigen Stunden haben Sie mir erklärt, daß Sie mich hassen … jetzt bitte ich Sie, mir hier diese wenigen Worte zu wiederholen.“
Magdalene entzog ihm hastig die Hand und stammelte kaum hörbar: „Wozu das?“
„Das will ich Ihnen nachher erklären – wiederholen Sie!“
Das junge Mädchen lief in heftigster Bewegung tiefer in das Zimmer hinein. Sie kehrte Werner den Rücken zu und rang in stummer Angst die Hände. Plötzlich drehte sie sich um, drückte die verschränkten Hände vor die Augen und rief mit erstickter Stimme:
„Ich – kann es nicht!“
Da fühlte sie sich stürmisch von zwei Armen umschlungen.
„Du kannst es nicht, und warum nicht? … weil Du mich liebst, Magdalene! Ja, Du liebst mich!“ rief Werner jubelnd und löste ihr die Hände vom Gesicht. „Laß mich Deine Augen sehen! … Ist das ein Gefühl, dessen Du Dich zu schämen hättest? … Sieh’ mich an, wie glücklich und stolz ich bin, indem ich Dir sage: ich liebe Dich, Magdalene!“
„Das ist unmöglich! … Jene Eiseskälte, die mich zur Verzweiflung brachte –“
„War genau so gemeint, wie Deine Schroffheit, die mich jedoch durchaus nicht verzweifeln ließ,“ unterbrach sie Werner lächelnd. „Kind, mit Deiner Verstellungskunst war es nicht weit her. Was Deine Lippen mit herben, bitteren Worten gegen mich sündigten, das sühnten Deine Augen … Ich habe Dich geliebt seit jenem Augenblick, wo ich Dich auf dem Thurme sah. Die Erzählungen des alten Jacob, die ich herauslockte, ohne daß er es merkte, enthüllten mir Deine ganze innere Welt und ließen mich erkennen, daß es mir beschieden sei, einen kostbaren Schatz zu heben, an welchem Hunderte vorübergegangen waren, ohne ihn zu bemerken.
… Aber ich wußte auch, daß der Vogelsteller, der dies seltene Vöglein einfangen wollte, auf seiner Hut sein müsse, denn es war scheu und blickte mit mißtrauischen Augen in die Welt. Desbalb hatte ich den Panzer einer kalten Ruhe angelegt und vermied jede heftige Bewegung, sowohl in dem, was ich sagte, wie in meinen Zügen … Ich habe Dich unzählige Mal beobachtet, während Du keine Ahnung von meiner Nähe hattest. In der alten stillen Kirche, im Klostergarten, in Jacob’s Stube, wo Du meine Orangen verschmähtest, und auf dem Mauergärtchen, wenn Du den Nachbarskindern Blumen hinabwarfst … Willst Du mein Weib sein, Magdalene?“
Sie richtete sich hoch, mit strahlenden Augen, in seinen Armen auf und hielt ihm, ohne ein Wort zu reden, beide Hände hin. Und so war der Bund zwischen zwei Menschen geschlossen, von denen noch vor wenig Augenblicken jeder fremde Beobachter geglaubt haben würde, daß sie sich abstießen wie Eis und Feuer.
Magdalene verbarg dem Geliebten nun nicht länger, wie tief sie in der letzten Zeit gelitten, und erzählte ihm ihr unterirdisches Abenteuer, wobei sie auch nicht einen Gedanken verschwieg, der ihr da drunten durch die Seele gefluthet war.
„Also den sagenhaften zwölf Aposteln habe ich’s zu danken, daß ich schneller an mein glückliches Ziel kam, als ich zu hoffen wagte!“ rief Werner lachend. „Weißt Du auch noch, was ich Dir bei unserem ersten, so stürmisch endenden Gespräch wünschte?“
„Gewiß – jener Apostel…“
„Ist die Liebe.“
„Aber die schöne Italienerin, von der Jacob sagte –“
„Daß ich sie heirathen würde?“ unterbrach sie Werner lächelnd. „Nun, ich will sie Dir zeigen, diese kleine Neapolitanern, mit den abstoßenden Zügen und dem häßlichen Haar, das trotzdem ein unzerreißbares Netz um mein Herz geschlungen hat.“
Er streifte die Leinwand von der Staffelei. Da saß eine liebliche Mädchengestalt auf der Brüstung eines Thurmfensters und blickte sehnsüchtig und träumerisch hinaus in die Ferne. Die Kopfbedeckung der Neapolitanerinnen lag auf ihren reichen, bläulich schwarzen Flechten; ein weißes Spitzentuch schmiegte sich um den Nacken und verschwand in einem feuerfarbenen Mieder, das die schlanke Gestalt eng umschloß. Das Bild war noch nicht vollendet, aber es versprach ein Meisterstück zu werden.
„Siehst Du, mein Mädchen, das ängstlich den Spiegel meidet, weil es meint, vor sich erschrecken zu müssen, das bist Du!“ sagte Werner. „Aber ich habe oft den Pinsel mißmuthig hingeworfen, denn der eigenthümliche Zauber, der so plötzlich das helle Licht in mir angezündet, spottet aller Farben.“
Ein heftiger Platzregen schlug jetzt prasselnd gegen die Glaswände. In dem Augenblick lief der alte Jacob vorüber, so schnell seine alten Beine es erlaubten. Sein weißes, unbedecktes Haar flatterte im Winde und keuchend trat er in’s Zimmer.
„Ich wollte –“ begann er athemlos.
„Nachsehen, ob Alles in Ordnung sei, alter Jacob?“ unterbrach ihn lächelnd Werner. „Gewiß,“ fuhr er fort, indem er Magdalene dem Alten entgegenführte, „Alles, bis auf das Aufgebot und die Hochzeit … Jacob, was meinst Du, habe ich mir nicht eine schöne Braut ausgesucht?“
Jacob stand wie eine Bildsäule. Er griff zuerst wie geistesabwesend nach seinem Kopfe und lächelte dann wie Einer, der auf einen unverstandenen Spaß einzugehen sucht. Magdalene trat ihm näher und legte, wortlos vor Glück und Seligkeit, den Arm um seinen Hals. Da erst erwachte er aus seiner Erstarrung und sagte, indem Thränen in seine Augen traten:
„Ach, Du Unglückskind, da bist Du ja! Drüben sitzt die Muhme und weint sich die Augen aus. Wie sie nach Hause gekommen ist, hat die Thür offen gestanden und Du warst im ganzen Kloster nicht zu finden. Alles sucht nach Dir, und ich habe Deinetwegen zum ersten Mal meine Pflicht vergessen, denn ich habe vor lauter Angst und Schrecken das Gewitter gar nicht gehört, und da hätte der Regen hier schön auswaschen können … Komm nur gleich mit – die Muhme glaubt Dich womöglich schon im Mohrenlande … Daß Gott erbarm, wie kommst Du nur hierher?“
„Ich habe Dir ja schon gesagt, als meine Braut,“ sagte Werner mit Nachdruck.
„Ach, Herr Werner,“ entgegnete bittend der Alte, „sprechen Sie nicht so. Das Mädchen versteht keinen Spaß, das habe ich Ihnen schon oft gesagt.“
„Ja wohl, lieber Jacob, und ich könnte mich beinahe fürchten, wenn es mir nicht gar so Ernst wäre!“ rief lachend Werner und zog das Mädchen an sein Herz.
[613]
[614] Man muß in der Welt gar Vieles glauben lernen, und so gelangte denn auch endlich der alte Jacob zu der glückseligen Ueberzeugung, daß Herr Werner sein liebes Lenchen wirklich zur Frau Werner machen wollte. Als auch bei der Seejungfer der noch viel länger anhaltende Unglaube, den sie durch Kopfschütteln und ein beständiges Abwehren mit den Händen an den Tag legte, besiegt war, da gab es eine Scene der freudigen Rührung und Ueberraschung in Jacob’s Stübchen, wie sie wohl die alten Mauern in ihrem Leben noch nicht gesehen hatten.
Wie Werner’s Tante und Antonie über diese wie aus heiterem Himmel hereinbrechende Verlobung dachten, wird sich der Leser wohl vorstellen können, da er selbst die Bekanntschaft dieser Persönlichkeiten gemacht hat. Ich meinerseits glaube nicht, daß die Frau Räthin sehr bereitwillig war, zur Vermählungsfeier des unbegreiflichen Neffen Capaune zu braten, die unglücklichen Teppiche ausklopfen zu lassen und das Haus vom Dachboden bis zum Keller herab spiegelblank zu machen, wie sie bei ihren großen Gesellschaften zu thun pflegte, und denke mir, Antonie wird schleunigst eine Besuchsreise zu einer fernen Freundin angetreten haben.
Die Räthin Bauer bezog später eine andere Wohnung, die der Neffe für sie bezahlte. Dafür schlug die Seejungfer ihren Wohnsitz in Werner’s Hause auf und behütete es im Verein mit Jacob treulich, bis das junge Paar, das gleich nach der Trauung eine Reise nach Italien angetreten hatte, zurückkehrte.
Den unterirdischen Gang, der nach seinem Garten führte, hat Werner zumauern lassen. Er meinte scherzend, auf diesem Wege sei das Glück zu ihm gekommen, er müsse ihm für alle Zeiten den Rückzug abschneiden. Er war überhaupt so berauscht von diesem Glück, daß er nicht daran dachte, dem geheimnißvollen Gang irgend welche Aufmerksamkeit zu schenken. Anderweitige Nachforschungen durften sich hinsichtlich des Erfolges nicht mit Magdalenens Entdeckungsreise messen; denn sie fanden Nichts da, wo das junge Mädchen seiner Aussage nach Silber gesucht und Gold gefunden hatte.
Frau Sage kauert nun auf’s Neue in den Klosterecken und deckt ihren grauen Mantel über die geheimnißvollen zwölf Apostel.
Ein Jaguar, der aus einer Menagerie entkommen sein mochte, hatte sich unlängst in ein an der pommerisch-mecklenburgischen Grenze gelegenes Gehölz geflüchtet, dies sich zur Residenz erkoren und, wie uns die Zeitungen berichteten, die ganze Gegend unsicher gemacht und in die höchste Aufregung versetzt, so daß kein Mensch mehr den Wald zu passiren wagte, ja landrathamtlich vor dem Betreten desselben gewarnt wurde. Ein einziger Jaguar, eine Katze, die nur im äußersten Nothfall den Menschen angreift, und meilenweit Furcht und Aufregung! Als wir diese Geschichte lasen, mußten wir daran denken, was unsere geängsteten Pommern erst für Gesichter machen würden, wenn sie mit einem Male sich nach Hinterindien, etwa auf die Halbinsel Malacca versetzt sähen, dort, wo an manchen Orten die Tiger fast so häufig umher spazieren, wie bei uns die Hasen, notabene – wenn diese nicht erfroren sind.
An dem äußersten Ende dieser Halbinsel Malacca liegt eine Hafenstadt, deren rascher Aufschwung eines der glänzendsten Beispiele von den segensreichen Wirkungen des Freihandels ist. Ihr Gründer, Sir Stamford Raffles, hatte als englischer Statthalter von Java die Bedeutung des Verkehrs mit dem östlichsten Asien kennen gelernt. Um diesen Verkehr nach der Zurückgabe der Sunda-Inseln an Holland für sein Vaterland zu gewinnen, kaufte er von einem Radscha der Malaien eine kleine, fast öde Insel, auf der blos wenige arme Fischer lebten, und baute an einer geräumigen Bucht eine Stadt. Die ungemeinen Vortheile der Lage dieser neuen Stadt Singapore, die für alle von Ostasien kommenden oder dorthin gehenden Schiffe der bequemste Hafenplatz ist, verstärkte Sir Stamford Raffles durch vielerlei Handelserleichterungen.
Dank diesen weisen Maßregeln, in denen keine Aenderung eingetreten ist, hat sich Singapore zu einem Welthafen und zu einem Stapelplatz erhoben, in welchem die Erzeugnisse aller Welttheile gegen einander ausgetauscht werden. Aus dem armen kleinen Fischerdorfe ist eine Stadt mit 100,000 Einwohnern geworden; in der Bucht, die früher blos Kähne und hin und wieder ein paar schwerfällige Küstenfahrer sah, herrscht ein lebhafterer Verkehr als in irgend einem andern Hafen Ostasiens; in den Straßen drängen sich Angehörige der kaukasischen, indischen, malaischen und mongolischen Völkerstämme. Auch über die Insel, auf der Singapore wie zu Gast ist, hat sich die Cultur verbreitet. Rings um die Stadt ziehen sich die Landhäuser reicher Kaufleute, weiterhin auch Pflanzungen, in denen Chinesen Pfeffer, Zucker, Reis und Perlsago gewinnen. Nur in einer Beziehung hat die Wildniß sich nicht besiegen lassen: die Insel wird von jenen Bestien geplagt, deren wir oben gedachten, von Tigern, denen jedes Jahr einige hundert Menschen zum Opfer fallen.
Zur Zeit der Besitznahme der Insel durch die Engländer scheint sie von Tigern frei gewesen zu sein. Die Eingeborenen behaupten das einstimmig, und in der That würde das kleine Eiland, dessen vier Geviertmeilen damals fast ganz mit Walddickichten bedeckt waren, den großen Bestien keine genügende Nahrung geboten haben. Elf Jahre nach der Gründung Singapore’s (1835) wurde der erste Tiger bemerkt. Eines Tages ging ein Herr Doleman mit Instrumenten und Arbeitern aus, um eine Straße anzulegen. Eine deutsche Meile von der Stadt entfernt, stellte er seinen Theodoliten auf und wollte eben seine Beobachtungen beginnen, als es im Gebüsch krachte und im nächsten Augenblicke ein ungeheurer Tiger mitten in den Menschenhaufen hineinsprang. Zum Glück traf seine Tatze keinen Menschen, sondern den Theodoliten, wie dies unsere Abbildung darstellt, und er eilte nach seinem Fehlsprunge davon, wie man es bei Tigern häufig beobachtet haben will. Woher der Tiger gekommen war, entdeckte man bald darauf. Malaische Fischer, die in dem Canal zwischen der Insel und dem Festlande Netze aufgestellt hatten, fanden in einem derselben einen ausgewachsenen weiblichen Tiger. Von der Insel konnte er nicht gekommen sein, weil er sonst näher an derselben sich in den dort aufgestellten Netzreihen verfangen haben würde. Es ist mit Gewißheit anzunehmen, daß alle Tiger Singapores von dem Festlande herüberschwimmen. Der Canal ist schmal, vielleicht nicht viel breiter als der Rhein bei Köln.
Die Zunahme des Anbaues lockt immer mehr Tiger vom Festlande herüber. Die Walddickichte bieten ihnen Schlupfwinkel, aus denen sie in die Pflanzungen hervorbrechen. Auf Landstraßen und in belebtere Gegenden wagen sie sich blos Nachts, an der Grenze der Culturen zeigen sie sich auch am Tage. Die furchtsamen und sorglosen Chinesen sind eine leichte Beute für sie. Jeden Tag findet mindestens einer seinen Tod durch einen Tiger und trotzdem werden sie nicht vorsichtig, arbeiten einzeln in der Nähe des Waldes, oder ruhen wohl gar am Boden sitzend aus, den Rücken der Gegend zukehrend, von welcher die Gefahr droht. Unhörbar schleicht der Tiger heran, macht seinen Sprung und zerschmettert dem Chinesen mit einem einzigen Schlage der Tatze die Halswirbel. Alle von Tigern Getödteten, die man gefunden hat, trugen diese Verletzung, auf welche wahrscheinlich ein augenblicklicher Tod gefolgt war. In der Nähe der Stadt kann man bei Tage unbewaffnet umhergehen und hat nichts zu besorgen. Die Europäer glauben, daß der Tiger sie verschone und blos unter Chinesen, Malaien und Hindus seine Beute suche. Gewiß ist, daß man seit Menschengedenken von keinem Angriff eines Tigers auf einen Weißen gehört hat, obgleich diese Raubthiere zuweilen nahe an die Stadt herankommen. Als Gustav Spieß in Singapore war, hatte ein Tiger dicht vor Singapore, kaum einen Büchsenschuß von dem Hause einer europäischen Familie entfernt, einen Hindu von einem offenen Wagen heruntergerissen.
Für jeden erlegten Tiger wird, zur Hälfte von der Regierung und zur Hälfte von einer Gesellschaft von Kaufleuten, eine Prämie von zehn Pfund Sterling bezahlt. Die Jagd mit der Büchse ist nicht so gebräuchlich, wie der Fang in Gruben. Hat [615] man durch Beobachtungen die Stelle kennen gelernt, wo ein Tiger aus dem Dickicht zu treten pflegt, so gräbt man ein Loch, das bei nur acht Fuß Weite zwanzig Fuß tief ist, und überdeckt es mit einer Doppelschicht von dünnen Aesten und dürrem Laub, so daß es von dem angrenzenden Boden nicht zu unterscheiden ist. Tritt der Tiger an dieser Stelle wieder aus dem Dickicht heraus, so bricht er durch und stürzt in die Grube. früher waren unten spitzige Pfähle angebracht, auf welchen der Tiger sich spießte. Seit ein Glaubensbote in einer solchen Grube einen qualvollen Tod gefunden hat, läßt man die Pfähle weg und tödtet entweder den Tiger durch Schüsse oder fängt ihn. Ist er ein schönes Thier, so läßt man ihn erst zwei oder drei Tage hungern, fesselt ihm durch herabgelassene Schlingen die Tatzen und zieht ihn heraus, um ihn zu verkaufen. Die Tigergruben sind auch ohne Pfähle eine Gefahr, vor der man fremde Europäer dringender warnt, als vor dem Tiger selbst.
Die Jagd mit der Büchse wird auf eine ungefährliche Weise betrieben. Man weiß, daß der Tiger, der einen Menschen erschlagen hat, ihn eine Strecke fortschleppt, sich sättigt, sein Versteck aufsucht und nach vierundzwanzig Stunden zurückkehrt, findet man eine Leiche, so läßt man sie ruhig liegen und baut auf dem nächsten Baume einen Sitz für den Jäger. Der Tiger kommt fast immer wieder und wird erlegt. Ein ehemaliger amerikanischer Officier, der die Ausrottung der Tiger um Singapore als seine Aufgabe betrachtete, hat auf diese Art schon eine ziemliche Anzahl getödtet. Vermindert wird die Zahl der Tiger durch alle Nachstellungen nicht, und man will sogar wissen, daß sie sich vermehren. Es giebt gegen diese Noth nur ein Mittel: die rasche Ausdehnung des Anbaues. Mit jedem Dickicht, das unter der Axt fällt, verschwindet ein Versteck der Tiger, und die gänzliche Ausrodung des Waldes treibt die verderblichen Raubthiere auf das Festland zurück, von dem sie eingewandert sind. –
Zu den beliebtesten Schauspielen gehören auf mehreren ostasiatischen Inseln, namentlich auf Java und Sumatra, die Kämpfe zwischen Tiger und Büffel, welche, wie in Spanien die Stiergefechte, von den verschiedenen Fürsten und Residenten auf jenen Eilanden bei besonderen festlichen Gelegenheiten zur Ergötzung des Volkes veranstaltet zu werden pflegen. Bei diesen Kämpfen ist indeß der Tiger regelmäßig die unterliegende Partei.
In einer aus Bambus errichteten kreisförmigen Umzäunung, an der zugleich in verschiedenen Etagen Schautribünen angebracht sind, befindet sich der Büffel, manchmal, um das Ganze mannigfaltiger zu machen, auch noch anderes Gethier, etwa ein Affe, ein Hund, ein Ziegenbock u. a. m. Jetzt tritt der Tiger aus einer Seitenthür in den Kreis, durch längeres Fasten sehr zahm und versöhnlich gestimmt, kaum mehr das Ebenbild seiner Brüder draußen in der Freiheit des Dickichts.
Er scheint wirklich allerfriedlichste Gesinnungen zu hegen, denn matt und träge mit schleppendem Schweife schleicht er am Rande der Schranke hin und meidet den Büffel, welcher, den Kopf vorgestreckt, mit glühenden Augen, dem Feinde die Stirn bietet. Mit einem Male stürzt dieser auf den wilden Stier, allein er prallt an dessen Hörnern zurück, wird überrannt und in den Sand geschleudert. Zwar richtet er sich wieder auf, doch seine Kraft ist gebrochen und es geschieht selten, daß er sich noch einmal ermannt; vielmehr äußert er seine Wuth nur durch ein dumpfes Knurren und grimmiges Zähnefletschen, höchstens bringt er dem Büffel noch einige Bisse an Kehle und Schenkeln bei, ehe er, unter den Klängen einer ohrenzerreißenden Musik, sich müde niederlegt und unter gräßlichen Zuckungen verendet.
In größere Tiefen ist bisher noch kein Blick hinabgedrungen. Was viele sogenannte populäre Naturgeschichten von Tiefen von tausend Fuß und mehr fabeln, in welche geschickte Taucher sich hinabgelassen haben sollen, ist eitel Uebertreibung. Der Mensch könnte nicht einmal den Athem so lange anhalten, wie zur Erreichung einer solchen Tiefe nöthig wäre. Genauere Messungen würden leicht zeigen, daß eine Tiefe von einhundert und fünfzig bis höchstens zweihundert Fuß die äußerste Grenze ist, die der Mensch ohne Vorrichtungen erreichen kann. Die Perlenfischer von Ceylon und Bengalen tauchen nur bis in eine Tiefe von vierzig Fuß und können kaum mehr als eine halbe Minute aushalten.
Aber auch die Tauchapparate reichen nicht viel weiter. Früher hatte man die Taucherglocke – einen ungemein großen, unbehülflichen Apparat, in welchen eine gewisse Quantität Luft eingelassen war, die dem Tauchenden das Athmen gestattete man hat sie jetzt allgemein verlassen, um dagegen den Taucherhelm zu gebrauchen – eine geschlossene, mit Augengläsern versehene Sturmhaube, welche auf den Schultern aufsitzt und in die durch eine Luftpumpe vom Bord aus beständig frische Luft eingepumpt wird. Bei gehörigen Vorrichtungen im Schiffe, von welchem aus man taucht, bei guter Einübung der Leute, welche die Pumpen dirigiren und auf die Signale, die der Taucher aus der Tiefe giebt, Acht haben, und bei zweckmäßiger Auswahl der Taucher ist diese Einrichtung vollkommen, sobald man von gutem Wetter und ruhiger See begünstigt wird. Nicht Jeder kann aber selbst in geringer Tiefe diese Maschine vertragen. Sie übt dieselbe Einwirkung, wie die Röhren, in welchen bei den neueren Brückenbauten Menschen in verdichteter Luft unter einem Drucke von einigen Atmosphären arbeiten. Viele sind unfähig, es in einer solchen Röhre auszuhalten; unerträgliche Schmerzen in den Ohren zwingen sie, in gewöhnlichen Atmosphärendruck zurückzukehren. Von zweien meiner Freunde, die an der sicilischen Küste den Taucherhelm zu unterseeischen Untersuchungen benutzten, war der eine nicht im Stande, den Druck der Luft nur unter vierzig Fuß Wasser zu vertragen, während der andere sich dabei ganz wohl befand.
So ist es denn begreiflich, daß alle die unterseeischen Apparate, die Tauchkammern und untermeerischen Kameele Bauer’s und wie alle die unzähligen Erfindungen heißen mögen, von denen die Gartenlaube früher Kunde brachte – daß alle diese Apparate ebenfalls in keine größere Tiefe als dreihundert Fuß (fünfzig Faden) reichen und daß also Alles, was unterhalb dieser Tiefe sich findet, bis jetzt fast vollkommen unzugänglich war. Je tiefer man hinabsteigt, desto größer wird der Druck, welchen das Wasser auf die Apparate ausübt, so daß starke Metallröhren wie Wachs zusammengedrückt werden. Die Substanz müßte erst noch erfunden werden, welche fähig wäre, dem Drucke einer Wassermasse von tausend und mehr Faden Mächtigkeit zu widerstehen! Und doch wäre dies nöthig, wenn der Mensch selbst oder ein anderes luftathmendes Wesen in diese Tiefen dringen wollte – es müßte ihm ein hohler, mit Luft gefüllter Raum geschaffen werden, in dem er athmen könnte.
Für größere Tiefen über fünfzig Faden müssen also andere Hülfsmittel geschaffen werden. Die Naturforscher haben hierzu in ausgedehntestem Maße das Schleppnetz (drague im französischen, dredge im Englischen) benutzt, und besonders sind es englische und nordische Forscher, welche bedeutende Resultate damit erzielt und große Strecken der europäischen Meere auf diese Weise durchsucht haben. Die Austernfischerei hat zu diesen Forschungen den Anstoß gegeben.
Ich habe einmal einen Monat in St. Malo zugebracht. Wie in Frankreich Alles reglementirt ist, so auch die Austernfischerei. Die Boote, welche sie betreiben, müssen nach vorgeschriebenem Modell ausgerüstet, mit einer bestimmten Anzahl von Leuten bemannt sein und dürfen nur zur genau regulirten Zeit fischen. Es war ein schöner Anblick, wenn Hunderte von diesen Booten auf das Zeichen eines Kanonenschusses ihre Segel entfalteten und dann, weißen Schwänen gleich, aus der Bucht an meinem Fenster vorbei zu den Bänken flatterten, die in einiger Entfernung von der Küste sich befinden. Das Schleppnetz selbst ist ein grober, an einem eisernen Rahmen befestigter Beutel, welcher mittelst einer Winde in die Tiefe von höchstens dreihundert Fuß hinabgelassen wird. Die [616] eine Seite des Rahmens ist von einer schweren Eisenklinge gebildet, die sich auf den Boden legt. Nun rudert oder segelt man mit günstigem Winde und kratzt so den Boden ab. Was die Klinge losscheuert, fällt in den Sack, der sich bald füllt. Jetzt wird er mit der Winde in die Höhe gehoben, geleert und auf’s Neue hinabgelassen. Es wimmelt darin von Meerthieren aller Art. Austern, Seesterne, Seeigel, Würmer, Schnecken und Muscheln, Korallen und Seescheiden, Schwämme und Tange füllen den Beutel, der sorgsam erlesen wird. Was die Fischer wegwerfen, ist gerade für den Naturforscher das Interessanteste, so daß man leicht mit den Leuten für Ueberlassung dieser Beute sich verständigen kann.
Aber das Geschäft hat seine Schwierigkeiten. Der Boden ist nicht gleich bevölkert; wo eine echte Austernbank ist, finden sich nur wenig anderweitige Thiere, und die Fischer haben natürlich keine große Lust, an austernleeren Orten zu fischen, selbst wenn man ihnen den Verlust reichlich ersetzt. Sie fürchten den Spott der Cameraden. Das Schleppnetz selbst aber verlangt eingeübte Arbeiter. Bald ist der Wind zu schwach, bald zu stark; der hohe Wellengang läßt eine geregelte Arbeit nicht zu; die Klinge hakt sich an einem Felsen fest und das Tau reißt, an welchem das Netz geschleppt wird, sobald man zu stark anzieht, während wieder bei größerer Lockerheit das Instrument über den Boden gleitet, ohne gehörig aufzukratzen. Der Patron der Arche hat deshalb beständig die Hand am Tau, und die Leute müssen höchst aufmerksam auf seine Befehle sein.
Will man aber in noch größere Tiefen dringen, so wird das Schleppnetz außerordentlich unsicher. Es gehören dann größere mechanische Vorrichtungen dazu, weil im Verhältniß zur Tiefe das Instrument schwerer werden muß. Die Strömungen, welche in verschiedenen Höhen übereinander das Meer durchziehen, wirbeln das Schleppnetz umher; die Fühlung geht verloren; man weiß nicht, ist man auf dem Grunde oder nicht – kurz, eine Schleppnetzfischerei in mehreren hundert Faden Tiefe ist eine außerordentlich schwierige, zeitraubende, ja fast unmögliche Operation. Als Maury sein berühmtes Werk über die physische Geographie des Meeres schrieb (jetzt vor etwa zehn Jahren), konnte er mit vollem Rechte sagen: „Es war Keinem gelungen, aus einer größeren Tiefe als dreihundert Faden (eintausend achthundert Fuß) irgend welche feste Stoffe für das Studium der Naturforscher emporzubringen, ja überhaupt nur wesentlich tiefer in die Wasserhülle unseres Planeten einzudringen!“
Die einzigen Untersuchungsmittel, welche wir jetzt noch für größere Tiefen besitzen, bestehen in dem Messungslothe und seiner Leine. Aber es ist keine Kleinigkeit, größere Tiefen, wie sie in dem Ocean vorkommen, zu lothen, und man muß, etwa in Maury oder in einem anderen technischen Werke, die betreffenden Capitel nachlesen, um sich zu überzeugen, daß man früher in der That kein sicheres Mittel hatte, das Loth bis auf den Grund großer Tiefen in senkrechter Linie zu bringen und andererseits sich zu vergewissern, ob es auch wirklich den Boden berührt habe. Endlich kam man darauf, besonderen Bindfaden machen zu lassen, der einem Gewichte von sechszig Pfunden widerstehen konnte, ohne zu reißen, und eine zweiunddreißigpfündige Kanonenkugel als Loth zu benutzen. Etwa sechshundert Fuß dieses Fadens wiegen ein Pfund, und da man Tiefen von dreißig- bis vierzigtausend Fuß zu messen und bei jeder Messung den größten Theil des Fadens, früher wenigstens, verloren geben mußte, so bedurfte es begreiflicher Weise bedeutender Quantitäten von Bindfaden. Bald stellten sich noch größere Schwierigkeiten heraus. Vom Schiffe aus war es unmöglich, solche Sondirungen vorzunehmen, man mußte ein Boot aussetzen und mit den Rudern dahin wirken, daß die Leine stets senkrecht ablief; man mußte endlich irgend eine Vorrichtung erfinden, um sich überzeugen zu können, daß das Loth wirklich den Boden berühre, denn man fand bald, daß die Leine beständig ablaufe, wenn auch der Grund längst erreicht war, weil die Strömungen den Faden links und rechts abtrieben.
Endlich erfand der Seecadett Brooke von der Vereinigten-Staaten-Flotte einen Apparat, der durch Aufbringung von Bodenproben die Sicherheit der Berührung gewährt. Die Kanonenkugel ist durchbohrt und durch dieses Loch geht ein Eisenstab, der innen hohl und am Ende mit Talg beklebt oder auch mit einer Klappenvorrichtung versehen ist, welche sich öffnet, sobald der Stab auf den Boden stößt, und sich wieder schließt, wenn er in die Höhe gezogen wird. Die Kanonenkugel selbst hängt in einem Ringe und mit Faden so an dem oberen Theile des Stabes, daß sie sich augenblicklich abhakt, sobald der Apparat den Grund berührt. Geschieht dies, so bleiben an dem Talg des Stabes Proben des Grundes hängen, etwas Schlamm wird bei der Oeffnung der inneren Klappenvorrichtung in die Röhre hineingeschlürft und darin bei dem Aufhaspeln festgehalten, und Letzteres geschieht um so leichter, als die schwere Kanonenkugel, die sich abgelöst hat, auf dem Grunde liegen bleibt.
Mittelst dieses Apparates, der bis jetzt besonders zur Sondirung derjenigen Strecken benutzt wurde, auf welchen man unterseeische Telegraphentaue legen wollte, ist es gelungen, Proben des Meeresgrundes bis zu einer Tiefe von fünfundzwanzigtausend Fuß hervorzuholen, wo man zugleich über die wirkliche Tiefe durchaus sicher war; ja einigen Angaben zufolge soll man in dem stillen Meere bis auf achtundvierzigtausend Fuß Tiefe gelangt sein. Fast die doppelte Höhe der höchsten Berge der Erde! Und diese bilden nur einzelne, aufragende Spitzen, während diese Meerestiefen über weite Strecken mit geringen Veränderungen sich hinziehen!
Begreiflicher Weise kann eine solche Sondirung nur höchst dürftige Notizen über die Bewohner der blauen Tiefe bringen. Ein Pfund Talg mit einer Oberfläche von einigen Quadratzoll, eine enge Eisenröhre, in der kaum ein Glas Wasser Raum hat, sollen uns Auskunft geben über diese weiten, unterseeischen Tiefenstrecken, welche die halbe Oberfläche unseres Erdballs einnehmen, über die Organismen, sowohl thierischen wie pflanzlichen Charakters, welche sich dort finden! Man sieht, unsere Mittel der Untersuchung nehmen um so mehr an Umfang und Schärfe ab, je weiter wir vordringen. Trotz allen unzweifelhaften Erfindungstalentes des Urhebers ersetzt die Bauer’sche Taucherkammer nur höchst unvollkommen das unmittelbar wirkende Auge; das Schleppnetz liefert blos einen mageren Ersatz für den in geringeren Tiefen anwendbaren Tauchhelm, und die Sondirleine mit dem Brooke’schen Lothe ist nur ein unbeholfenes und höchst ungenügendes Werkzeug gegenüber dem Schleppnetze.
Was kann in der That ein solches Loth an das Tageslicht bringen? Einige auf dem Boden befindliche Pflänzchen oder Thierchen vielleicht, die es gerade trifft und die an dem Talge hängen bleiben oder beim Oeffnen der Klappenvorrichtung mit dem Wasser in den Hohlstab hineingerissen werden: einige kriechende Wesen, welche sich auf irgend eine Weise an die Leine klammern und mit in die Höhe gezogen werden. Wie gering ist diese Ausbeute, wenn es überhaupt auf dem Meeresboden in der blauen Tiefe organisches Leben giebt; wie unendlich klein die Aussicht, ein gewinnendes Loos zu treffen!
Für manche Schlüsse genügt es indessen schon, durch solche Untersuchungen constatirt zu haben, daß ein organisches Leben in der blauen Tiefe existirt – denn frühere, mit dem Schleppnetze im ägäischen Meere ausgeführte Forschungen wollten schon bei einigen hundert Faden Tiefe jegliches Leben aus dem Meere geschwunden finden, wozu man auch herrliche Gründe in dem großen Drucke der Wassersäule, in dem Mangel alles Lichtes und wer weiß in noch welchen physikalischen Verhältnissen finden wollte. Man vergaß, daß das Meerthier in der Tiefe ebenso wenig den Druck des Wassers fühlt, als der Mensch den Druck der Luft an dem Grunde des Luftmeers, in welchem er lebt, eben weil der Körper des Meerthieres in gleicher Weise und noch mehr durchdringlich für das Wasser ist, als der Körper des Luftthieres für die Luft; ja daß dieser Druck sich um deswillen noch weit weniger fühlbar macht, weil das Wasser nicht elastisch und nicht zusammendrückbar ist wie die Luft, seine Dichtigkeit also mit zunehmendem Drucke kaum zunimmt, während die Luft gerade die entgegengesetzte Eigenschaft besitzt. Man vergaß, daß Versuche über die Einschluckung des Lichts durch das Wasser, welche nur an kleinen Mengen gemacht waren und bei gleichmäßiger Abnahme bereits in wenigen hundert Faden Tiefe vollständige „purpurne Finsterniß“ berechnen ließen, schon in dem Umstande eine Widerlegung finden konnten, daß manche seltene, in großen Tiefen lebende Fische, wie der Teleskop-Fisch verhältnißmäßig ungeheure Augen besitzen, während die in wirklicher Finsterniß lebenden Höhlenthiere, wie der Olm aus den Höhlen Krains und die Fische aus den Höhlen Kentuckys, gar keine oder nur ganz rudimentäre Augen besitzen. Bald belehrte auch der Fund schön gefärbter Kammmuscheln in großen Tiefen, daß dort unten doch noch Licht hinkommen müsse – denn wie läßt sich Farbe ohne Licht denken?
[617] Hier komme ich auf die zufälligen Dienste, welche der Naturforschung durch die Industrie geleistet wurden. Zuweilen ziehen Fischer aus sechshundert bis eintausend Faden Tiefe einen Seestern, eine Koralle, eine Muschel hervor, welche an ihren Netzen oder Angeln in irgend einer Weise verstrickt geblieben ist – besonders dann, wenn der Sturm ihre Geräthschaften in Unordnung gebracht und die Schwimmer, welche Netze und Angeln an der Oberfläche halten sollten, abgerissen hat. Einem solchen Zufalle verdankten wir ohne Zweifel den schönen Baum einer seltenen Koralle (Fig. 1), der heute in dem Senkenbergischen Museum in Frankfurt aufgestellt ist und der in der Nähe des Pippertind-Gletschers am Lyngen-Fjord am Strande lag neben dem Boote des Küstenlappen, der ihn weggeworfen hatte.
Noch mehr Belehrung werden uns künftig die Telegraphentaue bieten. Von Zeit zu Zeit wird immer wieder eines derselben herausgefischt werden müssen, und da jetzt fast alle kleineren Meere von solchen Kabeln durchzogen sind, so wird nach und nach, wenn die herausgefischten Stücke nur lange genug in der Tiefe gelegen haben, an diese Stücke ein ganzes Studium sich anknüpfen lassen. Sehr langer Zeit bedarf es freilich nicht; ich habe ein Stück des unterseeischen Kabels vom rothen Meere gesehen, an welchem eine fingerlange Koralle sich angesetzt hatte, obgleich das Tau der Versicherung des Ingenieurs zufolge sich nur zwei Jahre im Meere befunden haben sollte. Milne Edwards, der Sohn, hat Gelegenheit gehabt, ein Stück des Taus zu untersuchen, welches die Verbindung zwischen Cagliari auf der Insel Sardinien und Bona in Algier vermittelt hatte und das zwei Jahre lang in einer Tiefe gelegen hatte, die zwischen 2000 und 2800 Meter (6000 und 8400 Fuß) wechselte und genau gemessen worden war.
Diese einzige Beobachtung aus einem Meere, in dessen östlicher Fortsetzung, dem ägäischen Archipel, das Schleppnetz aus der geringen Tiefe von 230 Faden (1380 Fuß) kein lebendes Wesen mehr heraufgebracht hatte, schlug eine Reihe von Vorurtheilen mit einem Male zu Boden und sie verdient deshalb etwas näher in das Auge gefaßt zu werden.
Das Tau war mit Muscheln und Korallenpolypen besetzt, die darauf gelebt hatten, denn die Weichtheile waren noch erhalten und die Schalen waren an dem Tau selbst festgewachsen. Die Thiere hatten also in dieser enormen Tiefe von 7000 Fuß im Mittel gelebt, hatten sich dort auf das Tau festgesetzt, wie auf jedem anderen Gegenstand am Boden, waren da gewachsen – hatten also Nahrung und alle übrigen Bedürfnisse eines kräftigen Lebens dort gefunden.
Da saß eine Auster, die Löffel-Auster, die auch in der Zone der Edelkorallen, in etwa 600 bis 1000 Fuß Tiefe, häufig vorkommt, deren Schale sechs Zentimeter im Durchmesser hielt, also völlig ausgewachsen und so über das Tau hinübergewachsen war, daß sie seine obere Hälfte umspannte; anderwärts saß, freilich weniger fest, eine Deckel-Kammmuschel, eine der schönsten Muscheln des Mittelmeeres, von welcher wir hier eine Abbildung (Fig. 2) geben, meist mit brennendrothen oder gelben Farbenbinden geschmückt, die in dieser Tiefe auch nicht im Mindesten gebleicht erschienen; ferner eine andere, nicht minder lebhaft gefärbte Art, der Pecten testae, welcher in den Sammlungen ziemlich selten ist und gewöhnlich nur aus großen Tiefen gefischt wird. Auch Schnecken fehlten nicht: eine Spindelschnecke, so frisch, als komme sie eben lebend aus dem Wasser, und eine Einzahn-Schnecke, die in dem Mittelmeere nur äußerst selten am Strande vorkommt, dagegen bei Bergen in Norwegen nicht selten in geringer Tiefe an den Steinen sitzt – leider stand mir die Art selbst nicht zu Gebote, so daß ich keine Abbildung davon geben kann. Das ist aber eine sehr merkwürdige Thatsache, daß eine fast nordische Schnecke, die, so viel ich weiß, an den englischen, französischen und spanischen Küsten nicht vorkommt, jetzt noch einerseits die Tiefen des Mittelmeeres, andrerseits die norwegische Küste bewohnt, und dies deutet wie mit Fingern auf eine Zeit hin, wo vielleicht eine Verbindung zwischen diesen beiden Meeren quer durch den Continent hindurch, den Thälern der Rhone und des Rheines entlang bestand, eine Verbindung, die man noch aus mehreren andern ähnlichen Thatsachen erschließen kann.
Ferner waren an dem Kabel festgewachsen einige Arten von Korallen und zwar Nelkenkorallen, von denen die eine bis jetzt nur versteinert in den tertiären Schichten von Piemont und Algerien, aber nicht lebend im Mittelmeere gefunden wurde, die andere ganz neu scheint, allein vielleicht auch in Algerien fossil vorkommt; eine dritte Art, vielleicht eine neue Gattung, verwandt mit den vorigen; einige Rindenkorallen und einige Moosthiere, sowie endlich einige Deckelwärmer mit Kalkröhren, die alle wohl erkannt, aber nicht genau der Art nach bestimmt werden konnten.
Betrachtet man sich diese Liste genauer, berücksichtigt man, daß blos kleine Stücke des Taues untersucht werden konnten, so muß man zu der Ueberzeugung kommen, daß nur wenige Typen festsitzender Seethiere fehlen, kurz, daß das aus einer Tiefe von mehr als eintausend Faden gefischte Tau einem nicht minder reichen Leben zur Grundlage diente, als irgend ein nahe an der Oberfläche gelegener Punkt.
Am 25. Mai des Jahres 1809 donnerten die Kanonen von den letzten Resten der ehemaligen Außenwerke Stralsunds herab ihren rauhen Jubelruf in die sonnige Morgenluft hinaus. Er galt dem Triumphe Frankreichs über Oesterreich, der Verherrlichung des Einzuges Napoleon’s in Wien. Jetzt lag das ganze Deutschland besiegt, in schweigender Gebundenheit zu den Füßen des corsischen Emporkömmlings. Was half es, daß die Fluth der Empörung in dem Gemüthe manches Patrioten hoch aufwogte!
[618] die zwingende Macht der Verhältnisse war zu groß, um nicht jeden Versuch der Auflehnung dagegen als hoffnungslose Thorheit erscheinen zu lassen. Auch in Stralsund, dem Hauptort des damaligen Schwedisch-Pommern, herrschte äußerlich Ruhe und Ordnung unter dem fränkischen Regimente, dem es seit dem August 1807, nach halbjährigem, tapferem Widerstande, verfallen war. Seitdem hatte man seine bedeutenden Festungswerke darniedergeworfen und es befand sich gegenwärtig nur eine kleine Besatzung daselbst, etwa einhundert und fünfzig Mann Artillerie unter dem Befehl eines Capitains. Schmetternde Marschmusik ertönte an dem gedachten Morgen, ihr nach zogen die fremden Krieger durch die Straßen der Stadt, jeder einzelne stolz in dem Bewußtsein, der großen Nation anzugehören, ein Glied des gewaltigen Kolosses zu sein, der den Erdkreis umspannen zu wollen schien.
Der kriegerische Schall drang jetzt mit verstärkter Deutlichkeit zu den Ohren eines Mannes, der im Erdgeschoß eines Eckhauses am sogenannten Schildsod zum Fenster getreten war, die Stirn an das Holzkreuz desselben lehnend. So stand er lange. Das heitere Familienbild hinter ihm im Zimmer zog ihn nicht an. Am Frühstückstische im sauberen Hauskleide jener Zeit sein noch junges, hübsches Weib mit den Kindern, einem blühenden Knaben und einem Mädchen, ihr gegenüber seine alte Mutter, deren ergrautes Haupthaar ein farbiges Tuch nach schwedischer Sitte umhüllte. – Vom Festlärm draußen offenbar schmerzlich berührt, hatte er mit einer fast heftigen Bewegung dem Fenster den Rücken gekehrt. Die Arme verschränkt, blickte er finster und voll innerer Aufregung gerade vor sich hinaus. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann, gegen vierzig Jahre alt und von regelmäßigen Gesichtszügen; seine zugleich straffe und ungezwungene Haltung verrieth, trotz der bürgerlichen Kleidung, die er trug, den ehemaligen Soldaten. In der That hatte der frühere Ingenieur und Artillerielieutenant Petersson lange im activen Dienst der schwedischen Krone gestanden und als solcher auch die Vertheidigung von Stralsund während der Belagerung mit durchgefochten. Wegen eines falschen Verdachts war er seiner Stellung enthoben worden und beim Abzuge seiner Landsleute hier geblieben, hatte sich ein Haus erworben und füllte die seinem thätigen Geiste wenig zusagende Mußezeit durch Unterrichtgeben, besonders im Zeichnen, aus.
In seine Gedanken versunken, merkte er es nicht, daß die alte Frau mit den Kindern das Zimmer verließ, daß jetzt Stille in demselben waltete und seine Gattin mit bekümmerter Miene neben ihm stand. Erst als sie sanft ihre Hand auf seine Schulter legte, schüttelte er wie unwillig über diese Störung das Haupt und drehte sich hinweg. Mit schallenden Schritten durchmaß er eine Weile hastig das Wohnzimmer, noch immer schweigend, bis nach und nach seine Bewegung langsamer ward, sein verhaltenes Zürnen, sein Gram einzelne Worte fand und er dann, wie schon oft vorher, gegen die theilnehmende Gattin seinen innersten Gefühlen Luft machte. Durfte denn der Verrath, das Unrecht, der Despotismus der Welt Gesetze vorschreiben? Nein! Eine höhere Gewalt, der Geist der Wahrheit, der Gerechtigkeit mußte endlich ein Machtwort darein reden, vor dem alle Tyrannengewalt in Trümmer zerschellte. Eben weil der Frevel so groß, das Unrecht so himmelschreiend, durfte es nicht länger bestehen: es mußte ein Ende nehmen, und zu diesem Ende selber thätig mitzuwirken, sei sein sehnlichster Wunsch. Wie der heldenmüthige Schill, auf den jeder Wackere mit freudig erwachender Hoffnung blicke, möchte auch er wieder hinaus, zu kämpfen, zu siegen, den Haß zu stillen in dem Blute der Franzosen.
Petersson hatte im Sprechen sein Herz erleichtert; die hochgehenden Wogen der Erbitterung ebneten sich und eine hellere Stimmung überkam ihn. Seine Züge gewannen wieder jenes offene und gewinnende Gepräge, welches ihm leise die Herzen zuwandte, wie er sich denn auch einer seltenen Beliebtheit bei seinen Mitbürgern und Bekannten erfreute. Bald darauf verließ der ehemalige Lieutenant, sorgfältig zum Ausgehen gekleidet, das Haus. Die neunte Stunde rückte heran und berief ihn zur Ausübung seiner Lehrerpflicht.
Petersson hatte die Unterrichtsstunde geschlossen. Langsam schritt er durch die Straßen, sein zerstreut umherschweifender Blick gewahrte eine auffallende, unruhige Bewegung. Menschen eilten hin und wieder, fragten, berichteten untereinander; sie kamen aus den Häusern hervor, sahen die Straße entlang, Knaben liefen jauchzend dazwischen. „Der Schill ist hier!“ scholl es ihm entgegen. Was war dies, war es möglich? Was wollte, was konnte –
„Ah, Herr Lieutenant!“ – ein aufgeregter Bürger rief es Petersson zu, den er wie die Meisten noch so betitelte – „wissen Sie schon? Denken Sie sich, der Schill ist plötzlich gekommen, preußische Jäger und Husaren halten auf dem Neuen Markt. Jetzt müssen die Franzosen kopfüber!“
„Ach was, er ist schon wieder fortgeritten.“
„Nein, nichts da! Der französische Capitain ist ja gefangen worden, ich hab’s selbst mit angesehen.“
So tönt es widersprechend durcheinander. Petersson schlug fast laufend die erwähnte Richtung ein: er war erschrocken wie über ein unerwartetes Glück, eine Freude, die plötzlich vom Himmel herabkam; dann mußte er still stehen, sich an die Stirn fassen, blitzschnell jagten sich hinter ihr die Gedanken. Da – sein geübtes Ohr vernahm, unterschied den Lärm kriegerischer Zurüstungen, das Rollen von Geschützen auf dem Steinpflaster, Wagengerassel, Rufen, Geschrei. „Die Franzosen wollen sich wehren,“ klang es ihm entgegen, „Gott im Himmel, was wird es geben!“ Er stürzte vorwärts, er überblickte eine wüste, tumultuarische Scene, einen Auftritt rasender Eile und Geschäftigkeit. Wie rumpelte und toste es durcheinander, wie rannten und schleppten die flinken Franzosen von dieser, von jener Richtung, mit allen nur möglichen schmetternden Flüchen ihrer Muttersprache die Arbeit würzend! Die im Ueberfluß vorhandenen Kriegsmaterialien wurden mit Windesschnelle herbeigeschafft, in Bereitschaft gesetzt, Lafetten gerichtet, Munition aufgefahren; es galt die Haakstraße zu versperren, die Zugänge zu verbarricadiren, Kanonen davor aufzupflanzen.
Petersson mußte sich um Alles zuerst von der Sachlage einen vollständigen Ueberblick verschaffen. Ihm brannte das Herz in der Brust, alle seine Sinne waren geschärft, auf das Höchste angespannt; das Soldatenblut wallte hoch in ihm auf, er fühlte sich wie elektrisirt. Auf Nebenstraßen eilte er vorwärts; nun hieß es: „Die Preußen sind da, Schill ist wiedergekommen!“ Er hörte nur das Eine, hatte nur Gedanken für das Eine. Alles Uebrige um ihn her, die laut ausgesprochenen Befürchtungen, die Besorgniß der Einwohner vor den möglichen Folgen eines blutigen Zusammentreffens, die in bangen Klagen sich Luft machte – es ging spurlos an seinem Geiste vorüber. Aus den höchsten Giebelluken eines Hauses beobachtete er angestrengten Auges jede Bewegung, jeden sich entwickelnden Vorgang unten. Die Schaar der Preußen hatte einen Moment zögernd, unentschlossen auf dem Neuen Markt gehalten, sie schienen mit Ueberraschung die gerüsteten Feinde vor sich, die Mündungen der Kanonen sich entgegen gerichtet zu sehen. Officiere sprengten hierhin und dorthin, mit Ordnen beschäftigt; Petersson glaubte den so hoch von ihm bewunderten Helden unter ihnen herauszuerkennen – ja, er war es, er mußte es sein! Die Franzosen auf der andern Seite, in aller lärmenden Lebendigkeit ihres südlichen Naturells, hielten drohend, schimpfend, herausfordernd bei ihren Geschützen, die herannahenden Preußen trotzig erwartend. Eine prasselnde Salve schmettert in diese hinein, Gewehr- und Kartätschenfeuer – ha! es hat blutig getroffen, rings um den Anführer stürzen sie zusammen. Zwei Officiere sind darunter, einer erhebt sich wieder, schwingt hoch den Säbel empor – nur Einer! Triumphgeschrei von drüben, gellend, überlaut – o, diese Franzosen! Die Preußen wanken, Verwirrung in ihren Reihen, sie ziehen sich eilig zurück. Nur um sich von Neuem zu ordnen, in fester Kampfordnung geht es wieder vorwärts, den Todesschlünden entgegen.
Man kennt den Verlauf des mit ungeheurer Erbitterung geführten Kampfes, man weiß, daß es Petersson war, der, unfähig, länger diesem zuzuschauen, sich durch das tobende Gewirr hindurch zu Schill drängte, ihm seinen Beistand anzubieten. Die zwingende Minute entzündete ein schnelles Verständniß zwischen dem preußischen Major und dem ehemaligen schwedischen Lieutenant, und während jener hier den Streit fortsetzte, führte dieser die seiner Leitung zugewiesenen Jäger und Scharfschützen auf einem Umwege in weitem Bogen in den Rücken der Feinde hinein. Sie erlegten mit ihren weittreffenden Kugeln die französischen Kanoniere neben den Geschützen, von den Luken und Fenstern eines Hauses am sogenannten Katharinenberge herab, das mit seiner Rückseite an den inneren Hof des Zeughauses sich lehnte. Der [619] Sieg ward durch diese entscheidenden Vorgänge unverzüglich herbeigeführt. Was von den Franzosen noch die Waffen trug, ward in der noch kochenden Wuth des Kampfes zusammengehauen; der Ueberrest erhielt Pardon, welchen nur der Capitain, der, gezwungen sein Ehrenwort brechend, die Vertheidigung geleitet hatte, anzunehmen verschmähte.
Es war kurz nachher, als der zum letzten Male siegreiche Schill dem zur gelegenen Zeit genahten Helfer mit kräftigem Druck der Hand seinen Dank, seine Anerkennung aussprach und dieser, hingerissen von seiner Begeisterung für Denjenigen, dessen überraschende und glückliche Handstreiche, dessen treue Hingebung für seinen König ihn so bald zum Liebling des Volkes gestempelt hatten, ihm seinen Arm und mit diesem alle Hülfsquellen seines Geistes zur Verfügung stellte. Schill nahm freudig dies Erbieten an, und Petersson trat unter seinem früheren Rang in preußische Dienste. Man nahm die vorhandenen Kriegsbedürfnisse und Vorräthe in Augenschein und ihr reichlicher Befund mochte wohl in der Seele des preußischen Anführers die so hartnäckig in ihm festgewurzelte Idee, sich in Stralsund zu behaupten, mit verstärkter Macht rege machen. Aber die Festung lag darnieder, war vernichtet und der nachsetzende Feind ihm auf den Fersen; es war nicht denkbar, die schützenden Wälle und Bastionen unter den die grösste Eile gebietenden Verhältnissen wieder herzustellen.
„Wenn es sich nur darum handelt,“ rief Petersson mit blitzenden Augen, „so verpflichte ich mich auf Ehrenwort, falls ich über die nöthigen Mittel und Arbeitskräfte gebieten kann, in kürzester Frist, ja im Zeitraum einer Woche, die Festungswerke vollständig aufzurichten.“
Schill erfaßte begierig diesen Vorschlag, und von jetzt an begannen für den Lieutenant Petersson Tage rastlosen Wirkens, einer nie ermüdenden Thätigkeit, die, wenn sie hinterher auch nicht von dauernden Erfolgen gekrönt wurde, doch das Talent und die Thatkraft dieses Mannes bewundern läßt, der die zertrümmerten, geschleiften Verschanzungen fast gänzlich neu wieder aufrichtete. Auf das Innigste vertraut mit jeder Einzelheit der Fortification, wie sie unter den Schweden hier gewesen, konnte er den ursprünglichen Plan getreu wieder herstellen. Bald starrten Palissaden drohend empor, die Gräben wurden ihres Schuttes entleert, die Wälle mit ihren Brustwehren wuchsen wie durch Zauberschlag in die Höhe; die Thore, auf die das meiste Augenmerk der Vertheidigung sich richtete, waren nach Verhältniß größtentheils schon trefflich befestigt. Alle diese Dinge in’s Werk zu setzen waren zahlreiche Kräfte aufgeboten worden. Tag und Nacht ging die Arbeit mit ungeheuerer Anstrengung ohne Unterbrechung fort: Hunderte von herbeorderten Landleuten und Tagelöhnern waren im Verein mit der Mannschaft beim Schanzen thätig; Schaufeln und Hacken ruheten nimmer, während unzählige Karren nach allen Richtungen hin sich kreuzten. Auch mancher müßig einherschlendernde Bürger sah sich durch die entblößte flache Säbelklinge des preußischen Befehlshabers zur Mitwirkung an diesem Schaffen genöthigt, dessen schleunigste Förderung diesem freilich vor allen Dingen nothwendig erscheinen mußte.
Gleich zu Anfang hatte Schill vermittelst Proclamation Pommern, als durch ihn den Franzosen entrissen, für die Krone Schweden in Besitz genommen erklärt und erließ in diesem Sinne zahlreiche, durch seine eigenthümliche und verzweifelte Lage gebotene Verordnungen und Anforderungen an die Stadt und das Land, die freilich den Betreffenden ihrerseits mitunter strenge und ungerechtfertigt erscheinen mußten. Der Landsturm der Provinz wurde schleunigst aufgeboten, Ausbleibende mit Todesstrafe bedroht und alle früher in schwedischem Dienst gewesenen Mannschaften sich zu stellen beordert. Auf dem Rathhause, wo Schill eine ständige Commission von Officieren und Mitgliedern des Rathes errichtet hatte, kam es oft zu stürmischen Auftritten, da manchem Verlangen, das für die Wohlfahrt der Stadt bedenklich erschien, nicht ohne Weiteres entsprochen werden konnte, und gewiß war es nur natürlich, daß die Einwohner zum überwiegenden Theil nicht von kriegerisch freudiger Zuversicht beseelt waren, vielmehr mit angstvoller Besorgniß der nächsten Zukunft entgegen sahen. Handelte es sich doch für sie, die gleichsam zwischen zwei Feuern sich befanden, wahrlich um nichts Geringes, wenn ein zur rächenden Vergeltung aufgestachelter Feind sich der Stadt bemächtigte. Auch die meisten der Officiere Schill’s, welche für Einschiffung nach England oder für ein offenes Feldtreffen stimmten, waren unzufrieden mit dem sonst vergötterten Anführer, der keines Rathes achtete.
Petersson theilte nicht diese Stimmung; ganz in seinem Wirken aufgegangen, sah er in dessen Fortschreiten die Bürgschaft des Gelingens. Mit seiner Familie verkehrte er nur auf kurze Momente, und die treue Gattin hätte nimmer durch Kundgebung eines besorgten Kleinmuths dieses muthige Vertrauen trüben mögen.
So war die letzte Entscheidung des blutigen Dramas, dessen Hergang und Hauptmomente bekannt genug sind, um eine weitläuftige Schilderung derselben hier am Orte überflüssig erscheinen zu lassen, nach längerem Drohen aus der Ferne jetzt herangenaht. Voll höchster Aufregung und Spannung war die Nacht, welche dem letzten Maitage voranging, vom Lärm der Trommeln, vom wechselnden Signalruf der Hörner durchklungen, und während an lodernden Wachtfeuern aus muthigen Kehlen die Schlachtgesänge deutscher Dichter erschallten und Kampfeslust jede Brust der preußischen Krieger höher schwellen ließ, genossen auch wohl wenige der Einwohner Stralsunds eines sorglosen Schlafes. Der Morgen war vorgerückt und mit ihm die Massen des Feindes, der in dunkel drohenden Linien von drei Seiten her sich langsam heranzog, enger stets die Stadt einzuschließen.
Nicht lange mehr, und der Kampf entbrannte heiß und mörderisch an den Thoren im Westen und Süden. Die Schill’schen bewährten ihren alten Ruhm der Tapferkeit glänzend auf’s Neue; die Feinde wichen, zurückgeschlagen, eine Strecke hinterwärts; die Kanonen der Gegner hatten ihre Vorderreihen gelichtet. Der ungestüme Muth, der die deutschen Herzen entflammte, drängte ungeduldig, aber vom Willen des Befehlshabers gefesselt, in’s Freie, zum Ausfall, zum Hervorbrechen aus den beengenden Schranken. Das Zeichen zum Kämpfen erharrend hielt die Reiterei auf ihren Pferden müßig auf dem Alten Markte, dem Knieperthore im Norden zunächst, auf welches sich das Hauptcorps der feindlichen Streitmacht von linksher über sumpfigen Wiesengrund, einer Lawine gleich, unaufhaltsam näher und näher herzuwälzte.
Doch wer vermöchte das Bild des bald an allen drei Thoren wüthenden Streites, den bis zur Wuth gesteigerten Heroismus der Schill’schen Kämpfer, ihre fast übermenschlichen Anstrengungen anschaulich genug in Worten wieder zu geben? Sie erlagen der Uebermacht, der Enge des Raumes, der Zersplitterung ihrer Kräfte, die, im Einzelnen gewaltig und staunenswerth wirkend, doch der leitenden Einheit ermangelten, durch das Terrain bedingt, ermangeln mußten.
Und als schon Alles verloren, als Schill gefallen war und sich die holländischen und dänischen Soldaten in alle Straßen ergossen, wehrte sich noch ein geringer Rest der Seinen, vom altersgrauen Thurme des Knieperthores aus, gegen die erdrückende Uebermacht, bis auch der Letzte von ihnen sterbend dahin sank. Hier, am Fusse jenes Thorthurmes, wo eine Schwadron abgesessener Cavalerie, mit Gewehren ausgerüstet, unter dem Befehl eines Hauptmanns die Besatzung verstärkt hatte, war es auch, wo Petersson nicht minder tapfer als jene gefochten. Er ward gefangen, fand jedoch, einen günstigen Zwischenfall gewandt benutzend, der Schnelligkeit seines treuen Rosses vertrauend, Gelegenheit zu entschlüpfen. Man behauptet, daß er ohne Zweifel bei der herrschenden Verwirrung auf Wegen nach aussen hin sich hätte retten können; aber wer, dessen Geist, von der langen Blutarbeit benommen, der Klarheit entbehrt, ist fähig in solchen Augenblicken stets den allein sichern Ausweg besonnen zu erfassen? Vom Instincte des Herzens getrieben suchte Petersson den Schutz seines Hauses, nachdem er, an der Ecke vom Pferde abgesprungen, diesem die Zügel über den Hals geworfen hatte. Niemand war seiner gewahr geworden von draußen, aber die sich ausbreitenden Verfolger drängten auch bis hierher nach, sich um jeden Preis des schädlichen Feindes zu bemächtigen. Man erkannte das Thier, das er geritten, und die von Grimm entflammten Soldaten stürzten in das Haus hinein. Sie suchen wie die lechzenden Spürhunde, sie durchstöbern die Kammern, die Gemächer – sie finden nichts. Aber es sind Frauen da, die Mutter, die Gattin des Gesuchten; von ihnen wird man das Geständniß seines Aufenthaltes erpressen können. Muthig und standhaft unter den Drohungen versichert das jüngere Weib seinen Aufenthalt nicht zu wissen; die alte Frau zittert erblassend unter den hochgeschwungenen Säbeln ihrer Dränger. Sie stoßen sie in ein Nebengemach, schütteln die Geängstigte an den Schultern. Die Schwache, den ermuthigenden Blick ihrer Schwiegertochter [620] vermissend, fühlt sich ohne Halt, schutzlos ihren Peinigern verfallen, zitternd, außer sich vor Furcht, sah sie die blanken Klingen über sich, gegen ihre Brust, ihren Kopf gerichtet, mit augenblicklichem Tode sie schreckend. Da entfloh es unwillkürlich ihren Lippen, da nannte sie den Versteck des Gesuchten – des verfolgten Sohnes. Im Nebengemach hört die Gattin, deren Sinne die Angst um den Geliebten verschärft, das Bekenntniß. Einen lauten Schrei ausstoßend, stürzt sie mitten durch ihre Wächter in das andere Zimmer. Die Arme erhoben, außer Stande mit den zitternden Lippen verständliche Worte zu bilden, heftet sie nur einen langen, wilden Blick des Vorwurfs auf die Schwiegermutter. Diese steht wie vernichtet; das plötzliche Ablassen ihrer Quäler, die unerbittliche Rachsucht, die in ihren Gesichtern mit einem aufflammenden Zug des Triumphes sich mischt, lassen sie mit einem Schlage die Folgen ihres Geständnisses überblicken. In eiligster Hast stürzen die Soldaten die Treppe hinauf, noch eine – weiter bis zum angedeuteten Orte, dem Boden des Hauses. Sie zerstreuen sich umher, werfen Kisten und Geräth beim Suchen polternd durcheinander, bis sie den Gegenstand ihres Hasses, hinter zusammengesteckten hohen Körben und Wirthschaftsgegenständen verborgen, entdeckt haben. Der früher schon seiner Waffen Beraubte richtet sich stolz aus seiner gebückten Stellung in die Höhe und ergiebt sich schweigend und mit verächtlichem Lächeln in das Unvermeidliche.
Petersson ward nach der Hauptwache abgeführt. Nicht lange brauchte er dort im Gefängniß den Todesspruch zu erwarten. Er war darauf gefaßt, es mußte so kommen, und die selber am Erfolg verzagende Fürsprache seiner Mitbürger, die zu seinen Gunsten sich erhob, konnte nichts fruchten. Das Kriegsgericht, das am 3. Juni sich über den Lieutenant Petersson versammelte, fällte nach kurzer Berathung sein Urtheil, das auf Erschießen lautete und am nächsten Morgen zu vollstrecken war.
Nur das treue Weib des dem Tode Verfallenen wollte Nichts zu seiner Rettung ungeschehen lassen. Mit jener Liebe, die Alles erduldet, Alles wagt, versuchte sie das letzte, das Aeußerste für den geliebten Mann. Ihre weinenden Kinder an der Hand eilte sie durch die Straßen von dem Einen zum Andern; auf die Commandantur, auf das Rathhaus, zu den feindlichen Anführern – ach, und fand nur verschlossene Thüren, fruchtloses Bedauern oder harte Zurückweisung. Bis in die Nacht hinein legte sie sich die Folter dieser vergeblichen Anstrengungen auf. Zum Sterben erschöpft sank sie zuletzt auf der Schwelle ihres Hauses zusammen.
Wenige Stunden nachher, am 4. Juni 1809, um vier Uhr in der Frühe, ward das über Petersson gefällte Todesurtheil an ihm vollzogen. Auf eben diesem Walle, den er vor wenig Tagen neu geschaffen, dicht vor dem Thore, wo er mit Tapferkeit gestritten hatte, erfüllten sich seine letzten Augenblicke. Die Schüsse knallten; der zerrissenen Brust entfloh das Leben, und den zusammenbrechenden Leichnam empfing das hinter ihm gähnende Grab. – –
Petersson ward von seinen ehemaligen Mitbürgern zwar im Stillen, aber tief bedauert, und es spricht für die reiche Begabung, die Thatkraft und persönliche Liebenswürdigkeit des Mannes, daß alte Leute in Stralsund, Zeitgenossen dieser Begebenheiten, mit Vorliebe bei diesen Eigenschaften verweilten, als das Bild jener Tage, aufgefrischt aus langer Vergessenheit, in ihrem Gedächtnisse sich wieder aufbaute, heraufbeschworen durch die Fragen der jüngeren Generation und durch die in den letzten Jahren neubelebten Erinnerungen an Schill und seinen Zug nach Stralsund.
Kein Stein, kein noch so einfaches Wahrzeichen macht die Stelle kenntlich, wo Petersson gefallen; aber alljährlich an seinem Todestage ertönt auch für ihn das Glöckchen der Schillscapelle in Westphalen, und wenn ein vaterländisches Herz in dankbarer Wehmuth am Denkmale der dort gefallenen Streiter weilt, so erinnere es sich auch Dessen, der am Ostseestrande mit gleicher Treue, mit gleicher Hingabe für eine vielleicht abenteuerliche und unbesonnene, aber schöne und glanzvolle Idee sich hingab. Wenn „Großes gewollt zu haben groß ist,“ wie es das Wort des römischen Dichters am Grabe Schill’s besagt, so dürfen wir unsere volle Anerkennung, unsere Theilnahme Demjenigen nicht versagen, der die Kraft seines Armes, das Wollen und Fühlen der feurigen Seele, ruhigen Wohlstand, Familienglück und Leben daran setzte, die Idee der Freiheit verwirklichen zu helfen, welche in andern Formen und Verhältnissen, aber ewig dieselbe, in jedem wackern, muthigen Herzen lebt.
Im Münsterland, auf rother Erde,
„Wo’s schaurig ist, über’s Moor zu geh’n,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn,
Und die Ranke häkelt vom Strauche;
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt;
Es schaurig ist, über’s Moor zu geh’n,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche.“
wo das Vorkommen des „second sight“, das Vorgeschichtensehen heimisch ist, das Wunderbare und Mysteriöse sich tief in die Gemüther senkt, um Wohnung darinnen zu machen – dort liegt, von kurzen Eichenalleen und schmalem Graben umschlossen, ein kleiner Edelsitz, „das Ruschhaus“ genannt. Es ist kein stattlicher Herrensitz, dessen Bau in die Höhe ragt, ja, man würde es für ein nach altherkömmlichem Gebrauch aufgeführtes Bauernhaus halten, wenn es nicht größer und ganz massiv von Steinen aufgeführt wäre und es sich nicht an der entgegengesetzten Seite, an seinem Ende, zu einem hübschen, obschon nicht großartigen Herrenhause umgewandelt gezeigt hätte. Hier lag auch der Garten mit seinen Steinfiguren, von welchem aus die hohe Treppe in den Gartensalon führte mit seinem Rococo-Kamin und seiner hinter großer Doppelthür verborgenen, aber an Sonn- und Feiertagen sichtbaren Hauscapelle, der ein hübscher Altar nicht fehlte. Und hier durch die kleinen, niedrigen Entresolzimmer, durch deren farbige gemalte Scheiben die niedergehende Sonne ihre Strahlen wirft, schreitet eine leicht dahinschwebende, fast ganz durchgeistigte, zarte Gestalt. Sie ist über die ersten Jahre der Jugend hinaus, dennoch aber hat ihr ganzes Erscheinen etwas Elfenhaftes, Märchendurchwogtes. Wunderbar blaue Augen sind ihr eigen, während eine Fülle blonden Haares den Scheitel bedeckt. Schwalben und Finken flattern durch ein offen gehaltenes Fenster herein und setzen sich auf Tisch und Sophalehne, während drinnen im hintersten Zimmer, wie im Märchen von Dornröschen, ein altes, altes Mütterchen, ihre Amme, das Spinnrad dreht und den Rest ihrer Tage verträumt. Und nun läßt sie auf das altmodische, mit schwarzer Serge überzogene Kanapee sich nieder, nimmt einen alten Quartband zur Hand und beginnt zu lesen. Von einer Frauenbeschäftigung, wie sie sonst das Boudoir einer Dame zeigt, ist keine Spur; kein Strickstrumpf, keine Nadel, kein Garn, kurz nichts, das auf eine Beschäftigung der Art hinzudeuten vermöchte. Sie liest, die Augen dicht auf das Blatt gesenkt, denn diese blauen wunderbaren Augen sind märchenhaft construirt. Nur das Nahe, das Nächste lassen dieselben unterscheiden, während diese Kurzsichtigkeit doch wieder so wunderbar angethan ist, daß sie in einem Glase Wasser die Infusorien erkennen macht, die sonst ein gewöhnliches Menschenauge nur mit der Lupe bewaffnet oder unter dem Mikroskop gewahr zu werden vermag.
Es ist ein eigenthümliches Buch, das sie liest. Darinnen steht geschrieben, wie man sich unsichtbar zu machen vermöge, mit der Wünschelruthe Quellen finden könne, und was des Wunderbaren mehr der Art. Sie liest es, aber zugleich auch die Randglosse eines Ahnherrn, der dazu geschrieben, daß er das Recept probirt, allein zu keinem glücklichen Resultate gelangt sei. Dennoch, trotz dieser Randglossen, neigt sich ihr Herz glaubensvoll dem Räthselhaften zu. Hat sie doch selber des Wunderbaren genug erfahren! Sie denkt der Stunde, da sie als junges Mädchen, als Kind, von heftiger Lesewuth getrieben, über den Schrank geräth, in dem die Bücher verschlossen waren. Sie findet den Schlüssel wider Erwartung im Schloß; sie nimmt ein Buch heraus, sie liest, unbekümmert um Ort und Zeit, bis der nahende Schritt der Mutter sie aus ihrem Lesen weckt. Sie stellt das Buch hinein, dreht den Schlüssel ab, nimmt ihn mit und wirft ihn, wie sie dies auch später noch immer geglaubt, von Angst getrieben, ohne Ueberlegung, in den Hausgraben. Der Schlüssel wird gesucht, Niemand findet ihn. Da richtet sie, die nicht nach demselben gefragt wurde, ihr heißes, kindliches Gebet um Hülfe [621]
an den lieben Gott. Sie entschlummert. Im Traume ist es ihr, als ob ein gütiges Wesen ihr nahe und spreche: „Sei getrost, der Schlüssel, von Dir in den Graben geworfen, wird morgen droben auf dem Schranke liegen.“
Und der Schlüssel lag auf dem Schranke!
Aber noch ein anderer Tag, eine andere Stunde steigt in ihrem Geiste auf. Es ist die Osternacht. Das Gesinde beginnt, nach hergebrachtem Brauch, um Mitternacht auf dem Hofe in einem geistlichen Volksliede die Auferstehung des Herrn zu feiern. Sie lehnt am Fenster, dem Liede lauschend, und schaut auf den Hof hinaus. Sie erkennt die Diener, Knechte und Mägde. Da öffnet sich die Thür des Hauses, eine weibliche Gestalt tritt heraus, einen Leuchter mit flackerndem Kerzenlicht in der Hand. Und sie selber ist es. Sie erkennt sich selbst in jener Gestalt. Die Versammelten machen ihrer Doppelgängerin Platz, die ruhig über den Hof schreitet, die hinanführende Treppe zum Saale hinauf,
[622] wo sie verschwindet. Alle haben die Gestalt gesehen und verkünden und bestätigen dies der Sichselbstgeschauten.
Leise, in tiefem Sinnen, schließt sie das Buch; in Gedanken verloren schreitet sie durch das Zimmer. Jetzt tritt sie zu ihrem Instrument, sie öffnet es, läßt die feinen, durchsichtigen Finger über die Tasten gleiten und beginnt ihr Lieblingslied zu singen, das sie gedichtet und soeben in Musik gesetzt hat. Mit schöner, ergreifender Melodie hub sie zu singen an:
„Es steht ein Fischlein in einem grünen See,
Danach thu ich wohl schauen, ob es kommt in die Höh’.
Wandl’ ich über grüne Haide bis an den kühlen Rhein,
Alle meine Gedanken bei meinem Feinsliebchen sein.“
Sie sang das Lied bis zu Ende mit ganzer Brust, mit ganzem Herzen:
„Trau’ nicht den falschen Zungen, was sie dir blasen ein,
Alle meine Gedanken, sie sind bei dir allein.“
Die Schwalben und Finken, sie ließen sich nicht stören, sie kamen ungehindert durch das Fenster herein; es war, als müßten auch sie aufhorchen und sich verwundern, daß ihre Wohlthäterin, die noch jüngst auf hohem Thurme gestanden, das Haar im Winde flatternd, den Geistern dort gelauscht zu haben schien, die über Moor und Haide wie ein Elfenkind gehuscht, so schön zu singen und zu spielen vermöge! Aber es kamen später noch andere Lauscher und Geister dazu. Es war Abend geworden, dunkler, märchenhafter im Garten und im Hause. Und draußen in den Gängen lauschte und wisperte es, Buben und Mädchen schlichen herzu, Eines dem Andern zunickend, und doch nur leise, verstohlen ein Wort wechselnd. Sie schlichen durch den Garten, von verschiedenen Wegen her, alle der Treppe zu, die zum Saale hinaufführte. Und hier standen sie, wie von den Schauern einer Märchenwelt durchschüttelt, und lugten in das Gemach hinein. Sie hörten den Gesang und wagten ihn nicht zu unterbrechen. Jetzt aber, als derselbe schwieg, als die Sängerin, vom aufdämmernden Mondenschein umleuchtet, in den Saal trat, da konnten die kleinen, ungeduldigen Geister, die Buben und Dirnen des Dorfes, sich nicht länger halten, sie reckten die Köpfe auf, sie rüttelten an der Thür, riefen und baten: „Vertellen, Frölen, vertellen!“
Und sie, die all die flachsköpfigen Buben und Mädchen kannte, sie öffnete die Saalthür, kauerte auf den Sessel sich nieder, hüllte in ein Tuch sich ein, wie ein Waldelf in seinen Mantel, und begann ihre Märchen zu erzählen, Märchen, aus denen späterhin Lieder wurden.
„Fest hält die Fibel das bange Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was rasselt drüben am Hage?
Das ist der gespenstige Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht.
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind –
Hin ducket das Knäblein zage.
Baumstümpfe starren am Ufer vor,
Unheimlich nicket die Föhre;
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere.“
Den Kindern gruselt’s, sie möchten entfliehen – und bleiben doch zu gern. Der Mond wirft sein dämmerndes Licht in den Saal, die Bäume rauschen und flüstern dazu. Jetzt aber, jetzt springt sie auf, läßt ihr Tuch, es wild, gespenstisch schwenkend, den Kindern entgegenflattern – und ruft: „Husch! husch! – fort! fort!“ Und die Lauscher eilen davon, jetzt rascher, fester in ihren dicken Holzschuhen auftretend, eins an das andere sich anklammernd.
„Allmählich festet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimathlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief athmet er aus, zum Moore zurück,
Noch immer wirft er den scheuen Blick.
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich!
Ach! schaurig war’s auf der Haide.“
So lebte und schaffte die Dichterin. Und wer hätte dieselbe nicht schon längst aus ihren Versen erkannt? Es ist Annette Freiin von Droste-Hülshoff, die am 12. Januar 1798 bei Münster geboren, im Mai 1848 auf Schloß Meersburg am Bodensee starb, Westphalens bedeutendste und genialste Dichterin.
Es liegt etwas Männliches in ihrer Poesie, wie man denn auch darin mehr Schilderung als tiefinnerliches Gefühl wahrnimmt. Es ist, als habe der Brust der Dichterin wohl ein männlicher eigenthümlicher Geist innegewohnt, doch die Liebe sei derselben nur im Vorüberrauschen zu Theil geworden. Oder hat sie dies Gefühl mit Gewalt zurückgedrängt, um nicht Schmerzen zu verrathen, von denen die Welt nichts wissen sollte? oder hat sie all ihre Liebe hineingetragen, gleich einem keuschen Herzen, das, von innerem Drange getrieben, sich dem Himmel zuwendet, in jene Lieder, die unter dem Titel „Das geistliche Jahr“ nach ihrem Tode erschienen? Ihr „geistliches Jahr“ ist ein Tagebuch, das ihr Herz für das Herz geführt.
Ihre Schwester war an den Freiherrn v. Laßberg, den Besitzer von Schloß Meersburg, verheirathet. Dorthin reiste die Dichterin gern, um ihre Gedanken über die hohen Alpenfirnen des andern Ufers schweifen zu lassen, um ihre kranke Brust zu stärken an den Gewässern des Bodensees. Hier sind viele ihrer schönsten Gedichte entstanden; hier ließ sie ihre unnachahmliche Gabe, die Natur in ihrer düsteren, dämonischen Seite aufzufassen, in ganzer Kraft walten. Für das Honorar, das sie für ihre Poesieen erhielt, kaufte sie einen kleinen, hübschen Weingarten in der Nähe der Meersburg. Dorthin lenkte sie täglich ihre matten Schritte, bis diese Schritte nach wenigen Jahren matter und matter wurden. Der Lenz des Jahres 1848 kam, ein Herzschlag machte ihrem Leben am 24. Mai gedachten Jahres ein Ende. Ihr Nachlaß ist unter dem Titel „Letzte Gaben“ 1860 veröffentlicht worden.
Wie schön erklingt ihr Lied: „Der Weiher“! Es heißt:
„Er liegt so still im Morgenlicht,
So friedlich, wie ein fromm Gewissen;
Wenn Weste seinen Spiegel küssen,
Des Ufers Blume fühlt es nicht;
Libellen zittern über ihn,
Blaugold’ne Stäbchen und Carmin,
Und auf des Sonnenbildes Glanz
Die Wasserspinne führt den Tanz;
Schwertlilienkranz am Ufer steht
Und horcht des Schilfes Schlummerliede;
Ein lindes Säuseln kommt und geht,
Als flüstr’ es: Friede! Friede! Friede!“
Das Unglück am Titlis. Es war am 21. August Mitternachts zwölf Uhr, als wir, drei junge Männer aus Engelberg im Canton Unterwalden und ich, durch das dunkle Thor des Engelberger Klosters schritten. Nachdem die Brücke über die von dem häufigen Regen hoch angeschwollene Aa hinter uns lag, stiegen wir auf einem bequemen Waldwege hinauf zur Gerschni-Alp. Mitten durch ringsum lagerndes Vieh, welches neugierig die späten Wanderer betrachtete, führte der Weg, den wir einschlugen, an dunkelm Fichtenwalde vorbei zum Jochlipaß, einem Zickzackpfade zwischen dem Laubergrat und dem Bitsistock. Nach anderthalb Stunden tüchtigen Steigens hatten wir glücklich, allerdings vom Regen sehr durchnäßt, die sogenannte Trübseealp erreicht; etwas bergabsteigend bogen wir von hier bis zur Matte rechtsum nach der am Trübsee liegenden Sennhütte, dem gewöhnlichen Nachtquartier für die, welche den Titlis besteigen wollen. Auf unser Klopfen öffnete ein Senner die Thür und wir traten in das niedrige Zimmer, das ganz gefüllt war mit jungen Männern, welche zum Theil schliefen, zum Theil sich unterhielten, aber alle, so wie wir selbst, waren in ernster, gedrückter Stimmung. Es galt nicht, von dem Trübsee aus am frühen Morhen eine fröhliche Bergtour anzutreten, es galt, am Morgen die Leichen zweier verunglückter, im Dorfe gar wohlbekannter und wohlgelittener Männer heraufzuholen aus tiefem Abgrunde und sie herabzubringen in das Thal, damit sie nach christlicher Weise bestattet werden könnten. Um diese Unglücklichen drehte sich natürlich das Gespräch: der eine von ihnen war ein Fabrikant aus Dresden, Herr Höppner, der schon acht Mal nach Engelberg gekommen, der andere der wohlbekannte Bergführer Eugenius Imsanger aus Engelberg, von den Leuten nur „der Geni“ genannt. Höppner, ein vortrefflicher Mann, den die Armen im Engelberger Thale gar hoch schätzten und dem Imsanger sehr viel galt, hatte mit einer gewissen Vorliebe für kühne und sehr schwierige Bergtouren, wenn auch ohne viel Gewandtheit und ohne die nöthige Ausdauer der Kraft, schon manche schwindelnde Höhe erklimmt, schon manchen schwer zugänglichen Paß überschritten, immer an der Hand Imsanger’s, welchem Höppner unter Anderem das erste Zeugniß eines guten Führers ausgestellt hatte. Imsanger
[623] war ein Mann von hohem Wuchse, kräftigem Körperbau mit fast herkulischer Muskelkraft, kühn, aber trotz der Kühnheit, einer fast ängstlichen Vorsicht wegen, sicher und zuverlässig, außerdem ein braver, rechtschaffener und allgemein beliebter Mann, der Tag und Nacht sorgte und schaffe, seine starke Familie ehrlich zu ernähren. Der häufige Regen im Spätsommer war allen Bergtouren hinderlich, und auch Höppner fand während seines jetzigen Aufenthalts in Engelberg nur einmal Gelegenheit einen Weg nach der sogenannten Strahleck zu machen, bei welcher Gelegenheit Imsanger ihn anderthalb Stunden lang auf dem Rücken über den Gletscher getragen haben soll. Am 22. August war der Morgen sehr heiter und das Wetter hielt sich bis Mittag, obwohl die glühend heißen Sonnenstrahlen und die dicken Nebel um die Spitzen der Berge auf bald wiederkehrende Regen hindeuteten. An diesem Morgen hatte ein in Engelberg angekommener Engländer Imsanger aufgefordert, mit ihm den Weg über den sogenannten Stütz am Vortitlis zu gehen, einen Weg, der von Reisenden noch nicht, von Führern nur selten betreten, dem Imsanger aber bekannt war. Er war sehr schwierig. Auf die Mittheilung Imsanger’s hiervon fordert Höppner denselben auf, mit ihm den Weg zu machen, damit der Engländer nicht vor ihnen das Wagniß ausführe, und um bald zehn Uhr Vormittags verlassen Beide das Dorf, mit den Worten, daß sie spätestens acht Uhr Abends zurückgekehrt sein würden. Des Nachmittags verschleierten sich alle Berge mit dichtem Nebelgewande, ein heftiges Gewitter, verbunden mit starkem Winde, entlud sich und es regnete die ganze Nacht hindurch.
Aengstlich erwartete Alles die Rückkehr der beiden Wanderer; immer später ward es – ward Morgen und sie waren noch nicht zurückgekehrt! Sofort wurden Leute nach ihnen ausgeschickt. Alles war in Hoffnung – Erwartung – Befürchtung. Furchtbar war die Lage der nach ihren Männern ausschauenden Frauen. Nachmittags um vier Uhr kehrten die Boten zurück mit dem Schreckensrufe: „Wir haben sie gefunden, aber todt, tief im Abgrunde!“ Alles war erschüttert. Da aber bei aller Unwahrscheinlichkeit doch die Möglichkeit vorhanden, daß noch Leben in ihnen war, so stand man noch davon ab, den Hinterlassenen der Beiden die Nachricht mitzutheilen, vielmehr schickten sich eine Menge junger Engelberger an, zu den Verunglückten zu eilen und wo möglich noch zu helfen. Zu diesen Hülfebereiten waren wir jetzt gestoßen, und um vier Uhr Morgens traten wir, vierzehn Mann an der Zahl, unter Laternenschein, mit Seilen, Leitern, Stangen etc. und dem nöthigen Mundvorrath versehen, den schwierigen Marsch nach der Ungiücksstelle an. Langsam stiegen wir den links vom Trübsee sich erhebenden, spärlich mit Gras bewachsenen und mit Steinblöcken übersäeten Stock hinan. Ein großartiger Anblick bot sich dem Auge dar, von wilden, grotesken Felsbildungen, riesigen Gletschern, rauschenden Sturzbächen. Bald legten die Bergspitzen ein violettes Gewand an, das immer heller und lichter wurde, bis es sich in eine feurige Gluth verwandelte – ein Zeichen, daß die Sonne bald aufsteigen werde über uns und daß wir einen guten Tag haben würden, und diesen hatten wir sehr nöthig, da bei wiederkehrendem Regen es rein unmöglich gewesen wäre, die Leichen heraufzuziehen. Kaum hatten wir die letzte Spitze des Stocks erklimmt, als tief aus dem Thale heraus ein Ruf erschallte. Wir antworteten, und nach kurzer Zeit stiegen vier Männer rüstig den Berg hinan zu uns herauf. Es waren Berner Bergführer aus Engstelen, welche die Schreckenskunde vernommen hatten und herübereilten, um zu helfen. Nach kurzer Rast wanderten wir einen steilen Bergrücken hinauf, auf welchem über bröckliches, verwittertes Gestein ein schmaler Pfad angedeutet ist. Oben angelangt, gewahrten wir, links von der Spitze des Berges, tief unten im Abgrunde die beiden Leichname. Noch deutlich bemerkte man die Spur, auf welcher sie auf den Gletscher aufwärts gestiegen, und den Punkt, wo sie ausgeglitten waren. Es war allerdings ein sehr gefährlicher Weg, den sie eingeschlagen hatten. Das Engelberger Thal zieht sich von Nord-West nach Süd-Ost. Ziemlich am Ende desselben erhebt sich auf der rechten Seite die himmelhohe, steile, fast senkrechte Felswand des Titlis. Zwischen derselben und dem Laubergrat zieht sich eine enge Schlucht herein, bald weiter, bald verengt von großen Felsstücken. In der Mitte derselben, wo auf der rechten Seite eine andere Schlucht, welche den Laubergrat vom Stockberge trennt, in die erstere mündet, erhebt sich auf der linken Seite ein Gletscher von großer Stärke, von häufigen Schrunden durchrissen, der, bis zum Gipfel reichend, links die Verbindung zwischen dem Gletscher des Nollen des Titlis herstellt und rechts sich in Bogengestalt quer über die Schlucht gelegt hat. Dieser Punkt heißt der Stutz und ihn zu übersteigen, war die Absicht Höppner’s. Es ist eine sehr schwierig zu passirende Stelle, indem von untenauf der Gletscher sehr überhängend, der Stutz aber ungemein abschüssig ist. Nachdem Höppner und sein Führer in einer Sennhütte vor der Schlucht zu Mittag gegessen hatten, traten sie den Weg an und drangen glücklich auf dem Gletscher bis zum Stutz empor. Doch mag der Weg bis dahin ihnen viel Anstrengung gekostet haben, wenigstens hatten sie oft Stufen in den hartgefrornen Firn hauen müssen, um vorwärts zu kommen. Auch den Stutz hatten sie schon beinahe überschritten und mochten vom sichern, gefahrlosen Orte nach oben ungefähr sechzig, von der rechten Seite ungefähr hundert Schritte entfernt sein. Da – mögen der sie umhüllende dicke Nebel und die früh an diesem Tage eintretende Dunkelheit sie im Schritte unsicher gemacht, oder der heftige Sturm sie gepackt haben, oder mag, was allgemein angenommen wird, Höppner beim Uebergang über den Stutz kraftlos geworden, gefallen sein und seinen Führer, mit dem er sich zusammengebunden hatte, mit in’s Verderben gerissen haben – kurz, man sah noch deutlich den Ort auf dem Firn, wo der Fuß ausgeglitten war, wo der Stock des Führers sich eingehakt hatte. Pfeilschnell müssen sie über den halbkugelförmigen Gletscher, der hier die Dicke von ungefähr dreißig bis vierzig Fuß hat, und zwar auf dem Gesicht liegend, gerutscht sein bis zu einem zackigen Felsvorsprung unmittelbar unter dem Gletscher.
Hier hat Imsanger mit aller Kraft versucht, sich anzuklammern und festzuhalten, so daß die Nägel von den Fingern losgesprengt und die Schuhe von den Füßen geglitten waren, aber Alles vergebens! Zweihundert und fünfzig und noch mehr Fuß tief stürzen, in einem Falle hinunter auf den Felsen hart an dem Rand einer Gletscherschrunde! Jedenfalls überschlugen sie sich im Fall und der Schwerere kam unten zu liegen. Ganz eng zusammengeschnürt durch das Seil, lagen sie übereinander. Ist es anders zugegangen? Gott weiß es! kein Mensch kann darüber etwas Genaues mittheilen. Könnte der Hund Imsanger’s sprechen, so würde der es am Besten erzählen. Er hat, als die ersten Bergführer, welche nach den Unglücklichen ausgeschickt waren, an der Unglücksstelle ankamen, noch auf der Stelle des Gletschers gesessen, wo sein Herr hinabgestürzt war, und auch jetzt saß er wieder auf einem vorspringenden Felsblock und schaute still und traurig hinab auf die Leichen. Nicht ohne große Gefahr war es, von hier zu den Leichnamen hinabzukommen. Nach kurzer Berathung entschlossen sich vier Männer, über den Gletscher hinabzuklettern: Jelli aus Engstelen, Aloys Heß, der Thierarzt in Engelberg, dessen Bruder, ein Klosterknecht, und Louis Sattler – für Letzteren ein doppelt schwerer Marsch, da er vor wenigen Jahren seinen Vater durch ähnliches Unglück verloren hatte. Alle Vier kamen zu gleicher Zeit vor dem Stutze auf dem Gletscher zum Vorschein, aber nur Einer von ihnen wagte es, auf dem eingeschlagenen Wege vorwärts zu gehen, Jelli, und mit bewundernswerther Gewandtheit und Kühnheit, ungemein schnell alle Hindernisse überwindend, gelangte er zu erst zu den Todten. Ein schmerzvolles „Mein Gott!“ hörten wir den kühnen Steiger, dem wir mit zitterndem Herzen bei seinem gefahrvollen Gange nach der Tiefe gefolgt waren, laut ausrufen, als er die Zerschmetterten vor sich liegen sah. War doch der „Geni“ sein guter Freund und gleichen Gewerbes, wie gleich berühmt!
Nach und nach erschienen auch die Andern auf dem Platze, nachdem sie einen leichteren Weg aufgefunden hatten. Um halb neun Uhr begann der Versuch, die Leichname heraufzuziehen. Der Abgrund, in dem sie lagen, war ziemlich breit, und da wir uns auf der den Leichen entgegen gesetzten Seite befanden, so trug der Klosterknecht sie in die Mitte der Schlucht. Der Vorsicht halber hatten wir das Seil durch einen kleinen Wasserfall gelegt, damit, wenn es sich an den Felsspitzen reibe, es durch das Wasser an Zähigkeit gewinne. Da besonders Imsanger’s Leiche sich gegen den Felsen stemmte, welcher über die Schlucht ragte und auf dem wir standen, so ließ sich der Bruder desselben am Seile herab und über dem Abgrunde schwebend hielt er die Leiche vom Felsen ab. Höppner’s Leiche machte weniger Schwierigkeiten, da sie in sitzender Stellung emporgezogen wurde; glücklich gelang es also bei der bereitwilligen Anstrengung Aller, der Leichen beider Männer habhaft zu werden. Aber welch ein Anblick! Die Hirnschädel zerschmettert, Arme und Beine zwei, drei Male zerbrochen, die Kleider in Fetzen gerissen, die Körper nackt, mit Blut bedeckt! Auf zwei Leitern gebunden, wurden die beiden Leichname herabgeschafft und gegen zwei Uhr langten sie an der Aabrücke im Thale an, wo eine große Menschenmasse herzugeeilt war. In zwei einfache Särge gelegt, wurden beide Todte, der Katholik und der Protestant, in das katholische Leichenhaus gestellt. Am andern Morgen wurde die sterbliche Hülle Imsanger’s in’s Grab gesenkt, bejammert von einer Wittwe und zehn noch unerwachsenen Kindern, betrauert von Vielen aus Fern und Nah, die den Wackern, Ehrlichen hoch geschätzt und lieb gehabt hatten. Noch desselben Tages fanden unter den Badegästen Sammlungen zum Besten der Hinterlassenen statt und es flossen denselben reichliche Spenden zu; auch erklärte sich die Wittwe Höppner’s bereit, für die Wittwe Imsanger’s eine jährliche Pension auszusetzen. Heute um vier Uhr wird die Leiche Höppner’s von Engelberg nach Dresden gebracht werden. Die trauernde Gattin ist schon abgereist. Wunderbar! Höppner hatte für den Tag, an welchem er die Bergtour unternahm, seine Abreise in die Heimath festgestellt. Jenes Vorhaben bestimmte ihn, die Abfahrt auf den Samstag zu verlegen – und er ist abgereist an diesem Tage, aber als Leiche!
- Engelberg, am 26. August 1865. C. F.
Ein talentvoller Kater. Daß die katzenartigen Raubthiere durch Zähmung dahin gebracht werden, ihr hinterlistiges, blutgieriges und heimtückisches Naturell abzulegen, gehört gewiß zu den Seltenheiten. Selbst unsere zahme Hauskatze, mag sie noch so wohl erzogen sein, verleugnet ihre Gattung nicht. Um so interessanter war mir daher, was mir neulich einer meiner Freunde, von dessen Wahrhaftigkeit ich vollkommen überzeugt bin, von seinem Kater mittheilte. Dieser Kater war nicht blos ein ausgezeichneter Mäusefänger, sondern auch dem Naschen durchaus nicht ergeben. Spaßes halber ließ ihn mein Freund, neben einem Streifen Kuchen, der in der Fensterbank dicht vor seiner Nase lag, eine lange Zeit allein im Zimmer, ohne daß Herr Murr sich versucht gefühlt hätte, auch nur einmal daran zu riechen. Eine Wachtel und mehrere andere Vögel, die frei in der Stube umherhüpften, lebten mit ihm in der besten Freundschaft. Er ließ es sich sogar gefallen, daß der eine oder der andere von ihnen, wenn er schnurrend vor dem warmen Ofen lag, auf seinem Rücken umherspazierte. Seine Gutmüthigkeit hatte die Vögel nach und nach zutraulich gemacht. Doch seine Talente waren noch anderer Art und er entwickelte zugleich eine Intelligenz, die wirklich in Erstaunen setzte. Im Hause war nämlich noch eine Katze, die man ihm als Gemahlin beigesellt. Frau Katze besaß nun leider nichts von den lobenswerthen Eigenschaften ihres Herrn Gemahls, sie war, als echte Katze, naschhaft und stellte den Vögeln nach, wo sie nur konnte. Aus letzterem Grunde litt es der ehrsame, gestrenge Herr Gemahl durchaus nicht, daß seine Gemahlin zu den Vögeln in die Stube kam. Wagte sie es einmal, so trieb sie Murr, um seine Schützlinge zu sichern, mit Bissen und Klauenhieben wieder zur Thür hinaus.
Eines Tages klagte die Köchin, daß in der Speisekammer die Katze mehrere Speisen arg benascht habe. Mein Freund kam auf den Gedanken, den Kater als Observator in die Speisekammer zu sperren, um zu beobachten, wie derselbe den Extravaganzen seiner Gemahlin gegenüber, sich verhalten würde. Schon am folgenden Tage gab es Ehestandskrieg in der Speisekammer – Herr Murr tractirte seine nichtsnutzige Ehehälfte aus dem ff, weil sie eine Mettwurst von der Wand heruntergerissen. Von der Zeit an saß Herr Murr täglich mehrere Stunden, von Eßwaaren aller Art
[624] umgeben, auf Posten in der Speisekammer, und nachdem er jene erste Execution einige Male mit Nachdruck wiederholt hatte, wagte sich die Frau Gemahlin nicht wieder in die Kammer. Im Garten hatte L. – so hieß mein Freund – eine sogenannte Meisenfalle, zum Einfangen von kleinen Vögeln, aufgestellt. Zu seinem Leidwesen bemerkt er, daß die Katze die in die Falle gerathenen Vögel herausgeholt und verspeist hat. Er läßt darauf den Kater in den Garten und ist nach einigen Stunden schon Zeuge, wie Freund Murr, neben dem Meisenkasten, seiner Frau das Fell wieder tüchtig zerzaust, weil sie im Begriffe stand, ein Rotschwänzchen aus der Falle zu holen. Der Meisenkasten wurde von da ab der Obhut Murr’s gleichfalls anvertraut und die Räubereien der Katze hörten auf. Dieses seltene Exemplar von Kater nahm ein trauriges Ende. Böse Buben hatten ihm den Unterkiefer und das Rückgrat zerschmettert. Er ward ärztlich verpflegt, allein sein Tod erfolgte nach einigen Tagen. L. versicherte mir, daß ihm der Tod dieses treuen Thieres Thränen ausgepreßt habe. T.
Ein neues Lied vom braven Mann. In den ersten Jahren seiner Regierung hielt sich der große Karl August von Weimar oft längere Zeit des Jahres in Ilmenau auf, theils der Jagd wegen, theils auch um durch seine öftere Anwesenheit dem dortigen Bergbau mehr Leben und Aufschwung zu geben.
Eines Tages war die Ilm dort nach einem starken Gewitterregen hoch angeschwollen und ging von Stunde zu Stunde höher und höher. Da wurde dem Herzoge, der eben von der Jagd zurückgekehrt war und sich mit Goethe, Knebel und den andern Cavalieren seines Gefolges zur Tafel gesetzt hatte, die Meldung gemacht, daß am jenseitigen Ufer der Ilm eine Bauerfrau mit ihrem Säugling auf dem Arme dem Ertrinken nahe sei, da wegen des hohen und reißenden Wassers der Armen Niemand die erflehte Hülfe bringen könne. Der Diener hatte noch nicht ausgesprochen, als der junge Fürst von der Tafel aufsprang, sich ein Pferd satteln ließ und ohne alle Begleitung nach dem Orte der Gefahr dahinflog.
Das Wasser war mittlerweile so hoch gestiegen, daß es der armen Frau bis unter die Arme ging. Sie hielt sich mit der einen Hand an dem Aste eines Erlenbaumes fest, mit der andern ihren Säugling, den sie über sich zwischen zwei Aeste desselben Baumes eingeschoben hatte, und harrte der Hülfe von Gott, da ein Mensch sie ihr nicht mehr bringen zu können schien.
Sie wurde ihr indeß gebracht. Karl August war an dem bezeichneten Orte am diesseitigen Ufer der Ilm angekommen, wo eine große Menge gaffender und klagender Menschen sich eingefunden hatte. Sein Entschluß war schnell gefaßt. Der Kraft und Geschicklichkeit seines edeln Rosses vertrauend, stürzt sich der Hochherzige in die wild dahinbrausende, reißende Fluth, erreicht nach vielem Kampfe und unter eigener Lebensgefahr glücklich das jenseitige Ufer, läßt sich von der durch Todesangst und Schreien schon ganz erschöpften Mutter den Säugling in seine Arme geben und rettet ihn glücklich an das Ufer, wo er ihn der Vorsorge der anwesenden Frauen übergab. Jedoch „dem Kinde muß die Mutter wiedergegeben werden.“ Ein neuer Sprung in die Fluthen, neuer, noch anstrengenderer Kampf, jedoch auch neuer Sieg. Der Herzog brachte nach vieler Mühe die Unglückliche vor sich auf das Pferd und gelangte auch dieses Mal glücklich zurück an das Ufer, wo eben die Ortspolizeibehörde angekommen war, um zur Rettung der Verunglückten die geeignetsten Maßregeln einzuleiten. Ihr trug er die weitere Sorge für die Geretteten auf, ließ ein ansehnliches Geldgeschenk zurück und war, ehe noch eine halbe Stunde verlaufen, wieder in dem Kreise der Seinen, mit denen er sich unter anmuthigen Scherzen über das bestandene Abenteuer wieder zur Tafel setzte und in dem Bewußtsein, eine edle That vollbracht zu haben, den übrigen Theil des Tages heiter und froh vollbrachte.
Der Universal-Dessinateur. Das Fach einen Musterzeichners oder Dessinateurs ist, obgleich wir seine Erzeugnisse in allen Schaufenstern auf Kleiderstoffen, Spitzen, Bändern, Tapeten, Teppichen, Shawls, Tischdecken, Wachstuchen etc. bewundern, ein außer den Fabrikstädten fast unbekanntes. Wer nicht Fachmann in der Fabrikation von Manufacturwaaren ist, weiß nicht, welche Schwierigkeiten der Fabrikant hat, um seinen Waaren durch Zeichnung und Farbe ein immer veränderten, neues Aussehen zu geben, und sie dadurch leicht verkäuflich zu machen. Die Aufgabe den Musterzeichners ist es, immer Neues zu ersinnen; seine Phantasie und sein Geschmack sind es, welche neben seiner technischen Geschicklichkeit die Muster in Form und Farbe so herstellen, wie wir sie in den oben erwähnten verschiedenen Artikeln sehen. Die meisten großen Fabriken halten solche Künstler, um den stets gestellten hohen Anforderungen entsprechen zu können, um den Geschmack für ihre Fabrikate zu cultiviren und das Bestmöglichste darin zu erreichen. Zu diesem Zwecke wendet sich ferner der Fabrikant an Ateliers für Musterzeichnungen, wie solche besonders in Paris, Lyon, Mülhausen im Elsaß, in der Neuzeit auch in Deutschland in Wien, Berlin, Leipzig, Chemnitz und Elberfeld existiren, und sucht dort nach von früheren abweichenden neuen Ideen, um sie direct zu verwenden oder seinen Zeichnern zur Benutzung zu übergeben, d. h. sie für seine specielle Fabrikation brauchbar zu machen. Wir glauben nun im Interesse aller Manufacturisten zu handeln, wenn wir ihnen eine neue Quelle von Ideen zu ihrer Benutzung empfehlen und sie auf ein Werk aufmerksam machen, welches bereits bei seinem ersten Erscheinen vor Jahresfrist die Beachtung der namhaftesten Gewerbeblätter auf sich zog und das in seiner jetzigen Vervollkommnung, welche es schon beim Erscheinen des zweiten Jahrgangs erreichte, die größte Beachtung verdient. Dieses Werk ist der in Elberfeld bei J. Löwenstein erscheinende Universal-Dessinateur von J. C. Clement. Der Zweck desselben ist: den Fabrikanten in allen Zweigen der Druck- und Weberei mit immer neuen Originalmustern, Farbenstellungen und Ideen zur Hand zu gehen, den deutschen Geschmack und Schönheitssinn zu bilden und somit möglichst viel beizutragen, den leider noch immer großen Einfluß der französischen Mode auf deutsche Fabrikate zu verdrängen. Diese Aufgabe ist eine so große und lobenswerthe, daß sie die Unterstützung aller Industriellen verdient.
Wenn Du mit kecker Jugendkraft
Beginnst im Lebensspiel zu ringen,
Und um den frischen grünen Schaft
Sich Freundesranken lockend schlingen –
O denke dran, o denke dran,
Daß liebend folget allerwärts
Durch Freud und Leid Dir allezeit
Ein Mutterherz.
An Lied und Wein, an Lust und Lieb
Will bald Dein Sinn gefangen haften,
Schon wird Dein Himmel manchmal trüb
Von Wolken dunkler Leidenschaften –
Dann denke dran, o denke dran.
Daß sorgend folget allerwärts
Durch Freud und Leid Dir allezeit
Ein Mutterherz.
Ringst endlich Du als fester Mann
Den Wechselkampf des ernsten Lebens
Und tritt Enttäuschung Dir heran
Als Lohn des pflichtgetreuen Strebens –
Dann denkst Du dran, dann denkst Du dran.
Daß tröstend folget allerwärts
Durch Freud und Leid Dir allezeit
Ein Mutterherz.
„Die losen Kinder“ haben wir das Bild genannt, das wir heute nach einer Oelskizze des talentvollen Ernst Fischer unsern Lesern vorführen. Ernst Fischer ist diesen kein Fremder mehr, seitdem sie Gelegenheit hatten, sich an dem lieblichen Idyll „der Dorfarzt“ zu erfreuen, mit dem wir vor einiger Zeit unser Blatt zieren konnten. Derselbe gemüthliche Humor, die Innigkeit der Empfindung, welche dieses Bild auszeichneten, sind auch den „losen Kindern“ eigen, die ein Schlummerstündchen der ältern Schwester benützt haben, deren Medaillon zu öffnen, und unbewußt dessen, was sie thun, vielleicht die tiefsten Herzensgeheimnisse der Schlafenden an’s Licht ziehen.
Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Herren Bock. Beta, R. Benedix, Brehm, E. Förster, G. Hammer, G. Hiltl, A. Meißner, Schmidt-Weißenfels, A. Schloenbach, Temme, Karl Vogt, L. Walesrode, Fr. Wallner u. v. a. bleiben unsere regelmäßigen Mitarbeiter. Von den im nächsten Quartal zum Abdrucke kommenden Artikeln wollen wir bei dem beschränkten Raum dieser Nummer blos die nachstehenden interessanten Erzählungen, Aufsätze und Skizzen erwähnen:
Der Dorfcaplan. Von Herman Schmid. – Der Dombaumeister von Regensburg. Von demselben. – Die Locke der Charlotte Corday. – Eine Novelle von Levin Schücking – Erzählungen von Franz Hedrich und Melchior Meyr. – Erinnerungen an Heinrich Zschokke. Von dessen Schwager Nüsperli. Mit Illustration von Paul Thumann. – Der Menschenretter. Ein niederdeutsches Seebild. Mit Illustration von Schleich. – Der Morgen in der Menagerie. Mit Illustration von H. Leutemann. – Goethe in Leipzig. Mit Illustration. – Ganz oder halb? Mit Portrait – Die Hirschjagd in den Hochalpen. Von H. Noë. Mit Illustration von L. Fux. – Ein deutscher Mann in der Fremde: Prinz Albert von Sachsen-Coburg. – Aus dem Rauhen Hause zu Horn. Ein Schattenbild. – Die Falschmünzer am Prägstocke. Mit Illustration von Litschauer. – Die deutsche Nordpolfahrt. – Anatomische Leiden und Freuden. Von Alfred Meißner. – Bilderschau in meinem Zimmer. Erinnerungsblätter von Franz Wallner (Fortsetzung). – Das Montavon. Mit Illustrationen von M. Schmid. – Ein preußischer General und kein Gamaschenheld. – Vor dem Capitol. Mit Illustration. – Aus der französischen Bühnenwelt. Mit Illustration von Fleury. – Auf dem Wege nach Gastein. Mit zwei Illustrationen. – Das vornehme Proletariat in Berlin. – Die kleinste deutsche Residenz. Mit Abbildung. – Im Crocodil. Mit Illustration von Th. Pixis. – Ein Bahnbrecher im Kampfe für die Zukunftsgestaltung. Von Ludwig Storch – Beim alten Truchseß. Literaturbild aus dem Anfange unsers Jahrhunderts. – Die Edelkoralle und ihre Fischer. Von Karl Vogt. Mit Abbildungen. – Kleine Ursachen, große Wirkungen. Von Bock etc. etc.
Leipzig, im September 1865.Die Verlagshandlung