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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 38. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die zwölf Apostel.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

Werner’s Haus, in der hübschesten und breitesten Straße des Städtchens gelegen, war ehemals auch ein Kloster gewesen. Es hatte jedoch, nachdem es in Privatbesitz gelangt war, beträchtliche Veränderungen erfahren. Der ganze vordere, nach der Straße gerichtete Flügel wurde niedergerissen, an seiner Stelle erhob sich ein stattliches Wohnhaus mit Mauern so massiv und dick, daß jede Nische der breiten Fenster ein kleines Cabinet vorstellen konnte. Die Fensterreihe im Erdgeschoß steckte hinter jenen dichten, bauchigen Eisengittern, die stets einen gewissen Respect einflößen und erkennen lassen, daß es ihre Aufgabe sei, ansehnliche Capitalien und Werthgegenstände zu beschützen, zugleich aber auch deren gesichertes Vorhandensein verrathen zu dürfen. Einige Hintergebäude, welche den weiten Hofraum umschlossen, waren jedoch ihrer Festigkeit und des späteren Datums ihrer Erbauung wegen stehen geblieben, ebenso die hohe, ungemein starke Mauer des Klostergartens, an der noch hie und da kolossale, von uralten Linden umrauschte Steinbilder verschiedener Heiligen unangetastet standen.

Die Nacht brach heute früh herein. Ueber der Stadt hing ein dunkler Himmel voll schwerer Gewitterwolken. Kein Lüftchen regte sich, wohl aber quollen ganze Ströme von Blüthenduft aus allen Hausgärten in die stillen, schwülen Straßen.

Es hatte eben neun geschlagen, als die Seejungfer in Magdalenens Begleitung vor Werner’s Hause erschien, um Jacob den verheißenen Besuch abzustatten. Der große Thorflügel war leicht angelehnt, aus der schmalen Spalte aber drang ein so heller Lichtstrom, daß die Seejungfer sich nicht entschließen konnte, diesen lichten Streifen eigenmächtig zu erweitern und ihre schüchterne Gestalt in der vornehmen Atmosphäre da drinnen beleuchten zu lassen. Allein Magdalene schob ruhig den Flügel zurück und folgte der schnell hineinhuschenden Muhme durch die große, gewölbte Hausflur nach der Hofthür. Ein gegenüberliegendes, erleuchtetes Bogenfenster im Erdgeschoß zeigte ihnen den Weg nach Jacob’s Wohnung. Die Gardinen waren nicht zugezogen und ließen den Einblick in die kleine, traute Häuslichkeit völlig frei. Der Alte stand vor der altväterischen Wanduhr und zog sie mit großer Sorgfalt auf, seine Frau saß still bei der kleinen, blanken Lampe am weißgescheuerten Tische und strickte. Neben ihr vor dem Sorgenstuhl mit der hohen, gepolsterten Lehne lag das aufgeschlagene Gesangbuch aus welchem Jacob vermuthlich das Abendgebet vorgelesen hatte.

Die Gäste wurden freudig, aber auch mit Vorwürfen begrüßt, weil sie gar so spät kamen, und Jacob meinte, er kenne seinen Nachtraben, schon: das könne den Sonnenschein nicht vertragen und gehe nur bei Nacht um, wie ein Geist; worauf ihm Magdalene erwiderte, daß sich die Muhme doch noch mehr vor dem Lampenschein fürchte, weil sie durchaus nicht in die hell erleuchtete Hausflur gewollt habe.

„Ja, heute ist’s aber auch ganz erschrecklich hell da drüben, es ist großer Thee bei der Frau Räthin.“ sagte Jacob und um seine Lippen spielte ein leichter Humor, der sein Gesicht oft so charakteristisch machte. „Die Frau Räthin haben drei Tage lang Brezeln und Torten gebacken, Kapaune gebraten, gescheuert und Teppiche ausklopfen lassen, von denen kein Stäubchen kam, weil sie beinahe alle Tage durchgeprügelt werden …“

„Jedes will seine Freude haben,“ sagte Jacob’s Frau neckend, „und wenn die da droben das Fegen und das Wasser liebt, so bist Du kein Feind vom Bier – laß gut sein!“

Mit diesen Worten stellte sie einen kleinen Steinkrug voll schäumenden Biers auf den Tisch und gab ihrem Mann dabei einen leichten Schlag auf die Schulter: sie standen nämlich sehr gut zusammen, die zwei alten Leute. Dann holte sie von einer altersschwarzen Eckconsole – Kannröckchen genannt – drei schönbemalte Tassen, eine blanke Zuckerdose von Zinn und einen Teller voll Semmeln, lauter Vortruppen eines gemüthlichen Kaffees, der denn auch bald dampfend auf dem Tische stand.

Magdalene hatte sich während dieser Vorrichtungen, bei denen Jacob’s Frau nicht unterließ, sehr lebhaft zu erzählen und der Seejungfer Fragen vorzulegen, wie ermüdet aus ein niedriges Bänkchen nicht weit von des Alten Lehnstuhl gesetzt und starrte, das Kinn auf die Hand gestützt, unverwandt hinauf nach der gegenüberliegenden, glänzend erleuchteten Fensterreihe, deren Flügel der Schwüle wegen weit offen standen. Was sieht das junge Mädchen? … Die weißen Vorhänge blähen sich im Nachtwind, der feucht und leise vorüber streicht; denkt sie an die gewaltige Fluth, die an den heimathlichen Strand rauscht? Fern, fern zieht ein Boot und die weißen Segel schwellen im Winde … oder taucht aus der Masse prächtiger Schlingpflanzen in der Fensternische das Vaterhaus im Süden mit seinen sonnbeschienenen Mauern und der niedrigen Thür, aus welcher die goldlockige Mutter mit den hellen, frommen Augen tritt? … Droben auf einer hellen Wand, von dem blendenden Licht des Krystallkronleuchters überströmt, hängt das lebensgroße Oelbild eines Knaben, ein schönes, stolzes Kind mit leuchtenden Augen und einer wunderbar klaren Stirn unter der blonden Lockenfülle … und die blauen Augen leuchteten mit so [594] bezwingender Gewalt, daß Heimath und Vaterhaus in weite Ferne zurückfliehen, das sagen die träumerischen, schwarzen Augen drunten im ärmlichen Stübchen.

Einzelne Passagen auf dem Clavier drangen jetzt von drüben herüber und in eines der Fenster trat eine Gestalt, es war die blonde Antonie, die Enkelin der alten Räthin. Sie war ganz in Weiß gekleidet. Ihre entblößten, blendend weißen und sehr schön geformten Schultern umschloß ein wahrer Duft von Tüll und Spitzen, und auf dem weißblonden Scheitel lag ein Kranz von zarten Rosen. Sie sah sehr hübsch und elegant aus.

Kaum hatte sie sich in die Fensternische zurückgezogen, als Werner zu ihr trat. Das Licht des Kronleuchters fiel auch blendend auf seine Züge, wie auf das Bild des Knaben; die Aehnlichkeit zwischen Beiden war wunderbar, allein aus dem schmächtigen Kinde war ein hoher Mann mit fast königlicher Haltung geworden … Er faßte die Hand des jungen Mädchens zwischen seine Hände, als ob er sie beschwöre. Sie schien seinen Bitten widerstehen zu wollen, aber zuletzt, als er ihren Arm in den seinen legte, ging sie mit ihm und lachte hinter dem vorgehaltenen Fächer, als er seinen Kopf vertraulich herabbog und ihr Etwas zuflüsterte.

Magdalene hatte diese kleine Scene mit angesehen, ohne sich zu regen, aber sie biß die Zähne zusammen, wie im heftigen Schmerz, und mit sprühenden Augen verfolgte sie die junge Dame, die, jetzt ein Notenblatt in den Händen, zum Clavier trat. Gleich darauf erscholl eine ziemlich harte, spitze Stimme, die ein schönes, inniges Lied ohne alles Verständniß vortrug.

„Sie singt schlecht,“ murmelte Magdalene. „Ihre Stimme ist dünn und farblos wie ihr Haar.“

Als der Gesang schwieg, rauschte ein wahrer Beifallssturm durch den stillen Hof. Jacob aber bog sich zu Magdalene hinüber und legte seine Hand liebkosend auf ihren glänzenden Scheitel.

„Gelt, Lenchen,“ sagte er, „da machen’s unsere Glocken doch ganz anders. Wenn die anfangen, da weiß man gleich, weshalb sie den Mund aufthun, aus dem Gepimpel da droben aber kann kein Mensch klug werden … Weiß nicht, was die Leute davon haben, wenn ihnen so ein Messer durch die Ohren fährt.“

Da kam er jedoch schlecht an bei seiner Frau und der Seejungfer. Sie hatten den Gesang sehr schön gefunden und konnten sich nicht satt sehen an der jungen Dame droben, wie sie beim Singen das bekränzte Haupt hin und her bog und die Augen zum Himmel aufschlug; ja, sie behaupteten sogar, sie sähe aus, wie ein leibhaftiger Engel, als sie gleich darauf in die Fensternische trat, wo die hohe Gestalt Werners während des Gesanges regungslos gelehnt hatte. Und als sie nun vertraulich ihre Hand auf seinen Arm legte und ihm mit einer graziösen, schelmischen Bewegung ein riesiges Bouquet an das Gesicht hielt, damit er den Blumenduft einathme, da meinten die zwei Alten, der müsse doch kein Herz im Leibe haben, der sich nicht auf der Stelle in sie verliebe.

„Ach, laßt mich in Ruhe,“ sagte Jacob und das ironische Lächeln erschien in seinem Gesicht. „Ihr seid auch gerührt, wenn die Spittelweiber in der Kirche neben Euch zetern, daß einem Hören und Sehen vergeht … Und wenn so ein junges Ding, wie die da, in einer weißen Fahne steckt, da sind alle himmlischen Heerschaaren Bettelvolk dagegen! … Das Mädel da droben ist nicht um ein Haar besser, als die Alte auch, sage ich Euch. Keine weiß sich zu lassen vor Hochmuth … und wenn die Kleine jetzt so schön thut und heuchelt und schmeichelt, so weiß sie auch, warum. Sie ist arm, wie eine Kirchenmaus, und es wäre gar nicht bitter, sich hier in die Wolle zu setzen und eine reiche Frau zu werden … Aber Herr Werner ist nicht auf den Kopf gefallen, der sieht durch zehn Wände, wo die Leutchen hinauswollen.“

Er nahm bedächtig eine Prise Schnupftabak, die er während der ganzen Demonstration zwischen den Fingern gehalten hatte, dann fuhr er fort:

„Ihr braucht Euch überhaupt nicht einzubilden, daß mein junger Herr Eine aus hiesiger Stadt freit, das weiß ich besser …

Da hab’ ich heute gegen Abend noch ein wenig gefegt in seiner Stube, wo er malt – nun, wie nennt er’s doch gleich?“

„Atelier,“ sagte Magdalene, ohne den Kopf nach ihm umzuwenden.

„Ja, richtig … und da lag auf dem Tisch ein großes Bild, es war mir gezeichnet, wie Du’s nennst, Lenchen, nicht bunt gemalt. Ich konnte das Gesicht nicht erkennen, weil ich nicht so nahe hingehen mochte; aber so viel hab’ ich doch gesehen, daß es eine Frauensperson war, die ein weißes Tüchelchen auf dem Kopfe hatte, wie Deine sel’ge Mutter in Welschland eines getragen hat, Lenchen. Da kam gerade Herr Werner herein … er lachte, wie er meinen langen Hals sah. Nachher deckte er aber geschwind ein Tuch auf das Bild und sagte zu mir: ‚Höre, Jacob, das brauchst Du gerade noch nicht anzusehen; aber ich will Dir Etwas verrathen, die da auf dem Papier wird einmal meine Frau.’ … Er ist ja sechs Jahre in Welschland gewesen und dort soll’s gar erstaunlich schöne Weibsbilder geben.“

Mit höchster Aufmerksamkeit, aber regungslos hatte Magdalene dem Alten zugehört. Sie legte den Kopf an die Wand, die Hände ruhten zusammengefaltet auf den Knieen und die langen Wimpern lagen tief gesenkt auf den bleichen Wangen, als ob sie schliefe.

Unterdeß wurde droben tapfer weiter musicirt. Antonie ließ sich noch einige Male erbitten, sie sang sogar eine colorirte italienische Arie, deren Ausführung den alten Jacob zu dem Vergleich veranlaßte, es sei gerade, als ob Jemand die Treppe herabfiele und Hals und Beine bräche… Der junge Werner war schon längst vom Fenster zurückgetreten und schien auch das Zimmer verlassen zu haben, denn man sah ihn nicht mehr.

Eben, als vier Hände in einem Concert das Clavier nicht gerade meisterhaft bearbeiteten, wurde an Jacob’s Fenster geklopft, und als der Alte es öffnete, reichte Werner’s Bedienter ein Körbchen voll prächtiger Orangen nebst einem Gruß seines Herrn herein. Der Bursch fügte ausdrücklich hinzu, er habe schon früher herüber gesollt, allein erst sei er beim Präsentiren des Thees beschäftigt gewesen und eben noch habe er Wein herumreichen müssen.

Jacob hielt mit einem strahlenden Gesicht Magdalenen das Körbchen hin.

„Siehst Du, Lenchen,“ sagte er, „das macht mir große Freude Deinetwegen … Weißt Du noch, daß Du Dich einmal beinahe krank nach einem solchen gelben Ding gesehnt hast?“

„Ja,“ sagte das Mädchen und hob die Augen zu ihm empor; sie schwammen in Thränen. „Ich weiß es noch, guter Jacob. Du machtest mich wieder gesund, indem Du für theures Geld eine Orange kauftest und mir auf den Thurm brachtest. Damals war es mir, als hätte ich einen Blick in meine Heimath gethan, ich war glückselig … Jetzt aber könntest Du mir Schätze hinlegen, ich möchte um Alles in der Welt keine dieser Früchte berühren.“

Jacob sah sie erstaunt an, aber die Seejungfer, die bei all ihrer harmlosen Anschauung die Weigerung des Mädchens nach der stattgehabten heutigen Scene doch erklärlich fand, zupfte ihn bedeutungsvoll an der Jacke, wobei sie ihm zublinzelte. Er schwieg denn auch, holte sein Taschenmesser hervor und zerlegte eine Orange für die beiden alten Frauen.

Drüben im Hause war es stiller geworden. Die Musik war verstummt; auch das Stimmengesurr hatte nachgelassen. Statt dessen grollte ganz fern der Donner, der Nachtwind blies heftiger durch die offenen Fenster, jagte die Vorhänge wie weiße Schwäne hinaus in die pechdunkle Nacht und warf einige Thüren ins Schloß.

Der Seejungfer wurde bange. Sie trieb zum Aufbruch, und bald eilten die zwei Frauen, die Köpfe in große Tücher gehüllt, über den Hof.

In der offenen Glasthür, welche die Treppe von der Hausflur abschloß, stand Antonie, die Enkelin der Räthin. Sie hatte eben die scheidenden, in Capuzen und Mäntel gehüllten Freundinnen der Reihe nach geküßt und wandte sich lachend zum Fliehen, weil einige derselben sie mit dem „bezaubernden Vetter“ neckten, als sie die Seejungfer und Magdalenen gewahrte, die sich eben erschrocken wieder zurückziehen wollten. Das junge Mädchen zog die weißblonden Augenbrauen in die Höhe, sah noch einmal blinzelnd hinüber, wobei ein überaus hochmüthiger Zug um Mundwinkel und Nasenflügel erschien, und winkte dann einem mit der Laterne auf seine Herrschaft wartenden Bedienten, der sofort in barscher Weise frug, was die Beiden hier zu suchen hätten. Als sie schwiegen, drehte sich das blonde Mädchen mit einer systematisch nachlässigen Bewegung nach der Treppe um und rief mit dem Ton eines verzogenen, vornehmen Kindes hinauf:

[595] „Großmama, es sind fremde Leute in der Hausflur!“

Die alte Räthin, die mit einem sehr dicken Herrn langsam im Gespräch herabkam, beeilte möglichst ihre Schritte, und als sie nun unten stand, zornig das falsche Toupet unter der großen Haube schüttelnd, da versammelten sich die in Kapuzen gehüllten jungen Freundinnen schleunigst um sie, wie die Lämmer um den getreuen Hirten, in den frommen, schuldlosen Zügen einen nicht zu bezweifelnden Abscheu, verbunden mit dem Ausdruck unendlicher Wißbegierde. Selbst der Bediente gesellte sich zu der Heerde und hielt, trotz des Lampenlichtes, das von der Decke herabfloß, seine Laterne über die Köpfe der Delinquentinnen, um sie gleich von vornherein der Möglichkeit zu berauben, ihre verbrecherischen Absichten in ein wohlthätiges Dunkel zu hüllen.

Die alte Dame faßte ohne Weiteres das schwarze Tuch, das die Seejungfer über ihren Kopf gebunden hatte, und zog es herunter.

„Das ist ja die Seejungfer,“ sagte sie mit harter blecherner Stimme. „Und wer ist denn diese Mamsell da?“ fuhr sie fort, indem sie ihren dürren Zeigefinger nach Magdalenen ausstreckte. „Die mummt sich ja ein, als wäre sie das böse Gewissen selbst. … Auf der Stelle sagt, was Ihr hier gewollt habt.“

Magdalene schwieg abermals, und die Seejungfer brachte vor Schrecken kein Wort heraus.

„Nun, könnt ihr nicht antworten?“ fragte streng der dicke Herr, ohne Zweifel ein allmächtiger Beamter, dem die Justiz aus Stirn, Augen, Nase, ja, womöglich aus den Rocktaschen guckte. Er hatte mit der Frage zugleich seinen Stock derb auf das Steinpflaster gestampft und schien die unglückliche Seejungfer mit seinen Blicken durchbohren zu wollen. Diese Manöver brachten denn auch endlich Suschens erstarrte Zunge in den erwünschten Fluß, und stammelnd erklärte sie, daß sie bei Jacob gewesen seien.

„Ach, liebster Egon,“ rief in diesem Augenblick sich umdrehend, die alte Räthin mit möglichst weicher und milder Stimme, als am oberen Treppengeländer der junge Werner erschien, „hier hast Du den schlagendsten Beweis, daß meine wohlgemeinten Vorstellungen begründet gewesen sind. Mit diesem Jacob hast Du Dir – mich will ich gar nicht nennen – eine wahre Ruthe aufgebunden. Unter dem Vorwand, ihn zu besuchen, schleicht sich bei Nacht und Nebel allerhand Volk in’s Haus, und man wird künftig genöthigt sein, über jeden silbernen Löffel die Hand zu halten.“

Bei dieser abscheulichen Schlußwendung trat Magdalene rasch gegen die Sprechende vor. Das Tuch war vom Kopf auf die Schultern gesunken, und so stand sie mit sprühenden Augen, das ideale Haupt hoch gehoben, vor der alten Frau, welche sie erschrocken und verblüfft ansah. Zugleich war Werner die Treppe herabgesprungen. Eine flammende Röthe bedeckte sein Gesicht, und als er zu sprechen anfing, bebte seine Stimme wie im heftigen Zorn.

„Was fällt Ihnen ein, Tante,“ rief er, „diese Leute ohne Weiteres so zu beleidigen? … Ist es ein Verbrechen, wenn sie Bekannte aufsuchen? … Ich habe Ihnen bereits einigemal erklärt, verehrteste Frau Tante,“ fuhr er fort, und sein Ton klang spöttisch, „daß ich durchaus nicht leide, wenn Sie mir den Jacob anfechten, und sehe mich in diesem Augenblick genöthigt, diese Erklärung insofern zu vervollständigen, als ich auch Diejenigen unangefochten sehen will, mit denen er verkehrt.“

Mit diesen Worten schritt er nach der Hausthür, öffnete sie und sagte mit einer leichten Verbeugung den zwei Frauen gute Nacht, die eiligst hinausschlüpften.

Bald nachher entlud sich ein heftiges Gewitter über der Stadt; und wenn die gelben Blitze um das alte Kloster zischten und die kleine Kammer Magdalenens tageshell durchflammten, da beleuchteten sie das Mädchen, wie sie bleich, die Hände tief eingewühlt in das aufgelöste, reiche Haar, auf dem Bett saß – einem größeren inneren Sturm preisgegeben, als der war, der draußen an den alten Mauern rüttelte.


„Ach, Du lieber Gott, Jacob, ist das ein Schicksal mit dem Lenchen!“ seufzte die Seejungfer einige Tage nach jenem Vorfall, indem sie Jacob’s Stübchen betrat.

„Ja, was ist denn mit dem Mädchen?“ fragte Jacob erschrocken.

„Hättet Ihr denn geglaubt, daß mir das Mädchen das noch in meinen alten Tagen anthun würde?“ entgegnete Suschen, und heiße Thränen liefen über ihre Wangen. „Ich bin ein armes, geplagtes Weib mein Lebtag gewesen,“ fuhr sie fort, „aber ich habe Alles geduldig auf meinen Rücken genommen, so wie mir’s unser Herrgott bescheert hat, aber jetzt wird mir’s zu viel… Das ist doch das Schlimmste, was ich nun noch erleben soll, das Lenchen will fort, will durchaus fort in die weite Welt, und ich soll nun wieder allein sein. Bin nun meine sechszig Jahre alt, muß jeden Tag auf mein selig Ende gefaßt sein, und habe keine Menschenseele, die mir die Augen zudrückt… Ach, ach!“

„Ja, wie kommt denn das Mädchen mit einem Mal auf den Gedanken?“ fragte Jacob erstaunt.

„Ich weiß nicht,“ entgegnete die Seejungfer, indem sie ihre Augen mit dem Schürzenzipfel trocknete, „aber sie ist gerade wie ausgewechselt seit dem Abend, wo die alte Räthin da drüben – na, die Strafe wird da auch nicht ausbleiben – so grob mit uns war. Das Mädchen ißt und trinkt nicht mehr, und gestern Abend, als wir still bei einander saßen und noch kein Licht angesteckt hatten, da legte sie ihren Arm um meinen Hals, wie sie als Kind immer gethan hat, wenn ich ihr was gab, oder sie ins Bett brachte… ‚Liebe, gute Muhme,’ sagte sie, ,Ihr habt mich lieb, gelt? … Ich weiß es ja, so lieb, als ob ich Euer eigen Kind wäre… Eine gute, echte Mutter bringt ihrem Kind jedes Opfer und fragt nicht, ob es schwer oder leicht ist – gerade so habt Ihr ja auch immer an mir gehandelt… Und wenn nun so eine Mutter weiß, daß ihr Kind rechte Schmerzen leidet, und einsieht, daß es nur wieder gesund werden kann, wenn sie sich von ihm trennt, so – thut sie das auch, gelt, Muhme?’ Ach, Jacob,“ unterbrach sich die Seejungfer, und neue Thränen stürzten hervor, „ich wußte zwar eigentlich noch nicht, wo sie hinaus wollte, aber so viel merkte ich doch, daß sie nicht mehr bei mir bleiben will, und da weinte ich bitterlich… Sie sagte mir nun, daß sie’s hier nicht mehr aushalten könne – die Menschen seien nicht gut gegen sie; sie wolle in einer fremden Stadt einen Dienst suchen. Gelernt hätte sie ja ihre Sache und verspräche mir heilig, daß sie mir jeden Groschen, den sie verdiene, schicken wolle… All mein Zureden war in den Wind gesprochen, und als ich Licht gemacht hatte, da holte sie ihr Sparbüchschen aus dem Schranke und zählte das Geld – es waren sechs Thaler – wie sauer hat sie die verdient! Sie meinte, damit käme sie freilich nicht weit, doch bis in eine andere größere Stadt reiche es vielleicht… Ach, Jacob, ich bitte Euch um Gotteswillen,“ wandte sich die Seejungfer an den Alten, „redet dem Mädchen die Sache aus! … Ich schlafe keine Nacht mehr ruhig, wenn ich das Lenchen unter fremden Leuten weiß … sie ist ja so absonderlich; es wird Niemand die Geduld mit ihr haben, wie ich, und sie wird schlecht behandelt.“

Jacob’s Frau, eine sehr praktische Natur, beleuchtete die Sache von einer anderen Seite und meinte, das könne vielleicht dem Lenchen sein Glück sein. Die Seejungfer habe ja auch nicht das ewige Leben, und dann müsse das Mädchen doch hinaus. Davon aber wollten weder Suschen, noch Jacob Etwas hören, und letzterer versprach der geängsteten allen Jungfer, heute Abend noch ins Kloster zu kommen und Lenchen den Kopf zurecht zu setzen, wie er sich ausdrückte.

Die Seejungfer hatte nicht übertrieben, wenn sie Magdalenen gänzlich umgewandelt nannte… Wo war die Elasticität ihrer Bewegungen geblieben? Jene sichere, stolze Haltung des Kopfes, die an ihr stets auffallen mußte und die im Verein mit den ausdrucksvollen Gesichtszügen und dem eigenthümlich bewußten Blick auf eine große geistige Kraft schließen ließ? … Das Aussehen des jungen Mädchens schien selbst den Klosterbewohnern aufzufallen; denn heute, als sie der Muhme den Waschkorb bis an das äußere Thor getragen hatte und nun über den Hof langsam zurückkehrte, da schob der Nachbar, ein fleißiger Leinweber, sein Fenster auf und rief:

„Na, Lenchen, Du bist wohl so traurig, weil die ungezogenen Kinder das alte Muttergottesbild aus dem Kreuzgang drüben, Deine Marie, vor der Du so oft sinnend gesessen hast, von dem Postamente heruntergeworfen haben?“

Magdalene sah auf, als erwache sie aus einem Traume; er aber sagte: „Nun ja, wenn Du’s noch nicht weißt, da gehe einmal hinein – ich hab’s heute Morgen gesehen.“

Auf des Leinwebers Mittheilung hin öffnete Magdalene die Thür und sah auch schon von Weitem das Marienbild vor dem Postament liegen. Vor einigen Wochen noch, als einer der Knaben hinaufgeklettert war und im Begriff stand, das hölzerne Gesicht [596] mit schwarzen Augenbrauen und einem eben solchen Bart zu versehen, hatte sie dem kindlichen Vandalen eine so leidenschaftliche Strafpredigt gehalten und ihn mit so zornigen Augen dabei angesehen, daß er erschrocken davongelaufen war. Heute aber hob sie still und geduldig das geschändete Bild auf, wischte die Erde aus dem Gesicht und lehnte es sorgfältig in die Ecke neben das Postament. Dann schritt sie langsam durch den großen, offenen Bogen hinaus auf den Rasenplatz, der, von Kirche und Kloster rings eingeschlossen, einsam und sonnenbeschienen dalag… Wie oft war sie flink über diesen Grasfleck weggehuscht, um gewandt auf einigen Mauervorsprüngen nach dem offenen Kirchenfenster zu klettern, in welchem sie verschwand. Dann war sie allein in der schaurig stillen Kirche; nichts störte sie, als der Schall ihrer eigenen Schritte, oder das Gezwitscher eines Vogels, der sich draußen auf dem Hollunderbusch niederließ, neugierig den Kopf in die düsteren, kühlen Hallen steckte und dann erschrocken davon flog, um sich aufs Neue im Sonnenglanz zu baden. Hier unter diesen gewaltigen Säulen athmete sie auf, und ihrer im engen Stübchen mattgedrückten Seele wuchsen die Schwingen… Ihre Phantasie beschwor die Zeiten heraus, wo noch der Weihrauch durch diesen Raum fluthete, wo die Hora klang und prächtige Meßornate am Hochaltar schimmerten. Sie sah bleiche Nonnengesichter an der zertrümmerten Orgel sitzen und mit bebenden, blassen Händen die vergilbten Tasten berühren … wie manchmal mochten diese Töne den Schmerz eines heißen, gewaltsam unterdrückten Herzens ausgehaucht haben… Sie beobachtete die Sonnenstrahlen, wie sie durch die Reste der bunten Glasmalerei im hohen Fensterbogen glitten, die Farbenpracht zitternd auf die schlanken Säulen warfen und sie hinauftrugen in die kunstvollen Schnörkel und Rosetten der Knäufe, die wohl seit dem letzten Meißelschlag des längst in Staub und Asche zerfallenen Meisters keine Menschenhand wieder berührt hatte. Stundenlang konnte sie neben jenem alten Madonnenbilde sitzen und sich in die Heimath träumen, wo sie Tausende in heißer Inbrunst vor einem solchen Bild hatte knieen sehen, wo ihr Vater nie vorübergegangen war, ohne ehrfurchtsvoll das Haupt zu entblößen und gläubig das Zeichen des Kreuzes zu machen. …

An alle diese Dinge aber schien Magdalene in diesem Augenblick nicht zu denken. Es war, als bebe sie fröstelnd vor den dunklen Kirchenmauern zurück und als fühle sie zum ersten Mal die todtenähnliche Stille des verlassenen Tempels, der im glühenden Sonnengold dalag wie ein riesiger Leichnam unter Purpur und goldenen Decken. Sie hatte sich, den Rücken nach der Kirche gewendet, unter einen alten Apfelbaum gesetzt, auf dessen verwittertem Stamm sich nur noch ein einziger, aber breiter und voller Ast wiegte. Lang aufgeschossene Gräser, an denen grüngoldene Käfer geschäftig auf- und abliefen, bogen ihre befiederten, blühenden Spitzen an ihre Kniee, und eine zahlreiche Familie großer Camillen duftete zu ihren Füßen.

… Und wenn sie nun Muhme, Kloster und Stadt verließ; wenn sie hinausging in die weite Welt, über dem Haupt mit den quälenden Gedanken einen anderen Himmel; wohin sie blickte, fremde Gesichter, auf denen nichts Wohlbekanntes stand; ihr ungestümes Herz inmitten einer Menschenfluth, die achtlos vorüber brauste, nichts von ihr nahm und nichts zurückgab – ja, das gerade wollte sie, allein sein, nichts mehr hören vom Vergangenen, keinem liebevoll und ängstlich fragenden Blick begegnen … vergessen, vergessen! Darin lag die Heilung eines plötzlich aufgerüttelten Herzens, das im Riesensturm ungeahnter, neuer Empfindungen ihr ganzes Inneres aus den Fugen zu reißen drohte… Wohl fielen die Thränen der alten, treuen Muhme schwer in die Wagschale und rissen an tausend zarten Fäden ihrer Seele; aber wie klein war dieser Schmerz gegen die Qual, die sie sich durch ihr Bleiben auferlegte, unter der sie erliegen mußte, wenn sie nicht floh! … Wie furchtbar hatte sie in den letzten Wochen gelitten! Sie meinte, sich selbst verachten zu müssen, weil sie da nicht hassen konnte, wo sie sollte und mußte… Wie geschäftig war ihr Herz gewesen, einen strahlenden Nimbus um sein Bild zu zaubern, als er neulich sie und die Muhme gegen seine Tante beschützte! Tags darauf begegnete sie ihm im Klosterhof, als er den Kirchenschlüssel bei der Muhme holen wollte. Sein eisiges Gesicht, die vornehme Ruhe seiner Haltung und die welligen, gleichgültigen Worte, die er an sie richtete, zeigten ihr abermals, wie thöricht es sei, in diesem kalten Herzen reges Mitgefühl vorauszusetzen. Er hatte einfach seine Rechte als Hausherr der anmaßenden Tante gegenüber vertreten wollen, und deshalb war es ihm jedenfalls sehr gleichgültig, wer die Veranlassung zu dieser Zurechtweisung gewesen.

Ein Vogel, der lange auf einem Zweig über ihr auf- und abspaziert war, flog schnell davon. Sie beachtete es nicht; als sie aber den seinen Duft einer Cigarre plötzlich einathmete, da fuhr sie erschrocken in die Höhe und blickte um sich. Eine Männergestalt, den Rücken nach ihr gekehrt, saß nicht weit von ihr auf einem großen, bemoosten Steine und zeichnete. Diese Männergestalt war Werner … Er schien in seine Arbeit so vertieft, daß Magdalene, welcher das Herz vor Schrecken heftig klopfte, hoffen konnte, er habe sie gar nicht gesehen und sie könne unbemerkt entschlüpfen.

Leise erhob sie sich und glitt wie ein Schatten unter dem überhängenden Ast weg, das Auge voll Angst auf den emsig Zeichnenden geheftet. Aber kaum hatte sie sich einige Schritte weit entfernt, als Werner, ohne aufzublicken, hinüberrief:

„Verzeihen Sie, daß ich in Ihr Reich eingedrungen bin!“

Darauf wendete er sich um nach ihr und lüftete den Strohhut, der leicht auf seinem dunkelblonden Haar saß.

Augenblicklich verwandelte sich Magdalenens Gesicht und Haltung. Die scheue Angst verschwand und machte einem finsteren Trotz Platz.

„Mein Reich?“ wiederholte sie bitter, indem sie stehen blieb.

„Nicht eine Fußstapfe Weges hier möchte ich so nennen, ohne mit der wohllöblichen Stadtbehörde in Conflict zu gerathen.“

„Nun, auch ich will sie nicht in ihrem Besitz verkürzen,“ entgegnete Werner, indem er gleichmüthig mit dem Gummi eine nichtgerathene Linie wegwischte. „Ich kann jedoch nicht glauben, daß sie auch Beschlag legt auf die mystische Luft, die um die alte Kirche weht, und in diesem Reich, meine ich, begegnen wir uns. Ich kann nicht einen Augenblick auf diesem Stein sitzen und das dunkle Gemäuer gegenüber ansehen, ohne daß nicht auch sogleich geheimnißvolle Gestalten auftauchen, welche jene Bögen, Nischen und Pfeiler bevölkern … In der Fensterhöhle dort, die auch nicht eine einzige Glasscheibe mehr aufzuweisen hat, sehe ich z. B. stets eine Mädchengestalt aus- und einschlüpfen, so oft ich auch hinüberblicke … vielleicht der Schatten einer unglücklichen jungen Nonne, welche das schöne Leben gänzlich nicht verstanden hatte und nun ruhelos das verschmähte Glück sucht – was meinen Sie dazu?“

Magdalene fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Ohne Zweifel hatte Werner sie auf ihrem Weg in die Kirche beobachtet. Sie war entrüstet über diese Indiskretion, sagte aber ziemlich ruhig:

„Ich habe hier ganz und gar keine Meinung. Die Spukgestalten des Klosters haben mich bis jetzt nicht für würdig gehalten, sie sehen zu dürfen. Auf alle Fälle möchte ich jedoch jener vermeintlichen Nonne rathen, sich künftig auf ihre enge Behausung zu beschränken, denn es mag selbst einem Schatten nicht gleichgültig sein, wenn ein fremder Blick in sein Walten und Wesen eindringt.“

Ein feines Lächeln, das jedoch ebenso schnell wieder verschwand, erschien im Gesicht des jungen Mannes. Er blickte aufmerksam nach dem Kirchenfenster, warf in zarten Linien die schöne, reine Spitzbogenform auf das Papier und sagte gelassen:

„Gewiß nicht, vorzüglich wenn dieser Schatten, von bitterer Weltanschauung erfüllt, in jedem harmlosen Begegnenden eine feindliche Gestalt sieht, die ohne Weiteres mit Feuer und Schwert bekämpft werden muß …. Weh mir, wenn jene Himmelsbraut so denkt! Ich komme dann vielleicht in den traurigen Fall, bei der nächsten Begegnung als unschuldiges Opfer einer Rache zu fallen, welche die Erdbewohner des sechszehnten Jahrhunderts heraufbeschworen haben.“

„Wie leicht mag es sein, über trübe Lebenserfahrungen zu spotten, wenn man im Schooße des Glückes sitzt!“

„Ohne Zweifel sehr leicht, nicht ganz recht zwar und vielleicht auch ein wenig leichtsinnig … aber ich weiß nicht, ob ich diesen gefährlichen Uebermuth nicht weit weniger verdammungswürdig finden soll, als z. B. das Gebahren einer jungen Seele, die nach trüben Erlebnissen und Enttäuschungen alle Fühlfäden einzieht und sich der gräulich verderbten Welt nur bis an die Zähne bewaffnet zeigt. … . Ah, ich sehe deutlich an Ihrem Gesicht, daß Sie nicht meiner Meinung sind!“

[597]

Herrgottshändler.


Er legte den Bleistift hin, stützte den Ellenbogen auf das Zeichenbret, welches auf seinen Knieen lag, und maß das junge Mädchen mit einem sarkastischen Lächeln.

„Gut denn,“ fuhr er fort, „Sie sind ein Anwalt jener Seele aus dem einfachen Grunde, weil Sie ebenso handeln würden oder vielleicht schon so gehandelt haben. Aber ich sehe nicht ein, was Sie berechtigt, der gesammten Menschheit so ohne weiteres den Fehdehandschuh hinzuwerfen. … Sie stehen hier auf einem eng begrenzten Fleckchen Erde. Dort drüben hören die Klostermauern auf, dann sind da draußen einige wenige Straßen mit wenigen, wenigen Menschen, weiter kommt etwas Feld und Wald mit der einsamen Spitze eines Dorfkirchthurms oder den langen Armen [598] eines Wegweisers, und dann ziehen die Berge eine enge Linie, über die das Auge nicht hinaus kann; ich wette, weiter kam auch Ihr Fuß und Blick nicht, als bis zu diesem Horizont! …“

„Und deshalb ist es eine unverzeihliche Anmaßung von mir, ein Urtheil über Welt und Menschen zu haben,“ unterbrach ihn Magdalene, indem sie auf seinen spöttischen Ton einzugehen suchte, wobei jedoch ihre Stimme merklich zitterte. „Es giebt aber noch andere Wege,“ fuhr sie fort, „die über engen Horizont und beschränkte Verhältnisse hinausführen, und ich nehme mir deshalb die Freiheit, zu denken, daß die moralischen Gebrechen der Menschheit überall dieselben sind – wie sich ja der Mond mit seinen Flecken im kleinsten Gewässer genau so abspiegelt, wie im unermeßlichen Weltmeer… Uebrigens,“ fuhr sie nach einer Pause fort, indem sie tief Athem schöpfte, „muß ich Sie ersuchen, nicht zu früh zu wetten; denn ich habe diese Berge schon einmal überschritten und weiß seit jenem Moment genau, was jene ersten, unseligen Menschenkinder empfinden mußten, als das Paradies hinter ihnen geschlossen wurde – ich vertauschte damals meine südliche Heimath mit dem Norden.“

„Ach, Sie waren ja damals noch ein kleines Kind!“

„Aber kein Kind, das gedankenlos auf dem heimischen Boden umherhüpft, das, infolge der Gewohnheit des täglichen Anschauens, keinen Begriff für Schönheit oder Häßlichkeit seiner Umgebung hat!“ entgegnete Magdalene heftig. „O, ich wußte, daß meine Heimath schön war! … Der Schaum des Meeres netzte meine Füße, und über mir rauschte der Lorbeer… Und das Sonnenlicht, wie flammt es dort! wie glüht der Mond, wenn er feierlich heraufschwebt! Das ist Licht und Gluth, das ist Leben! … Ihr nennt die blasse Luft da droben ‚den Himmel‘… Wenn Sonntags die Kirchenglocken verstummt sind, dann verlaßt ihr euer Haus und wandelt bedächtigen Schrittes vor die Thore, erzählt euch, was euer Nachbar Alles nicht hätte thun sollen, und sagt dann und wann: ‚Ei, wie schön blau ist heute der Himmel!‘ … Ach, daheim, da lag ich stundenlang vor der Thür, unter den Bäumen! Ich hörte das Brausen des Meeres, wie es sich gegen den Strand bäumte; auf den Zweigen über mir zitterte es golden – sie bewegten sich leise, und das tiefe, prächtige Blau fluthete herein – das ist Himmel! – der Himmel, den ich mir voll schöner Engel denke! … Man schleppte mich hierher, wo die Sonne mich kalt ansieht, wie die Augen der Menschen; wo der Schnee lautlos niederfällt und tückisch die letzten Blumen erstickt. Ich wurde unter einen Haufen roher, wilder Kinder gesteckt. Das Kind, das bis dahin nur die weiche Hand einer zärtlichen Mutter berührt, das ein treues Vaterauge ängstlich und unausgesetzt bewacht hatte, weil es das einzige ihm gebliebene war, es wurde von der ausgelassenen Kinderschaar verfolgt und gemißhandelt, weil es arm, fremd und – häßlich war und weil es nicht sein wollte wie sie, die um einen elenden Apfel rauften und die sich gegenseitig die Fehler und Mängel ihrer Eltern vorwarfen… Ich lernte den Unterschied zwischen Reich und Arm bitter erkennen. Der goldene Glaube, daß das Brod vom Himmel falle, zerstiebte an der sorgenvollen Stirn der alten, guten Muhme, die mühsam um den täglichen Unterhalt rang und die von den Nachbarn geschmäht wurde, weil sie mich, die Last, sich aufgebürdet hatte… Ach, wie oft empörte sich mein heißes Kinderherz! Wenn ich allein war, warf ich mich auf den Boden, weinte und schrie und rief nach meiner todten Mutter.“ …

Magdalene war, während sie sprach, wieder unter den Baum getreten. Das heiße Auge auf die Kirche gerichtet, sprach sie, als habe sie ihres Zuhörers vergessen und als quelle wider ihren Willen ein Gedankenstrom, bis dahin mühsam gebändigt, an das Licht, nicht achtend, an welche Ufer er rausche. Bei den letzten Worten schlang sie ihre Arme heftig um den Baumstamm und drückte die Stirn an die harte Rinde.

(Schluß folgt.)




Land und Leute.
Nr. 21. Herrgottshändler.
(Mit Abbildung.)

So reich und bunt geschmückte Dorfkirchen wie in Tirol trifft man wohl nirgends in den Alpen. Die ärmste Gemeinde verwendet auf einen Sammetbaldachin mit Goldtressen oft mehr, als das Capital beträgt, dessen Zinsen zur Erhaltung des Schullehrers dienen, und die Hochwürdigen wissen bei ihren Sammlungen für solche Zwecke auch die Sparkreuzer der Armuth flüssig zu machen. Das wäre freilich unmöglich, entspräche nicht diesem Ansinnen die Vorliebe des Volkes für bildnerischen Schmuck. In jedem Bauernhause begegnet man schönen „Gemahlern“ wenigstens im Winkel über dem Eßtisch, wo das Crucifix hängt. Darunter nickt meistens eine Gerte der dornigen Gleditschie, mit der Christus gekrönt worden sein soll, obwohl dieser Baum erst aus Amerika eingeführt ward, und ein Oelzweig, der am Palmsonntag geweiht wurde und das Einschlagen des Blitzes verhindert. An den Füßen des Erlösers bemerkt man etliche Maiskolben, rothe oder gelbe, wie sie eben durch Schönheit ausgezeichnet sind.

Das Bedürfniß nach Kunstwerken ist daher ein sehr großes, nur dürfen sie nicht viel kosten, weil die Leute nicht viel zahlen können. Da findet man fast in jedem Thale einen Tuifelmaler, der freilich auf keiner Akademie Studien machte, aber dafür auch nicht viel fordert. Er streicht die Kreuze auf dem Friedhof an und schreibt schöne Sprüchlein darauf – in den Friedhof von Achenthal verirrten sich sogar Verse von Klopstock und Hölty! – er malt an die Läden des breiten Ehebettes Lilien und Rosen, bei welchen ihm vielleicht statt der duftigen Blüthe Aphrodite’s ein sechspfündiges Tirolerknödel als Modell vorgeschwebt zu haben scheint. Um das Glas zu ersparen, klext er gleich die Bilder selbst mit dicker Oelfarbe auf die Rückseite einer Glastafel, schließt diese in schwarze Rundstäbe ein und ladet etliche Dutzend zwischen Heu gepackt einem Händler auf den Rücken, der sie von Haus zu Haus ausbietet. Nebenbei vertrödelt er gräuliche Holzschnitte, meist Illustrationen zu „Gebethern“ und Viehsegen, gewöhnlich auch noch mit einem Ablaß auf hundert Tage oder sieben Jahre versehen. „Gaggesbeten“ – Rosenkränze, die aus den Körnern einer Grasart, der sogenannten Josephszehe, mit Messingdraht geflochten sind – werden auch sehr geschätzt und viel begehrt. In großer Auswahl kann man diese Herrlichkeiten auf den Jahrmärkten der Dörfer in hölzernen Buden ausgestellt sehen. Bisweilen ergreift ein solcher Künstler auch den Pinsel des Frescomalers und ziert Capellen. Dabei thut es nichts, wenn bei einem Heiligen Hand oder Fuß fehlt, nur müssen die Höllenflammen hübsch in Zinnober brennen und die Verdammten schreckliche Gesichter schneiden, über welche Thränen wie Haselnüsse herabfließen.

Steht die Malerei hoch in Ehren, so wird ihre Schwester, die Plastik, nicht weniger gefeiert, und der „Herrgottschnitzer“ hat einen Künstlerstolz wie ein Phidias. Besuchen wir ihn im Winter in seinem Atelier. Da sitzt er, den kurzen Pfeifenstummel im Mund, das Messer in der Hand, und arbeitet, daß die Spähne fliegen.

„Was machst Du, Alter?“

„Milchschüsseln aus Zirmholz.“

„Zu was hast Du die Lärchenstöcke hier?“

„Das giebt Knospen für die Hirten.“

Unter „Knospen“ versteht man die groben Holzschuhe, mit denen die Sennen auf den steinigen Almen herumstolpern.

„Und der Plunder da?“

Unser Meister wird unwillig und wirft die Pfeife weg. „Was Plunder? Gehst unteri mit dem Geschwätz. Das werden ‚Herrgotte‘ und ‚Muttergottessen‘, daß Du eine Freud’ dran haben kannst. Aber das Hauptstück habt Ihr doch nicht ausgeschnüffelt. Da ist’s!“ Mit stolzem Blick zeigt er uns einen Pfeifenkopf, den er sorglich aus Maßholder gemeißelt. Den soll sich der Postmeisterbua für einen Thaler kaufen und mit Silber fassen lassen.

Mitunter kommen aber auch andere Bestellungen. Da ist ein neuer Calvarienberg einzurichten, dort ein Florian für einen neuen Brunnen zu machen. Der muß extra schön werden, mit goldenem Helm, silbernem Harnisch, verdrehten Beinen und einem tüchtigen Eimer. In neuester Zeit ist der Gute freilich ein bischen [599] aus der Mode; jüngst schrieb sogar ein Unterländer unter sein Bild an die Brunnensäule:

Heiliger Florian,
Du saggrischer Schwanz,
Wir brauchen di nimmer,
Wir hab’n d’ Assecuranz.

So brachte die Feuerassecuranz unsern Heiligen um sein Amt! Das thut aber nichts, dafür wurde unlängst der Jesuit Canisius canonisirt; vielleicht erkürt man ihn als Vorkämpfer gegen den Protestantismus zum Patron der alttirolischen Glaubenseinheit, und dann wird erst unser Herrgottschnitzer zu thun kriegen!

Doch Scherz bei Seite!

Der Frühling lächelt durch die Scheiben der dumpfen Kammer, unser Meister putzt sich, ladet Schüsseln und Knospen auf einen Karren und fährt zu Markt. Die Waare ist bald verkauft. Das Bimmeln der Heerden erinnert ihn an großartige Unternehmungen. Er füllt Körbe mit prächtig angestrichenen und lackirten „Herrgotten“; einen davon packt er, den andern die Tochter auf den Rücken, so schreiten sie am Bergweg, er rechts, sie links. Nun wandelt er von Alm zu Alm, denn Mensch und Vieh braucht Schutz gegen Hexen und Teufel. Daher befestigt man an der Thür ein Crucifix oder nagelt es an eine weithin sichtbare Schirmtanne, bisweilen bietet auch eine Felsennische Gelegenheit, etwas Heiliges anzubringen. Ja wenn der Alte nur mehr Hände hätte, um genug „Herrgotte“ und „Muttergottessen“ zu machen! Nicht selten lernen diese Meister auf ihren Kunstfahrten das Schnapseln und kehren dann zum Verdruß der Weiber als rechte „Branntweinzapfen“ heim. Ich kannte einen solchen. Als er von der Alm zurückkam, fand er seine Alte in Noth und Elend todt. Er schnitzte das Kreuz für ihr Grab so schön wie er konnte. „Es ist das letzte Kreuz, das ich ihr mache!“ sagte er zu mir und wischte eine Thräne ab.

Doch genug von diesen Dingen.

Schließlich erwähnen wir, daß Tirol außer den Herrgottschnitzlern und Tuifelmalern eine große Anzahl echter, tüchtiger Künstler besitzt: Knoller, Koch und Knabl darf man überall mit Ehren nennen.
* r.




Ausplaudereien aus der Apotheke.
2. Des deutschen Volkes Wunder- und Zaubermittel.

Wie, wird man kopfschüttelnd fragen, in unserer aufgeklärten und so hochstrebenden Zeit, sollte da wirklich solche Finsterniß noch herrschen, sollte man da wirklich noch den Glauben an Zaubereien und dergleichen im Volke finden? Es sei von vorn herein daran erinnert, daß wir nur Thatsächliches schildern – und nun führen wir, als Antwort auf diese Frage, die Leser hinaus in die Wirklichkeit des täglichen Lebens.

Dort, am Ende eines Dorfes, steht eine einsame kleine Hütte. Dorthin wallen Jahr aus, Jahr ein Leidende und Hülfesuchende aller Art in ganzen Schaaren. Treten auch wir mit jener krankhaft aussehenden, matt daherschleichenden Frau zugleich hinein. Man ladet uns zum Sitzen ein. Der Mann ist noch nicht anwesend, er ist nach dem Walde gegangen, um Kräutlein zu sammeln, oder nach der Apotheke, um Arzeneien zu holen, wird uns gesagt. Inzwischen setzt sich seine Frau zu der Patientin und fragt, wie unwillkürlich in herzlichster Theilnahme, ihr die ganze Krankheitsgeschichte ab. Dann endlich kommt auch der Mann, mit Mütze und Stock, anscheinend von einer weiten Wanderung, und nachdem er die Leidende scharf angesehen und ihren mitgebrachten Urin prüfend gegen das Licht gehalten, erzählt er der staunenden und mit jedem seiner Worte natürlich immer gläubiger werdenden Frau den ganzen Verlauf und alle möglichen Erscheinungen ihrer Krankheit haarklein. Er hat nämlich hinter einer dünnen Breterwand im andern Zimmer gesessen und das ganze Examen mit angehört. Eine solche „Allwissenheit“ aber giebt natürlich von vorn herein Ruf und unbegrenztes Vertrauen, und die glänzendsten Erfolge seiner Curen bleiben nimmer aus.

Dies wiederholt sich, natürlich in zahllosen Variationen, fast in jeder Gegend; je ärmer eine solche, desto allgemeiner ist erklärlicher Weise der Glaube an den ländlichen Wunderdoctor und desto ärger werden die einfältigen armen Leute von demselben ausgebeutelt. Ohne allen Zweifel dürfen wir mit vollster Gewißheit annehmen, daß mindestens einen solchen Wunderthäter in einem Dorfe oder einer kleinen Stadt (ja in den großen Städten meistens erst recht) jeder Landstrich unseres großen deutschen Vaterlandes ohne Ausnahme noch jetzt in unserer gepriesenen Gegenwart aufzuweisen hat.

Greifen wir nur einige dieser thatsächlichsten Beispiele heraus. In meiner Heimath, einem freundlichen, aber armen Theile Westpreußens, trieb ein Mann, Namens Voß, viele, viele Jahre lang ganz unangefochten sein Unwesen, bis ihn endlich der Tod vor Kurzem zur Rechenschaft zog. „Er hatte einst einen jungen Teufel eingefangen, denselben mit der Zunge an die Krippe seines Pferdestalles genagelt und ihn vermittelst seiner Zaubermittel so gebannt, daß er ihm völlig zu Gebote stehen mußte.“ Das war es, was man, halb Scherz, halb Ernst, von ihm munkelte. Seine Verordnungen, die er stets doctormäßig auf Zettel schrieb, rechtfertigten übrigens eine solche Annahme in der That. Die Leute erhielten ein Gemisch aus Asa foetida (Teufelsdreck), Kreuzkümmel, Schackerell (Cascarillenrinde), Weihrauch, Myrrhen, Lorbeeren etc. zum Räuchern, welches einen wahrhaft pestilenzialischen Duft aushauchte; dem entsprechend waren auch seine übrigen innerlichen und äußerlichen Mittel nach dem goldenen Wahlspruche aller derartigen Heilkünstler: „Schlimm muß Schlimm vertreiben.“ Die Gegend von Schlochau in Preußen machte eine Frau unsicher (und wenn wir nicht irren, prakticirt sie noch jetzt in vollster Glorie), die vermittelst eines uralten Doctorbuches sich einen solchen Ruf erworben, daß sie viele Meilen weit sogar zu den „gebildeten“ Gutsbesitzern geholt wurde. Der biederbe, reiche Oderbruch hat ein Schneiderlein aufzuweisen, dessen zahllose Sympathie- und Wundercuren sich nur auf eine Substanz basiren – freilich aber auch auf eine gar gewichtige: auf den schon unseren Altvorderen geheiligten Mistelzweig. In Posen, namentlich um Bromberg, erntete ein hochbetagter katholischer Pfarrer bis an sein unlängst erfolgtes seliges Ende wahrhaft staunenswerthe Erfolge in Heilung von Weichselzopf- und zahlreichen anderen dort leider nur noch zu allgemein einheimischen Schmutzkrankheiten. Ob er, wie sein ersterwähnter Genosse, ebenfalls durch Beelzebubs Hülfe die Teufel austrieb oder vielmehr den Engel der Reinigung walten ließ, das vermögen wir nicht näher anzugeben. Seine Verordnungen bestanden gleichfalls meist in sehr mystischen Heilmitteln. Solcher Fälle könnten wir – und mit uns ganz gewiß zahlreiche Leser – noch gar mannigfache aufzählen, und bei ihnen allen, ohne Ausnahme, steht das fest, daß die betreffenden Wunderdoctoren stets erkleckliche Geldsummen zusammenraffen – während ihre ausposaunten Heilerfolge, am Lichte der Wahrheit besehen, regelmäßig in das kläglichste Nichts zerfallen.

Was aber in aller Welt hat dies Alles mit der Apotheke zu thun? Verzeihen Sie, meine freundlichen Leser, wir gelangen jetzt eben zu einem inhaltschweren Vorwurf, den wir den Apothekern auch hier wieder machen müssen. Ein wahrhaft ungeheurer Sturm hat sich gegen uns erhoben, ein Sturm von Einwänden gegen das „Unrecht, das wir den Apothekern angethan“. Unter allen diesen der am häufigsten wiederholte und allenfalls berechtigt erscheinende ist folgender: „Da das deutsche Apothekerthum, im schroffen Gegensatz zu jedem (?) ausländischen, an Sicherheit und Billigkeit (?) seinen Patienten unendliche Vortheile bietet, so ist ein gesetzmäßiger Schutz (Privilegium?) für dasselbe nicht blos durchaus billig und nothwendig, sondern es muß dem Apotheker auch freigestellt sein, zum Heil des Publicums (oder doch wohl mehr zum Nutzen des Apothekers!) alle diejenigen Forderungen und Wünsche nach seinem Ermessen zu befriedigen, welche in alt- und tiefwurzelndem Glauben ihren ‚wohlberechtigten‘ Grund haben.“ Ja, man geht soweit, diese alt-ehrwürdigen Volksheilmittel im Heiligenschein der Pietät zu betrachten und es also [600] gleichsam für einen Frevel zu halten, falls der Apotheker es wagen wollte, sie nicht zu verabreichen, selbst wenn er sie gar nicht besitzt! Betrachten wir dieß Verhältnis; indessen einmal aus anderen Gesichtspunkten – denen des Rechts, der Billigkeit und Humanität.

Dem Volke zum Heil und Segen – allein auch den Apothekern zum nicht geringen Vortheil – hat die Sanitätspolizei allenthalben den alten Olitätenkrämern, Balsamträgern etc. längst schon das Handwerk gelegt. Und hoffentlich haben wir in nicht gar ferner Zeit auch ernstlichen Schutz gegen den unheilvollen Geheimmittelkram zu erwarten. Bis dieser letztere eintritt, müssen wir an die Aufklärung uns halten, welche von verschiedenen Seiten geboten wird.

Während so nach allen Seiten hin in freudigster Regsamkeit für Licht und Wahrheit redlich gekämpft wird – wie verhalten sich da die Apotheker? Sie genießen behaglich den Schutz des Gesetzes, doch statt jetzt auch ihrerseits wacker mitzuwirken für das wirkliche Heil und Wohl der Menschheit, glauben sie vielmehr ohne die Begünstigung des Aberglaubens und der Finsternis nicht bestehen zu können, fürchten sie das Vertrauen der Leute zu verlieren, wenn sie Wahrheit sprechen und sich schnöder Unredlichkeit enthalten wollten! –

Wie wir bereits selbst zugestanden, liegt allerdings ein harter Kampf in der Aufgabe, die einfältigen Leute von ihrem Wahn und „guten Glauben“, selbst zu ihrem augenscheinlichen Vortheile, zurückbringen zu wollen; allein sollte ein solches Streben des schönen Berufs eines ehrenhaften Apothekers nicht ungleich würdiger sein, als die „Pietät“, mit welcher man derartigem Aberglauben huldigt?! Unser so schnell und hitzig von den Apothekern aufgenommener Streit ist daher von vornherein vollständig erledigt. Alle diejenigen braven und ehrenwerthen Apotheker nämlich, denen die von uns aufgedeckten Düsterkeiten der Apotheke selbst ein Gräuel sind, die froh und erleichtert aufathmen würden, wenn sie von derlei unredlichem Geschäft befreit wären, sie sämmtlich werden uns freudig zustimmen und froh darüber sein, daß endlich einmal diese Mißstände vor der Allgemeinheit aufgedeckt und dadurch ihre Abhülfe doch mindestens vielleicht ermöglicht worden. Alle übrigen aber mögen uns erst beweisen, daß wir auch nur im Geringsten den Boden der Thatsachen verlassen haben. Ja, sie mögen uns auch nur nachweisen, daß wir durch das Aufdecken dieses Apothekenzopfthums ihr pecuniäres Interesse in bedeutendem Grade gefährden – während wir doch dem armen leidenden gar manchen sauer erworbenen Pfennig dadurch zu ersparen hoffen dürfen!

Nehmen wir jetzt noch die Reihe der eigentlichen Wunder- und Zaubermittel unseres Volkes kurz durch. Wohlgemerkt verstehen wir darunter nur solche, welche ausschließlich zu mystischen Zwecken gebraucht werden und sich sonst als Heilmittel oder dergleichen keinerlei Anwendung erfreuen. Unter ihnen obenan steht der Teufelsdreck oder Asa foetida. Daß derselbe als ein sehr heilkräftiges Arzneimittel von den Aerzten gebraucht wird, ist wohl allgemein bekannt. Als Volksheilmittel dagegen findet er im rohen Zustande keine andere Verwendung, als zum Räuchern bei Zauber- und Wundercuren. Er wird dann unter den Bezeichnungen Stinkasand, „Wat vom Schwarten“ oder Teufelsdreck gefordert. Hier und da gegen krampfige Leiden einzunehmen, meistens aber auch zum düsteren Gebrauch, wird die Tinctur unter dem Namen Teufelsdrecks-, Stiefelknechts- oder Knoblauchstropfen gekauft. Der menschenfreundliche Apotheker sollte also stets die Leute nach dem Wozu fragen, ihnen den Aberglauben auszureden suchen oder beim Gebrauch als Hausmittel für Menschen oder in der Viehheilkunde nur die Tropfen oder den gereinigten Stinkasand verabreichen. Dieser letztere, der in den beiden genannten Fällen oft zu Klystieren etc. verwandt wird, muß möglichst in der Kälte und in einem Metallmörser sehr fein gepulvert, mit Eigelb angerührt und dann mit der wässerigen Flüssigkeit, Thee oder dergleichen abgequirlt werden. Anders läßt er sich nicht damit vermischen. Um daher nicht den Verlust der sehr heilkräftigen Wirkung zu erleiden, sollte man ihn stets nur von Sachverständigen, am besten in der Apotheke, zubereiten lassen.

Ihm schließen sich der schwarze oder Kreuzkümmel und Schackerell als die gebräuchlichsten Räucherzusätze an. Der erstere, außerdem unter den Namen Kreuzkörner, Teufelskörner und Satanssaat gekauft, ist längst aus den Verzeichnissen sämmtlicher Heilmittellehren gestrichen und dient nur noch dem Moloch des Aberglaubens, um dem Einfältigen sein Geld aus der Tasche zu locken. Die Casearillenrinde wird von den Aerzten in verschiedenartigen Arzneimitteln bei Durchfällen und Magenschwäche verordnet. Als Volksheilmittel findet sie nur selten noch als Fiebermittel Gebrauch, sonst nur zu jenen Teufelsräuchereien. Man fordert sie noch unter den Namen Chakrill, Schakerill, Schikrill, Schabrell und Schakerillenbork.

Ein außerordentlich geschätztes Wunderheilmittel ist der Allermannsharnisch, welcher noch unter den Bezeichnungen „Adam und Eva“, Erunsih, „Allermenschenärgerniß“, „Er und Sie“, „Kurz und Lang“, Siegmars-, Siegwars-, Sieg- und gemeine Schwertelwurzel sehr häufig gekauft und bei Menschen und Vieh gebraucht wird. Der Apotheker hält dem Volke zuliebe zweierlei: Radices victoriales longae et rotundae, also eine lange und eine runde Wurzel des lilienartigen Gewächses, welche aber aus dem Arzneimittelschatz längst verbannt sind und auch als Haus- oder Volksheilmittel fast keinerlei Gebrauch finden, sondern eben nur zu mystischen Räuchereien, Bähungen etc. dienen. Um des lieben Aberglaubens willen werden sie indeß auch den Menschen und Thieren eingegeben. Außerdem wird ein geheimnißvolles Gemisch von ihnen, nebst mehreren der vorerwähnten, in einem Säckchen im Stall vergraben oder an die Krippe genagelt – gut gegen Zaubereien allerlei Art.

In außerordentlichem Ansehen steht auch, namentlich bei den unwissenderen Juden, das Dürrwurzkraut. Wie bei dem vorigen Wundermittel ist auch bei ihm von keiner besonderen arzneilichen Wirkung die Rede, und der Apotheker muß es ebenso nur des leidigen Aberglaubens wegen halten und verkaufen. Seine Volksthümlichkeit und seine Anwendung gehen ebenfalls aus seinen zahlreichen Namen hervor; es wird gekauft als Berufungs-, Beschrei-, Glied-, Grind-, Scheer-, Verwasch-, Zielken-, Ziesken-, Zeisig-, Zeischen- und Wergenkraut, Neunkraft, Scharfkräutig und Ziest. Möchte doch endlich, namentlich in Bezug auf diese beiden letzteren durchaus werth- und zwecklosen Stoffe, einmal Aufklärung und Licht in die Massen dringen, damit sie nicht noch immerzu ihr Geld dafür hinauswerfen. Allen Lehrern auf dem Lande sei die Belehrung hierüber vorzugsweise warm und dringend an’s Herz gelegt.

Sehr wichtig, als Mittel des Aberglaubens, ist ferner die Zaunrübenwurzel, auch als Alraun und Alrunke, uralten, mystischen Andenkens gefordert. Sie hat für den Kaufenden durchaus keinerlei Werth. Die bei Wechselfiebern etc. in Arzneimischungen nur noch selten gebrauchte Nelkenwurzel dient ebenfalls zu argem Mißbrauch, indem sie als Teufelsabbiß- und Benedicterwurzel zu mystischen Zwecken verabreicht wird. Hier und da, aber wohl selten, hält man in den Apotheken auch noch die eigentliche Succisa oder Teufelsabbißwurzel, Morsus diaboli. Daß die jetzt endlich aus dem Arzneimittelschatz gemerzte, weil völlig werthlose Mistel gleichfalls zu Wundercuren dient, ist ziemlich bekannt, weniger aber wohl, daß auch mit dem in der That heilkräftigen Cardobenedictenkraut, unter all den Namen: Gesegnete Distel, Tutzthee, Trutzthee, Bitterdistel, Cardictenkraut, „Ochs wie Du“, und Cactus pinnititus, viel Unsinn getrieben wird. Wir führen dies nur beiläufig auf, während wir hier fast alle wirklichen Haus- und Arzneimittel sorgfältig fern lassen, um zu zeigen, wie man auch gute Stoffe in Mißbrauch gezogen hat.

Ein höchst gefährliches Wundermittel ist der als Dolldill, Dollsamen, toller Dill und Dulldill geforderte Bilsenkrautsamen. Glücklicher Weise darf er aber nicht verkauft werden; die Liebbaber empfangen daher unschuldigen Dill-, Petersilien- oder anderen Samen. Zur Abwechselung giebt sich der Apotheker auch wohl einmal die Mühe, dem Volksglauben durch ein expreß bereitetes Präparat zu huldigen. Es ist dies ein ekelhaftes Gemisch aus stinkendem Thieröl (Oleum animale foetidum) und Leinöl, das unter den Namen Schwalben-, Schwülken-, Ziegel-, Ziegelstein-, Sehnenzieh-, Brand- und Dichterstein-Oel und sogar unter dem stolzen Namen Oleum Philosophorum verkauft wird. Wenn seine Wirkung auch für die meisten Fälle gleich Null anzuschlagen ist, so wollen wir es doch allenfalls als Volksheilmittel, namentlich in der Thierheilkunde, gelten lassen. Ihm schließt sich das ähnliche Regenwurmöl an, welches unter den Namen Merken-, Melken-, Pirats- und Sproßöl ebenfalls viel geholt wird – und, früher [601] gewissenhaft aus Regenwürmern dargestellt, jetzt als Gemisch auch weiter keinen Zweck hat. Beide könnten füglich aus den Apotheken endlich fortbleiben.

Das unschuldige Wolverleikraut, dessen Blumen (Arnica) von so unschätzbarer Wirkung in vielen Krankheiten sind, muß leider dem Schwindel und Aberglauben als Brenn-, Fall-, Fruen-, Gemsen-, Melk-, Stich-, Scharbocks-, Fahlenpfots- und Wulverlingskraut und Fohlenfüße ebenfalls dienen. Auf die größtentheils unheimlichen, sämmtlich fast nur für Wundercuren dienenden Namen Knoblauchskraut, Lachenkraut, Peters-, Läuse-, Bathenzel- Kraut, Marienblätter und dergleichen – verabreicht der gute Apotheker häufig genug erklärlicher Weise was ihm gerade zur Hand ist. Viel geheimer, oft recht schauerlicher Unsinn wird dann noch mit der auch als Arzneimittel geschätzten Johanniswurzel (Wurmfarrnwurzel) getrieben, sowie auch mit der nicht mehr im gesetzlichen Arzneimittelschatz befindlichen, dagegen zu Pferdepulvern etc. vielfach gebrauchten Meisterwurzel. Beide werden abwechselnd auch als Teufelsklau, Pestilenzwurzel und Türkenblut gefordert. Den Beschluß in dieser würdigen Reihe macht das Sepienbein, welches als Walfischschuppen, Tintenfischbein, Seeschaum und Blackfischbein gekauft und zu allerhand schwer zu ergründenden Heilzwecken (außerdem aber auch zu industriellem Gebrauch) verwendet wird. Daß die Apotheker nun außerdem noch „Elephantenläuse“ - (Anacardiae – „Drachenzähne“ – Päonienkörner –, Krebssteine – Lapides Cancrorum – und den berüchtigten Stinktmarin – Stincus marinus, eine in Lavendelblüthen aufbewahrte Eidechse, – gleichsam aus Gutmüthigkeit vorräthig halten und ihren curiosen Liebhabern verkaufen, das müssen wir ihnen jedenfalls noch hoch aufnehmen.

Diejenigen von ihnen aber, die sich durch diese Darlegungen wiederum gekränkt fühlen sollten, fragen wir: Hand auf’s Herz! Ihr Herren, ist in allediesem die geringste Unwahrheit? Und noch mehr: wie lange ist’s denn her, daß Ihr noch Mumie – Mumia vera – verkauftet als Armsünderfleisch, Armsünderpulver, „Mummi und Puppi“, „Schwarte Ehr“ und „Galgentheil“, – ferner Kälberlunge und Kälberblut - Pulmonium und Sanguis hirci, als Wolfs-, Bären-, Fuchs- etc. Lungen, respective Blut – und vielerlei dergleichen ekelhaftes und unsinniges Zeug sehr bereitwillig verkauftet? Oder habt Ihr am Ende (natürlich nur um das Vertrauen der Leute nicht zu verlieren) das Alles nicht noch in den Apotheken?!

Carl Ruß.




Eine Todesmaschine auf dem Meere.
Von George Hiltl.

Wir waren, eine Gesellschaft Berliner Kinder, zum Seebade in Westerland auf der Insel Sylt. An einem schönen Julimorgen machten wir einen Ausflug nach der Nordspitze des Eilands, dem sogenannten List, wo das Dänenthum noch zahlreiche Anhänger besitzt. Es ist ein öder Haidestrich, dieses List, mit den Dünen, die es säumen, und bietet wenig Anziehendes, um so mehr interessirte uns aber die in’s Auge gefaßte Besichtigung eines Stückes preußischen Bodens, der, noch vor der Gasteiner Vereinbarung, bis nach Sylt gekommen war. Ich nenne preußischen Boden ein Schiff mit der Adlerflagge, denn nach altem richtigen Satze ist das Deck eines Schiffes gleich dem Boden des Landes, dem es angehört.

Schon einige Tage vorher war der liebenswürdige Commandeur des bei Sylt auf Peilung befindlichen königlich preußischen Kanonenbootes Chamäleon nach Seebad Westerland gekommen. Seiner Einladung, ihn an Bord zu besuchen, hatten meine Badegenossen, ein paar preußische Officiere, Folge geleistet und mich aufgefordert, die jedenfalls interessante Partie mitzumachen, worauf ich denn auch im Vertrauen auf die bekannte Freundlichkeit des Chamäleon-Commandeurs sehr gern einging. Am hohen Strande angelangt, erblickten wir in ziemlich weiter Entfernung das Chamäleon vor Anker liegend. Es sah, von hier aus betrachtet, wie ein ungeheures Krokodil oder wie ein todter Walfisch aus, in dessen Rücken mächtige Harpunen steckten. Die Boote, welche zu beiden Seiten herabhingen, glichen großen Warzen, und nur der hohe, gelb angestrichene Schornstein störte diese Vergleiche des Kanonenbootes mit den Bestien der Meeresgründe.

Das Chamäleon lag so still, so ruhig, so friedlich vor uns, von der herrlichsten Sonnenbeleuchtung in höchst vortheilhaftes Licht gestellt, es sah, um einen populären Ausdruck zu gebrauchen, so aus, „als ob es nicht fünf zählen könnte“. Ein leiser Rauch, kaum stärker, als der einer transportablen Kaffeeküche auf den Boulevards von Paris, quoll aus dem Schornstein hervor und auch das Leben an Bord schien erstorben. Freilich konnte man auch anderen Gedanken Raum geben, denn das Kanonenboot glich auch einem Todesboten, einem Leichenbitter, einer Pulverkiste, einem lauernden Drachen, dessen Kopf noch unter Wasser lag und dessen Anblick erst vollkommen schrecklich sein mußte, wenn es seinen Rachen öffnete, um Feuer und Qualm zu speien.

Einer der Herren hatte mit dem Commandeur die Verabredung getroffen, daß eine Art von Signal vom Ufer aus gegeben werden solle, sobald wir zur Ueberfahrt bereit seien, und so flatterten denn verschiedene Taschentücher vom Ufer aus. Die Wache auf dem Chamäleon bemerkte auch bald diese Winke; es ward plötzlich auf dem Decke lebendig, wir sahen einige weiße Gestalten in das Boot steigen, es hinablassen und in kurzer Zeit schoß dasselbe, mit fünf Matrosen und einem Bootsmann besetzt, pfeilschnell durch die Wogen auf die Lister Spitze zu. Wir eilten hinunter und wurden bald durch den sehr höflichen Bootsmann begrüßt. Er berichtete uns, daß der Herr Commandeur nicht an Bord, sondern am Lande sei, daß er aber befohlen habe, nach ihm zu senden, sobald wir angelangt sein würden; wir möchten daher nur immer Platz nehmen.

Mit der den Landratten auf Schiffen und Booten eigenen Ungeschicklichkeit balancirten wir uns über verschiedene Ruderbänke hinweg zu den angewiesenen Sitzen. Während ein Junge von der Besatzung des Chamäleon über die Hügel in das Dorf eilte, um den Commandeur zu benachrichtigen, musterten wir unsere Bootsmannschaft. Es waren prächtige, ausgefressene, dicke Bursche mit langen Haaren und sonnverbrannten Gesichtern. Sie trugen Arbeitszeug, d. h. leinene Hosen und Oberhemden, darunter blauwollene Hemden mit breitem, weißgerändertem Ueberschlagkragen. Auf dem Kopfe saß die runde, blaue Matrosenmütze mit schwarzem Streifen, worauf in gelben Lettern zu lesen war: Königlich preußische Marine. Einer trug auch eine Mütze mit der Inschrift: Augusta. Sie tuschelten leise mit einander. Ich weiß nicht, ob sie sich etwa auf einen Jubel freuten, der ihnen durch irgend einen faux pas der Landratten verursacht werden sollte, oder ob wir ihnen willkommene Gegenstände der Zerstreuung waren. Der Bootsmann saß am Steuer in blauer Uniform, sein breites, seidenes Halstuch in den berühmten Seemannsknoten geschlungen, was die Matrosen übrigens auch gethan hatten. An schwarzem Bande hing eine silberne Pfeife auf seine Brust herab und ein brocheartiger Gegenstand hielt das Hemde unter dem Halse zusammen. Alle waren barfuß und hatten die Aermel hochgestreift, wodurch ihnen Erleichterung in der großen Hitze und uns die Gelegenheit geboten wurde, die mannigfaltige Tättowirung auf den musculösen Armen zu betrachten, jene sonderbare Koketterie der Seeleute, sich die Arme und Hände mit eingeätzten Herzen, Zahlen und Namen zu bedecken, die in blauer oder rother Farbe paradiren, vielleicht eine aus den Inseln der Südmeere mitgebrachte Mode, von den Angehörigen wilder Stämme adoptirt.

Während wir diese Dinge betrachteten, ertönte vom Ufer her schon ein lauter, kräftiger Ruf. Der Commandeur erschien. Ein junger, kraftvoller Officier in blauer Uniform, bot derselbe das Bild eines echten Seemannes. Gebräunter Teint, die eigenthümliche Färbung der Haut, welche Arbeit, Sonnengluth und schneidender Wind erzeugen, der schwankende Gang, eine fortwährende Bewegung zwischen Laufen und Balanciren, als ob die ungewissen Breter des Fahrzeuges stets unter seinen Füßen befindlich seien, [602] die durch den Kampf mit dem Elemente doppelt stark entwickelte, markige Gestalt, dies Alles bezeugte uns, daß der Commandeur des Chamäleon schon eins geworden mit jener Welt des Wassers, in die zu reisen „ein Mann,“ wie Vater Homer sagt, „die Brust mit sechsfachem Erze gepanzert haben muß.“

Nach freundlicher Bewillkommnung der preußischen Landsleute gab der Commandeur das Zeichen. Der Bootsmann herrschte: „Ruder ein!“ worauf mit einem Schlage die zehn Riemen sich in’s Wasser senkten. „Ab,“ und hinaus in die See schoß das Boot, auf den Wellen recht ordentlich schaukelnd. Die schnelle Fahrt brachte uns bald an die Steuerbordseite des Chamäleon, und mit kühnem Schwunge stiegen die Söhne der Kurmark Brandenburg auf Deck des Kanonenbootes. Schon während der Ueberfahrt hatten die Umrisse desselben immer bedeutendere Dimensionen angenommen, so daß wir über seine anscheinende Harmlosigkeit denn doch ziemlich enttäuscht wurden. In der unmittelbaren Nähe traten die verschiedenen Anstalten, die Stangen, Raaen und Leitern, die Schanzen und Stege klar hervor, und wenn das Chamäleon gemäß seiner Bestimmung auch nur ein kleines Schiff ist, birgt es doch die verderbenbringende Gewalt in seinen Planken, zwischen seinen Decken und Schanzen.

Als wir das Schiff betraten, fanden wir, was vom Lande aus nicht bemerkt werden konnte, die Mannschaft auf dem Deck in voller Beschäftigung. Lautlos, ohne zu räuspern, war Jeder bei seiner Arbeit. Es wurden Maschinentheile, Waffen, Gefäße geputzt, einzelne Stellen des Verdecks gescheuert, die Segel ausgebessert etc. Diese lautlose Geschäftigkeit hatte etwas ganz Eigenthümliches. Oben der blaue Himmel, unten das grüne Meer, das Fahrzeug mit seinem Gewirr von Leinen, Stricken und Stangen, darauf die arbeitende Mannschaft, und das Alles von der Sonne so grell, so glühend beleuchtet – man glaubte zu träumen.

Vor allen Dingen zog uns die gefürchtete Armirung des Kanonenbootes an. Das Chamäleon führt drei Geschütze. Zwei davon sind wohlgezogene, eines ein ungezogenes Kind. Die Gezogenen sind Fünfundvierzigpfünder. Sie sehen wie ein Schmuckkästchen aus, so sauber und blank ist Alles an und bei ihnen. Damit die Feuchtigkeit keinen Schaden bringe, ist das Rohr mit feinem Firniß überzogen, die Griffe, die Beschläge blitzten in der Sonne wie Silber und Gold. Die furchtbaren Maschinen stehen auf dem Deck des Kanonenbootes und zwar auf schmalen Eisenschienen, wodurch sie beliebig vor- und rückwärts gerollt werden können. Die Laffetten sind niedrig und gleich den gewöhnlichen Schiffslaffetten gebaut. Das Abfeuern geschieht mittels eines Hammers, der bei dem Zündloche angebracht ist und durch einen Strick gezogen wird, dann auf die Zünd- oder Schlagröhre niederfällt und wieder zurückfliegt, sobald der Schuß entzündet wird. Sorgfältig verwahrt man die Oberfläche des Geschützes durch Uebersätze von Kupferblech, und es ist eigentlich ganz seltsam, wenn man sieht, wie die Todes- und Zerstörungsmaschinen gleich geliebten Kindern sorgsam gehätschelt werden, wie man sie fast in Watte packen möchte und wie die Matrosen mit einer Mischung von Stolz und Zuneigung auf die Ungethüme blicken. Besondere Kanoniere sind auf dem Chamäleon nicht, die Matrosen bedienen das Geschütz selbst. Die Munition steht zum Theil auf dem Verdeck in Kästen, welche unter der Schanze ihren Platz haben. Die Ladung für das ungezogene Geschütz befindet sich ebenfalls in dessen Nähe, und die auf einen Spiegel gesetzten, mit getheerter Leinwand überdeckten und durch Stränge gewürgten Kartätschenballen machen einen höchst unbehaglichen Eindruck auf den Beschauer.

Was befindet sich nicht Alles auf dem Deck eines solchen Schiffes! Die Dinge sehen in der Regel so zierlich aus, als dienten sie zum Spielwerk. Man betrachte nur die Handwerkskästen oder die Behälter, in denen Bürsten, Räumnadeln, Wischer, Zangen und sonstige Requisiten für die Geschütze enthalten sind; Alles ist so niedlich und sauber, als wären es Modellstückchen, dabei befindet sich an jedem Kasten ein Verzeichniß des Inhaltes, so daß man nur zuzugreifen braucht, um alle Gegenstände schnell zu bekommen, welche zur Vernichtung und Zerschmetterung des Gegners dienen können, oder die dazu beitragen, so und so Viele in das Jenseits zu befördern. Ueberhaupt macht ein Kanonenboot zwar nicht den imposanten Eindruck, welchen ein größeres Kriegs- oder eines jener gewaltigen Postdampfschiffe hervorbringt, aber jedem Beschauer drängt sich, wenn er sich auf einem Kanonenboote befindet, unwillkürlich der Gedanke auf, daß er wirklich auf einer Todesmaschine stehe, daß diese Breter, diese Planken, diese Werkzeuge nur dazu vorhanden seien, sicheres Verderben zu verbreiten, Vernichtung an die Küsten zu tragen. Bei anderen Schiffen ist neben der Bewaffnung noch ein gewisser Comfort bemerkbar, das Kanonenboot entbehrt jeder Bequemlichkeit, es ist nur geschaffen, um zu tödten, zu zerschmettern, zu vernichten.

Ein in gewissem Sinne furchtbarer Ort ist der Maschinenraum auf dem Chamäleon. Die fast tropische Hitze eines Sommertages verband sich mit dem heißen Dampfe, mit der Gluthströmung, welche die Kessel der Dampfmaschine von achtzig Pferdekraft entsendeten. Diese Temperatur einer Hölle ist in einen engen Raum gesperrt, zu dem nur ein schmaler Eingang führt. Man hatte die Windfänge hinabgelassen, um einige frische Luft in diese Räume zu bringen, allein das fruchtete nicht viel. Ein sinnbetäubender Dunst strömte uns entgegen und es gehörten sicher eine lange Zeit und ein fester Körper dazu, um den Aufenthalt in diesem Behältniß ertragen zu können. Freilich ist es wohl mehr oder weniger in den Maschinenräumen aller Dampfschiffe ähnlich so, aber die Kanonenboote sind nun einmal enger und niedriger, also ist der Dienst ihrer Ingenieure auch desto härter. Es ist ein großartiger Beruf, denn das Wohl des Fahrzeuges hängt nächst der richtigen Führung des Commandeurs zum großen Theil von der Gewissenhaftigkeit und Sicherheit der Ingenieure ab, die ihr Leben dieser harten Arbeit weihen. Man sagt, die Ingenieure der Dampfschiffe seien die Lebemänner unter der Mannschaft, sie bilden gewissermaßen die Jeunesse dorée unter dem Dienstpersonale eines Fahrzeuges; sie sollen ihre freien Stunden sehr wohl zu benutzen wissen und zuweilen sogar ein wenig über die Stränge schlagen.

Ob das so ist – ich weiß es nicht. Wenn aber die Männer der Maschine, diese Arbeiter, gegen welche die Genossen Vulcans nur Tagdiebe sind, wirklich in den wenigen freien Stunden, fern von der verzehrenden Gluth des brodelnden und dampfenden Kessels, von dem betäubenden Getöse der Maschine und dem erstickenden Dunste des qualmenden Oeles, ihr Leben dreifach zu genießen suchen, wer kann mit ihnen rechten? wer darf es tadeln? Die freie Stunde wird benutzt, die kurzen Augenblicke, in denen es diesen lebendig Begrabenen vergönnt ist, die erquickende Luft zu athmen, müssen schadlos halten für wochenlange, schwere Arbeit. Sie sind alle gut bezahlt, sind geachtete und gebildete Männer, weshalb sollen sie nach mühevollem Tagwerk nicht ihre Ansprüche an das Leben geltend machen? Mögen sie immerhin ein wenig oben hinaus sein – das Stampfen der Maschine macht alle Erinnerungen an fröhliche Stunden, an Saus und Braus zu nichte.

Noch mit unserm Weine beschäftigt, wurde zum Mittagessen gepfiffen. Wir sahen die ganze Mannschaft nach und nach unter Deck verschwinden. Außer uns befand sich nur noch der Posten aus dem Auslug oben. Dieser Mann vom Chamäleon war ebenfalls nicht zu beneiden. Nach Dienstvorschrift war er natürlich mit einem Fernrohre bewaffnet und mußte die gegenüberliegende Küste recognosciren. Was er dort sah, konnte seine Phantasie nicht besonders erregen. Die kahle Hügelreihe, die Häuser von List und einige Schiffchen am Strande, kleine Schooner, welche bei der Ebbe trocken lagen, so daß die Wagen vom Ufer aus dicht heranfuhren, um die Ladung des Schiffes einzunehmen – dies waren die Dinge, mit welchen unser Posten sich unterhalten durfte. Wir schenkten ihm einen Seufzer des Mitleidens, obwohl der Bursche an den langweiligen Beruf schon gewöhnt sein mochte, denn er stand unverrückt in glühendster Sonne auf der Schanze des Backbord und hielt sein Rohr an das Auge, als gälte es die Bewegungen einer feindlichen Armee zu verfolgen.

Unsere Unterhaltung ward durch einen Matrosen unterbrochen, der, aus der Küche heraufgestiegen, den Gästen des Chamäleon einen Teller Erbsensuppe präsentirte. Wir kosteten Jeder einen Löffel und mußten gestehen, daß uns nach dieser Prüfung das gesunde, wohlgenährte Aussehen der Leute kein Räthsel mehr war. Wir Badegäste in Westerland auf Sylt hatten solche Suppe in unsern respectiven Hotels nicht auf dem Tische. Die Leute sind überhaupt trefflich beköstigt und können sich auch über allzu harte Arbeit nicht beklagen. Ein Theil versieht den Dienst, während der andere sich mit den häuslichen Verrichtungen beschäftigt; Nachmittags sind sie mit Ausnahme der Wachhabenden [603] frei, wenn nicht die Witterung ihre Kräfte in Anspruch nimmt. Der Vormittag wird nach einem besonderen Stundenplane mit Uebungen hingebracht. Theils manövrirt das Schiffsvolk oder wird instruirt, auch übt der Commandeur fleißig die Löschmannschaft und es ist ein besonderer Unterricht für das Verhalten eingerichtet, wenn das Signal gegeben wird: „Feuer im Schiff!“

Die Mannschaft hängt mit großer Zuneigung dem trefflichen Commandeur an, welcher seiner Seits wieder den Leuten das beste Lob ihrer Tüchtigkeit, Willigkeit und Ordnungsliebe wegen ertheilt; auch ist der Gesundheitszustand höchst befriedigend. Von der gesammten Equipage war nur ein Unterofficier an Gelenkrheumatismus während des Aufenthaltes bei List erkrankt, obgleich die starke Hitze allerlei Befürchtungen erweckt hatte.

Die Entermesser, Hacken und Spieße, sowie die gefürchteten Zündnadelgewehre, liegen in bester Ordnung in Säcken wohl verwahrt und doch gleich zur Hand für etwaigen Gebrauch. Hunde verschiedener Gattung liefen im Schiffe umher und wurden sehr gehätschelt. Man läßt den Leuten gern diese treuen Gefährten und nur bei allzu zahlreichem Erscheinen von Nachkommenschaft werden einige Sprößlinge über Bord befördert.

Durch mehrere offenstehende Luken gewahrten wir in den Zimmern der Ingenieure und Steuerleute oder Unterofficiere verschiedene weibliche Photographien. Hinter einigen war eine kleine welke Blume, ein Blättchen oder eine Schleife befestigt. Es waren wohl Andenken der fernen Lieben, Erinnerungen an eine traurig-süße Abschiedsstunde, in der jene kleinen Blumen und Blätter gebrochen waren, stumme Mahnungen der Heimath zu gedenken und zuweilen eine Unterschrift: „Komm gesund wieder.“ Ja, das ist nun nicht anders. „Werden wir uns wiedersehen?“ diese Frage muß der Seemann jedes Mal leise vor sich hin thun, wenn er, auf dem treulosen Elemente schwimmend, des Abends solch ein liebes Bild betrachtet!

„Boot herab!“ scholl das Commando, und wir saßen bald wieder in dem kleinen Fahrzeuge. „Auf Wiedersehen nach Tische!“ damit verabschiedeten wir uns von den Leuten und gingen, vom Commandeur geführt, in den naheliegenden Gasthof, sobald wir an’s Land gestiegen waren. Der Wirth des Gasthauses zu List ist ein Stockdäne. Er ließ sich nur wenig sehen. Die Leute erzählten, er sei auf Capitain Hammer’s Flotille gewesen. Indessen machte er sein mürrisches Betragen durch trefflichen Hammelbraten, guten Salat und eine Nationalspeise: Grütze mit Weinsauce – Alles äußerst wohl zubereitet und von der bildhübschen Tochter servirt – vergessen.

Nach Tische stellte der Commandeur uns dem Strandvoigt von List vor, der, Anfangs scheu, durch des preußischen Seeofficiers liebenswürdiges Betragen bald ganz umgewandelt worden ist. Ich glaube, der Voigt heißt Hansen. Ich glaube, denn obwohl ich mich eines guten Gedächtnisses erfreue, kann es doch dem besten Gedächtnißkünstler passiren, auf Sylt Namen zu vergessen, weil man in einem wahren Meere von Hansen, Petersen, Johannsen, Boysen, Boësen und Jensen umherrudert. Es giebt Stellen, wo man wirklich die Leute numeriren müßte. Vor der Wohnung des Voigtes ist eine Menge Schiffsholz aufgehäuft, Spieren, Balken, Planken, Maststücke, Eisenwerk. Die See hat das Alles an den Strand getrieben, es wird verkauft, zerschnitten, verbrannt. Diese Schiffstrümmer geben ein sehr ernstes, melancholisches Bild. Woher kommen sie? Welche Hoffnungen sind zu Grabe gezogen, als diese Holzstücke in die wüthenden Fluthen sanken? Wie viele Hände haben vielleicht jenen großen Balken als letzten Versuch zur Rettung umklammert und sind dann matt, kraftlos abgeglitten! Das Holz an das Ufer, die Menschen in die See – tief, tief hinunter, – hinweggerissen von dem helfenden Brete und doch ist auf demselben noch zu lesen: „––tuna.“ Armer Seemann! Er hatte die Fortuna umklammert! Man sieht an vielen Häusern Sylts solche Schiffsnamen, welche die See an den Strand warf. Die meisten sind fast eine Ironie auf das Schicksal des Fahrzeuges, dem sie zur Zierde gereichten.

Fort ging es über die Dünen und in eine schauerliche Einöde. Von dieser Traurigkeit, dieser furchtbaren Schwermuth der Dünengegend bei List kann man sich kaum einen Begriff machen. Die schneeweißen Sandberge rollen ineinander, spärlicher Sandroggen kriecht auf ihnen umher, wie Leichentücher breiten sich die Ebenen aus, Alles erstorben, Alles verschüttet, der Sand ist Meister des Bodens geworden. Nun kommt eine Strecke brauner Haide, da wird es lebendig; wo nur ein Gedanke von Vegetation sich zeigt, da sind Wesen mit Fleisch und Blut. In diesen Haidethälern der Dünenberge kreischt und schwirrt es. Tausende von Möven fliegen empor und erfüllen die Lüfte mit ihrem klagenden Geschrei. Sie haben hier unten ihre Nester, ihre Jungen und der Ruf des Vogels klingt fast wie: „Tödte nicht! tödte nicht!“ Zwischen den kurzen Blättern der Wegekräuter oder Ginster liegen die großen, grünen Eier der schönen Vögel. Man kann sie leicht finden, denn nur ein kunstloses Nest umhüllt sie. Bückt man sich, so wird die Unruhe der Vögel oben in der Luft immer größer, sie fahren herab, sie wollen einen Versuch machen ihr Nest zu schützen, sie haben sich in diese unwirthlichen Steppen zurückgezogen, um sicher vor dem Menschen sein zu können. Da ist er wieder und stört die Ruhe auch hier. Sonnenbrand, Einöde von Mövengeschrei und ängstlich flatterndem Geflügel belebt, ungeheuere Berge zeigen, bei dem leisesten Windhauche angewirbelten Sandes, ein großartiges Bild der erstorbenen Natur, das ist hinter den Dünen von List zu sehen, und zu diesem wüsten Panorama stimmt trefflich das Geheul der See, die wenige Schritte davon brandet.

Auf solche beklommen machende Eindrücke that der Anblick des hübschen Segelbootes gar wohl, welches unterdessen vom Chamäleon herübergekommen war, um uns abzuholen. Es sollte der interessante Tag durch eine Segelpartie beschlossen werden. Leider – ich muß so sagen – war das Wetter so schön, daß wir fast kein Lüftchen in die Segel bekamen. Mit Riemen mußte das Fahrzeug gefördert werden. Endlich sprang eine kleine Brise auf. Diese Zeit der Ruhe hätten wir nun gar zu gern durch Gesang gefeiert. Der Commandeur befahl den Jungens vom Chamäleon in scherzhafter Weise zu singen. „Sie sollten nur hören, wie munter das an Bord zugeht. Da wird gejubelt und gesungen, hier können sie nicht die Zähne auseinanderkriegen,“ sagte er. Die Leute waren verlegen, sie drehten ihre Mützen in den Händen, zuletzt krochen sie alle in die Gegend des Bugsprietes und weil sie nun von dem Segel gedeckt waren, begannen sie einen vierstimmigen Gesang, der recht gut klang, aber ernst, feierlich, fast choralartig war. Liegt das in der Stimmung, welche das Element erzeugt? Werden diese einfachen Leute durch dies Schweben zwischen Leben und Tod so unwillkürlich ernst, wenn sie heiter sein wollen? Genug, die überwiegende Mehrzahl der Seemannslieder tönt in melancholischen Weisen über die Fluth dahin.

Wir steuerten auf den „Ellenbogen“, eine kleine Insel gegenüber der List, zu. Hier ist ein Leuchtthurm oder ein Leuchtfeuer. Das Boot stieß auf, aber wir waren wohl noch fünfzig Schritte vom Land entfernt. „Wie kommen wir heraus?“ riefen die Landratten. – „Das werden Sie gleich sehen, meine Herren,“ lautete die Antwort. Schon standen eben so viel Matrosen, als Passagiere im Boote waren, in der Fluth. Der Commandeur bestieg die Schultern eines seiner Untergebenen, unter lautem Gelächter folgten wir Alle seinem Beispiel. „Werden Sie mich auch nicht fallen lassen?“ fragte einer unserer Hauptleute, mit wehmüthigem Blicke auf seinen eleganten Reiseanzug, das zweibeinige Roß, dem er sich anvertraute. Der breitschultrige Seewolf hatte statt der Antwort nur ein verächtliches Grunzen.

Wir wurden Alle an das Land gesetzt. Das Leuchtfeuer brennt auf einem eisernen Thürmchen. Wir bestiegen dasselbe und genossen noch einen herrlichen Anblick, denn die Sonne sank schon in die Fluthen. Beim Zurückgehen kam die Rede auf Capitain Hammer. Man mag von der Bösartigkeit dieser berüchtigten Figur des letzten Krieges Mancherlei erzählen können aber der Wahrheit die Ehre. Die Tüchtigkeit Hammer’s in seinem Berufe steht über alles Lob erhaben da. Die Tonnen- und Baakenordnung, das Leuchtfeuerwesen, die Peilungen, die Ausbaggerungen auf dem unter seiner Obhut stehenden Terrain sind so musterhaft in ihrer Art geführt, daß nach dem Zeugniß unserer Seeofficiere sowohl, als nach dem der ihm feindlich gesinnten Sylter, jede Marine die dänische um einen so trefflichen Beamten und kenntnißreichen Officier beneiden kann. Noch einmal fuhren wir bei dem Chamäleon vorüber, wir grüßten seine Mannschaft und gingen eine Viertelstunde später an das Land. Mit herzlichstem Danke für den genußreichen Tag, der ein uns Allen interessantes Berufsleben erschauen ließ, schieden wir von dem liebenswürdigen Commandeur des kleinen Seeungeheuers.

Zu unsern Füßen rauschte es leise, es war die Fluth, welche heranrollte; die Sonnenkugel schwebte nur noch zur Hälfte über [604] dem glühend rothgefärbten, glatten Meeresspiegel, rosige Nebel stiegen auf und hüllten die letzten Enden der Masten des Chamäleon ein, nur die preußische Flagge bewegte sich noch lustig im Abendwinde. Endlich verschwand auch sie hinter dem Vorsprung der hügeligen Küste. Die Sonne sank hinab, im Osten schwebte der Mond herauf. Zwei riesige Seeadler zogen in weiten Kreisen über das Meer, dessen Wellen im Mondlichte blitzten und funkelten.




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 21. Ein gebrochenes Edelweiß.

Ein heißer Septembertag hatte mich auf einer Entenjagd bei Moritzburg[1] fast ausschließlich im Wasser zubringen lassen, als ich, noch naß wie ein Pudel und nicht wenig ermüdet, am Abend den immerhin weiten Weg von drei Stunden nach Hause antrat, wobei ich im Vorübergehen nur noch einem in der Gegend seßhaften Waidmann eine Gute Nacht sagen wollte. Gemächlich saß dieser, von der ebenfalls mitgemachten Wasserjagd bereits verschnaufend, mit den Seinen an der von mächtigen Linden überschatteten Thür seines reizend gelegenen Forsthäuschens und stärkte sich am reichlich aufgetragenen Imbiß. Mein Erscheinen war ihm ein sehr willkommenes, denn schon von Weitem rief er mir zu:

„I, das ist vortrefflich, daß ich Sie heute Abend noch einmal sehe! Setzen Sie sich,“ nöthigte er mich dann beim Herankommen, „und nehmen zuvörderst fürlieb mit einem einfachen Abendbrod, später aber mit einem Nachtlager in dem Ihnen ja so lieb gewordenen Giebelstübchen, denn Sie müssen heute bei mir bleiben. So eben,“ erläuterte er mir, „habe ich noch Schußbefehl auf ein weißes Edelthier erhalten, und da gehen wir morgen in der Frühe mitsammen darnach. Meine Büchse steht Ihnen zu Diensten, und wem es von uns Beiden zuerst paßt, der schießt’s todt.“

Das war allerdings Wasser auf meine Mühle. Dennoch wies ich mit Bedenken auf meine durch und durch nasse Bekleidung, die ich mir beim Nachhausegehen wohl trocken zu laufen gedachte, zur Uebernachtung im fremden Hause aber durchaus nicht geeignet fand. Diesem Einwand ward jedoch sehr bald praktisch abgeholfen, indem ich schon in wenigen Minuten vom Kopf bis auf den Fuß in trockenem Jägercostüm steckte, das freilich, da der gastfreundliche Besitzer desselben bedeutend umfangreicherer Natur war, als ich, arg an mir herumschlotterte. So metamorphosirt nahm ich nun vor allen Dingen am erquicklichen Mahle Theil, um dann so recht in behaglicher Muße den stillen, herrlichen Herbstabend zu genießen.

Ungehindert schweifte der Blick über die mondspiegelnde Fläche eines weit gedehnten Waldteiches hin, aus dessen wirrem Schilfe zuweilen die dumpfmächtige Stimme der Rohrdommel erklang, während das Gezänk der Rohrspatzen kein Ende nehmen wollte; wahrscheinlich weil ihnen die bereits in massenhaften Zügen einfallenden Staare den Platz im Röhricht streitig machten. Aber auch die Schnatter- und Pfeiftöne verschiedener Entenarten drangen durch die stille Abendluft herüber, und man konnte sehen, wie das plätschernde Wasser von den sich auf den Blänken Tummelnden gleich silbernen Funken und Streifen im Mondenlichte erglänzte. Lange saß ich so mit meinen gastlichen Wirthleuten unter den flüsternden Bäumen, von denen schon hin und wieder gelbe Blätter leise bröckelnd herabsanken und sich unter die im Gärtchen blühenden Astern, Malven und andern Herbstblumen betteten, wo sie am andern Morgen, goldenen Schälchen gleich, den perlenden Thau in großen, demantschimmernden Tropfen sammelten. Endlich mußte ich mich doch, so gern ich noch geblieben wäre, der Hausordnung fügen und in das mir angewiesene liebe, traute Giebelstübchen hinaufsteigen. Aber auch hier saß ich noch lange schlaflos am weinumrankten Fensterchen, sog in vollen Zügen die balsamische Waldluft tiefathmend ein und blickte immer wieder über den schweigsamen Forst und schimmernden See, bis aufsteigende Nebel ein mystisches Dämmerlicht verbreiteten und zuletzt Alles tief verschleierten, so daß das Auge endlich ermüdete und sich nach Ruhe sehnte. Nun erst suchte ich das frische, linnenduftende Lager auf.

Nach tiefem, stärkendem Schlafe ermunterte mich der laute Weckruf meines jägerlichen Freundes, worauf ich sehr bald in Kleidern und jagdgerüstet vor ihm stand. Dann ging’s, zuvor noch durch eine Tasse guten Kaffee erquickt, hinaus in die Frische der Morgenluft, ohne daß wir jedoch sehr weit nach unserem Ziele wandern mußten. Der einzuschlagende Weg führte uns durch die von glattgeschorenen, steifverschnörkelten Taxushecken umgebene Fasanerie nach dem sogenannten „Weißen Fischgarten“, worin das jetzt gänzlich ausgestorbene weiße Edelwild gehalten wurde. Der erwähnte Wildpark aber, dessen Eingänge durch plastische Kunstwerke der Rococozeit geschmückt sind, besteht aus vortrefflichen, canaldurchschnittenen Wiesen, gesäumt von Jahrhunderte alten Beständen der herrlichsten Laub- und Nadelhölzer, die wiederum durch niedergehaltene Remisen, welche dem Wilde den gehörigen Schutz bieten, unterbrochen werden.

In erquickender Frische dämmerte der Morgen herauf; schon bleichten im Osten die Sterne vor dem kommenden Tagesschimmer, und den silberbethauten Wiesen entstiegen in langen Schwaden die Morgendünste. Mit Wonne schlürfte die Brust wiederum, wie am Abend, die aromatischen Düfte der Gräser, Kräuter und Bäume ein, während dem Ohre schon Gelegenheit ward, den mannigfachen Lauten der früh munteren Vögelschaar zu lauschen. Rasch wurde es nun heller und heller und auch die wallenden Nebel waren plötzlich wieder verschwunden, so daß das Auge freieren Spielraum bekam und bald – o köstlicher Anblick! – durch einen Trupp des weißen Edelwildes gefesselt wurde. Drüben, am Wiesenrande, dicht vor einem dunklen Fichtenbestande, äßten ruhig die graziösen Thiere, an Zahl wohl wenigstens zwanzig Stück. War die Entfernung zwischen uns und dem Wilde auch noch ziemlich weit, so hatten wir doch so vortrefflichen Wind und so geeignetes Terrain, daß es keinerlei Schwierigkeit bot, uns auf Schußweite hinanzupirschen. Dennoch mußten wir uns, nachdem wir dies bewerkstelligt hatten, auch hier zunächst nur an dem Anblick der Herrlichen weiden, da sich die Gelegenheit zum Schießen auf das bezeichnete Thier nicht sofort bieten wollte, indem dasselbe gerade mitten im Trupp und dadurch vollkommen gedeckt stand. So verhielten wir uns denn vor der Hand ruhig hinter dem Stamme einer gewaltigen Eiche, der uns vollkommen verbarg, dabei das gegenseitige Uebereinkommen treffend, wer zuerst seines Schusses sicher zu sein glaubte, der solle in Gottes Namen Feuer geben.

Das sollte aber keinem von uns Beiden so leicht glücken. Schon war es lichter Tag geworden, die äußersten Wipfel der uns gegenüberliegenden Buchen und Eichen prangten bereits im goldenen Schein der Frühsonne; weiter und weiter drangen die Strahlen hernieder, bis sie über die thauglitzernden Büsche und Gräser huschten und zuletzt die vor uns stehende Wildgruppe mit blendendem Lichte übergossen – aber noch immer ruhte die Todeskugel im Rohre. Ja, wäre sie für den stattlichen Sechszehnender, der beim Truppe stand, bestimmt gewesen, längst hätte sie ihr Ziel erreicht, denn kaum vierzig Schritte vor mir äßte sich der Herrliche, gänzlich isolirt und breit stehend. So zog er nur allzusehr meine Aufmerksamkeit auf sich, denn den einzigen Moment, in welchem ich einmal zur Noth auf unsere ersehnte Beute hätte schießen können, versäumte ich in versunkener Anschauung des Hochgeweihten. Fast eine halbe Stunde hatten wir vergeblich geharrt, der Trupp hatte sich, fortäßend, mehr und mehr von uns entfernt und zog endlich in das Waldesdunkel ein, so daß er darin unsern Blicken gänzlich entschwand. Das hatte nun bei so beschränktem und eingeschlossenem Terrain, wie das des Hirschgartens ist, eben nicht viel zu sagen, insofern es nur die Wiederauffindung des Wildes galt. Dennoch konnte dieses dabei leicht rege gemacht werden, was dann jedenfalls Schwierigkeiten zur Folge hatte, denn man glaubt nicht, wie schwer es schon ist, ein bezeichnetes Stück Wild aus einem selbst ruhigen Trupp herauszuschießen, um wieviel mehr, wenn letzterer einmal stutzig geworden. Und wirklich [605] bekamen wir noch unsere rechte Noth. Denn so schnell wir auch wieder schußrecht an die außer Sicht Gekommenen hinan waren, das begehrte Thier blieb, wie in Vorahnung ihm drohender Gefahr, stets mitten im Trupp und ward, wie erst schon, immer und immer durch andere gedeckt, oder, wenn es ja einmal auf Augenblicke frei wurde, stand sicher hinter ihm eine Creatur, die, hätte man geschossen, auch mit getroffen werden mußte. Kurzum, es war nicht beizukommen.

Außerdem trat nun wirklich der gefürchtete Fall ein, daß die Beschlichenen uns wegbekamen und dadurch so mißtrauisch wurden, uns nicht wieder im Pirschen an sich hinan zu lassen. Deshalb zogen wir nach vergeblichen Bemühungen vor, uns ablösend vor die Wechsel zu stellen, während der Andere sacht hinter dem Wilde herpirschte. Aber auch dieses Manöver wollte zu keinem Erfolge führen, wir kamen eben niemals auf das rechte Stück zum Schuß. Zuletzt fiel uns fast der Muth, dasselbe an diesem Tage überhaupt noch zu bekommen, besonders da der Trupp durch die immerwährende Beunruhigung nun förmlich flüchtig wurde und die gezwungenen Wechsel nur im Fluge passirte. Trotzdem ließen wir nicht ab, und dabei glückte es endlich meinem Führer doch einmal, das Thier auf einen Moment, allerdings in vollster Flucht, frei aufs Korn zu bekommen. Rasch schoß er, und ganz deutlich sah ich, wie es die Kugel erhielt. Mit krummgezogenem Rücken machte es eine gewaltige Lançade in die Luft und stürmte dann mit dem flüchtigen Trupp weiter. Aber nur etwa fünfzig Schritt ging es mit seinen Genossen, dann trennte es sich von ihnen und zog langsam, nicht sehr fern von mir, etwa hundertundfünfzig Schritte, über eine haideblühende Blöße dem Holzrande zu. Deutlich konnte ich hierbei auf dem weißen Haar den Anschuß, der hinterm Blatte, aber etwas kurz saß, erkennen, ohne noch selbst einen Schuß anbringen zu können. So beobachtete ich denn vor allen Dingen, wo das kranke Thier sich niederthun würde, was auch sehr bald unter einer gewaltigen Fichte geschah, welche ihre dichten Zweige bis zur Erde neigte.

Die letzten Augenblicke.
Nach der Natur gezeichnet von Guido Hammer.

Unterdessen war mein Jägersmann mit Laden fertig geworden und an mich herangekommen. In Kürze erstattete ich Bericht über das Beobachtete und zeigte dem glücklichen Schützen seine sitzende Beute. Mit gutem Winde pirschten wir uns nun mitsammen ganz nahe hinan, und leise nahm ich die Büchse an den Kopf, um das leidende Thier vollends todt zu schießen, aber Freund Grünrock griff mir plötzlich in den Arm, mich an meinem Vorhaben zu behindern. „I,“ raunte er mir dabei in’s Ohr, „Sie sind wohl des Teufels, hier erst noch eine Kugel d’ran wenden zu wollen. Nehmen Sie lieber rasch Ihr Skizzenbuch zur Hand, denn so Etwas kommt einem nicht alle Tage vor: ein Stück Wild im Verenden nach der Natur zeichnen zu können.“

[606] „Ach was, lassen Sie mich dem armen Geschöpf sein Leiden verkürzen! Hole der Satan eine so erbärmliche Skizze nach einer schmerzgequälten Creatur, der dadurch die Erlösung von ihren Schmerzen vorenthalten wird!“ murmelte ich ihm unwirsch entgegen und nahm die Buchse wieder auf, um Menschlichkeit zu üben, denn das Thier hatte jetzt, durch unser Geflüster aufmerksam geworden, eben den Kopf nach mir herübergewandt und sah mich mit einem Blick seines großen, schönen blauschimmernden Auges, aus dem Schmerz und Sanftmuth, Vorwurf und Bitte zugleich sprachen, so jammervoll an, daß ich mir dem duldsam sterbenden Thiere gegenüber wie ein ruchloser Bösewicht erschien. Dieses Gefühl steigerte sich in mir noch außerdem durch den Anblick des purpurnen Herzschweißes, der dem Anschuß in dicken Perlen entquoll und am „gebrochenen Edelweiß“ herniederrann, während bei jedem Athemstoß des sterbenden Geschöpfes hellrother Lungenschweiß aus Nase und Lippe entströmte. Das rührte aber meinen Waidmann Alles nicht, er nahm mir’s Gewehr von der Schulter und drang darauf, daß ich zeichnete. Laut bittend, ohne Rücksicht auf jägerliche Vorsicht, verlangte ich indeß die rasche Tödtung durch seine oder meine Hand, was er aber halsstarrig mit dem Bedeuten verweigerte: wenn ich gezeichnet hätte. Nur um ihm den Willen zu thun und dadurch um so rascher des Wildes Qualen zu beenden, griff ich nun hastig nach Stift und Papier, in flüchtigen Umrissen das Opfer mißverstandener Kunstliebe zu fixiren. In vibrirender Unruhe, aber kürzester Frist, habe ich das Blatt, nach dem ich die beigedruckte, natürlich ausgeführtere Zeichnung gebe, geschaffen, denn so lange ich zeichnete, verwendete das schwer- und schweißathmende Thier keinen Blick von mir ab. Dann, so rasch ich entworfen, legte es den schönen Kopf seitwärts und hinter nach dem Anschuß zu, das schmerzgebrochene Auge umflorte sich mit smaragdenem Schimmer, leiser und leiser wurde das Röcheln und – ohne seine Lage zu verändern oder sonst nur zu zucken – hauchte es seinen letzten Athemzug aus. Der Tod war mitleidig dem harten Menschenherzen zuvorgekommen.

„Verdammt sei das Sündenblatt!“ Mit diesen Worten warf ich die erzwungene Studie dem Waidmann vor die Füße, und – sonderbarer Weise – als er sie aufhob, war genau an der Stelle, wo der Anschuß hingehörte, ein Tröpfchen Schweiß gekommen, das in der Fährte an einem Halme gehangen. Mit seinem Herzblut hatte das dem Tode verfallene Original sein nichtiges Conterfei bezeichnet. Noch bewahre ich mir das unscheinbare Blättchen als mahnendes Erinnerungszeichen: auch als Jäger das Mitleiden nie zu unterdrücken.




Blätter und Blüthen.


Sind Frauenaugen die Fenster oder der Spiegel des Herzens? In einer gewählten Damengesellschaft entstand jüngst ein lebhafter Streit über die Frage: „Sind Frauenaugen die Fenster oder die Spiegel des Herzens?“ Einige wollten behaupten, daß die Augen nicht die Spiegel, wie man allgemein zu sagen pflegt, sondern die Fenster des Innern seien, weil man durch die Augen keineswegs den bloßen Spiegelschein, viel mehr den wahren Zustand des Innern sieht. Ferner behauptete man, daß man aus dem Auge, eigentlich aus dem Blicke, eines Menschen nicht nur sein Gemüth und seine Stimmung, sondern überhaupt jeden noch so unbedeutenden Wechsel in seinem Innern, ungeachtet der Verstellung, fast mit Zuversicht erkennen kann. Andere waren gerade der entgegengesetzten Meinung und wollten blos zugeben, daß man nur die Hauptaffecte, wie Freude und Schmerz, nicht aber jede noch so unbedeutende Regung des Herzens und schon gar nicht, wie wir behauptet, die Zuneigung zu einem Anderen aus dem Blicke allein ersehen könne.

Diese Debatten dauerten längere Zeit, bis ich auf den glücklichen Gedanken verfiel, uns zur Schlichtung unseres Zwiespaltes an einen der ersten Humoristen mit der Bitte zu wenden, über den Gegenstand unseres Streites sein unparteiisches Urtheil fällen zu wollen. Sein Ausspruch lautete wie folgt:

„Zu dem innersten Audienzzimmer ‚Herz‘ in dem alten gothischen Gebäude ‚Mensch‘ führen fünf Pforten, genannt fünf Sinne. Der Schall fährt durch das stets offene Ohr; das Licht macht seinen Tagesbesuch durch die Fall- und Aufzugsbrücke des Auges; der Geruch geht durch den Corridor in dem gewölbten Gange der Nase; der Geschmack zieht über den Pont volant der Zunge, und das Gefühl, eigentlich Tastgefühl, tanzt über die Fingerspitzen-Palissaden in’s Audienzzimmer hinein. Zurück aus diesem Audienzsaale, oder besser, aus dieser Ständeversammlung der Sinne mit den beiden Kammern, zurück aus dieser Chambre haute gehen die Beschlüsse des Herzens direct nur durch ein Organ, durch den Moniteur universel des Auges. Das Licht, der Blick, ist die einzige officielle glaubwürdige Hof- und Staatszeitung des Innern. Der glatte ‚Messager des Chambres‘ aber, die Zunge, ist zwar auch ein Organ der Veröffentlichung, allein dieses ist glatt und heuchlerisch, höflich und trügerisch, und es dringt von den geheimen Angelegenheiten nur so viel zur allgemeinen Kenntniß, wie die Politik erheischt. Also nur das Auge ist der Großsiegelbewahrer des Herzensreiches, und was mit diesem Siegel ab- und ausgedrückt wird, ist das einzig Wahre und Untrügliche. Jeder Blick ist ein unwiderleglicher Ausspruch.

Am passendsten lassen sich die Augen – die Fenster des Herzens nennen, denn jeden Morgen werden diese Fenster aufgemacht, sie haben Lädchen (Augenlider) und Vorhänge (Wimpern), sie laufen bei unfreundlichem Geschick trüb an, es fließen Tropfen von innen herab, und am Ende, wenn unser Herrgott das Menschenhaus absperrt, fällt das Fenster zu oder bricht. Allein ein Fenster ist eine bloße Glasscheibe, es spiegelt und malt sich auf ihr selbst gar nichts ab, man kann blos durchschauen; durch ein Fenster fällt das Licht von außen hinein, durch das Auge strahlt das Licht von innen heraus. Ein Fenster ist ein Todter, er sagt Jedem, der hineinschaut, dasselbe. Ein Auge hingegen ist lebendig, es hat für Jeden eine andere Färbung, einen anderen Strahl, ein verschiedenes Licht. Das Auge ist Alles; das Auge ist das Comptoir, in welchem jeder Wechsel der Empfindung erst sein Accept erhalten muß. Der Ring des Auges ist der große Trauring der Gefühle; der Augapfel ist der Reichsapfel der Empfindung, und der Stern im Auge ist der Leitstern des Herzens. Jeder Blick ist ein durch Strahlenfeuer und Thränenwasser gegangener und geprüfter, treuer Tamino; die Iris im Auge ist eine Götterbotin, wie die Iris im Himmel, ihre Sendung ist untrüglich! In der Regenbogenhaut des Auges strahlt der ewige Regenbogen, den der Schöpfer als Zeichen seiner Wahrheit und Liebe einsetzte. Die Augen sind mehr als Fenster, mehr als Spiegel, denn ein Spiegel ist ein Egoist, der nur das wieder vergilt, was man ihm giebt; ein Spiegel ist ein hartherzig kaltes Ding, eine eisige Schöne, die Jedem sein ‚Ich‘ zurückwirft; das Auge hingegen ist der Reichs-Dragoman, der erste Dolmetscher des Herzens; es spricht alle Sprachen und giebt den leisesten Willen des Herzens kund.

Aber es ist vor allen Dingen nöthig, daß man, um diese Sterne zu deuten, die Sternenkunde auch verstehe. Dem Blinden ist selbst der Himmel mit seinen Sternen ein nichtssagendes leeres Blatt, eingeschoben in dem großen Buche der Schöpfung. Dem, der sich auf Augen und Blicke nicht versteht, dem freilich sind Augen und Blicke nichts, als blau, oder grau, oder schwarz gekleidete Livréediener des Herzens, zwei leblose Laternen an beiden Seiten der Gehirnchaise etc. Wer aber die tiefe und sinnige Astronomie und Astrologie dieses Sternenhimmels kennt und versteht, der wird, so wie der Astronom durch die Sternkunde erst die wunderbare Größe Gottes erkennt, auch durch diese Augen-Sternkunde erst die wunderbare Größe, die Schönheits-Allmacht und den Zauberreiz der irdischen Göttinnen – der Frauen kennen, bewundern und lieben lernen! Nach diesen Sternen richtet sich der Compaß aller Nebenschiffchen, die in dem feinen Gewebe unserer Empfindungen hin und herlaufen; nach diesen Sternen richten wir den Weg in der großen Saharawüste unseres Daseins; nach dem Auf- und Niedergang dieser Sterne berechnen wir unseren Lebensmorgen und Lebensabend, und unter diesen Sternen wie unter den wirklichen sucht der Liebende seine ‚Jungfrau‘, der Krieger seinen ‚Schütz‘, der Jurist seine ‚Wage‘, der Sänger seinen ‚Schwan‘ und der Dichter seine ‚Leier‘.“




Das Bärbel am Arenenberg. Die „Gartenlaube“ brachte neulich interessante Mittheilungen über den Aufenthalt des Prinzen Louis Napoleon im Schlosse Arenenberg, das angesichts der grünen Insel Reichenau freundlich vom Thurgauer Ufer aus das weite, schimmernde Seegebiet herabblickt und durch die jüngste Anwesenheit des Kaiserpaares neues Interesse gewonnen hat. Bei meinem Aufenthalte in dem nur wenige Stunden davon entfernten schweizerischen Städtchen Stein am Rhein wurde mir durch Zufall eine Episode aus der Jugendgeschichte des „neuen Cäsars“ bekannt, die ich im Anschluß an den oben erwähnten Artikel und an die letzte Kaiserreise hier mittheilen will.

Es war zu jener Zeit, als die vielgenannte Dappenthaler Affaire die Gemüther der Schweizer erregte. In der Verletzung des Grenzgebietes glaubte jeder Einzelne sich selbst beraubt, denn es liegt einmal in der republikanischen Erziehung und in der patriotischcn Anschauungsweise des Schweizers, daß er überall in den Interessen des Gesammtstaates seine eigenen Interessen und in den Verhältnissen der Republik seine eigenen Verhältnisse gefährdet sieht. Da schwiegen denn endlich einmal die Stimmcn des „Cantönligeistes“, dafür aber schleuderten die dritthalb Millionen Zungen der vier verschiedenen Nationalitäten, aus welchen die Bevölkerung des Bundesstaates besteht, deutsch, französisch, italienisch und romanisch, wie ein einziger grollender Donner den Bannfluch auf den „undankbaren Schweizerbürger“, welchen einst als heimathlosen Flüchtling das ganze, freie Volk mit Gut und Blut gegen den Machthaber des Thrones zu schützen bereit war, von dem herab er nun selbst die geheiligten Grenzen Helvetiens bedrohte. Man muß die Schweizer kennen, um die Unzahl von Flüchen und Verwünschungen zu begreifen, welche damals auf das Haupt des „neuen Cäsars“ geschleudert wurden; jeder Einzelne wäre ihm gern ein „Brutus“ geworden. Nur Eine hörte ich oft das Toben der Männcr besänftigen und zuversichtlich sagen: „Ich hab’ ihn g’kannt, den Louis, ’s war halt a braver Bursch, i glaub’ nit d’ran, daß er was Böses gegen d’ Schweiz im Sinn hat; ‚undankbar‘ ist er halt nimmer g’si.“

Es war eine gutmüuhige, verständige Frau von kaum mehr als vierzig Jahren, die so sprach. Sie wurde von Jung und Alt die Frau Bärbel genannt und war für mich nicht allein die sorgende Wirthin, in deren Hause ich wohnte, sondern namentlich auch die Freundin, mit deren Familie ich am liebsten verkehrte. Gern hätte ich sie wohl gefragt, woher sie den „Louis“ so genau kenne, allein der Gast hat in nordschweizerischen Häusern eine andere [607] Stellung, als bei uns in Deutschland, und wenn ihm das seltene Glück zu Theil wurde, in einem Familienkreise Zutritt zu erhalten, so thut er wohl, wenn er in politisch bewegten Zeiten die äußerste Zurückhaltung beobachtet. Ich verschob daher meine Frage, bis sich mir auf einem Spaziergange eine passende Gelegenheit bieten würde.

Meine Wirthin liebte nämlich ebenso wenig wie alle Schweizerinnen große, verschwenderische Vergnügungen, Aufwand und Luxus, daher animirte sie mich oft zu gemeinschaftlichen Ausflügen. Auf steilen Fußsteigen stiegen wir dann wohl durch Nebenberge und Wald hinauf zum alten Raubschlosse Hohenklingen, von wo wir über dem Rheinthal und den grünen Vorbergen der Schweiz die Riesen der Alpenwelt in der blitzenden Galauniform ihres Schnee- und Eisregimentes leuchten sahen, oder wir wanderten hinüber nach der alten römischen Ruine Strotsburg, die, wenig gekannt und noch weniger besucht, uns eine herrliche Aussicht über den weiten Spiegel des Bodensees und sein goldschimmerndes Gebiet gewährte. Hier saßen wir eines Nachmittags auf dem zerbröckelnden Gemäuer. Vor uns lag der Untersee mit dem stillen Flecken Radolphszell, fern am Bodensee Constanz mit seinem grauen Münster; näher, dem Oertchen Ermatingen gegenüber, schien das grüne Eiland von Reichenau auf den goldklaren Fluthen zu schwimmen, in denen sich das weinreiche Thurgauer Ufer mit dem neu restaurirten Schlosse Arenenberg spiegelte.

„Da drüben,“ begann meine Gefährtin, „in jenem Dörfli unterm Areneberg, hab’ i meine Kindheit verlebt. Meine Eltern waren früh g’storben und so wurd’ i halt bei einem Onkel, der dort Pfarrer war, erzogen.“

„Ach,“ fing ich, die Gelegenheit benutzend, „dort war es auch wohl, wo Sie die Bekanntschaft des Prinzen Napoleon machten, deren Sie in meiner Gegenwart schon öfter erwähnten?“

„Ei freilich war’s da!“ antwortete sie redselig und mit sichtbarer Befriedigung, daß ihr nun die Gelegenheit geboten war, von einer ‚Jugendbekanntschaft‘ zu erzählen, auf die sie sich nicht wenig einbildete. „Der Louis kam gar oft zu meinem Vetter, seinem Jugendfreund, in’s Haus, und dann war’s halt gar nit, als wär’ a Prinz zu uns kommen. Aber ’s war lange, lange Zeit, da kam er halt nit mehr, und wir hörten nur lauter verworr’ne Ding’ von ihm rede: daß er eing’sperrt sei und dann wieder ausg’rissen und über’s Meer gangen. Und die Hortense, die arme Königin droben auf dem Schloß, ward krank; wir dachten, ’s wär’ halt aus Gram über den Louis, und da wollt’ ich ihr a rechte Freud’ machen und bracht’ ihr die ersten reifen Trauben in’s Schloß, die drunten am See bei uns gereifet; ’s war halt im August! Als i aber in’s Schloß komm’, da steht der Louis, von der Sonne ganz braun g’brannt, und hinter ihm a häßlicher Mohr, den er mit aus Brasilien g’bracht. Und sowie mich der Louis sieht, kommt er au gleich auf mich zu und kneift mi in d’ Backen und sagt: ‚Ach, da ist’s Bärbel auch noch; ei, und wie bist’ groß und hübsch worden, Bärbel!‘ Da mußt’ i mi ordentlich schäme und schlug d’ Augen nieder, weil mich der Prinz so freundlich anschaute, wie sonst; und dabei ließ ich meinen Korb mit den schönen Weintrauben in den Sand fallen. Das war recht schad’ drum. die arme, kranke Königin hätt’ sie g’wiß gern g’essen. Der Louis aber, der hat noch a lang G’spaß macht mit den Weintrauben und i glaub’, er hat die G’schicht heut noch nit vergesse.

Und a paar Tage d’rauf, da spielt’ ich mit meinen Freundinnen, ’s waren ihrer wohl vierzehn oder fünfzehn an der Zahl, auf dem Kirchplatz mitten im Dörfli, als der Prinz vorüberfuhr, und zwar wieder mit seinem unvermeidlichen, garstigen Mohr hinten auf der Chaise. Er erkannte mich, ließ anhalten und frug: ‚Willst’ mitfahren, Bärbel?‘

‚Wenn Sie meine Gespielinnen auch mitnehmen wollen?‘ antwortete ich.

‚Das ist unmöglich, Bärbel!‘ rief der Prinz. ‚Du siehst, daß in meinem Wagen nur noch ein Platz neben mir frei ist; drum komm’ allein!‘

Mit dem Prinzen war, wenn er sich einmal was in den Kopf g’setzt, halt nit z’spaße; und am allerwenigsten durften ihm junge Maidlis trauen; desbalb fingen wir an lachend davonzulaufen. Als ich aber sah, daß er seinen Mohr schickt’, um mich festz’halten, verdoppelt’ ich meine Schnelligkeit. Es half mir nichts, und ich sah mich bald von den schwarzen Armen gepackt. In meiner Angst schrie ich aber so laut, daß dem Prinzen selbst bang’ ward und er seinem Helfershelfer zurief: ‚Na, wenn das Bärbel einmal so spröd’ ist und nit zu mir mag, so gieb ihr einen Kuß und laß’ es laufen.‘

Der Mohr that nach sein’s Herrn Befehl, küßte mich arm’s Ding und ließ mich dann laufen … laufen, sag’ i? und g’brauch halt wohl a falsches Wort; denn als das Schwarzg’sicht seine blutrothen, aufgeworfenen Lippen auf die meinen g’drückt, hatt’ mich der Schreck halb g’lähmt.

Andern Tags war der Prinz wieder bei meinem Vetter. ‚Nun, Bärbel,‘ sprach er, als er mich furchtsam zur Thür hereintreten sah, ‚willst Du das nächst’ Mal lieber den Prinzen Napoleon oder seinen Mohr küssen?‘“

Diese und noch viele andere Episoden erzählte mir die gute Frau; aber alle bezogen sich auf den Arenenberg und das stille „Dörfli am See“. Die Dämmerung war herabgesunken. Am Himmelsgewölbe hatte sich nach und nach das Heer der Sterne entzündet, und hinter den fernen Eisfirsten ging der Vollmond wie eine blutige Flamme auf und spiegelte sich in den zitternden Wellen des Sees, als wir den schmalen Steig durch die Rebenpflanzungen zu unserm Städtchen hinabgingen. Der Abendwind rauschte durch die Zweige und die schwankenden Schatten der Laubkronen waren auf dem hellen Pfade von wunderbarer, fast geisterhafter Wirkung. Abendglocken klangen von nah und fern aus den Bergthälern über dem See zusammen und zwar manche aus solcher Ferne, daß sie wie Töne einer Windharfe von den Abendlüften herübergetragen wurden. Dumpfer aber und feierlicher hallten die Glocken von Ermatingen und dem dabei gelegenen „Dörfli“ am Arenenberg herüber, als uns aus den Straßen des Städtchens, dem wir zueilten, der frohe Gesang des schönen schweizerischen Liedes: „Rufst du, mein Vaterland!“ entgegentönte. In den Gassen herrschte wieder der Frohsinn, den wir seit Wochen vermißt hatten, und als wir endlich über unsere Schwelle traten, kam uns der Hausherr mit dem „Bund“, der bekannten schweizerischen Zeitung, entgegen und rief: „’s ist All’s abgethan und es bleibt halt Friede zwischen Frankreich und der Schweiz. Der Kaiser ist unserm Bundesrath entgegengekommen und hat ihm die Hand zur directen Unterhandlung und friedlichen Regelung der Angelegenheit g’boten.“

Jeder war glücklich über diese unerwartete Nachricht; aus keinem Angesichte glänzte aber die Freude reiner, als aus dem des alten „Bärb’le“. Mit einer wahren Genugthuung, und gleichsam wie mit einem Vorwurfe, sagte sie zu den nun wieder beruhigten Männern; „Ich hab’ ihn besser g’kannt, den Louis, und hab’ nimmer d’ran glauben möge, daß er Böses gegen d’ Schweiz im Sinn trüg’; denn ‚undankbar‘ ist er halt nimmer g’si.“

Wie uns mitgetheilt wird, ist auch das „Bärble“ jenes Mütterchen gewesen, das sich neulich, als Napoleon den Arenenberg besuchte, durch die am Fuße desselben gedrängt zusammenstehende Menschenmenge Bahn brach, um dem Kaiser die Hand zu schütteln, und ihm dann ungenirt in’s Gesicht sagte: „Ihr sid doch a chli g’altert, Herr Kaiser.“




Liebig’sches Fleischextract. Dieses Präparat ist, nach Angaben Liebig’s bereitet, ein kalter, wässriger Auszug des von seinem Fette möglichst befreiten Ochsenfleisches, der, um das Eiweiß auszuscheiden, schnell erwärmt und hierauf vorsichtig zur Dicke eines gewöhnlichen Breies eingedampft wird. So erhalten, stellt es eine bräunliche Masse dar, die angenehm nach Braten riecht und schmeckt und sich jahrelang unverändert aufbewahren läßt. Die geringe Ausbeute, ungefähr 1/10 des verwendeten Fleisches, machte bei unseren hohen Fleischpreisen das Extract so theuer, daß es nur in seltenen Fällen angewendet werden konnte und von einer allgemeineren Verbreitung, besonders als Nahrungsmittel, gänzlich abgesehen werden mußte.

Die Industrie hat sich in neuerer Zeit auch dieses Artikels bemächtigt, und ein Herr Gilbert, der unter Leitung der Professoren v. Liebig und Pettenkofer in München die Bereitung praktisch erlernte, hat jetzt in Uruguay in Südamerika, wo das Fleisch als werthlos bei Seite geworfen und die Thiere nur ihrer Felle wegen geschlachtet werden, eine große Fabrik zur Ausbeute dieses Artikels errichtet, aus welcher er sein Fabrikat regelmäßig nach München sendet, von wo es durch die Professoren v. Liebig und Pettenkofer unentgeltlich untersucht und unter der Bedingung weiter versendet wird, daß der Preis nur den dritten Theil von dem bei uns bisher bereiteten Extracte beträgt.

Kaum fängt nun das billigere Fleischextract an, sich allgemeineren Eingang zu verschaffen, so bemächtigt sich auch schon die Marktschreierei dieses Artikels und ein Herr Dr. Meyer-Berk aus Frankfurt empfiehlt einen Fleischextract-Syrup, der natürlich gegen nicht weniger als alle Krankheiten helfen soll, aber mit dem Liebig’schen Präparate nichts als einen Theil des Namens gemein hat. In der langen Reclame läßt Herr Meyer-Berk seinen Syrup durch einen Herrn Dr. Gautier St. Martin in Paris chemisch untersuchen und empfehlen. Herr Dr. Gautier hebt nun als besondere Empfehlung den Umstand hervor, daß dies Präparat sehr viel Eiweiß enthalte; allein jede Hausfrau weiß, daß sich Eiweiß nur getrocknet und gepulvert unverändert aufbewahren läßt, aber in flüssigem oder nur feuchtem Zustande nicht nur selbst schnell zersetzt und den bekannten Geruch nach faulen Eiern entwickelt, sondern zugleich zersetzend auf verschiedene andere Körper einwirkt. Dr. Gautier’s Anpreisung ist entweder nichts, als ein gewöhnlicher Schwindel, oder zeigt von einer so gänzlichen Unkenntniß chemischer Vorgänge, daß es nur des Hinweises darauf bedarf, um das Publicum vor diesen Anpreisungen zu schützen.

Leipzig.
Dr. M. Rothe.

An die Leser der Gartenlaube!

Allen Freunden der modernen Literatur, der Kunst und Gesellschaft empfehlen wir angelegentlichst die

Europa.
Chronik des modernen Culturlebens.
Wöchentlich ein Heft von 32 zweispaltigen Quartseiten.
Preis vierteljährlich 2 Thlr.

Die besten literarischen Erscheinungen der Zeit und die hervorragenden Leistungen der Künste genau kennen zu lernen, ist ein Bedürfniß jedes Gebildeten. Weder durch kritische Blätter, noch durch schöngeistige Zeitschriften kann dasselbe befriedigt werden, denn die erstern stellen sich ohne Ausnahme auf den gelehrten Standpunkt und machen den Leser gewöhnlich mit der persönlichen Ansicht des Beurtheilers bekannt, das beurtheilte Werk selbst [608] zum Schweigen verdammend, und die schöngeistigen Zeitschriften müssen Novellen und ähnlichen Schöpfungen einen zu großen Raum gönnen, als daß sie ihren Lesern einen Ueberblick über die ganze geistige Thätigkeit auf den Gebieten der populären Wissenschaften, der Literatur und der Künste gewähren könnten. Einen solchen Einblick in die große geistige Werkstatt des Tags zu eröffnen, ist das Ziel, das die „Europa“ seit Jahren verfolgt. Es erscheint kein Werk von allgemeinem Interesse, ohne daß unsere Zeitschrift schon in ihrer nächsten Nummer dasselbe nach Geist und Inhalt kennzeichnete und so viel daraus mittheilte, daß jeder Leser die Bedeutung und den Charakter der neuen Erscheinung selbst würdigen könnte. Denn nicht den Leser in seinem Urtheil zu bevormunden, sondern ihn mit allem Neuen durch Auszüge bekannt zu machen, ist unsere Tendenz. Vorzugsweise benutzen wir zu längern Mittheilungen solche Bücher, die Biographisches von großcn Deutschen der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit mittheilen, interessante Beiträge zur Geheimgeschichte der Zeit liefern, culturhistorisch wichtige Züge aus dem Volksleben schildern, Skizzen der modernen Gesellschaft, anziehende Charakterschilderungen, frische Bilder aus fernen Gegenden enthalten. Um den augenblicklichen Standpunkt einer Kunst, eines Literaturzweiges in lebendiger Weise anschaulich zu machen, führen wir die besten Vertreter derselben in Biographien und Charakteristiken vor. Für sociales, wissenschaftliches und Kunstleben ist die „Europa“ eine Chronik.

Unter den vier Rubriken: Aus der Gesellschaft, Literatur, Kunst, Musik und Theater werden die Erscheinungen dieser Gebiete, auf das Sorgfältigste gesammelt und übersichtlich geordnet, den Lesern vorgeführt. Daß dieser Theil, welcher auf die größte Schnelligkeit der Mittheilungen besonderes Gewicht legt, auch an Reichhaltigkeit wenig zu wünschen übrig läßt, mag daraus hervorgehen, daß der laufende Jahrgang gegen dreitausend Artikel umfaßt. Wer unsere Chronik mit Aufmerksamkeit liest, wird auf dem ganzen Gebiete, welches in der Regel Gegenstand der Unterhaltung in Kreisen der gebildeten Gesellschaft ist, gut orientirt sein, und wir können sie deshalb als eine nie versiechende Quelle zur Belebung der geselligen Unterhaltung bezeichnen.
Die Redaction.




Bei der anerkannten Bedeutung unseres Blattes kann selbstverständlich kein deutscher Lesecirkel die „Europa“ entbehren, und wie der Erfolg der letztern bereits den Beweis geliefert hat, daß – trotz der vielen bei Weitem billigeren Wochenschriften – sich ein gutes, wahrhaft gediegenes Blatt rasch und dauernd in Deutschland einzubürgern weiß, so wird sich unsere Zeitschrift nunmehr auch in Kreise verbreiten, wo bis dahin weder durch Lesecirkel noch sonstige ähnliche Veranstaltungen dergleichen Blätter gedrungen sind. In kleineren Orten und Gesellschaften, die ein Interesse an Literatur und Kunst nehmen, dürfte es sich als das Gerathenste empfehlen,

wenn sich eine Anzahl von drei oder vier Theilnehmern zu einem Abonnement auf die „Europa“ vereinigte,

um sich dadurch immer auf dem Laufenden der wichtigeren Erscheinungen deutscher und fremdländischer Literatur und der Bewegung auf dem Gebiete der Kunst und des gesellschaftlichen Lebens zu halten und sich zugleich ein Jahrbuch zu gewinnen, das, auch wenn der Reiz der Neuheit seines Inhalts vorüber ist, als eine wahre Chronik der Zeit und ihres Geistes von dauerndem und praktischem Interesse und Werthe bleibt und in den Auszügen aus den besprochenen Schriftcn eine der umfassendsten Bibliotheken für unterhaltende und belehrende Lectüre bildet.

Daß dies vorstehend Gesagte keine gewöhnliche buchhändlerische Reclame ist, mögen die im Folgenden abgedruckten Urtheile der besten Organe unserer periodischen Presse bekunden.


Unter den Zeitschriften, welche sich Verbreitung höherer Bildung und fesselnde Unterhaltung zur Aufgabe gestellt haben, nimmt die „Europa“ einen der ersten Plätze ein. Indem sie die wichtigsten Fragen der Tagesgeschichte in leitenden und gut, besonders aber mit Sachkenntniß geschriebenen Artikeln bespricht, vergißt sie nicht, alles Kennenswerthe im Gebiete der Literatur, Wissenschaft, Kunst und des socialen Lebens in ihr Bereich zu ziehen, und populär geschriebene wissenschaftliche Aufsätze wechseln unterhaltend ab mit novellistischen Skizzen, Reisebildern, Biographieen und kritischen Besprechungen der wichtigeren Erscheinungen auf dem Büchermarkte.
(Ger.-Anz.)
Die „Europa“ gehört mit zu den am besten redigirten deutschen Journalen, indem besonders das Feuilleton für Literatur, bildende Kunst und Theater reichhaltige und in ihrem Urtheile unparteiische Notizen giebt.
(Breslauer Ztg.)
Die „Europa“ hat in der vorgenommenen Umgestaltung auf das Glänzendste dargethan, daß sie mit vollem Rechte den Titel „Chronik der gebildeten Welt“ führen darf. Die Zeitschrift empfiehlt sich allen gebildeten Familien eben so sehr durch Mannigfaltigkeit, als durch gediegenen Inhalt und ansprechende Form.
(Schlesische Ztg.)
Die Wochenschrift „Europa“ hat einen sehr bemerkenswerthen Aufschwung genommen und das uns vorliegende Quartal giebt Zeugniß von der regsamsten, gediegenen und umsichtigen Thätigkeit des geschätzten Redacteurs. Sehr tüchtige und geachtete Mitarbeiter sind veranlaßt, mit ihrer Thätigkeit die regsamen Bestrebungen des Leiters zu unterstützen. So giebt die Mannigfaltigkeit und Trefflichkeit des Inhalts der „Europa“ volle Berechtigung, dies Journal für die Lectüre gebildeter Familien warm zu empfehlen.
(Dresdner Journal.)
Die „Europa“ zeichnet sich durch eine überraschende Fülle und Mannigfaltigkeit der Leistungen aus. Vorzüglich reich ist der Chronikentheil ausgestaltet, der in der That Alles zusammenträgt und verarbeitet, was in Wissenschaft, Kunst und öffentlichem Leben die Aufmerksamkeit des Augenblicks zu fesseln geeignet ist.
(Hamb. Correspondent.)
Will man gerecht sein, so muß man bekennen, daß seit geraumer Zeit die „Europa“ mit großer Umsicht, ausgezeichnetem Takt und einer geistigen Frische redigirt wird, wie sie in diesem Moment gerade uns sehr erwünscht erscheinen muß und mit hohem Danke anzuerkennen sein möchte.
(Jahreszeiten.)

Sämmtliche Artikel sind entweder von vornherein so ausgewählt oder nachträglich überarbeitet, daß ein wohlthuender, belehrender wie erfreuender Geist, eine Anschauung voll Frieden und Gemüth darin lebt. Der erste Theil bringt meist größere Darstellungen, sei es aus dem Gebiete der Menschenkunde, Naturwissenschaft oder in’s Fach der Erzählung einschlagend; die dann folgende sogenannte Chronik eine Reihe kleinerer Bilder und Notizen der Gegenwart aus dem ganzen Reiche des Wissenswerthen und Neuen. –

Man lernt, wenn auch nur in Auszügen, die trefflichen Leistungen kennen, geht Hand in Hand mit der Zeit und fühlt sich unbemerkt auf einen Punkt gehoben, wo ihre besonnten Gipfel und ihre Schattenthäler zugleich contrastiren. Wir wünschen daher, daß die Sprache ruhiger Anschauung der Zeitschrift ungetrübt verbleiben möge, und ihre Verbreitung wird schnell wachsen, wenn auch mehr und mehr kleinere Blätter sich anstrengen, sie zu plündern und für sich selbst auszubeuten.
(Hbg. Nachrichten.)


Die Zeitschrift „Europa“ hat ihre Ankündigung, „daß sie Alles aufbieten werde, durch Mannigfaltigkeit und Auswahl ihrer Mittheilungen immer noch Größeres zu leisten“, seither wahr gemacht. Sie nennt sich eine Chronik der gebildeten Welt, und man kann diesem Titel nicht besser entsprechen, als sie es thut. Das letzte Quartal, das uns vorliegt, enthält einen Reichthum von Aufsätzen in allen Richtungen, wic sie kein anderes Journal bietet, und den meisten derselben ist nachzurühmen, daß sie sowohl den Zeitbedürfnissen entsprechen, als auch durch ihre geistreiche Auffassung und interessante Behandlung alle Erwartungen befriedigen. In Summa, die „Europa“ verdient vor den meisten andern Zeitschriften die ernste Beachtung aller Leser.
(Aachener Zeitung.)
Die „Europa“ ist unter ihrer gegenwärtigen Redaction eine der besten unserer schönwissenschaftlichen Zeitschriften, vielleicht die beste überhaupt. Der Inhalt ist sehr reich und mannigfaltig, und es wird aus allen Gebieten des Lebens, der Literatur und Kunst das Neueste und Interessanteste rasch zur Kenntniß des Lesers gebracht.
(St. Gall. Ztg.)
Zu den vorzüglichsten unserer Zeitschriften gehört unbedingt die „Europa“. Ueberall sucht sie in das Leben einzugreifen und der politischen, der Cultur- und wissenschaftlichen Entwickelung interessante Seiten abzugewinnen. Es liegt uns ein Monats-Band vor, und erst wenn man so eine Reihe von Heften gesammelt durchsieht, erkennt man recht den Reichthum des gebotenen Stoffes, der in anziehender Weise dem Leser eine Fülle von Belehrungen gewährt. Von besonderem Werthe sind dabei, was kein anderes Journal so übersichtlich bringt, die fortlaufenden Notizen über Kunst und Literatur, welche den Leser auf dem Laufenden über die Erscheinungen der Bildung aller Nationen halten und nützliche Fingerzeige über sie geben.
(Elberfelder Zig.)
Zu den tüchtigsten deutschen Unterhaltungsschriften gehört die „Europa“. Das Journal gewährt einen großen Reichthum von unterhaltender und belehrender Lectüre, bietet mannigfache Abwechslung und erfüllt nach allen Richtungen hin die Aufgabe, die demselben gestellt worden.
(Preßburger Ztg.)
Die „Europa“ erfreut sich immer eines gewählten Leserkreises, den sie sich besonders dadurch zu erhalten sucht, daß sie die neuesten Erscheinungen der Literatur in Form selbstständiger und geschmackvoll geschriebener Aufsätze, die keine eigentliche Kritik sein wollen, vorführt. Zudem bietet sie Biographien von Zeitgenossen, die stets objectiv gehalten sind. Die „Europa“ hat für das laufende Jahr ihren Umfang vermehrt, und ist im Aeußern eleganter als bisher ausgestattet; sie hat aber schon aus früherer Zeit Anspruch auf volle Beachtung.
(Triester Ztg.)

Wen Neigung oder Beruf dazu veranlassen, sich von den neuen Erscheinungen auf dem Gebiete der Literatur und der Kunst fortlaufend in Kenntniß zu erhalten, der kann sich keinen besseren und sicherern Wegweiser wählen, als die „Europa“. Die Redaction läßt kein wichtiges Erzeugniß auf diesem Felde an sich vorübergehen, ohne historische und kritische Bemerkungen daran zu knüpfen oder durch Berichte, Auszüge, Uebersetzungen etc. dem Leser den Werth des Gebotenen zu veranschaulichen. Die Artikel sind ebenso gediegen wie verständlich und bringen neben dem Wissenschaftlichen für den Fachmann so vieles Gemeinnützige und allgemein Anziehende, daß das Blatt mit Recht außerordentlich begehrt ist.

(Fernbach’s Journal.)




Zu allfälligen Bestellungen beliebe man sich des beiliegenden Zettels zu bedienen.

Die Verlagshandlung.

Zur Nachricht!

Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Verlagshandlung.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Moritzburg ist ein von großen Teichen umgebenes, mitten im Walde gelegenes Jagdschloß unweit Dresden, der Schauplatz der großartigsten Jagdfestlichkeiten unter den früheren Augusten.